Leseprobe Solar System: Lost

1. Marskolonie »Adventiva«

Ray zog die Kapuze seines Mantels über den Kopf, blickte sich kurz um und trat dann flott aus der dunklen Gasse auf die zum Glück nur schwach erleuchtete Hauptstraße des achten Bezirks. Oft konnte er sich hier nicht sehen lassen, zu groß war das Risiko, erkannt zu werden. Sein Vater hatte mit Sicherheit einige Kopfgeldjäger auf ihn angesetzt. Schon aus verletztem Stolz. Kein Vandenberg ließ sich auf der Nase herumtanzen, erst recht nicht vom eigenen, missratenen Sohn. Es ärgerte ihn, wie sehr der General noch in seinen Gedanken herumspukte und sein Leben beeinflusste. Doch wenn er seine Freiheit erlangen wollte, musste er so oft wie möglich zum Higgen’s Yard, dem Recyclinghof, der sich an diesem Rand der gigantischen Kuppelstadt befand. Dort stand seine Pax, versteckt zwischen viel größeren ausrangierten Frachtern und halb-zerlegten Shuttles. Durch einige inoffizielle Dienste für den Besitzer der Anlage hatte er sie sich sozusagen erarbeiten können.

Benjamin Higgen fragte nicht, wer er war und woher er kam, würde ihn auch sicher nicht verraten, dafür wusste Ray mittlerweile zu viel über dessen steuerfreien Zuverdienste.

Zugegeben, die Pax war mehr ein Wrack als ein Fluggerät, aber er durfte sie solange auf dem Gelände stehenlassen und sich an den Ersatzteilen bedienen, bis sie flugtüchtig sein würde.

Ray war ein guter Bastler. Schon als Kind hatte er das Bauen von Maschinen und deren Programmierung als Flucht genutzt. Es war die einzige Beschäftigung, die der General für sinnvoll gehalten und wobei er ihn in Ruhe gelassen hatte. Hier hatte er seiner Fantasie und Kreativität freien Lauf lassen können, ohne dass diese mit Prügel erstickt worden waren. Dass er sein Können auch dafür genutzt hatte, um sich unbemerkt in den Computer seines Vaters und dadurch auch in das Militärnetz zu loggen, hatte der General zum Glück nie herausgefunden. Aber das Wissen über dessen Dienste und Kommunikationen hatte ihm ein wenig Raum zum Ausweichen gegeben.

Auch heute hatte er wieder bis tief in die Nacht an dem Schiff gearbeitet. Er war sogar versucht, ein erstes Startmanöver zu probieren, aber er zwang sich zu mehr Geduld. Er hätte nur einen einzigen Versuch, um nicht entdeckt zu werden, und musste sichergehen, dass bei diesem alles glatt lief. Nicht nur der Antrieb, auch die illegal erworbene Software, die ihn durch das Energiefeld der Marskuppel schleusen sollte, musste reibungslos funktionieren.

Er fand es anfangs erschreckend, wie viele Adventive versuchten, den Mars illegal zu verlassen, und wie viele Schleuser es gab, die sich aus der Not der Menschen die Taschen vergoldeten. Offenbar war das Leben in der Kolonie doch nicht so traumhaft schön wie ihnen von Kind auf eingetrichtert und vorgegaukelt wurde. Er hoffte nur, dass es sich bei den Erzählungen über die üble Diskriminierung seiner Landsleute auf der Erde um Übertreibungen handelte. Obwohl es hier ja nicht anders war.

Die Gründer der Marskolonie Adventiva hatten sich der genetischen Auslese verschworen. Jeder sollte gleich aussehen: groß, blond und blauäugig, damit es nicht zu Diskriminierungen käme, hieß es offiziell. Dass diese Gesellschaft immer skeptischer und abweisender anderen Menschen gegenüber wurde, unterlag einer gewissen Ironie. Der jahrzehntelange Krieg mit der Erde, der folgte und schließlich zur völligen Isolierung führte, hatte nicht gerade dafür gesorgt, dass die Vorurteile über die verschiedenen Ethnien verschwanden.

Ray selbst legte nicht viel Wert auf die Lehren der genetischen Überlegenheit der Adventive. Sein eigener Vater war das beste Gegenbeispiel dafür.

Egal, wie es woanders für ihn sein würde, alles war besser, als hier weiter überwacht, bestraft und manipuliert zu werden.

Noch in Gedanken versunken fiel ihm auf, dass er mit seinen Blicken eine Gestalt verfolgte, die vor ihm durch die Gasse ging. In den frühen Abendstunden des Marswinters war in dieser Gegend nicht viel Leben auf den Straßen, höchstens Obdachlose, die keine Unterkunft hatten und beschäftigt wirken mussten, um nicht als solche aufzufallen. Sie wurden vom Sicherheitspersonal nicht gern gesehen, das sich ab und zu auch in diese Gegend verlor. Adventiva sollte sauber bleiben. Hier im Paradies durfte es solche Menschen nicht geben, also wurden sie heimlich entsorgt, um den Schein zu wahren. Ray stieg ein trockenes Lachen aus der Kehle bei dem Zynismus in seinen Gedanken.

Trotz allem weckte der Passant vor ihm sein Interesse. Irgendetwas schien anders und doch vertraut. Die Figur? Der Gang? Kannte er diese Person? War es gar ein Spion seines Vaters? Er musste es herausfinden.

Ray wich rechts in eine Seitenstraße aus, in der die Straßenlampen den roten Steinboden nur gering beleuchteten, und beschleunigte seine Schritte. Als er sicher war, die Gestalt überholt zu haben, nahm er die nächste Gasse links zurück zur Straße. Dort wartete er im Schatten einer großen geparkten Lieferdrohne und schaute vorsichtig den Weg entlang. Die Person schlich weiter in seine Richtung. Im Schein einer Straßenlampe erkannte er für einen kurzen Moment glatte, dunkle Haare unter der Kapuze und schmale Augen mit Epikanthus-Falte. Es handelte sich definitiv um keinen Bewohner der Marskolonie. Sein Herz raste. Beinahe hätte er sich ungläubig die Augen gerieben. Konnte das sein?

Ein Bild flammte in seinem Geist auf. Wie er als Teenager in der Arrestzelle saß, kurz nach seinem ersten Fluchtversuch aus der Militärschule. Eine Erinnerung an ihre erste Begegnung, die er nie würde vergessen können. Als wäre es gestern gewesen, hörte er die weibliche Stimme in seinem Kopf:

»Wie lange willst du noch den Boden anstarren?«

Ray zuckte zusammen, als er das Mädchen in seiner Nachbarzelle erkannte. Tatsächlich war er so in seinem Gram und den körperlichen Schmerzen der Bestrafungen versunken gewesen, dass er bisher nicht einmal aufgeblickt hatte.

»Ich habe es mir anders überlegt, schau doch wieder nach unten«, sagte sie patzig und verzog die Lippen. »Ich bin diesen Blick so unendlich leid, als wäre ich eine Missgeburt.«

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Menschen dieses Phänotyps hatte er tatsächlich noch nie zu Gesicht bekommen. Es gab sie seines Wissens nach nicht auf dem Mars. »Ich wollte dich nicht anstarren. Tut mir leid«, brachte er schließlich drucksend hervor.

»Oha, du kannst ja doch sprechen.«

Ray blickte hinunter auf die gefalteten Hände in seinem Schoß. »Manchmal bin ich mir da nicht so sicher, weil mich niemand zu hören scheint.«

»Ich heiße Li.«

»Ich bin Ray.« Er sah auf und in ihre fremden, aber faszinierenden dunklen Augen. »Wie kommst du hierher?«

»Befehlsverweigerung.«

»Nein, ich meine diesen Planeten.«

Sie zögerte. »Wegen meiner Gene. Väterlicherseits.«

»Oh … bist du ein Mischling?«

Lis Augen verengten sich zornig bei der Frage. »Ein Mischling aus was? Mensch und Mensch?«

Ray hatte das Gefühl, vor einer fauchenden Katze zu sitzen, und zog die Schultern hoch. »So meinte ich das nicht.«

»Mir ist völlig klar, wie du das gemeint hast«, blaffte sie ihn an. »Ja, meine Mutter stammt von der Erde, genügt das? Sag nicht, du hast noch nicht davon gehört, dass sich ein halber Terraner auf eurer ollen xenophoben und genetisch kontrollierten Arier-Kolonie befindet. Deine Freunde zerreißen sich doch sicher das Maul über mich.«

Ray drückte den Rücken durch und schaute sie stolz an. »Ich habe keine Freunde. Nicht hier.«

Lis Mimik entspannte sich daraufhin und schließlich lächelten sie sich zu. In diesem Moment realisierte Ray, dass er doch einen Freund auf der Akademie hatte.

Das war sie auch gewesen von da an. Eine sehr gute Freundin sogar. Die beste, die er sich vorstellen konnte. Bis sie nach zwei Jahren plötzlich spurlos verschwand.

Und nun sollte er ihr erneut begegnen? Nach so vielen Jahren? Hier im abgelegenen achten Bezirk? Er konnte es nicht glauben.

Ray nahm seinen Mut zusammen und trat vor die Gestalt, bevor sie an ihm vorbeischreiten konnte. »Li?«, flüsterte er heiser.

Sie stoppte und riss erschreckt die mandelförmigen Augen auf. Kurz darauf zeigte ihre Mimik Erkennen und sie schenkte ihm ein Lächeln, das sein eingefrorenes Inneres erwärmte. Sie war es. Seine alte Freundin hatte sich in den letzten Jahren kaum verändert, wirkte natürlich erwachsener, aber noch immer so attraktiv wie früher. Kurz darauf kam die Skepsis zurück. Immerhin war er ein gesuchter Deserteur und kannte die junge Terranerin vor sich schon lange nicht mehr.

»Was machst du denn hier?« Nicht nur der Mars selbst, auch gerade diese Straße? Ein Zufall schien ihm unmöglich. Hatte er einen Fehler begangen, sich ihr zu zeigen?

Li wirkte ähnlich angespannt, was nicht gerade zu seiner Beruhigung beitrug. »Ich habe gehofft, dich hier zu finden.«

Das Adrenalin rauschte durch seine Adern bei den Worten und er trat einen Schritt zurück, bereit, seine Freiheit bis aufs Blut zu verteidigen. »Warum?«

Sie machte jedoch keine Anstalten, ihn anzugreifen oder eine Waffe zu ziehen, sondern stand nur ruhig da, die Hände vor ihrem Bauch ineinander gehakt. »Du hast mir doch von deinem Plan berichtet damals. Als du nicht in der Akademie warst, bin ich hierher.«

»Hat dich Admiral Steele geschickt? Ist dir jemand gefolgt?« Er sah sich hektisch um.

»Nein, keine Sorge. Ich habe niemandem gesagt, wohin ich gehe. Ich …«, sie brach ab und sah hinunter auf ihre Finger, die miteinander rangen, »… brauche ebenfalls ein Versteck und dachte, dass ich bei dir sicher wäre. Für eine Weile zumindest.«

Ray holte tief Luft. Sein Puls beruhigte sich, wenn auch nur langsam. Er freute sich mehr, seine wohl einzige Jugendfreundin wieder zu treffen, als er sich zugestehen wollte. Freude. Ein selten gewordenes Gefühl. »Natürlich. Schön dich zu sehen. Was machst du hier? Seit wann bist du zurück auf dem Mars?« Ihm kam ein Gedanke. »Warst du auf diesem terranischen Schiff? Der Styx?«

Li zuckte zusammen. »Du weißt davon?«

»Lass uns in meine Bude gehen«, raunte er ihr zu und sah sich unauffällig um. »Hier haben selbst die Müllcontainer Ohren.«

Er führte sie zurück durch die enge Gasse, die er gerade verlassen hatte. An leise summenden Schächten der Lüftungsanlagen vorbei, die ihren metallenen Ozongeruch zwischen den Wänden aus rotem Beton verbreiteten, und dessen Kondenswasser monoton auf den Boden tropfte und Pfützen bildete. Die blinkende holographische Leuchtwerbung strahlte von der Hauptstraße bis hierher und spiegelte sich auf dem nassen Steinboden wider. Hier am Stadtrand gab es keine Begrünung zur Lufterfrischung, keine Bäume, künstlichen Bäche oder Parks. Hier lebten diejenigen, die man nicht zu Gesicht bekommen wollte, und die sich nur so lange wie nötig draußen aufhalten sollten. Am besten frühmorgens zur Arbeit und spätabends zurück, ohne aufzufallen. Denn sie gab es offiziell nicht auf dieser perfekten Kolonie.

An der nächsten Ecke bog er in den Hinterhof der kleinen Kneipe ein und sie stiegen eine wackelnde Metallleiter hoch in den ersten Stock, die bei dem Gewicht in ihren Angeln ächzte. Ray holte seine Karte hervor und öffnete die Tür des kleinen Apartments. Es bestand aus einem Zimmer und einem winzigen Bad, in das man fast rückwärts eingehen musste, weil man sich kaum umdrehen konnte. Im Hauptraum befanden sich ein Schlafsofa und eine winzige Küchenzeile mit Essensdrucker, der jedoch so viel Energie benötigte, dass Ray ihn aus Kostengründen noch nie verwendet hatte. Von der Wand konnte man einen Tisch mit Sitzbank herunterklappen, den Ray ebenfalls kaum nutzte. Er verzehrte sein Essen auf der Couch.

Li folgte ihm herein und wartete geduldig, bis er das Schloss hinter ihnen verriegelt hatte und die Lampe rot leuchtete.

Sie betrachtete den kleinen Raum mit gerunzelter Stirn. »Wie lange wohnst du schon hier?«

»Seit knapp sechs Monaten.«

»Es hieß, du seist abgehauen, stimmt das?«

Ray nickte.

»Hast du keine Angst davor, dass jemand herausbekommt, wer du bist?«

Er zuckte die Schultern. »In diesem Ghetto sind nur Aussteiger. Menschen, die ihre von anderen aufgeladenen Erwartungen nicht erfüllen konnten. Trotz bester Auslese und Technologie. Genetische Versager.«

»Also die nichtexistente Kehrseite von Adventiva.«

»Korrekt.« Er lachte trocken. »Wir sind sozusagen unsichtbar. Die Anwohner akzeptieren mich als einer der ihren.«

»Aber dein Chip ist doch beim Militär registriert, oder?«

»Den Sensor kann man hier an jeder Ecke für wenig Geld ausschalten lassen.«

»Dann ist es sicher?« Ihre Finger glitten nervös die dünne Goldkette entlang, die um ihren Hals hing.

»Hin und wieder kommt das Ordnungsamt, um aufzuräumen. Aber wenn du eine Wohnung hast, lassen sie dich für gewöhnlich in Ruhe. Dann hast du nämlich irgendeinen beschissenen Job, den sonst eh keiner machen will.« Ray wollte nicht daran denken, wohin einige der Obdachlosen dieses Bezirks verschwunden waren.

Li nickte verstehend. Sie sah sich um. »Keine Abhöreinrichtungen?«

»Nein. Ansonsten hätte längst der General vor der Tür gestanden, das kannst du glauben.« Das hatte er nicht nur einmal überprüft. Die Angst, dass sein Vater ihn hier finden könnte, war allgegenwärtig.

Ihm fiel auf, wie vorsichtig, ja beinahe schon paranoid sich seine alte Freundin verhielt. Er legte seinen Kapuzenmantel ab und schmiss ihn über einen der beiden Stühle. »Setz dich«, sagte er und räumte Pads, Essenskartons und Wäsche von den zerschlissenen Sitzpolstern der Couch. Er überlegte kurz, wohin mit dem Stapel, doch fand keinen Platz. Also warf er ihn einfach daneben auf den Boden.

Li betrachtete das Chaos mit gehobener Stirn. »Also den Ordnungssinn hast du jedenfalls nicht von deinem Vater.«

»Ich hoffe, ich habe gar nichts von diesem Dreckskerl.« Ray erinnerte sich an die jährliche Parade der Akademie, zu der die Eltern eingeladen wurden. Wie sich sein Vater zusammengerissen hatte, um keinen rassistischen Kommentar Li gegenüber abzugeben. Sein Blick hatte jedoch deutlich gezeigt, wie empört er darüber war, dass eine halbe Terranerin offiziell in eine der besten militärischen Akademien des Planeten eingeschrieben worden war. Nach seinen eigenen Aussagen hatte er im Hintergrund alle Hebel in Bewegung gesetzt, um diese Fehleinschreibung von seinem Planeten zu verbannen. Womöglich war es ihm sogar gelungen, denn noch in demselben Monat wurde Li entlassen und zog zurück zur Erde. Ray fragte sich bis heute, wie das Militär ein solches Risiko eingehen konnte, oder ob sie in Wahrheit als Spion auf der Erde eingesetzt wurde. Doch er wagte es nicht, sie danach zu fragen.

Er wies auf das Sofa und Li nahm zögerlich darauf Platz. Als er diese zierliche, aber elegant wirkende junge Frau so auf dem alten, abgenutzten Polstern sitzen sah, fühlte er sich noch mehr als Versager. Was war aus dem vielversprechenden Sohn des angesehenen Generals geworden? Ein heruntergekommener, flüchtiger Deserteur im dreckigen Armutsviertel der Kolonie lebend. Wie tief war er gesunken.

»Willst du etwas trinken?«

»Nein, danke.«

»Gut, ich hätte auch nur Kranwasser.« Allein die Tatsache, dass Alkohol so unheimlich teuer war, hinderte ihn daran, dieser Sucht zu verfallen. Ohne genug Geld musste er jeden verfluchten Tag nüchtern ertragen. Mit Drogen verhielt es sich nicht anders. Die wurden derart massiv bekämpft auf dem Mars, dass sie nur für diejenigen erschwinglich waren, die aufgrund ihres Reichtums gar keine Gegenwartsflucht nötig hätten. Welch eine Ironie.

Er ließ sich neben ihr nieder und klopfte mit den Händen auf die Oberschenkel. »Also, wie geht’s dir? Erzähl!«

»Beschissen, wenn ich ehrlich bin.« Sie sah ihn an. Die langen schwarzen Haare fielen ihr strähnig ins ovale Gesicht. Sie wirkte müde, beinahe erschöpft. Dennoch fand Ray sie noch immer wunderschön. Ihre sinnlichen, vollen Lippen, die kurze Nase und die faszinierenden dunklen Augen. Ob sie ein Paar geworden wären, wäre sie in der Akademie geblieben?

Er riss sich von der Träumerei los und zwang sich zurück in die Gegenwart: das muffige Apartment und ihre verflixte Situation.

»Wieso bist du damals so plötzlich verschwunden? Ohne ein Wort?« Er schaffte es nicht, den Vorwurf in seiner Stimme zu unterdrücken.

Li umfasste ihre Oberarme und zog die Schultern hoch, als fröstelte sie. »Es tut mir leid, ich musste zurück auf die Erde. Ich hatte keine Möglichkeit, mit dir in Kontakt zu treten. Es ging alles so schnell.«

Er merkte, wie sie abblockte, so wie sie es schon früher immer getan hatte, wenn das Thema auf ihre Vergangenheit kam, und beließ es dabei. Li würde ihr Geheimnis wahren, aus welchen Gründen auch immer. Dass es äußere Zwänge waren, davon war er überzeugt. Er kannte diese selbst zu gut.

»Du warst auf der Styx, habe ich recht?« Es musste so sein. Li hatte den Mars vor Jahren verlassen und außer der Styx war seit Monaten kein Schiff des terranischen Solarbunds in Adventivraum eingedrungen.

»Was weißt du darüber?« Sie blickte ihn mit ihren mandelförmigen Augen streng an. »Es gab einen heimtückischen Anschlag auf unser Forschungsschiff mit dreihundert Menschen an Bord!«

Ray nickte. »Ich habe davon gehört.«

Li schnappte nach Luft. »Du lebst hier versteckt im Untergrund und hast davon gehört? Wie offiziell war das denn? Verflucht, meine Mutter war an Bord und hat nicht überlebt und mich hätte es ebenfalls beinahe erwischt! Eine Warnung wäre nett gewesen.« Ihre Stimme erstickte und sie räusperte sich rasch, wie um ein aufkommendes Schluchzen zu überspielen.

Ray wollte sie auf keinen Fall verletzen und hob beschwichtigend die Arme. Erneut das vertraute Gefühl, eine fauchende Katze vor sich zu haben. Er hatte ihre Temperamentsausbrüche ebenso vermisst wie die Ruhe, die sie dazwischen ausstrahlen konnte. »Das tut mir leid. Ehrlich. Selbst wenn ich gewusst hätte, dass ausgerechnet du auf dem Frachter bist, hätte ich keine Möglichkeit gehabt, dich zu kontaktieren. Das Schiff sollte zudem nicht zerstört werden.«

»Wir hatten Probleme mit dem Antrieb und der Eindämmung, der Beschuss setzte alles in Brand.« Sie sah auf. »War es diese Terrorgruppe, wie nennen die sich noch? Diese Typen, die den Handel mit der Erde verhindern wollen?«

»Du meinst die Wächter? Nein.« Er atmete tief durch. »Der Angriff der Styx lief über offizielle Kanäle und wurde von unserer Regierung in Auftrag gegeben.«

»Was?« Li riss die Augen auf. »Wenn es eure Regierung war, warum retteten sie uns dann?«

»Wie gesagt, ihr solltet nicht explodieren, lediglich zur Landung hier auf dem Mars gezwungen werden, ohne großes Aufsehen zu erregen, was offensichtlich misslang. Sie suchen etwas.«

»Was weißt du darüber?«

Ray seufzte. »Nicht viel. Ich höre lediglich den Militärfunk ab, zu meinem eigenen Schutz, bin aber leider völlig handlungsunfähig. Wie eine gehbehinderte Oma am Fenster eines Hochhauses.«

Li atmete tief durch. »Es tut mir leid, wenn ich dich angepflaumt habe.« Sie schluckte und ihre Augen begannen im schwachen Licht der Lampe zu glänzen. »Verdammt Ray, ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Das kann ich nachfühlen. Wie bist du aus dem Lazarett gekommen?«

»Ich wurde als unwichtiger Zivilist eingestuft und durfte gehen.« Sie sah auf.

Dieser unschuldige Blick ließ in Ray alle Alarmglocken angehen. »Wirklich? Die Regierung lässt ganz sicher keinen Terraner hier unbewacht herumlaufen, schon gar nicht welche, die bereits auf Adventiva registriert sind.«

Li seufzte. »Ich bin es schon so gewohnt, mich durch diese Kolonie zu schummeln, dass ich vergessen habe, wer hier vor mir sitzt. Entschuldige.«

»Wie bist du wirklich entkommen?«

»Nachts. Durch das Toilettenfenster.«

Ray musste bei dem trockenen Tonfall laut lachen.

»Ja, ich weiß. Sehr unspektakulär.« Li lächelte ebenfalls. »Aber es war ein stinknormales Krankenhaus und nur die Führungsoffiziere wurden streng überwacht. Bei mir rechneten sie wohl mit keiner Flucht oder dass ich es schaffen könnte, mich auf diesem Planeten zurechtzufinden und zu verstecken.«

Ray nickte. Er glaubte ihr. Es sollten so wenig Zivilisten wie möglich auf die Sache aufmerksam werden und zu viel militärische Bewachung der schiffsbrüchigen Terraner hätte nur Neugier geweckt. »Weißt du, was die gesucht haben?«

»Was? Nein, keine Ahnung, wie sollte ich auch?«

Er lächelte schwach. Seine alte Freundin war schon damals eine schlechte Lügnerin gewesen. »Du hast wohl wieder vergessen, wer vor dir sitzt.«

Sie biss sich auf die Unterlippe, was Ray erneut unheimlich attraktiv fand, wie er sich eingestehen musste, schwieg aber. Ihre Finger spielten erneut mit dem herzförmigen Anhänger ihrer Halskette, ohne dass sie sich dessen bewusst zu sein schien.

»Du brauchst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst. Nur, falls du es weißt oder es gar in deinem Besitz ist, würde ich es an deiner Stelle gut verstecken oder so schnell wie möglich loswerden.«

»Wenn es so wäre, würdest du mich verraten?« Ihr schiefer Blick von der Seite erinnerte ihn erneut an das Mädchen damals in der Militärschule. Immer bedacht, stark zu erscheinen, aber im Inneren verletzlich. Auch ihre Wutausbrüche schienen mehr Selbstschutz zu sein als Angriff.

»Natürlich, nicht.« Er sah ihr direkt in die dunklen Augen. »Ich würde dich nie verraten! Abgesehen davon könntest du mich ebenso anschwärzen. Desertieren ist nicht gerade ein Kavaliersdelikt bei uns.«

Li legte ihre Hand auf seine. Die warme Berührung ihrer Finger gab ihm ein wohliges Kribbeln.

Auf einmal bebten ihre Lippen. Die Maske bröckelte und ein Schluchzen drang aus ihrer Kehle. Schnell bedeckte sie die Augen mit den Händen.

»Hey!« Ray rutschte näher, nahm sie in die Arme und drückte sie an sich.

Li vergrub ihr Gesicht in seinem Shirt. Ihr warmer Atem an seiner Brust beschleunigte seinen Herzschlag. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, schluchzte sie. »Alle, die ich kannte, sind tot oder wollen mich in ihre Hände bekommen. Ich weiß nicht, wem ich trauen kann oder wohin ich gehen soll. Ich bin so allein, Ray!«

Ray strich ihr sanft über die Haare. »Mich kennst du auch und ich bin weder tot, noch werde ich dir je ein Leid zufügen. Ganz gleich, für welche Seite du dich entscheidest, das verspreche ich dir.«

»Danke!« Li wischte sich die Tränen vom Gesicht und lehnte sich an ihn. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, entschuldige.« Mit der rechten Hand hielt sie den Anhänger fest umklammert. Er überlegte, ob das ein Andenken an ihre Mutter war.

»Du musst dich nicht entschuldigen.« Er schmiegte seine Wange an ihre Haare. »Nicht bei mir.«

Sie saßen eine Weile aneinander gelehnt auf dem kleinen Sofa. Ray schloss die Augen und genoss diesen Moment. Ihr warmer Körper an seinen und den Duft ihrer Haare. Alle Sorgen verpufften in grauem Dunst. Ihm wurde bewusst, wie sehr er die liebevolle Berührung eines anderen Menschen vermisst hatte.

Viel zu früh löste sie sich aus der Umarmung und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen von den Augen. »Danke dafür.«

Er überlegte, ob er ihr von seiner Fluchtmöglichkeit erzählen sollte, und entschied sich kurzerhand dafür. Wenn er nicht einmal seiner einzigen Freundin in diesem Universum trauen konnte, wem dann? »Ich habe mir ein Schiff organisiert und geplant, damit diesen Planeten weit hinter mir zu lassen. Ein Kontakt hat mir erzählt, dass auf der Lunabasis Händler gesucht werden, die Waren zu den Arbeitern der Saturnminen bringen. Diese Ochsentouren für wenig Geld macht wohl kaum einer mehr. Der Erdtrabant ist neutral und die nehmen wohl jeden, ohne Hintergrundcheck. Du kannst mit mir kommen, wenn du möchtest. Als Terraner solltest du von dort ohne Probleme zurück zur Erde können.«

Li riss die Augen auf. »Ray! Was du vorhast, ist gefährlich. Es kommt nicht von ungefähr, dass die keine Leute dafür finden. Auf dieser Strecke soll es etliche Piraten geben. Dazu bist du ein desertierter Adventiv und hast nach einem Überfall keinen Anspruch auf Schutz oder Entschädigung.«

»Hey, keine Sorge. Mein Chip ist für normale Scanner unlesbar gemacht worden. Ich ziehe mir eine Kapuze über, übe mich in Sozialverhalten und bin ein blonder Terraner. Die gibt es doch noch bei euch, oder nicht?«

Li verdrehte die Augen über den Scherz, blickte ihn aber ernst an. »Danke, du hast was gut bei mir. Es ist schön zu wissen, dass noch jemand zu einem hält.«

»Ich weiß – und ich werde immer für dich da sein, auch wenn sich unsere Wege mal wieder trennen.« Er hoffte, es klang nicht zu melodramatisch, aber es war die Wahrheit.

»Du willst die Kolonie wirklich verlassen? Deine Heimat? Du würdest vielleicht nie wieder zurück können.«

Ray nickte. »Ich sehe keine andere Möglichkeit.«

»Aber wo willst du hin? Lebenslang die Saturnstraße hin und her fliegen?«

»Ich wollte mich erst einmal bewähren und später vielleicht ganz offiziell einen Antrag auf Aufnahme stellen. Es gibt ein Verfahren, das Adventiven Asyl auf der Erde bietet.«

»Aber doch nur für Zivilisten und politisch Verfolgte. Du gehörst dem Militär an, bist sogar ein Fähnrich.«

Ray schluckte, doch der Kloß in der Kehle löste sich nicht. »Ich werde es dennoch versuchen. Mir bleibt keine Alternative.«

»Ich drücke dir alle Daumen.« Lis schwaches Lächeln machte ihm nicht gerade Mut.

»Willst du zurück auf die Erde?«

Sie zog die Schultern hoch. »Ich weiß nicht.«

Endlich stellte er die Frage, die ihm die ganzen Jahre auf den Lippen brannte: »Was hast du die ganze Zeit gemacht? Warum ließ man dich gehen damals?«

»Ich …« Sie räusperte sich. »Es ist kompliziert.«

Ray lachte trocken auf. »Willkommen im Club!«

Li wich seinem Blick aus. »Ich war Teil eines Deals, brachte aber nicht den nötigen Erfolg, daher ließ man mich gehen. Ich war noch nicht lange genug auf der Akademie, um eine Gefahr darzustellen.« Sie atmete tief durch. »Irgendwann erzähle ich es dir. Versprochen. Aber es ist weniger spektakulär, als du vielleicht vermutest.«

Ray nickte. Den letzten Satz glaubte er ihr nicht. Wäre es so, würde sie kein solches Geheimnis daraus machen. Aber er sagte nichts. Jeder hatte seine Leichen im Keller und auch er war es gewohnt, Dinge für sich zu behalten.

»Was hast du gemacht auf der Erde?«, fragte er.

»Ich bin in der Europäischen Zentraluniversität in Brüssel eingeschrieben und habe angefangen, Medizin zu studieren. Die vorlesungsfreie Zeit wollte ich mit Mutter auf der Styx verbringen. Wir haben uns nur noch so selten gesehen.« Sie schluckte hart, umfasste erneut das Amulett und hob dann wie gestärkt den Blick. »Ich würde lieber mit dir durch das Sonnensystem reisen. Meinetwegen auch die Saturnstraße entlang. Weit weg von allem.«

Es dämmerte ihm. »Du hast das, was sie suchen?« Ray kam nicht umhin zu bemerken, wie sich der Griff um das goldene Herz verstärkte.

Li ließ bei seinem Blick den Anhänger unter ihrer Bluse verschwinden. »Mutter gab mir einen Datenstick und schob mich in eine der Rettungskapsel. Sie sagte, ich solle ihn mit meinem Leben verteidigen und niemandem darüber berichten. Sie würde die nächste Kapsel nehmen und mich auf dem Mars treffen. Leider schaffte sie es nicht.«

»Mein Beileid.« Er machte eine Pause. In solchen Dingen war er nicht sonderlich gut. »Woran hat sie geforscht?«

»Sie war Archäologin und Biologin und wollte das Rätsel des Juno-Artefakts lösen.«

Ray hob die Brauen. »Oha!« Dieses mysteriöse, außerirdische Schiff war noch vor der Gründung der Kolonie von Forschern auf dem Mars entdeckt und – einfallsloserweise, wie er fand – nach der mythologischen Mutter des römischen Kriegsgottes benannt worden. Keiner wusste, wie dieses Relikt auf den Mars kam und von wem es stammte, aber es musste bereits etliche Jahrhunderte dort verbracht haben. Nach dem Krieg verschwand das Wrack spurlos und nach diversen Schuldzuweisungen kam es zu einem regelrechten wissenschaftlichen Wettstreit zwischen der Erde und Adventiva, wer es zuerst finden würde. Daten wurden gesammelt, vorenthalten, durch Geheimdienste und privat angeheuerte Detektive entwendet, wieder zurückgestohlen. Wissenschaftler wechselten die Seiten, verunfallten mysteriös oder wurden gar vergiftet. Ein regelrechter Agententhriller, der sich über Jahrzehnte zog. Dabei wusste niemand sicher, ob dieses Schiff und sein Antrieb einen derartigen Aufwand überhaupt wert sein würden. Lediglich nicht belegte Legenden und Gerüchte schürten das Interesse. Wertvoll für skrupellose Sammler war es sicher, aber ob es die angebliche Waffe oder angedichtete Energieressource besaß, wie oft behauptet, blieb fraglich.

Das erklärte den Angriff auf das Forschungsschiff. Wenn die Regierung auch nur ahnte, dass sich Daten über die Juno auf der Styx befanden, wäre ihr jedes Mittel recht gewesen, an diese zu gelangen.

»Dann scheint deine Sorge berechtigt«, murmelte er in Gedanken. Seine Freundin war in größter Gefahr. Auch viele reiche Privatpersonen, die über Leichen gingen, suchten wie besessen nach dem Schiff.

Er überlegte, ob der zuvor erwähnte Deal zwischen dem Militär und der Erde womöglich mit den Forschungen ihrer verunglückten Mutter zusammenhing.

Li sah ihn mit einem Hundeblick an, dass ihm das Herz blutete. »Ich weiß, ich ziehe dich da in eine schlimme Sache hinein. Aber wenn ich wenigstens bis morgen …«

»Du kannst gerne hier wohnen bleiben, solange du willst«, fiel er ihr ins Wort. »Schlimmer kann meine Situation kaum werden. Ich mache mir eher Sorgen um dich.«

»Ich muss nur sehen, dass ich diesen Marsboden unter den Füßen verlieren und zur Erde abheben kann.«

»Willst du den Datenträger den Behörden des Solarbunds übergeben?« Sein Blick fiel auf die Kette um ihren Hals. Offensichtlicher konnte sie sich kaum verhalten und genau das machte ihm Sorgen. Er war bei weitem nicht der einzige gute Beobachter.

Li schien seinen Verdacht entweder nicht zu bemerken, oder tat nur so, damit auch Ray nicht darauf einging. Er tippte auf Letzteres.

»Ich weiß es nicht. Das würde sicher einen neuen Konflikt der Geheimdienste hervorrufen.« Sie seufzte laut. »Es war tatsächlich nie mein Traum, mal so gefragt zu sein.«

»Nicht du selbst, nur der Stick.«

Li warf ihm einen vielsagenden Seitenblick zu. Ray schmunzelte. Es fühlte sich gut an, nicht mehr allein zu sein.

Sie sprachen noch eine Weile über ihre gemeinsame Zeit auf der Akademie; die schönen Momente, auch wenn sie rar waren. Es war angenehm, mit Li in diesem Halbdunkel zu sitzen und zu reden. Nur das fahle Licht einer entfernten Straßenlaterne schimmerte schwach durch das schmutzige Fenster.

Ray wusste, dass sie nach der Flucht nicht bei ihm bleiben würde. Sie würde zurück auf die Erde, während er sich um irgendeinen Job bewerben müsste, den keiner machen wollte.

Er versuchte daher, den Moment zu genießen. Auch das hatte er gelernt. Nicht zu weit in die Zukunft zu denken und die wenigen schönen Augenblicke festzuhalten, sie mit allen Sinnen zu erleben und in einer Kammer seiner Erinnerung zu sammeln. Sie halfen später dabei, Schmerzen leichter zu ertragen.

 

Am späten Abend klopfte er die letzten Krümel vom Sofa und reichte Li eine frische Decke. Dann türmte er die Kissen auf den Boden, um ein Nachtlager für sich selbst zu errichten.

Sie beobachtete seine Bemühungen mit skeptisch erhobenen Brauen. »Ich schlafe auch gerne auf dem Boden, das macht mir nichts aus.«

»Nein, ich kann dir ohnehin schon nicht viel Gastlichkeit bieten in dieser Bruchbude, da sollst du zumindest einigermaßen gut liegen. Das alte Sofa ist tatsächlich gemütlich.«

»Danke.«

»Morgen sehen wir weiter, vielleicht schaffe ich es, meine Pax noch diese Woche fertig zu bekommen. Mit Druck geht alles schneller.«

Li machte es sich auf der Couch bequem und kuschelte sich unter die Decke. »Ich bin schon gespannt auf dein Schiff. Gute Nacht.«

»Schlaf gut!« Er verdunkelte das Fenster und versuchte, auf dem unebenen Kissenberg eine einigermaßen gerade Liegeposition zu erreichen.

»Ray?«, hörte er Lis Stimme in der Dunkelheit.

»Ja?«

»Ich bin froh, dich gefunden zu haben. Ich habe dich vermisst.« Es war nur ein leises Flüstern.

Er lächelte mit geschlossenen Augen. »Ich dich auch.«

***

Am nächsten Morgen kratzte er seinen letzten Kaffee zusammen und sie frühstückten Müsli mit Hafermilch. Nachdem er das dreckige Geschirr in der Spüle zwischengelagert hatte, steckte er sein Pad ein und griff nach dem Mantel. Eine fröhliche Beschwingtheit erfüllte ihn.

»Komm, ich zeige dir mein Schiff. Sie braucht noch die ein und andere Reparatur, aber flugtüchtig ist sie bereits.« Er fühlte einen gewissen Stolz, wenn er daran dachte, was er bisher aus der Pax gemacht hatte.

Li warf einen Blick auf die Spüle und wieder zu ihm. »Soll ich nicht erstmal schnell abwaschen?«

Ray schüttelte den Kopf. »Das läuft nicht weg.« Er wollte die vielleicht nur kurze Zeit mit ihr auf keinen Fall mit langweiliger Putzarbeit verbringen.

»Irgendwann schon«, murmelte sie, gab sich aber lächelnd geschlagen und zog ihren eigenen Kapuzenmantel über. »Na gut, später. Ich bin sehr gespannt auf dein Projekt.«

Sie wanderten durch die mit fahlen Straßenlaternen beleuchteten Gassen, die um diese Zeit menschenleer waren. Lediglich hin und wieder fuhr der Wagen eines Ordnungsdienstes zwischen den Häusern entlang, dem die beiden geschickt auswichen. Auch wenn Ray diese Gegend mittlerweile sein Zuhause nannte, war er froh, Li neben sich zu sehen. Er freute sich sehr darüber, dass sie mit ihm fliehen würde.

»Ist es weit weg?«

»Nein. Der Hof, auf dem die Pax steht, ist hier ganz in der Nähe.«

»Pax? Wie das lateinische Wort für Frieden? Hast du sie so getauft?«

Ray nickte. »Ja. Es war eine spontane Entscheidung, da stand schon P-17 auf der Hülle, sodass ich nicht allzu viel ändern musste. Zudem wollte ich einen positiven Namen, keine Kampfansage.« Erst, als er die Worte ausgesprochen hatte, merkte er, wie sehr es nach einer Entschuldigung klang. Hätte ein cooler Name wie Black Warrior oder Freedom Fighter vielleicht sexyer geklungen?

»Das klingt sehr schön«, beruhigten Lis Worte ihn. Gleichzeitig schämte er sich für seine Gedanken zuvor. Immerhin waren sie keine Kinder und das hier kein Spiel. Er wollte in ein neues Leben fliehen, nicht mit Coolness das Herz einer Frau erobern … nun, vielleicht ein wenig.

Auf dem Weg zum Schrottplatz hörte Ray Schritte in der Straße vor sich. Er erstarrte.

»Was ist los?«, fragte Li.

Er wies ihr mit dem Finger auf den Lippen an, ruhig zu sein. Etwas stimmte nicht. Die Schritte klangen zu schnell und entschlossen für die Bewohner dieser Gegend. Sie hallten in einem gleichmäßigen Rhythmus durch die Gassen. Militärisch. Er war mittlerweile geübt, auf derlei Dinge zu achten.

»Schnell, hier lang!« Ray zog seine Freundin in einen dunklen Hauseingang. »Ich glaube, da ist ein Trupp Soldaten oder Polizisten, zumindest keine Anwohner.« Er sah sich um. »Wir gehen lieber hintenherum.«

So leise wie möglich schlichen sie um den Häuserblock und Ray achtete darauf, dunklere Nebenstraßen zu nutzen.

»Meinst du, die suchen mich?«, fragte Li ängstlich.

»Dich, mich, irgendeine andere arme Socke.« Ray zuckte die Schultern. »Bleib besser hier versteckt, ich schaue, ob die Luft rein ist.«

»Sei vorsichtig!«

Er reichte ihr seine Wohnungskarte. »Hier. Falls ich nicht wiederkomme, kannst du meine Bude nehmen.«

Li hob abwehrend die Hände. »Nein, behalte sie. Wenn die mich ergreifen, dann führt sie das Teil geradewegs zu dir. Wenn du nicht auftauchst, versuche ich, irgendwie zur Botschaft des Solarbunds zu kommen. Das war mein Plan B gewesen.«

Auf den Gedanken war er gar nicht gekommen. »Warum hast du das nicht gleich gemacht, es wäre doch viel sicherer gewesen?«

»Ich wollte dich sehen. Wenn ich schon mal in der Gegend bin.« Ihr Lächeln traf sein Herz.

Leider war keine Zeit, es wirken zu lassen. »Was, wenn sie dich durchsuchen?«

»Niemand weiß, dass gerade ich den Datenstick habe, er wurde mit der Styx zerstört oder fiel den Adventiven in die Hände. Lieber würde ich natürlich mit dir fliehen, also pass auf dich auf!« Sie beugte sich vor und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann zog sie sich in den Schatten zurück.

Ray schluckte. So angenehm dieser Kuss war, so sehr fühlte er sich nach einem Nimmer-Wiedersehen an. Er wollte nach ihrem Arm greifen, sie an sich ziehen, ihre Nähe spüren und nie wieder loslassen. Er riss sich zusammen, auch wenn die erneute Trennung beinahe körperlich schmerzte, und schlich in die entgegengesetzte Richtung, aus der die Schritte hallten. Er musste zumindest die Soldaten soweit ablenken, dass Li nicht entdeckt wurde.

Er kam nur zwei Häuserblocks weit.

»Fähnrich Vandenberg!«, ertönte es in festem Ton hinter ihm. Die Worte schossen Ray wie ein Stromschlag durch Mark und Bein und ließen ihn zusammenzucken. Er kannte die tiefe Stimme nur zu gut. War nun alles vorbei? So knapp vor dem Ziel?

Er schloss kurz die Augen, atmete tief durch und drehte sich um. Ein allzu bekanntes Gesicht schaute ihn mit hellblauen Augen unter buschigen, weißen Brauen streng an. Trotz der geringeren Körpergröße strahlte sein Vorgesetzter durch die aufrechte Haltung und den festen Blick noch immer großen Respekt aus. Ray fühlte sich wie der eingeschüchterte Junge an seinem ersten Tag in der Akademie. Er schluckte hart, hielt dem Starren jedoch tapfer stand. Obwohl ihm die Angst die Kehle zuschnürte, gab er dem inneren Drang nach und stand stramm.

»Sir«, sagte er aus rauer Kehle. Schweiß brach in seinem Nacken aus. Jetzt war alles vorbei. Er hatte verloren. Li war auf sich allein gestellt.

Admiral Steele betrachtete ihn von oben nach unten und sein Blick verlor an Strenge. »Junge, was machst du für Sachen?« Der vorwurfsvolle, beinahe mitleidige Ton war für Ray schwerer zu ertragen als jede körperliche Bestrafung. Er erweckte einen stillen Zorn, den die Angst jedoch erstickte.

»Ich bin erwachsen, Sir.«

»Du hast dich dem Militär verschworen.«

Ray biss die Zähne zusammen. Nur, weil er von seinem Vater dazu gezwungen worden war.

Der Admiral atmete tief durch. »Wenn du ohne Widerstand mit mir kommst, kann ich deine Strafe vielleicht abmildern. Ich würde mich dafür einsetzen, dass du nicht desertiert bist, sondern lediglich eine Auszeit genommen hast. Wenn du einer Therapie zustimmst, müsstest du vielleicht nicht einmal ins Gefängnis.«

Ray nahm all seinen Mut zusammen und richtete sich auf. »Ich weiß Ihr Bemühen zu schätzen, Sir, aber ich werde nicht zurückkehren.« Nicht zur Akademie und schon gar nicht zu seinem Vater.

»Dann wirst du vor das Militärgericht kommen und wegen Dienstverweigerung und Landesverrats angeklagt werden. Willst du das? Ich kenne deine Fähigkeiten, du hast so viel geistiges Potential, das ich ungern im Gefängnis vergeudet sehen würde.« Die stahlblauen Augen des Admirals blickten derart eindringlich, dass Ray beinahe in die Knie sackte. »Wirf dein Leben nicht so leichtfertig fort! Du hast keine Möglichkeit zur Flucht. Akzeptiere deine dir zugeteilte Aufgabe! Du kannst es einmal weit bringen, davon bin ich überzeugt.«

Er zwang seine Muskeln, nicht zu zittern wie ein verängstigter Hundewelpe. »Ihr Vertrauen ehrt mich, Admiral, aber ich werde nicht zurückkehren.«

Admiral Steeles weiße Brauen senkten sich, eine tiefe Falte bildete sich auf seiner Stirn. »Entweder zurück zum Campus oder ins Gefängnis, was ist dir lieber?«

Obwohl sich die tiefe Stimme wie eine sanfte Decke über Rays angespannte Nerven legte, fühlte er sich ausgeliefert. Er presste die Kiefer aufeinander, brachte aber kein Wort heraus. Wut besiegte die Angst.

Das stille Duell dauerte eine gefühlte Ewigkeit, doch Ray hielt dem strengen Blick des Admirals stand, auch wenn es schwerfiel. Auf der Akademie hatte Ray keine Freunde gehabt, er war ein bockiger, verletzter Junge gewesen, der den gesamten Planeten verabscheute und sein Leben hasste. Er hatte bestraft werden wollen, leiden und sich selbst quälen. Nur die Begegnung mit Li hatte das kurzfristig geändert, doch nach ihrem Weggang war Ray in ein erneutes Loch gesunken.

Admiral Steele hatte seinen inneren Schmerz erkannt und sich seiner angenommen. Der ansonsten strenge Offizier wurde sein Mentor und zu dem Vater, den Ray sich immer gewünscht hätte. Für den Admiral hatte er schließlich seine Rebellion aufgegeben, gehorsam gelernt und trainiert. Ray hatte gewollt, dass der Admiral stolz auf ihn war, und es auch erreicht. Doch in der Nacht nach seiner Ernennung zum Fähnrich, nach der Gastrede des Generals, war diese Fassade der heilen Welt in sich zusammengebrochen. Ray hatte wach auf seiner Pritsche in der Militärschule gelegen und sich seine mögliche Zukunft ausgemalt: Wie er den Dienst auf einem Flaggschiff des adventiven Militärs antreten würde, mit Ehrenabzeichen behangen wurde, wie stolz der Admiral und selbst sein Vater auf ihn sein würden. Die Familienehre wäre gerettet. Doch statt des Gefühls der Vorfreude war ihm nur übel geworden bei dem Gedanken.

Ihm wurde damals bewusst, dass er sein zukünftiges Ich noch mehr hasste als sein gegenwärtiges.

In dieser Nacht hatte er beschlossen, zu fliehen.

Es war ihm gelungen. Für wenige Monate.

Nun stand der Mann, den er früher so bewundert und nun derart enttäuscht hatte, erneut vor ihm und bot Ray die Zukunft an, die er zutiefst verabscheute. Doch wie sollte er es dem Admiral erklären? Er würde es nicht verstehen. Kein gläubiger Adventiv würde es.

Wie zur Rettung piepte der Kommunikator des Admirals. Ohne den Blick von Ray zu nehmen, hob Steele seinen rechten Arm und sprach in das Gerät an seinem Handgelenk. »Ja?«

»Sir, kommen Sie unverzüglich in Sektor 35.7!«

»Negativ. Ich habe einen Flüchtigen gestellt.«

»Wir haben das Projekt Terra geortet, Sir.«

Die Augen des Admirals weiteten sich, er löste den Blick von Ray und sah auf den kleinen Bildschirm seines Kommunikators. »So nah? Sind Sie sicher?«

»Positiv.«

Ray zögerte nicht. Jetzt oder nie. Er nutzte die Gelegenheit und huschte in die Straße neben ihm. Sein Herz raste, als er, so schnell er konnte, durch die schmale Gasse rannte, die Rufe des Admirals in seinem Rücken.

»Raynald! Verdammt, mach dich nicht unglücklich!«

Steele zog sicher seine T-Gun, eine moderne Schusswaffe mit Schockfunktion, aber die Straßen waren so verwinkelt, dass ihm diese nicht viel nutzen würde. Ray musste zum Schiff, koste es, was es wolle, und hoffen, dass es auch ohne Test starten würde.

Li! Verdammt, er hatte ihr versprochen, sie mitzunehmen, aber wo war sie? War sie gar das Projekt Terra, nach dem Steele suchte? Das würde erklären, warum er in dieser Gegend war. Womöglich hatten sie nach ihr Ausschau gehalten und Ray nur durch Zufall entdeckt. Doch wie könnte er sie jetzt noch finden oder warnen? Sie hatten nicht einmal Nummern ausgetauscht.

Er hoffte, sie würde es bis zur Botschaft schaffen. Als Terranerin wäre sie dort in Sicherheit. Die Regierung würde niemals zugeben, etwas mit dem Angriff auf ein Forschungsschiff der Erde zu tun zu haben. Wenn einer da wieder rauskam, dann war es Li!

Schweiß rann seinen Körper hinunter, als er den Recyclinghof endlich erreichte. Über ihm ertönten Propellergeräusche. Er sah schwer atmend hinauf. Mehrere Polizeiflieger näherten sich mit Blaulicht und setzten zur Landung an. Verflucht, er würde Li nicht mitnehmen können. Hatte kaum Zeit, die eigene Haut zu retten.

Er schluckte hart, öffnete die stählerne Tür mit seiner Angestellten-Karte und trat über die Schwelle. Ein lautes Bellen empfing ihn, gefolgt von einem Knurren in einer derart tiefen Frequenz, dass es jedem die Nackenhaare aufstellen würde. Devil und Death, die zwei großen hellbraunen Wachhunde Bens, kamen auf ihn zu gerannt.

»Hey, alles gut, ich bin es«, flüsterte er ihnen zu. Sie erkannten ihn und wedelten freudig. Er streichelte den beiden erleichtert über das lange Fell. Devil versuchte, an ihm hochzuspringen und sein Gesicht zu lecken.

Ray knuddelte ihm den Kopf. »Auf Wiedersehen, ihr zwei. Passt gut auf, dass hier keine Soldaten eindringen, in Ordnung?« Er klopfte sich die hellen Hundehaare von der schwarzen Arbeitshose und lief über den menschenleeren Hof zur Pax, die beinahe erwartungsvoll an ihrem Platz stand. Sein Herzschlag beschleunigte sich bei dem Anblick. Würde sie den Start schaffen? Noch hatte er kaum eines der Systeme ausreichend getestet.

Als sich die metallene Luke klackend hinter ihm schloss und ihn ein schwach beleuchteter Gang mit bedrückender Stille empfing, wurde ihm das Ausmaß so richtig klar. Er würde hier und jetzt seiner Heimat den Rücken kehren und ins Ungewisse reisen. Vielleicht in ein besseres Leben, vielleicht in den Tod.

Trotz der Sorge spürte er eine verlockende Abenteuerlust aufsteigen. Endlich würde sich etwas ändern, endlich ging es weiter in seinem Leben.

Er ging den Metallboden entlang zur Brücke, ein runder Raum ganz vorn im Schiff, der etwa sechs Quadratmeter umfasste. Er bestand lediglich aus zwei bequemen Sesseln mit Konsole und einigen Anzeigen hinter dem Geländer an den Seiten. Einen funktionierenden frontalen Schirm besaß das Schiff nicht, die Projektion würde auch zu viel Energie benötigen.

Ray setzte sich an das rechte Pilotenpult und gab die nötigen Daten ein. Nun würde es sich zeigen, ob das illegale Programm der Schlepper sein Geld wert war oder ob er betrogen wurde. Dann wäre alles aus. Aus dem Militärgefängnis würde er niemals fliehen können.

Er hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken oder einen weiteren Blick zu riskieren, startete den Antrieb, stellte den Kurs ein und hob ab.

Als sich der Frachter geschmeidiger als gedacht erhob und die Schleusen der Kuppel ihn ohne Probleme passieren ließen, folgte Rays Herz dem Aufstieg. Er fühlte sich leicht und befreit. Als ließe er mit der dünnen Marsatmosphäre auch die dunklen Wolken seiner Seele unter sich. Über den Bildschirm seiner Konsole warf er einen letzten Blick auf den roten Mars mit seinen vielen Kuppeln und überdachten Städten. Endlich würde er diesen vermaledeiten Planeten verlassen.