Leseprobe Sommerduft und Weißweinküsse

Kapitel 1

»Ich liebe dich.«

Hatte Leah das tatsächlich gehört?

»Niemand hat solche moosgrünen Augen wie du, Leah!«

Schlagartig fühlte sie sich nüchtern. Das durfte nicht wahr sein. Und wenn, hatte Tom es hoffentlich nicht so gemeint. Bis vor einer Minute war dies die lustigste Geburtstagsfeier gewesen, die Leah je erlebt hatte. Sie war zweiunddreißig geworden, und ihr Leben könnte nicht besser sein.

Tom legte seine Hand auf ihre. »Und dazu deine Schneewittchenhaut! Ich krieg dich einfach nicht aus dem Kopf …«

Hastig zog sie ihre Hand weg, griff nach ihrem Glas und trank aus. Es war schon spät, und ihre Gäste waren bereits gegangen. Nur Tom saß noch bei ihr in der Karaokebar in Freiburg. Der Einzige, den sie nicht eingeladen hatte. Warum auch? Sie hatte ihn seit zwei Jahren nicht gesehen.

Alle, die in Leahs Leben eine Bedeutung hatten, waren da gewesen – bis auf ihre beste Freundin Silvie. Sie konnte nicht, weil ihre kleine Tochter krank war.

Und dann, gegen zehn Uhr, war Tom plötzlich aufgekreuzt und hatte jede Gelegenheit genutzt, in Leahs Nähe zu gelangen. Jetzt saß er ihr gegenüber, das Kinn in die Hand gestützt, und betrachtete sie mit versonnenem Blick. Leah beschloss, auf sein Gemurmel nichts zu erwidern. Sicher hatte sie es sich nur eingebildet. Mit den Fingern fuhr sie sich durch das lange Haar, das bei dem Abba-Auftritt vorhin durcheinandergeraten war.

»Wir sollten gehen, Tom.« Die Unsicherheit, die seine Worte in ihr wachgerufen hatten, ärgerte sie. »War eine schöne Party, oder?«

»Absolut! Hörst du, welches Lied gerade gesungen wird?«, fragte er dann.

Sie lauschte. O nein, Nickelbacks »Trying not to love you«. Kein Wunder, dass er rührselig war. Leah deutete ein Nicken an, drehte sich um und hielt nach dem Barkeeper Ausschau, um ihm zu bedeuten, dass sie zahlen wollte. Der warf den Bon aus und schlängelte sich zum Tisch durch.

Nachdem Leah gezahlt hatte, klopfte sie mit der Hand auf den Tisch. »Zeit fürs Bett, Tom. Wie kommst du nach Hause?«

Er hörte ihre Frage nicht, denn mit dem ausklingenden Lied sang er leise mit: »… cause trying not to love you only makes me love you more

Leah verdrehte die Augen. »Tom, bitte, das bringt nichts.«

Tom und sie hatten sich vor zwei Jahren getrennt, und erst vor Kurzem hatte Leah es geschafft, ihn nicht mehr zu hassen. Und das, obwohl er sie in ihren drei gemeinsamen Jahren mehrmals betrogen hatte.

»Leah, ich vermisse dich.«

Sie schluckte. Sein Geständnis kam unerwartet und weckte Erinnerungen, die sie nicht mehr zulassen wollte. Zu sehr hatte er sie verletzt. »Unsinn. Du machst dir was vor.«

»Ich würde gern wieder mit dir zusammenziehen, Leah.«

Das meinte er ernst!

»Blödsinn … Lass uns gehen.« Sie angelte nach ihrer Jacke und Handtasche und schob sich auf der Bank hinter dem Tisch heraus. Dann griff sie nach seinem Oberarm, um ihn zum Aufstehen zu bewegen. Er schwankte leicht und warf ihr den Dackelblick zu, mit dem er sie in der ersten Zeit ihrer Beziehung zu allem hatte herumkriegen können. Sie lachte unsicher und beschloss, ihn nach draußen zu lotsen. Sie zog ihn hinter sich her durch das Lokal und winkte ein paar Bekannten zu.

Der Kellner öffnete mit einem Augenzwinkern die Tür. »Gute Nacht.«

Draußen ließ sie Tom los, zog ihre leichte Jacke über und sah ihm in die Augen. »Tom, hör mir zu.«

Er schwieg.

»Du fährst jetzt mit dem Taxi nach Hause, schläfst dich aus, und morgen, wenn du wieder nüchtern bist, ist alles gut.«

Er legte ihr eine Hand auf den Arm. »Gib mir eine letzte Chance, Leah. Ich gelobe Besserung!«

»Du hattest deine letzte Chance bereits, das hat nicht funktioniert. Uns beide gibt es nicht mehr als Paar. Nie mehr.«

Leah war erst hinter Toms Untreue gekommen, als Silvie es nicht mehr aushielt, seine Betrügereien mit anzusehen, und ihr reinen Wein einschenkte. Tom war der Typ Schwiegermuttertraum. Aber dass er seinen Jagdtrieb einfach nicht in den Griff bekam, hatte ihrer Beziehung das Genick gebrochen. Es war Leah nicht leichtgefallen, ihre Vision von Tom und sich zu begraben, und erst, nachdem ihr das gelungen war, hatte sie wieder Leichtigkeit zulassen können.

In diesem Moment hatte sie nicht die geringste Lust, ihre gemeinsame Geschichte nochmals durchzukauen, zumal er getrunken hatte. Am nächsten Morgen sähe er es hoffentlich wieder mit anderen Augen.

Kurzerhand winkte Leah ein Taxi herbei, das in Sichtweite wartete, nannte dem Fahrer Toms Anschrift und bugsierte ihn auf die Rückbank. Leahs Frage, ob er genug Geld dabeihabe, beantwortete er mit einem Nicken.

»Gute Nacht.« Leah blickte den Rücklichtern hinterher, als sich das Taxi in den Verkehr einreihte. Nachdenklich drehte sie sich um und machte sich zu Fuß auf den Weg nach Hause, denn sie musste nur quer durch die Altstadt, und es war eine laue Sommernacht. Leah brauchte einen Moment, um die Gefühle abzuschütteln, die Toms Geständnis in ihr wachgerufen hatte. Sie wollte ihn nicht wieder in ihr Leben lassen.

Langsam schlenderte sie durch die leeren Straßen zum Schwabentor, in dessen Nähe sie wohnte, und ließ den Tag Revue passieren. Es war eine schöne, ausgelassene Geburtstagsparty gewesen. Nur der Moment, als ihre Freunde die scheinbar unvermeidliche Frage aufbrachten, warum sie nach zwei Jahren noch Single war, hatte sie nachdenklich gemacht. Und dann tauchte Tom auf und verunsicherte sie mit seinem Geständnis noch mehr.

Früher hatte Leah geglaubt, man könne nicht glücklich sein, wenn man allein war. Völliger Quatsch. Nach der Geschichte mit Tom hatte sie von den Kerlen erst einmal die Nase vollgehabt. Ihn hatte sie ernsthaft für ihren Traummann gehalten. Inzwischen wusste sie, dass sie sich das damals erfolgreich eingeredet hatte, weil es mit siebenundzwanzig Jahren langsam Zeit wurde, den Partner fürs Leben gefunden zu haben. Alle in ihrem Alter waren jedenfalls mehr oder weniger fest liiert.

Tom war, als sie ihm seine Untreue auf den Kopf zusagte, ehrlich zerknirscht gewesen. Und sie Dummkopf hatte sich überreden lassen, es noch einmal zu versuchen. Noch heute wurde ihr flau im Magen, wenn sie daran dachte, wie sie nur zwei Wochen später vorzeitig von einem Übersetzungsseminar zurückgekommen war. Sie hatte ihn vermisst. Und dann hatte sie ihn mit seiner Ex in ihrem Bett erwischt. Das war der endgültige Schlusspunkt gewesen.

Sie war an dem Mietshaus angekommen, in dem sie ganz oben wohnte – eine wunderschöne kleine Wohnung mit winziger Dachterrasse. Sie schloss auf und stieg die drei Stockwerke nach oben.

In ihrer Wohnung zog sie ihr Handy aus der Tasche, um es an das Ladekabel anzuschließen. Aus Gewohnheit checkte sie den Maileingang. Sie hatte sich als Übersetzerin in ihren Spezialgebieten Weinbau, Hotelfach und Landwirtschaft einen Namen gemacht. Es war ein Glücksgriff gewesen, ihre Liebe für Sprachen mit ihrer Naturverbundenheit, der Lust an gutem Essen und an Weinen – ein Erbe ihres in der Champagne aufgewachsenen Vaters – zu verbinden und zum Beruf zu machen. Sie hatte sich Übersetzen bereits mit zwölf Jahren als Traumberuf erkoren, und daran hatte sich nichts geändert.

Wenn man nach einer Übersetzerin für diese Bereiche googelte, tauchte der Name Leah Bonnet sogar unter den ersten Einträgen auf. Das hatte sie sich erarbeitet, und sie war stolz darauf.

Tatsächlich entdeckte sie an diesem Abend eine Übersetzungsanfrage in ihrem Postfach.

Sehr geehrte Frau Bonnet,

ein französischer Kollege hat mir Ihren Namen genannt, als ich mich nach einer guten Übersetzungsagentur erkundigte. Ich bin elsässischer Weinbauer und erweitere meinen Absatzmarkt in Deutschland und Frankreich. Ich brauche möglichst bald mehrere Übersetzungen und Überarbeitungen meiner Werbetexte für Produktflyer und meine neue Website, die auf Französisch und Deutsch sein soll. Man sagte mir, Sie sind zweisprachig, kennen sich in der Branche aus und liefern zuverlässig und schnell. Sie müssten meine Textvorlagen der hochdeutschen Sprache anpassen und ins Französische übersetzen.

Im Mailanhang finden Sie die Texte, um die es geht. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir bis übermorgen Ihr Angebot unterbreiten könnten.

Mit freundlichen Grüßen

Marc Wolfler

Wolfler – das Weingut war ihr vage ein Begriff. Sie erinnerte sich an das Familienunternehmen, das sie vor vielen Jahren kennengelernt hatte, als sie mit Silvie zusammen an der Elsässer Weinstraße bei der Lese half. Eine wunderschöne Region, und die Menschen sprachen meist den elsässischen Dialekt. Das Ehepaar, das das Gut damals geführt hatte, war sehr freundlich gewesen. Offensichtlich lag das Unternehmen nach wie vor in Familienhand.

Leah öffnete den Dateianhang und überflog die Texte. Der Aufbau der Flyer gefiel ihr, er war modern und selbstbewusst. Die Inhalte waren für Leah kein Neuland, obwohl Familie Wolfler von den üblichen Floskeln abwich. Hier und da war tatsächlich der dialektale Einfluss zu spüren. Es sprach nichts dagegen, den Auftrag anzunehmen. Es dürfte leicht verdientes Geld werden, auch wenn es eilig klang. Leah beschloss, die Anfrage gleich am nächsten Tag zu beantworten. Wie schön, wieder an die Zeit mit Silvie im Elsass zu denken. An das besondere Licht, das am frühen Morgen und abends die gesamte Region wie ein Märchenland aussehen ließ. Leah freute sich auf diesen Auftrag.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen spürte Leah nur leichten Druck im Kopf. Gut, dass sie gestern nicht zu viel getrunken hatte. Nach einer ausgiebigen Dusche setzte sie sich mit einer Tasse Kaffee und ihrem Frühstücksmüsli an den Schreibtisch und fuhr den PC hoch, um die Mail von Herrn Wolfler zu öffnen. Sie klickte auf »Antworten«.

Sehr geehrter Herr Wolfler,

gern übernehme ich diesen Auftrag. Meine Konditionen finden Sie in meiner Honorartabelle im Anhang.

Mit freundlichen Grüßen

Leah Bonnet

Er reagierte schnell. Zehn Minuten später hatte sie seine Bestätigung. Wunderbar, durch den kleinen Zeitdruckaufschlag würde sie damit eine schöne Summe verdienen. Entschlossen begann sie mit dem ersten Flyertext und war nach kurzer Zeit so in ihre Arbeit vertieft, dass sie alles um sich herum vergaß. Wie immer, wenn sie in die Feinheiten des Weinbaus einstieg, fühlte sie sich ihrem Vater nahe. In ihrer Kindheit hatten sie oft die Sommerferien in seiner Heimat verbracht und ihren Onkel besucht, der Kellermeister bei einer der berühmtesten Champagnermarken war. Den Geruch der Crayères, der unterirdischen Kreidestollen bei Reims, in denen der Champagner lagerte, verband sie mit wunderschönen Erinnerungen, und der typische, leicht gärige Traubenduft in den Kellern löste unweigerlich Wohlbefinden bei ihr aus. Der Effekt stellte sich auch ein, wenn sie an Texten arbeitete, die mit der Thematik zu tun hatten, so wie jetzt. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb sie ihre Arbeit so liebte.

Als das Telefon klingelte, schrak sie auf. Sie checkte die Nummer auf dem Display und ging ran. »Hallo Silvie!«

»Na, wie geht’s dir?«

»Prima. Ich habe einen neuen Übersetzungsauftrag. An dem sitze ich gerade.«

»Es tut mir so leid, dass ich gestern nicht kommen konnte.« Silvie wusste alles über Leah und sie alles über Silvie. Seit der Oberstufe im Gymnasium waren sie beste Freundinnen. Sie hatte Leah damals ein paar Jahre hintereinander zur Weinlese mitgenommen – meist im Elsass, weil ihre Großeltern von dort stammten. Sie hatte nicht lange gebraucht, um Leah zu überzeugen. Seit Silvie ein Kind hatte, war sie für Leah wie eine Heldin. Leah verstand nicht, wie sie es schaffte, den Familienalltag und ihren Beruf unter einen Hut zu bekommen. Sie schrieb immer noch für die größte Württembergische Tageszeitung und außerdem für mehrere Magazine, darunter das eine oder andere für Frauen.

»Ja, schade. Geht’s Kim wieder gut?«

»Geht so. Sie schläft noch. Du, sag mal, magst du nicht auf eine Tasse Kaffee vorbeikommen? Hier wartet eine Überraschung auf dich. Und ich kann ja nicht weg wegen Kim.«

In letzter Zeit schafften sie es selten, sich zu treffen. Leah schielte auf den Bildschirm und sah, dass sie ein ordentliches Stück weggearbeitet hatte. Eine Pause konnte nicht schaden.

»Super Idee«, sagte sie also. »Ich bin in ein paar Minuten bei dir.«

Silvie wohnte in ihrem Elternhaus im historischen Zentrum des Städtchens. Wenig später huschte Leah durch die angelehnte Eingangstür ihres Häuschens hinein und zog sie leise ins Schloss. Ihre fünfjährige Patentochter Kim hatte einen leichten Schlaf, und wenn sie krank war, wachte sie noch schneller auf. Leah schlich zur Küche, aus der sie leise das Radio hörte.

Silvie stellte gerade zwei Untertassen neben eine Schale mit Gebäck auf den Tisch. Sie sah Leah, kam auf sie zu und zog sie in die Arme. »Alles Liebe! Wie war die Karaokeparty?«

Während Silvie Kaffee aufbrühte, schilderte Leah, wie sie den Tag verbracht hatte. »Es war schön«, schloss sie, »nur eines nervt.«

»Was meinst du?«

Sie schnalzte mit der Zunge. »Die ewige Frage, warum ich Single bin.«

Silvie zog eine Braue hoch und schob ihr den Teller mit den Keksen hin. »Mach dir nichts daraus. Wahrscheinlich meinen sie es gut.«

»Kann sein, trotzdem fühle ich mich, als müsse ich mich rechtfertigen.« Silvie beobachtete sie über den Rand ihrer Tasse hinweg und schwieg. Leah machte eine vage Bewegung mit dem Arm. »Außerdem ist Tom gestern aufgekreuzt, stell dir vor! Und er wurde umso anhänglicher, je mehr er intus hatte.«

Silvie wusste, wie lange Leah gebraucht hatte, um ihren Groll über Tom zu verarbeiten. Wie oft hatte ihre Freundin sie getröstet und ihr Papiertaschentücher gereicht, um sich die rotverheulten Augen zu wischen und die Nase zu putzen.

»Nicht wirklich, oder?« Silvie zog eine missbilligende Grimasse. »Warte eine Sekunde.« Sie sprang auf und verließ die Küche. Kurz darauf kam sie mit ihrem Notebook zurück. »Ich sagte doch, ich hätte eine Überraschung für dich …« Sie schob ihre Tasse zur Seite, öffnete das Notebook und fuhr es hoch. »Ich finde, du solltest dir was gönnen.«

»Was gönnen?«

Sie hackte auf die Tastatur ein und nickte. »Genau, und damit kommen wir zu meinem Geschenk. Was hältst du von ein paar Wellnesstagen? Einfach ausspannen und dich verwöhnen lassen.«

Leah musste lachen. »Hm, nicht gerade jetzt, ich habe doch diesen Übersetzungsauftrag bekommen.«

»Erzähl!«

»Genau mein Ding: ein paar Werbetexte für einen Weinbaubetrieb. Wolfler heißt er, im Elsass.«

»Im Elsass?« Ihr Gesicht strahlte. »Weißt du noch, die drei Jahre, in denen wir bei der Weinlese waren?«

»Allerdings.« Leah lächelte, weil Silvie verträumt aus dem Fenster blickte und dort offenbar Dinge sah, die sie selbst nicht wahrnahm.

»Erinnerst du dich, wie die Weinberge in der Sonne lagen? Sattgrün, und morgens der Tau in den Spinnweben?«

Sofort entstand das Bild vor Leahs innerem Auge. Die Weinberge, die sich in wellenförmigen Hügeln in der Region von Colmar und Ribeauvillé erstreckten. Sie sahen sich an und brachen in Kichern aus. Unvermittelt hob Silvie die Rechte, Leah klatschte ab.

»Das war eine geile Zeit«, sagte Silvie.

»Und nicht nur wegen der Landschaft.«

Silvie konzentrierte sich wieder auf den Computer und murmelte vor sich hin. Dann blickte sie auf. »Erinnerst du dich an meine Kolumne neulich über Ruheoasen in unserer hektischen Zeit?«

»Klar.«

»Dadurch bin ich auf die Idee für dein Geschenk gekommen. Bei der Recherche habe ich ein paar sehr schöne Wellnesshotels gefunden.«

Leah begriff. »Du willst mich in eines dieser Häuser schicken?«

Silvie nickte begeistert. »Genau, und das so schnell wie möglich.« Schon tippte sie wieder auf der Tastatur herum.

Leah konnte auf dem Bildschirm aufgrund des Winkels, in dem er eingestellt war, nicht viel erkennen; sie sah nur, dass Silvie mehrere Seiten nacheinander öffnete.

Währenddessen redete sie weiter. »Du kannst im Prinzip deine Übersetzung auch mitnehmen, oder? Wenn das so ein Traumjob ist, stört er ja nicht die Ruhe, die du dir gönnen sollst.«

»Schon … Was soll ich abends auch machen, allein im Hotel? Dort sind eh nur Rentner und Frauenbanden unterwegs.« Leah grinste.

Silvie zwinkerte ihr zu. »Sei dir mal nicht so sicher.« Sie klickte sich weiter durch ein paar Seiten. »Du würdest also fahren?«

»Muss es sofort sein?«, fragte Leah. So war Silvie schon immer gewesen. Sie war nicht der Typ, der Dinge aufschob.

»Warum nicht?«, stellte sie die lapidare Gegenfrage. »Du bist doch frei.« Sie feixte. »Jedenfalls sagst du das ständig.« Silvie drehte den Minirechner zu ihr um.

Darauf waren mehrere Hotels zu sehen, die in der besagten Weinbauregion lagen. Viel Fachwerk, viel Grün, viel Natur. Traumhaft schön. Aber jetzt, mitten in der Feriensaison? Da wäre doch alles überlaufen.

»Diese Wellnesshotels hier sind noch neu und haben alle vergleichbare Schnupperangebote.«

Sie schoben die Köpfe zusammen und klickten die kleinen Fotos nacheinander an, um sie zu vergrößern. Leah merkte, wie reizvoll sie Silvies Idee fand. Bei einem modernen Hotel mit dem Anhang Spa im Namen blieb sie hängen. »Das sieht gut aus«, sagte sie. »Geh mal auf die Homepage.«

»Ach ja, das kenne ich, es hat vor ein paar Monaten eröffnet.«

Leah sah ein schönes, modernes Haus, im Grünen gelegen. Eguisheim hieß der Ort. Bekannt für seinen Wein. Leah musste lachen. »Eguisheim? Dort liegt das Weingut, für das ich gerade übersetze.«

»Ha, wenn das kein Zufall ist! Nehmen wir es?«

»Ich denke drüber nach.«

Silvie tippte rasend schnell. »Zu spät.« Sie ließ sich nach hinten fallen, verschränkte die Arme und lächelte zufrieden.

»Wie jetzt?«

»Am Freitag fährst du nach Eguisheim. Zwei Übernachtungen. Mit der Option, auf eine Woche zu verlängern.« Sie strahlte. »Hot-Stone-Massage, Sauna und Pool inbegriffen, alles andere zubuchbar. Das ist mein Geschenk an die beste Freundin der Welt.« Sie zog Leah in die Arme. »Dort lässt du dich verhätscheln. Und du nimmst das neue Kleid mit, das wir dir ausgesucht haben. Keine Widerrede. Und wenn du klug bist, verlängerst du deine Auszeit auf eine Woche.« Sie zog den Kopf zurück und machte eine Schnute. »Vorausgesetzt natürlich, du erledigst diesen Traumjob in angemessener Zeit.«

Leah unternahm einen halbherzigen Versuch zu meutern. »Freitag? Das ist morgen! Spinnst du?«

»Ja, morgen. Genial, oder?«

Ein Grinsen stahl sich auf Leahs Gesicht. Typisch Silvie! Andererseits hatte sie recht. Ihre letzten Ausflüge waren allesamt beruflicher Natur mit eng getakteten Terminen gewesen. Da hatte es keine Möglichkeit gegeben zu entspannen. Ein Wochenende für sie. Und gab es für die Übersetzung der Wolflertexte einen besseren Rahmen als die elsässischen Weinberge? Wohl kaum.

Zu Hause rief Leah ihre Eltern an, um ihnen zu erzählen, dass sie verreisen würde. Ihre Mutter reagierte begeistert, als sie verstand, worum es ging.

»Gute Idee. Du siehst schon länger viel zu blass aus. Du vergisst vor lauter Arbeit ja das Leben. Und wer weiß, vielleicht triffst du dort jemanden wie Tom.«

»Du kannst es nicht lassen, oder? Ich bin glücklich. Außerdem reicht mir ein Tom im Leben völlig.« Leah beendete das Gespräch zügig, wie immer, wenn Mutter auf geplatzte Enkelträume zusteuerte. Trotzdem ließ sie sich davon nicht die Stimmung vermiesen, sondern arbeitete an der Übersetzung weiter.

Am frühen Nachmittag klingelte das Telefon, und noch bevor sie abhob, ahnte sie, wer dran war. Die Rufnummer im Display bestätigte ihren Verdacht. Mit einem Lachen meldete sie sich. »Na, wieder nüchtern?«

Toms Stimme hörte sich noch ein bisschen mitgenommen an. Er hatte gestern definitiv ein oder zwei Bier zu viel getrunken. »Ich will mich entschuldigen.«

»Schon gut. Hauptsache, dein Kopf ist wieder klar.«

»Hm«, druckste er herum. »Weißt du, in letzter Zeit muss ich oft an dich denken. Sehr oft.«

Nicht schon wieder! Dem Ziehen in ihrem Bauch wollte sie sich nicht stellen. »Tom, lass gut sein.«

Als er schwieg, redete sie weiter. »Du, ich fahre für ein paar Tage weg, in ein Wellnesshotel. Silvie hat mir das Wochenende zum Geburtstag geschenkt.«

»Oh, okay. Ich wollte dich eigentlich … Na, egal. Vielleicht können wir uns danach mal treffen?«

»Ach, Tom. Eher nicht. Ich habe auch so viel Arbeit …« Sie ließ den Satz in der Luft hängen.

Tom räusperte sich. »Verstehe. Dann genieß die Zeit. Ich krieg mich wieder ein.«

Das hoffte sie! Wieder brauchte sie eine Weile, um die Erinnerungen an Toms Umarmungen aus dem Kopf zu verbannen. Doch den restlichen Tag nutzte sie, um den zweiten Wolflertext roh herunter zu übersetzen. Irgendwann packte sie ihre Reisetasche, wobei sie Silvies Rat beherzigte und das Sommerkleid mitnahm, das sie noch nie getragen hatte.

Am späten Freitagmorgen tuckerte sie über urige Landstraßen, die von Weinbergen gesäumt waren. Über den Hügeln strahlte ein wolkenfreier Himmel und ließ sie wie samtene, saftig-grüne Wellen aussehen. Gegen Mittag sah sie von ihrem Auto aus das Hotel am Ende der Straße, etwas abseits des Winzerorts Eguisheim, und unverhofft machte die Vorfreude sie kribbelig. Ihr letzter Urlaub war schon so lange her!

Die erste Überraschung erwartete sie auf dem Parkplatz. Mit Mühe fand sie eine Lücke, und das nur, weil sie so ein kleines Auto besaß. Auf dem Weg zum Eingang des Hotels erkannte sie, dass das Haus größer war als gedacht. Ein modernes Gebäude, in dem viel Glas und Holz verbaut worden war. Der Architekt hatte ganze Arbeit geleistet, um eine Mischung aus hochmodernem Luxushotel und beschaulichem Fachwerkstil herzustellen. Wenn innen alles so schön war, wie das Haus von außen wirkte, erwartete Leah ein entspannendes Wochenende.

An der Rezeption empfing sie eine sehr schlanke Frau um die dreißig. Ihr perfekter Teint erinnerte sie an Nofretete; ein Eindruck, den die glatten, schwarzen Haare der Frau noch unterstrichen. Sie reichte Leah die Hand. »Madame Bonnet, herzlich willkommen. Ich bin Jeannette Ritter. Wir freuen uns, dass Sie unser Haus besuchen. Darf ich Ihnen einen Begrüßungscocktail reichen?«

Leah sah wohl etwas hilflos drein, denn während die Dame ihre Daten eintippte, fragte sie nach: »Möchten Sie einen Drink? Oder lieber ein alkoholfreies Getränk?« Mit eleganten Bewegungen trat sie dann hinter dem Tresen hervor und führte Leah zu einem kleinen Tisch, auf dem Sektgläser standen.

»Einen Hugo bitte«, sagte Leah. Doch als sie sah, wie Nofretete einen Crémant d’Alsace aus dem Kühlschrank nahm, änderte sie ihre Entscheidung.

»Wollen Sie diesen Crémant dafür verwenden?« Leah griff nach der Flasche, die Madame Ritter auf dem Tisch abgestellt hatte, um inzwischen den Holundersirup zu öffnen. Das Etikett war puristisch. Darauf prangte in einem kantigen, schattierten Schriftzug der Name des Weinguts, und in der rechten unteren Ecke war die Silhouette eines einzelnen Wolfs zu sehen. Leah erkannte das Motiv sofort wieder, denn es gehörte zu dem Weingut, dessen Texte sie übersetzte.

»Den würde ich lieber pur probieren.«

Jeannette Ritter sah ihr einen Moment in die Augen. Ihr Blick erinnerte sie nun ebenfalls an Nofretete. Eine Frau wie sie hätte Leah hier nicht erwartet. Sie atmete unwillkürlich den Duft ihres Parfums ein – eine edle Marke. Die Hoteluniform, bestehend aus Bleistiftrock und schmal geschnittener, ärmelloser weißer Bluse, stand ihr ausgezeichnet.

»Gern«, sagte sie schließlich lächelnd. »Ich würde ihn, ehrlich gesagt, auch nicht mischen. Andererseits ist ein Cocktail nur so gut wie seine Zutaten, und da können Sie mit dem Wolfler keinen Fehler machen, n’est-ce-pas?«

Sie schenkte ein, und nachdem der Schaum auf der hellen Flüssigkeit in sich zusammengefallen war, nahm Leah einen Schluck. Köstlicher, intensiver Fruchtgeschmack perlte auf ihrer Zunge. Sie nippte noch einmal und behielt den Crémant einen Moment im Mund.

»Ich sehe, er schmeckt Ihnen.« Nofretete schenkte Leah erneut ihr Lächeln. »Es ist ein Crémant aus unserer Region. Wolfler hier aus Eguisheim. Ich kenne den Winzer persönlich.« Wurde sie rot, als sie das sagte, oder war es nur eine Sinnestäuschung?

Leah schmunzelte. »Er schmeckt mir noch besser als vor dreizehn Jahren, als ich zur Weinlese hier war.«

»Ach, Sie kennen sich aus …« Ihr Lächeln wurde herzlicher. »Damals müssen die Senioren noch das Gut geführt haben, n’est-ce-pas? Ich bin erst seit acht Jahren hier.«

»Ja, ich kann mich dunkel an ein freundliches Ehepaar erinnern. Nach dem Abi habe ich in Heidelberg Übersetzen studiert und danach noch einige Jahre dort gelebt. Seit der Schule war ich nicht mehr hier.«

»Ah, daher auch der fehlende Akzent. Sie arbeiten mit Sprachen?« Jeannette Ritter taute sichtlich auf.

Leah beneidetes sie heimlich um ihren Oliventeint. Dagegen kam sie sich mit ihrer blassen Haut gleich käsig vor. Und wer behauptete, Sommersprossen seien sexy, hatte vermutlich nie den direkten Vergleich gesehen. Doch sie schob den Anflug kleinlichen Neids beiseite. Jeannette Ritter war ihr sympathisch, und sie dachte bei sich, dass der Mann, der mit ihr zusammen war, das große Los gezogen hatte.

»Ich bin Diplomübersetzerin«, beantwortete sie die Frage. »Und zufällig übersetze ich oft für Winzer, Sterneköche und Hoteliers. Macht Spaß und führt dazu, dass man ab und an in den Genuss kommt, einen edlen Tropfen zu kosten.« Sie nahm einen weiteren Schluck und hob das Glas hoch, sodass sie beide die Perlen beobachten konnten, die vom Boden des Glases nach oben trudelten. »Und jetzt raten Sie, von wem ich kürzlich einen Auftrag bekommen habe.«

Jeannette Ritter blinzelte. »Von Marc Wolfler etwa?«

Sie prostete ihr zu. »Von eben jenem. Jetzt weiß ich auch, welches Produkt ich damit bewerbe. Nicht übel.«

»Kennen Sie ihn?« Nofretetes Blick hatte etwas Lauerndes angenommen.

Leah schüttelte den Kopf. »Nur per Mail. Ich habe schon mit der Übersetzung begonnen, und da scheinen keine Stolpersteine auf mich zu warten.«

»Umso besser«, murmelte sie und stellte die Sektflasche in den Kühlschrank, um zurück hinter den Empfangstresen zu gehen. »Hoffentlich bleibt’s so.« Soeben betraten weitere Gäste die Lobby. Jeannette Ritter reichte ihr den Zimmerschlüssel und erklärte den Weg.

Bevor Leah der Beschreibung folgte, fragte sie: »Warum sagten Sie, hoffentlich bleibt’s so?«

»Na ja, der Winzer ist … schwierig.« Einen Augenblick schien es, als würde ihr Blick traurig, doch dann lächelte sie, nickte in Leahs Richtung und wandte sich den Neuankömmlingen zu.

 

Eine Stunde später hatte Leah ausgepackt und mit der Überarbeitung ihrer Rohübersetzung begonnen. Nun freute sie sich auf die Hot-Stone-Massage, die für sechzehn Uhr angesetzt war. Im weißen Bademantel, der im Zimmer bereitlag, durchquerte sie den Ruheraum vor den Behandlungszimmern und stellte fest, dass der Eindruck auf dem Parkplatz nicht getäuscht hatte: Das Hotel war für dieses Wochenende offenbar ausgebucht. Ältere Ehepaare und mehrere Frauengrüppchen hatten sich auf die bereitstehenden Liegestühle verteilt und unterhielten sich leise. Allerdings entdeckte Leah keine männlichen Gäste in ihrem Alter.

Dafür begrüßte sie in dem Behandlungsraum, in dem es nach Vanille und Zitronengras duftete, ein junger, drahtiger Mann namens Luc. Er bat sie, den Bademantel abzulegen und sich auf den Bauch zu legen. Dann deckte er ihren Po mit einem Handtuch ab. Er zeigte ihr die schwarzen, flachen Lavasteine.

»Die speichern besonders gut Wärme. Ich habe sie schön heißgemacht, und während ich Ihren Rücken und Ihre Beine vorbereite, lassen wir sie ein bisschen abkühlen.«

Mit vorgewärmtem Massageöl rieb er ihr den Rücken ein, wobei er echtes Talent an den Tag legte. Leah schlummerte fast weg, als er auch ihre Beine komplett mit Öl einrieb. In der völligen körperlichen Entspannung musste sie auf einmal an Tom denken. In der Zeit, bevor sie ahnte und dann wusste, dass er sie betrog, war ihre Beziehung sehr intensiv gewesen. Tom behandelte sie zuvorkommend, er war aufmerksam und ein wundervoller Liebhaber gewesen.

Der Masseur strich mit den Steinen in kreisenden Bewegungen über Leahs Rücken und weckte damit sinnliche Empfindungen. Sie blendete seine Anwesenheit aus und schaffte es auch, Tom wieder aus ihren Gedanken zu vertreiben. Ihr Kopf war angenehm leer, und sie driftete davon wie bei einer Meditation.

»Madame Bonnet …«

Schlagartig war sie wach und musste sich orientieren. Wo war sie?

Der Masseur beugte sich über sie. »Sie sind eingeschlafen.« Er grinste. »Ich glaube, die Massage hat Ihnen richtig gutgetan.«

Leah nickte schlaftrunken. Luc wurde plötzlich geschäftig. »Während ich aufräume, können Sie noch ein bisschen liegen bleiben …«

Er sammelte alle Steine ein und legte sie in eine Spüle, öffnete das Fenster, um zu lüften, und pfiff fröhlich vor sich hin.

»Danke, Luc, das war eine neue Erfahrung für mich.« Leah reichte ihm die Hand. Er schüttelte sie lächelnd. Angenehm matt schlurfte sie zu ihrem Zimmer zurück. Silvie hatte recht behalten: Das hier war genau das, was Leah brauchte. Das Leben war wunderbar.