Leseprobe Sommerkinder

Uno

Emily

Er war weg. Und anstatt darüber entsetzt zu sein, war ich es eher über meinen spontanen Impuls, loszulachen. Glücklicherweise konnte ich ihn unterdrücken, denn sonst hätte ich am Ende die Aufmerksamkeit der Umstehenden noch auf mich gelenkt. Und das wollte ich ganz sicher nicht, immerhin waren sie allesamt bewaffnet: mit Digitalkameras, Spiegelreflexapparaten und Smartphones, den modernen Spontaneitäts- und Intimkillern. Sie alle zeigten jetzt schlaff zu Boden, eine ungewöhnliche Richtung, wenn es dort keine speziellen Pflanzen oder die eigenen Schuhe festzuhalten galt. Niemand sagte etwas. Jeder schien zu erwarten, dass noch etwas passieren, sich alles aufklären würde. Vereinzeltes Stirnrunzeln, offenstehende Münder, irgendjemand räusperte sich. Ein Bild der Verwirrung: Die beiden Tourguides, die im Übrigen nicht weniger überrascht aussahen, und die bunten Angebotsflyer hatten uns etwas anderes versprochen.

Uns, damit meine ich eine Gruppe junger Touristen mit ähnlichen Herkunftsländern, ähnlichen Geschichten und ähnlich ratlosen Gesichtern. Bis auf das eines schlaksigen Engländers, der die Erinnerungswürdigkeit des Augenblicks erkannte und seine Hände nun hob, um grinsend ein Foto von der Szene zu schießen. Wie viele Likes er wohl dafür kriegen würde?

Uns, das heißt auch ich: Emily, dreiundzwanzig, Medizinstudentin aus Berlin. Auch ich war einem solchen Angebotsflyer gefolgt. Gespickt mit geradezu unecht farbigen Highlights, ausgehändigt von dem Rezeptionisten meines Hostels. Er hatte mir die gesamte Tour in schlechtem, aber umso überzeugenderem Englisch ans Herz gelegt. Bereits eine halbe Stunde später war ein vollklimatisierter silberner Van vor meinem Hostel vorgefahren. Ein Fahrzeug, das in seiner Sterilität und seinem fremdartigen Spiegelglanz vollkommen deplatziert gewirkt hatte. Ein Bestandteil des Westens, mit aller Gewalt in den Osten verpflanzt. Eines jener Touristen-Zugeständnisse mit dröhnendem Air-Conditioner, der mir schon beim Einsteigen mitten ins Gesicht blies. Als wollte er ungefragt demonstrieren, welche enormen Vorteile diese teurere Transportvariante mit sich brachte.

Ich nahm vorne hinter dem Fahrer Platz, da ich als letzte einer ganzen Reihe von Backpackern abgeholt worden war. Über das Rattern der Lüftung erhob sich die Stimme des Beifahrers und leitenden Tourguides der heutigen Veranstaltung. In bester Kellner-Manier begann er, die geplanten Programmpunkte aufzuzählen. Ein Wasserfall (einer der größten), eine Tempelanlage, ein Markt, ein typisch thailändisches Dorf (direkt nebendran), und daneben (wie praktisch) auch noch ein Reisfeld, ein zweiter Wasserfall, und zu guter Letzt der Grund, warum der bunte Flyer eine ganze Seite mehr umfasst hatte und deshalb theoretisch als Broschüre bezeichnet werden konnte: Das Mekka der Backpacker, ein „modernes Heiligtum“, wie ein Internet-User kurz nach seiner Entdeckung erkannt hatte. Und eigentlich nur der Wunsch nach ein wenig Individualität, nach einem Foto also, das Profilbildqualitäten besaß.

Die Tour im silbernen Großraumvan wurde schon seit einiger Zeit angeboten und so waren bereits eine Menge luftgekühlter Touristen über den Umweg mehrerer Marktstände, Dorfhäuser und Reisfelder zu jenem zweiten Wasserfall geleitet worden. Vor einigen Monaten hatte dort ein selbsternannter Backpacker die Besonderheit eines Felsens für seine Handykamera entdeckt. Er besaß die Form einer steinernen Welle und war durch jahrelange Wassertropfen mit einem augenförmigen Loch versehen worden. Der Backpacker hatte sich für ein Foto so positioniert, dass sein Gesicht hinter dem Wellenausläufer verschwunden war und er mit einem Auge durch das Loch hatte schauen können. Mit den Bildunterschriften #immerseyourself, #seetheworld, #thetravellerseye hatte er das Selfie hochgeladen – und innerhalb kürzester Zeit Tausende Gleichgesinnte erreicht. Das Auge des Reisenden war bereits nach wenigen Wochen im Internet zum Selfie-Ort des Jahres gekürt worden – und verdiente damit auch eine eigene Broschürenseite.

„You have thirty minutes. Toilets are there.“ Einer Handbewegung nach rechts folgte die Aufforderung des leitenden Tourguides, die Türen des Vans zu öffnen und sich in eine Reihe mit einer anderen Gruppe zu stellen. Sie war gerade mit einem zweiten, ähnlich silbrig glänzenden Bus auf dem Parkplatz des ersten Wasserfalls vorgefahren und strömte nun Richtung Aussichtsplattform.

Feuchte Hitze schlug uns entgegen, die sich unter dem bewölkten Himmel angestaut hatte. Die Gerüche, die mir in die Nase stiegen, hatten nichts Exotisches: Die Mischung aus erhitztem nassen Stein und grasbewachsener Erde hätte ich auch in Europa finden können.

Für ein Foto blieben pro Person gut vierzig Sekunden, ausreichend Zeit also, um mehr als eine Pose auszuprobieren. Sportbegeisterte konnten verschiedene Sprungtechniken üben, Kreative taten so, als würden sie sich mit den Händen gegen den Wasserfall im Hintergrund stemmen und weniger Experimentierfreudige wählten zwischen dem Kussmund- und Grimassen-Klassiker. Wer keinen Selfiestick mitgebracht hatte, fand genügend hilfsbereite Mitreisende, die sich im Gegenzug selbst fotografieren ließen.

Nur ein junger, braungebrannter Typ blieb am Rand stehen, als gehörte er nicht zu der Gruppe. Er sah aus wie einer jener Menschen, die sich ein Tier oder ein Baby anschaffen, um einen eigenen YouTube-Channel gründen zu können. Mehrfach tastete er seine Hosentaschen ab, bevor er zu fluchen anfing. Wie es schien, hatte er sein Handy im Hostel liegen lassen.

„Was soll ich hier ohne Kamera?“, fragte er auf Hochdeutsch. „Eindrücke sammeln?“

Keiner der Anwesenden wusste eine Antwort darauf.

Das Anstehen endete konsequenterweise in einer zweiten Schlange vor einigermaßen sauberen Touristen-WCs, danach führte eine dritte Schlange zurück in den eisgekühlten Van.

Der nächste Programmpunkt wartete bereits.

Die Tempelanlage erstreckte sich auf einem Hügel, der so nebelverhangen war, dass selbst fotowilligen Profis das vielseitig erprobte Lächeln verging.

„No worries, only one day in the year I see sun here.“ Das strahlende Lachen des Tourguides hätte sich fantastisch auf den trüben Bildern gemacht. Warum sie dann jeden Tag hierherfuhren? Das Lachen wurde um ein Schulterzucken ergänzt.

Bei Programmpunkt Nummer drei war das schon leichter zu erkennen, wurde der Aufbruch zu Programmpunkt vier (das authentische Dorf) doch genau in dem Moment bekanntgegeben, als auch der letzte Tourist unsicher nach einem Säckchen getrockneter Früchte oder vielleicht auch einer Tüte Nüsse gegriffen hatte (da jeder der zwölf Marktstände eines von beidem anbot, fiel die Wahl nicht besonders schwer). Eine Runde durch das ausgestorbene, authentische Dorf führte zu einem Reisfeld, das glücklicherweise breit genug war, um mehrere Leute gleichzeitig und nebeneinander Fotos schießen zu lassen. Die Zeit wurde langsam knapp, denn das Broschüren-Highlight war noch immer nicht erreicht.

Ein letztes Klicken der Apparate, Rückzug in den Van, Aufbruch zum zweiten Wasserfall. Der Air-Conditioner blies eifrig auf Hochtouren. Auf den hintersten Sitzen entbrannte eine Diskussion, wie man sich am besten durch das Auge des Reisenden ablichten lassen würde.

Ein großer Parkplatz erschien, aber wieder war der zweite Silbervan schneller gewesen und entleerte seine Fahrgäste bereits. Aufgeregtes Kamerazücken und ein kurzer Weg über glitschige Steine.

„Wo ist er denn jetzt?“, fragte der Deutsche ohne Handy.

Das strahlende Lachen des Tourguides war einem Stirnrunzeln gewichen. Dreißig Augenpaare wanderten von ihm zu der Steinwelle, deren berühmtes Loch scheinbar so groß geworden war, dass es einen Teil des Steins aufgefressen hatte. Die Welle hatte sich halbiert, als wäre sie mit einem Messer zerteilt worden. Das Murmeln unter den Toursiten wurde lauter, aufgeregter.

„Kann man so was stehlen?“

"Ist das ein Witz?"

"Kriegen wir jetzt unser Geld zurück?"

Die Laune des Deutschen besserte sich dagegen mit einem Schlag. Er würde nicht mehr der Einzige ohne ein Selfie mit dem Traveller’s Eye sein.

Die Augenpaare der Reisenden wechselten zu ihm. Ein schlaksiger Engländer schoss ein Foto von der zerteilten Welle. Er würde sicher viele Likes dafür bekommen.

Ja, ich denke, das war der Anfang.

Ich packe meinen Koffer

Emily

Es raschelte. Erst lauter, dann wieder leiser. Ich fluchte und hielt inne. Bis auf das gleichmäßige Surren des Deckenventilators war es ganz still im Zimmer. So still, dass ich mir einreden konnte, alleine zu sein. Das stimmte aber nicht. Mir war eine Wölbung aufgefallen, im Stockbett rechts an der Wand. In der unteren Etage schien eine Person zu schlafen, obwohl es erst fünf Uhr nachmittags war. Vielleicht ein Neuankömmling, so wie ich selbst, dem der Jetlag zu schaffen machte.

Es war ein dunkles, heruntergekommenes Zimmer, aus dessen Ecken und Ritzen ein modriger Geruch sickerte. Ich hatte mir vom ersten Moment an fest vorgenommen, diese Stellen zu übersehen. Ich hatte Angst vor Spinnen und kriechendem Ungeziefer und hatte das ungute Gefühl, in jeder Ecke genügend von beidem finden zu können. Das einzige Fenster war klein und wurde von einem dunkelbraunen, fleckigen Vorhang erstickt. Ansonsten wurde jeder freie Zentimeter des Raumes von den sechs Schlafstellen ausgefüllt, auf denen sechs unterschiedliche, bleiche Bettbezüge lagen, und von sechs nicht verschließbaren Schrankkästen. Bisher war ich keinem meiner Mitbewohner begegnet, obwohl ich annahm, dass es sich um fünf Frauen handeln musste. Immerhin hatte ich einen 6-Bed-Female-Dorm gebucht.

Als ich am Vorabend in Bangkok angekommen war, war es bereits spät gewesen. Übermüdet und aufgeregt war ich in das dunkle Sechsbettzimmer geschlüpft, in dem kein Licht mehr brannte. Mithilfe meiner Handylampe hatte ich so leise wie möglich meinen Rucksack abgestellt und die untere Matratze des linken Hochbettes bezogen. Eine Stunde war ich wach geblieben und am nächsten Morgen trotzdem als Letzte aufgestanden. Verwirrt und verschlafen hatte ich mich an der Rezeption nach einem Frühstück und einer Stadtkarte erkundigt. Dort hatte man mir den Ausflug zum berühmten Traveller’s Eye empfohlen, laut Rezeptionisten eine einmalige Gelegenheit. Und da ich zum ersten Mal in meinem Leben vollkommen alleine war, hatte ich Ja gesagt. Die Aussicht auf eine kleine Reisegruppe war mir tröstlich vorgekommen. So war ich mitgefahren, im eisgekühlten Silbervan.

Nun, zurück in meinem Zimmer, fühlte ich mich verschwitzt und müde, obwohl ich erst vor wenigen Stunden aufgestanden war. Das schwüle Wetter drückte mir auf die Stimmung. Wieder griff ich in meinen Backpackrucksack und wieder raschelte es.

Niemals hätte ich gedacht, auf so wenigen Quadratmetern so wenig Ordnung halten zu können. Eine ganze Woche hatte ich nach dem richtigen Rucksack-Modell gesucht. Ich hatte sämtliche Internet-Anbieter durchgeklickt, mich in Foren belesen und war mit meiner Mutter in einem Spezial-Geschäft gewesen. Der Verkäufer hatte erfahren gewirkt, nicht zuletzt dank seines üppigen Hipster-Bartes. „Du brauchst ’nen 65-Liter-Trekkingrucksack für Damen mit Rückenpanel und extra Hüftpolsterung. Mehr Gepäck ist absolut sinnlos, das zieht dich nur runter und du siehst echt nicht stark aus. Achte auf den Gurt oberhalb der Brust, der muss gut sitzen. Zu viele Gurte und Schlaufen sind unnötiger Schnickschnack fürs Auge, am Ende wirst du nur irgendwo hängen bleiben. Und im Ausland auf die Fresse knallen will keiner, glaub’ mir. Seitenfächer brauchst du genauso wenig, die machen nur ’ne Gewichtsumverteilung und das schadet der Ergonomie, weil’s weniger auf die Hüften geht.“

„Der junge Herr weiß Bescheid, Emily“, hatte meine Mutter gesagt, zutiefst beeindruckt.

Der Verkäufer hatte noch mehr Geheimtipps gekannt und so hatten wir den Laden mit einer kompletten Rundumausstattung verlassen: Moskitospray für tagsüber, und für die Nacht ein insektenabweisender Seidenschlafsack mit insektenabweisendem Waschmittel, um den Seidenschlafsack insektenabweisend zu imprägnieren. Außerdem ein Fliegengitter mit Zeltboden, das sich laut Fachverkäufer auf jeder Bettmatratze selbstständig und formgerecht entfaltete und damit zielsicher bereits die dicksten (und damit auch erfolgreichsten und möglicherweise sprayresistenten) Mücken abwehrte. Komprimierbare Reisehandtücher, komprimierbare Wasserflasche und komprimierbares Reisekopfkissen, allesamt aus ultraleichtem Spezialmaterial. Und mehrere Beutel und Taschen zum Verstauen. „Water-resistant und eco-friendly.“ Leider raschelten sie laut, sobald man sie berührte.

Ich kramte weiter nach dem Beutel mit meinen Duschsachen. Schon am Morgen, bevor ich zum Ausflug aufgebrochen war, hatte ich ihn hervorgeholt. Mittlerweile schien er jedoch auf unerklärliche Weise wieder bis ganz nach unten gerutscht zu sein. Mein Handy vibrierte. Ich gab meine Suche auf und warf einen Blick auf die Wölbung im Nachbarbett. Sie regte sich nicht. Leise verließ ich das Zimmer und drückte auf den grünen Button.

„Emy, Häschen“, rief mir die Stimme meiner Mutter entgegen. „Wie geht’s dir? Wie war dein erster Tag? Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht, weil du uns nicht geschrieben hast.“

„Ich hab euch doch heute Morgen geschrieben, dass ich auf einem Ausflug bin. Ich hatte unterwegs kein Internet und bin erst seit einer halben Stunde wieder zurück.“

„Ach so, dann sind wir ja beruhigt! Wie geht’s dir, mein Schatz? Gefällt es dir?“

„Mir geht’s gut. Alles in Ordnung. Ich bin nur etwas müde.“

„Es ist aber auch alles sehr anstrengend! Stell dir mal vor, wie lange du im Flugzeug gesessen hast. Dreizehn Stunden! Und dann auch noch umsteigen. Dass so was überhaupt möglich ist … Du bist wirklich eine Abenteurerin!“

„Die größte Gefahr ging heute von der Klimaanlage aus.“

„Ach, wir vermissen dich jetzt schon! Sind die Leute nett?“

„Ich vermiss euch auch, Mama. Ich fühl mich hier ziemlich allein, ich hab noch nicht viele Leute kennengelernt.“

„Das wird schon, Schatz. Pass nur immer gut auf dich auf, ja? Versprichst du uns das? Geh nicht mit Fremden mit! Und geh niemals alleine irgendwohin!“

„Nein, Mama, ich hatte vor, vier Monate lang im Hostel in meinem Moskitozelt zu sitzen und dann wieder nach Hause zu fliegen.“

„Besser wär’s vermutlich! Weißt du denn schon, wie es weitergeht?“

„Bis jetzt noch nicht.“

„Noch keinen Plan?“

„Ich hab mich noch nicht entschieden.“

„Du hast aber auch so viele Möglichkeiten! Lass dir ruhig Zeit. Ruh dich doch noch ein paar Tage aus. Wir bezahlen dir auch ein Hotel, das weißt du!“

„Das weiß ich. Das ist lieb von euch.“

„Hauptsache, es geht dir gut!“

Das WC und die Duschbrause befanden sich in einem und demselben schwach beleuchteten Raum. Er war mit lockeren Steinen ausgelegt und seine beigefarbenen, gekachelten Wände teilweise mit grünen Schimmelspuren überzogen. Ich hatte schon am Morgen, bei meinem ersten Duschgang, erkannt, dass es für mich nur einen einzigen möglichen Pfad zur Duschbrause gab. Er führte weder über ein Bodenloch mit Spinnengefahr noch ging er zu nahe an der schmutzigen Wand entlang. Mit Flip-Flops bewaffnet trat ich ihn an und versuchte, nirgendwo genauer hinzusehen. Der Geruch nach Kloake ließ sich weniger leicht ignorieren. Immerhin handelte es sich bei dem WC nicht auch um ein Bodenloch, sondern um ein nullachtfünfzehn Sitzklo, wie es an deutschen Bahnhöfen üblich war (was genau genommen auch kein gutes Zeichen war).

An der Duschbrause angekommen, platzierte ich meine Waschsachen vorsichtig auf einer einigermaßen sauberen Kachel. Das Wasser war eiskalt und ließ eine feine Spur Ameisen auf meinen Kopf regnen. Ich schrak zurück, stieß mein Duschgel um und beförderte es auf den Boden, direkt neben ein besonders großes Loch. Ich musste mich verrenken, um beim Bücken weder einen der Steine noch die schimmelige Wand zu berühren. Der gesamte Raum schien bereits von der spritzenden Brause überflutet worden zu sein und sämtlichen Schmutz vor meine Flip-Flops zu schwemmen. In meinen Ohren klangen die Worte meiner Mutter: „Wir bezahlen dir auch ein Hotel“. Ich kniff die Augen zusammen. Ich war freiwillig hier. Und ich würde nicht so schnell aufgeben.

Es brauchte zehn Minuten, bis ich mich nach dem Duschen mit meinem extra-abweisenden Mückenspray und einer Portion Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 50 einbalsamiert hatte. Danach stand ich unschlüssig in meinem Zimmer.

Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber ich fürchtete mich davor, in den Aufenthaltsraum des Hostels zu gehen und Fremde ansprechen zu müssen. Oder noch schlimmer: mich nicht zu trauen, jemanden anzusprechen, und vereinsamt in einem Sessel zu enden. Als Außenseiterin des Hostels.

Ich rief mir ins Gedächtnis, dass ich schon viel unangenehmere Situationen bewältigt hatte. An meinem ersten Unitag in einer fremden Stadt hatte ich es schließlich auch geschafft, unbekannte Kommilitonen anzusprechen.

Meine Bedenken sollten sich als vollkommen unbegründet herausstellen, denn der Aufenthaltsraum im Erdgeschoss des dreistöckigen Gebäudes war vollkommen leer. Es war ein Ort, der trotz permanent laufenden Deckenventilators muffig roch, erfüllt von abgestandener, warmer Luft. Sein Boden war übersät mit Sitzsäcken in verblassten Farben, an einer Wand stand ein altes, unerwartet elegantes Sofa, wie die verstaubte Antiquität in einem Museum. Darüber hingen allerhand Fotos von jungen Reisenden, die fröhlich lächelten, in den Augen Abenteuerlust.

Ich betrachtete einen der abgewetzten Sandsäcke. Zu Hause hätte ich einen Bogen um ihn gemacht, musste ich bei seinem Anblick doch sofort an Flöhe, Läuse und verschiedenste Körperflüssigkeiten denken. Aber jetzt war ich in Bangkok und wollte mich selbst als Backpackerin bezeichnen. Ich versuchte, möglichst lässig darin Platz zu nehmen, und knallte dabei fast auf den Boden, da der durchgehangene Sack offensichtlich keinerlei Gewicht mehr trug.

„Hey.“

Ich drehte mich um. Ein Junge mit braunem Teint und aufgepumpten Oberarmmuskeln hatte den Raum betreten, unter seinem gestählten Arm ein handliches MacBook.

„Hey“, erwiderte ich überrascht.

Ich überlegte, was ich dem ersten waschechten Backpacker sagen sollte, als dieser meinte: „New here?“

„Yes.“

„’Cause you’re sitting on the false bean bag. Nobody sits there. It’s the worst place in the whole room.“

Ich – ganz lässige Backpackerin ohne empfindlichen Rücken – meinte: „Oh, it’s okay, thank you.“ Während ich das sagte, war ich bereits um weitere zwei Zentimeter nach unten gerutscht und fürchtete, nie wieder aus dem Sitzkissen aufstehen zu können. Ich hatte die Hoffnung geschöpft, ein Gespräch zu beginnen, und wollte etwas sagen, doch der Fremde hatte bereits das Kabel seines Laptops in eine der Steckdosen und schwarze Kopfhörer in seine Ohren gestöpselt.

Unsicher hing ich auf dem false bean bag, der meinen Hintern immer tiefer gleiten ließ und gleichzeitig meine Oberschenkel in ungünstigem Winkel gegen meinen Bauch presste. Ich fühlte mich ein wenig wie in einer Fliegenfalle. Der echte Backpacker gegenüber schien ganz und gar in sein MacBook vertieft.

Schließlich entschied ich, den muffigen, tristen Raum zu verlassen und nach draußen zu gehen. Nicht zuletzt, weil meine Haltung immer unwürdiger wurde und ich mich fehl am Platz fühlte. Ich musste meine Hände auf dem Boden abstützen, um mich mit einigem Kraftaufwand wieder aufzurichten. Der echte Backpacker warf mir verstohlene Blicke über den Rand seines Bildschirms zu. Lässig humpelnd verließ ich das Zimmer.

Das Hostel lag direkt an der berühmten Khaosan Road, Backpackermittelpunkt und Partymeile Bangkoks. Sie war breit und eine der wenigen Straßen für Fußgänger. Hier musste man ausnahmsweise keine Angst haben, von brausenden Tuk-Tuks oder ratternden Motorrädern überfahren zu werden. Laut war es dennoch: An den Straßenrändern tummelten sich Hostels, Bars und Restaurants mit grellen Leuchtreklamen und blinkenden Discokugeln. Sie alle waren auf das junge Publikum zugeschnitten und warben mit Alkohol und westlichem Junkfood. Heimisches Essen fand sich dagegen auf zahlreichen fahrenden Wagen, die mitten auf der Straße aufgebaut waren. Daneben Stände mit Kleidung, Schmuck und Taschen, von Gucci bis Louis Vuitton.

Ausgefüllt wurde die gesamte Szene von einem Gewimmel aus Menschen verschiedenster Nationen. Sie alle kamen unter einem drückenden, tropischen Himmel zusammen, dessen dicke, feuchte Luft fast greifbar war. Sie war geschwängert mit dem Geruch von Bratfett, exotischen Gewürzen und literweise süßlichsaurer Cocktails. Junge Europäer wechselten sich mit Thais jeden Alters ab, die ihre Waren, den Zutritt zu einer Bar oder das Ticket zu einer Show anboten. Sie hatten verschiedene Taktiken, um die Vorbeigehenden auf sich aufmerksam zu machen: Manche versuchten es mit Schmeicheleien, andere mit dem Aufzählen der niedrigsten Preise und wieder andere liefen ihren Opfern einfach aufregend plappernd hinterher.

Ich hörte ein Plopp-Geräusch neben meinem linken Ohr und sah einen Thai mit gelben Zähnen, der mich angrinste. In einem Reiseblog hatte ich gelesen, dass auf diese Weise auf Ping-Pong-Shows hingewiesen wurde. Schnell ging ich weiter.

„Wanna have a drink, young lady?“

„Nice dress! Best dress in Bangkok! Eighty Baht! Sixty Baht for you, Miss!“

Plopp, plopp.

„Ice Cream! Coconut Ice Cream!“

Ein Massagesalon bot Fuß- und Nackenmassagen auf offener Straße an. Es war der einzig ruhige Ort.

Je weiter ich lief, desto lauter wurde die Musik und desto mehr Bars erschienen. Die Händler mussten fast schreien, um die Partysongs zu überstimmen. Aus jeder Bar und jedem Restaurant ertönten andere Lieder, sodass den Fußgängern je nach Standpunkt ein unharmonisches Klanggemisch entgegenschlug.

„Grab somebody sexy tell’em hey, got the magic stick, I’m the love doctor, so we gon’ dance until we drop.“

Ich war eindeutig zu nüchtern dafür. Am Ende der Straße wurde das Gedränge enger und die Besucher betrunkener. Sie tanzten auf der Straße und leerten Plastikbecher in sich hinein.

„Hey, darling!“ Eine Hand streckte sich nach mir aus. Sie gehörte zu einem pausbäckigen, schweißnassen Gesicht. „Don’t be so shy!“

Ich bezweifelte stark, dass der Typ bei weniger schüchternen Frauen mehr Erfolg haben würde. Schnell machte ich kehrt und hatte Mühe, in dem Getümmel vorwärtszukommen.

Vor einem einigermaßen ruhigen Restaurant am Anfang der Straße blieb ich stehen und studierte die Speisekarte. Peel it, boil it, cook it or forget it, kam mir in den Sinn. „Kein Salat, keine Mayo und keine Eiswürfel“, hatte mein Vater mir eingebläut. „Und sei vorsichtig mit Fisch!“

Ich bestellte Nudeln mit Hähnchen. Es triefte vor Fett und schien die raffinierte Küche Thailands geradezu zu verhöhnen. Dennoch aß ich es auf. Der Ausflug und die Aufregungen des Tages hatten mich hungrig gemacht.

Ein langgezogener, dumpfer Ton ließ mich hochschrecken. Eine dicke, mittelalte Thai tauchte zwischen den Tischen auf. Sie präsentierte ein Holzstück, das rülpsende Geräusche wie eine alte Kröte von sich gab, wenn man mit einem Stab darüberfuhr.

„Thirty Baht“, sagte sie. „Wanna have?“

Ich schüttelte den Kopf. „No, thank you.“

„Okay, twenty Baht. Wanna have?“

Wieder vollführte die Frau den Rülpsgesang, als sei dieser ein höchst überzeugendes Argument.

„No, thank you“, sagte ich zum Erstaunen der Verkäuferin.

„Fifteen Baht.“

Unsicher betrachtete ich meinen leeren Teller, der fettig glänzte. Es vergingen mehrere Minuten, in denen die Frau nichts machte, außer neben mir zu stehen und hin und wieder lustlos über das Holzstück zu fahren. Ich tat so, als würde ich eine sehr lange SMS verfassen und hatte die paranoide Vorstellung, die Verkäuferin könnte mir über die Schulter schauen und meinen Bluff entlarven. Irgendwann sah ich aus dem Augenwinkel, wie sie mit langsamen Schritten zum Nachbartisch schlurfte.

Ich befürchtete, sie könnte zurückkommen, besonders als sie als Nächstes eine abnorm blinkende Trillerpfeife auspackte („Thirty Baht, but twenty for you, Mister“), die sie mir noch nicht vorgeführt hatte. Also entschied ich kurzerhand, das Restaurant zu verlassen.

„You early!“, begrüßte mich der Mann an der Rezeption meines Hostels. „It’s nine p. m.!“ Es war der Angestellte, der mir am Morgen zu dem Ausflug im Silbervan geraten hatte. Er trug ein weißes, glatt gebügeltes Hemd, das eher zu einem schicken Hotel gepasst hätte, und strahlte trotz seiner unreinen Gesichtshaut die Erfahrenheit einer älteren, eingearbeiteten Fachkraft aus.

Ich zuckte mit den Schultern.

„No fun at Khaosan?“ Der Mann zeigte ein Lächeln, das mir mitleidig vorkam.

Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, suchte ich mein Zimmer auf und legte mich auf die harte Matratze meines Stockbettes. Ich hatte den imprägnierten, insektenabweisenden Seidenschlafsack darüber ausgebreitet. Nur das Mückenzelt lag noch immer in meinem Rucksack. Ich hatte mich nicht getraut, es hervorzuholen, da trotz der Experten-Beteuerungen des bärtigen Hipster-Verkäufers und meiner Mutter offensichtlich niemand in meinem Schlafsaal etwas Vergleichbares verwendete. Aus dem Augenwinkel konnte ich die Wölbung im Nebenbett erkennen. Ansonsten war der Raum leer.

Wenn ich mir nicht zu achtzig Prozent sicher wäre, dass im Bett neben mir jemand schläft, dann würde ich jetzt ein Selbstgespräch beginnen, schrieb ich in den WhatsApp-Chat, der mich mit meinen zwei besten Freundinnen aus Berlin verband.

Ich würde mir erzählen, was ich heute alles erlebt hab und dass ich eine starke, unabhängige junge Frau bin. Wundert euch nicht, wenn ich euch bald nicht mehr schreibe. Ich werde wohl lernen müssen, alleine durchs Leben zu ziehen, als asozialer Mensch ohne Freunde. Vielleicht werden mich ja manche für eine selbstbestimmte Abenteurerin halten, die zu cool für Hostel-Bekanntschaften ist. Habt ihr nicht Lust, eure Vorlesungen zu schwänzen und auch hierherzukommen?

Lange lag ich wach. Der Gedanke, nicht zu wissen, was ich am nächsten Morgen tun würde, machte mir Angst. Ich unterdrückte ein aufkommendes Gefühl von Panik. Wieder sagte ich mir, dass ich schon vor dieser Reise alleine losgezogen war. Als ich meinen Studienort gewechselt und Berlin zum ersten Mal verlassen hatte. Und auch das hatte geklappt. Irgendwann gelang es mir, einzuschlafen. Ich träumte von einem großen, alles verschlingenden Wasserfall. Er rauschte bedrohlich und riss das Traveller’s Eye unsanft entzwei, dann fing er an zu kichern und zu lallen.

„Pssssst!“, sagte eine Stimme.

Ich blinzelte. Das Zimmer war hell erleuchtet. Vier Mädchen standen in dem schmalen Gang vor meinem Bett, in kurzen Kleidern und Jeans. Sie lachten. Allem Anschein nach waren sie betrunken und bestens gelaunt. Ich rollte mich unauffällig zur Seite. Der erste Tag von vier Monaten war fast geschafft.

Schafkopf

Julius

Es brauchte wohl einiges Glück und Vertrauen, um auf einer Reise einen Weggefährten zu finden, dem man sich bedingungslos anschließen würde. Dieses instinktive Gefühl, zusammenzupassen, diese Sofort-Sympathie. Julius glaubte, genau das zu spüren, als er an der Bar seines Hostels auf einen Holländer mit breitem Grinsen traf.

„Du siehst aus, als könntest du einen Drink vertragen“, sagte dieser zur Begrüßung. „Als könntest du vielleicht sogar jeden Abend einen Drink vertragen. Und darauf sollten wir anstoßen.“

Weise Weggefährten waren in jedem Fall doppelt so wertvoll.

Als hätte er bereits mit Julius’ Auftauchen gerechnet, schob er ihm ein Glas mit brauner Flüssigkeit hin. „Whiskey“, meinte der Fremde. „Und nicht der Billigste.“

Julius nahm das Getränk entgegen.

Die Bar war laut und bis auf den letzten Hocker besetzt. Junge Menschen tummelten sich dicht an dicht, ein Stimmengewirr auf Englisch und Deutsch. Dazwischen zwängten sich Töne eines Rihanna-Songs. Nur Fetzen davon fanden ihren Weg durch das enge Gemurmel bis an Julius’ Ohr. Das Lied klang schräg, als sei es keine Originalversion oder als sei die Box am hinteren Ende des Raumes defekt. Julius hatte Mühe, den Fremden zu seiner Rechten zu verstehen, denn er sprach leise. Als würde er mit sich selbst reden.

„Bevor du mich fragst“, fuhr er fort, „ich heiße Yan und komme aus Holland. Das ist es, was alle immer wissen wollen, oder? Woher kommst du? Was machst du? Wohin willst du als nächstes? Du wirst es irgendwann hassen. Ein auswendiggelerntes Ping-Pong-Spiel. Warum immer das Offensichtliche fragen? Das ist so unkreativ.“ Yan legte die Stirn in Falten, als würde er sich ärgern, und nahm einen Schluck von der braunen Flüssigkeit. „Ich frage stattdessen: Was trinkst du gerne? Das sagt auch etwas über mein Gegenüber aus. Trink- und Essgewohnheiten können einiges verraten. Mich interessiert der Mensch hinter dem Steckbrief.“

Julius zuckte mit den Schultern. „Geht in Ordnung für mich. Aber eine Frage hab ich: Warum sprichst du so gut Deutsch?“

Yan sah aus, als hätte Julius ihn enttäuscht. „Das fragen mich alle Deutschen. Ich hab neun Jahre lang in Deutschland gelebt, mit meinen Eltern. Ich bin dort zur Schule gegangen. Wie schmeckt dir der Whiskey?“

„Nicht schlecht. Ist das eine thailändische Sorte?“

„Aus Reis hergestellt.“ Yan drehte sich zum Barmann um und sagte einige schnelle Worte auf Thai. „Meine Mutter“, erklärte er daraufhin, „halbe Thai. Ich bin in Bangkok geboren. Das hier fühlt sich an, als würde ich nach Hause kommen.“

Julius erstaunte die Aussage einigermaßen, wies doch nichts in Yans milchig weißem Gesicht auf diesen Teil seiner Herkunft hin. Vielleicht waren die dunkelbraunen dichten Haare auf eine Mischung aus holländischem Blond und asiatischem Schwarz zurückzuführen. Seine silbergrauen, glasigen Augen jedoch schienen ganz und gar einzigartig und keiner Ethnie zuzuordnen zu sein.

„Ich mag Whiskey“, meinte Julius. „Vor ein paar Monaten hab ich bei einem Tasting mitgemacht. Der traditionelle Malt-Whiskey aus Schottland wird aus Gerste hergestellt. Amerikanischer zum Großteil aus Mais, deswegen schmeckt er süßlicher. Zum Verkosten muss man eine Hand auf das Glas pressen, das Glas kurz umdrehen“ – er führte die Bewegung vor – „und wieder zurück und dann die Flüssigkeit auf der Handfläche verteilen. Durch die Körperwärme können sich die charakteristischen Aromen richtig entfalten.“ Er beugte sich über seinen Handteller und zog die Nase hoch. „Er riecht … stark, würde ich sagen.“

„Du hältst gerne Vorträge, was?“ Yan grinste. „Gibt Schlimmeres. Was machst du hier?“

„Ich dachte, dich interessiert so was nicht?“

„Hab ich das gesagt?“

„Ja, gerade eben. Die Person hinter dem Steckbrief.“

„Das heißt nicht, dass ich den Steckbrief uninteressant finde. Du bist neu hier, oder?“

„Ja.“

„Dann hast du die Fragerei noch nicht satt. Ich sehe keinen Grund, warum ich dich verschonen sollte." Er lachte. "Also, was machst du hier?“

„Ich war in Perth im Auslandssemester. Und jetzt will ich zwei Monate durch Südostasien reisen. Ich bin seit drei Tagen in Bangkok.“

„Verstehe. Das hab ich schon ein paar Mal gehört. Nicht schlecht. Wie lange bleibst du in Bangkok?“

„Weiß noch nicht genau. Ich hab noch keine konkreten Pläne. Ich dachte, das würde sich beim Reisen von selbst ergeben.“

„Du meinst, wenn man erst mal Leute kennenlernt.“

„Genau.“

„Dann hast du Glück. Du hast jetzt mich kennengelernt. Und ich suche jemanden, der Lust hat, in den Norden zu reisen. Ich will ein Auto mieten. Am Sonntag soll’s losgehen.“

Yan war eine jener Reisefiguren, von denen man sich nicht vorstellen konnte, dass sie jemals etwas anderes getan hatten, außer zu reisen und zu leben. Als hätte er die Geburt in Bangkok und die neun Jahre in Deutschland nur erfunden, um sich anzupassen. Um wie jeder andere eine Vorgeschichte erzählen zu können.

„Cool“, antwortete Julius. „Klingt gut. Ich will so viele Orte sehen … Ich hab mich noch nicht entschieden, wo ich anfangen soll.“

„Der Norden ist ein guter Start, glaub mir. Ich kenne viele Ecken abseits vom Massentourismus. Ich hab Familie dort oben. Und vielleicht finden wir ja auch noch ein paar Mädels, die mitkommen wollen. Roadtrips sind super.“

Yans Art war einnehmend, fast schon besitzergreifend. Bereits mit dem ersten Blick seiner eisgrauen Augen schien er sein Gegenüber fesseln zu können. Zu Hause, in seiner gewohnten Umgebung, wäre Julius einem Menschen wie Yan vermutlich instinktiv aus dem Weg gegangen. Aber hier, in der Fremde, war er offener. Toleranter. Er konnte nicht genau sagen, warum, aber Yans Erzählungen überzeugten ihn. Er wirkte wie ein Anführer, der wusste, wo es langging. Genau das Richtige auf einer Reise.

„Okay, warum nicht“, meinte Julius.

„Also abgemacht. Du und ich im Norden. Dschungel und das alles. Ein echtes Abenteuer. Du wirst es nicht bereuen.“

Ein Mädchen schob sich an ihnen vorbei, so dicht, dass ihr Hintern kurz Julius’ Oberschenkel streifte und er ihr Parfüm riechen konnte. Es verdeckte einen dezenten Schweißgeruch, der vermutlich dem stickigen Raum ohne Belüftung geschuldet war.

„Die ist heiß, oder?“ Yan hatte Julius’ Blick bemerkt. „Du siehst aus wie einer, der bei Mädels gut ankommt.“

Das Mädchen war weitergelaufen, ohne sie zu beachten.

„Könnte besser sein.“

„Keine falsche Bescheidenheit, so was mag ich nicht. Gefallen dir Thai-Mädchen? Lass die Finger von ihnen. Ich finde es widerlich, wie europäische Männer ihren Status ausnutzen. Und du wirkst nicht wie jemand, der auf der Suche nach was Ernstem ist, hab ich recht? Dann nimm dir ’ne Backpackerin. Die kommen doch extra her, weil sie scharf sind auf Abenteuer. Zu Hause mögen sie rumlaufen wie die größte Kirchenmaus, aber hier kann’s gar nicht wenig genug Stoff sein. Bei jeder zweiten zeichnen sich die Nippel durch das Oberteil ab. Und überall Bauchnabel … Glaub mir, die legen’s drauf an. Drei Monate ohne Regeln und dann geht’s zurück ins geordnete Spießbürgertum. Master, Job, eigene Wohnung. Als wär nie was gewesen. Jeder genau gleich. Das Leben geht immer weiter.“ Er kratzte mit dem Nagel über einen Schmutzfleck an seinem leeren Glas, als würde er über etwas nachdenken. Dann wandte er sich dem Barmann zu und bestellte zwei neue Gläser Whiskey.

„Magst du Spiele?“, fragte Yan, während der Barmann die Gläser auffüllte.

„Was für Spiele meinst du?“

„Ganz generell.“

„Ich bin Fan von Tennis, Fußball und Golf. Und früher hab ich viel Computer gespielt.“

„Golf hätte ich mir denken können. Du hast dieses Polohemd-Gesicht, obwohl du es hinter billigen Urlaubsklamotten versteckst.“ Er lachte über Julius’ gerunzelte Stirn. „Und keine Brettspiele? Würfel? Karten?“

„Doch, auch.“

„Ich hab ein Kartendeck dabei. Ich liebe das Spiel. Und ich hasse es, zu verlieren.“ Er zwinkerte und zog einen fein säuberlichen Stapel aus seiner Hosentasche. Altmodische Karten mit reich geschmückten Köpfen und prunkvollen Zahlen. Und dennoch gepflegt, ohne einen einzigen Knick.

„Ich entwickle gern eigene Spiele“, meinte Yan. „Mein Lieblingsspiel ist das Bier-Spiel. Genial, weil es so simpel ist. Ideal zu zweit. Ich denke mir Aufgaben aus, die mein Gegner lösen muss, und umgekehrt. Wenn mein Gegner scheitert, muss er ein Bier exen. Wenn er die Aufgabe schafft, muss ich ein Bier exen.“ Wieder lachte er. Es war ein merkwürdiges, heftiges Lachen, das seinen Mund unerwartet groß werden ließ. „Oder das Undercover-Spiel. Man denkt sich eine Nation, einen Beruf und einen Reisegrund für den anderen aus. Mit dieser Identität muss derjenige dann versuchen, Handynummern von Mädels zu kriegen. Wer mehr Nummern bekommt, hat gewonnen und kriegt von den restlichen Mitspielern je ein Getränk ausgegeben. Den größten Erfolg hatte ich als englischer Geschäftsreisender aus niederem Adel.“ Er zückte die oberste Karte des Decks und begann, die Regeln eines Spiels zu erklären, von dem Julius noch nie etwas gehört hatte. „Wer verliert, muss Aufgaben erfüllen. In Ordnung?“

Julius nickte. „Bin dabei.“

Sie tranken und zogen Karten, während es um sie herum immer lauter und voller wurde. Yan war ein guter Spieler. Nichts schien seinen Augen zu entgehen, jedes Zucken in Julius’ Gesicht deutete er richtig. Julius musste als Verlierer Mädchen ansprechen, Liegestützen auf dem schmutzigen Boden vollführen und Gläser exen.

Yan beobachtete all das mit einem Schmunzeln. „Du schlägst dich sehr tapfer“, sagte er irgendwann. „Das schafft nicht jeder. Würdest du mir folgen?“

Julius’ Gedankenwelt war bereits vom Alkohol vernebelt. Seine Aufmerksamkeit richtete sich mehr und mehr auf die Frauen um ihn herum. Überall wackelnde Hintern und Bauchnabel. Schöne, straffe Schenkel in kurzen Jeans. Es war schwer, sich zu konzentrieren.

„Julius?“

„Wie meinst du das?“

„Ich meine es genau so: Wenn mir etwas zustoßen würde, könnte ich mich auf dich verlassen? Immerhin wollen wir zusammen in den Norden fahren, du und ich. Ich muss wissen, mit wem ich es zu tun habe.“ Yans silbergraue Augen sahen ihn ernst an. Ein Anführer, der wusste, wo es langging.

„Klar“, entgegnete Julius, den der Alkohol euphorisch stimmte. „Du kannst dich auf mich verlassen.“

„Das ist gut.“ Yan warf einen Blick auf sein Kartendeck und schmunzelte. „Ich hab gewonnen. Ich glaube, wir setzen eine Runde aus. Du brauchst ’ne Verschnaufpause.“

 

***

 

Julius entschied, den nächsten Tag noch ein wenig aufzuschieben, indem er einfach im Bett liegen blieb. Es war elf Uhr und er war der letzte im Zimmer, erschlagen und unfähig, es jemals wieder zu verlassen. Ein Gefangener in einem kaputten, müden Körper. Er mochte sich nicht vorstellen, wie es hier roch: abgestandene, stickige Luft, verbraucht von fünf atmenden Lungen. Eine Mischung aus längst getrunkenem Alkohol, süßlich, säuerlich, bitter – die ganze Palette und in jedem Fall ausgesprochen widerwärtig –, Nachtschweiß und über allem ein dumpfer Film von Zigarettenrauch. Erbrechenswürdig.

Eine Welle der Übelkeit überkam ihn, doch er überstand sie, ohne sich übergeben zu müssen. So lag Julius da, in seinem eigenen Dunstkreis, mit tanzenden Schatten an der Decke, schwindelerregend. Er fixierte einen unbewegten Gegenstand, die Tür, und versuchte sich an die letzte Nacht zu erinnern.

Bruchstücke tauchten in seinem Gedächtnis auf. Er hatte Runde um Runde gegen Yan verloren und abwechselnd Bier und Whiskey getrunken. Ein einziges Mal war es ihm gelungen, Yan zu schlagen. Er hatte sich eine Zigarette gewünscht, und Yan hatte ihm einen Joint gebracht. Sie hatten ihn gemeinsam geraucht, und Julius hatte das Spiel aufgegeben. Er war zu betrunken gewesen, um Erfolg bei den Frauen zu haben, also war er irgendwann zurück auf sein Fünfbettzimmer geschwankt.

Es klopfte kurz an die Tür, geradezu ohrenbetäubend, dann trat Yan ein. Er grinste. Es war erstaunlich, wie hellwach und fit er wirkte. Er schien ein Stehaufmännchen zu sein, ein Angehöriger jener Backpacker-Rasse, die von verwanzten Bodenmatten bis zu Barfuß-Rollerfahren alles überstand. Ein beneidenswertes, glückliches Wunder.

„Du schaust mich an, als wäre ich von den Toten auferstanden“, sagte er. „Als hätte ich Superkräfte. Das gefällt mir. Aber jetzt bist du mit Aufstehen dran, beeil dich.“

Julius fand die Idee alles andere als gut. Kopfschmerzen, Schwindel, hochempfindlicher Magen. Genug Gründe, die dagegen sprachen.

„Wir haben heute viel vor. Wir müssen ein Auto mieten, du erinnerst dich? Der Norden, unser Roadtrip. Morgen ist Sonntag, da wollte ich losfahren. Du bist schon seit drei Tagen hier in Bangkok, oder? Dann hast du fürs Erste genug gesehen. Mir reicht’s hier langsam, ich vermisse die Natur. Lass uns heute alles planen und dann am Abend eine kleine Abschiedsparty veranstalten. Nur mit Mädels, was meinst du? Vielleicht finden wir welche, die mit uns mitfahren wollen. Zieh nicht so ein Gesicht, bis heute Abend bist du wieder fit. Und jetzt steh endlich auf, wir müssen unser Hostel wechseln.“

„Was?“

„Wir müssen los. Raus aus dem Hostel.“

„Wieso das denn?“

„Wegen der Sache mit dem Gummibaum.“

„Was ist damit?“

Im selben Moment überkam Julius eine dunkle Ahnung.

„Letzte Nacht warst du ganz schön besoffen. Zu viel Whiskey. Der hat dir auf die Blase gedrückt. Und der Gummibaum an der Rezeption kam dir ziemlich vertrocknet vor. Also hast du deine Hosen runtergelassen und ‚den Baum gegossen‘, wie du es nanntest. Und der Typ von der Rezeption hat zugeschaut.“

Julius erinnerte sich wieder. Er glaubte sogar, dass Yan ihn zu der Aktion ermuntert hatte.

Dieser lachte sein eigenartiges, breites Yan-Lachen. „Ich mag es, wenn Leute für Überraschungen gut sind. Ich nenne so was Eskalationspotenzial. Wenn jemand bereit ist, über die Stränge zu schlagen, um alles aus einem Abend rauszuholen. Das machen nicht viele. Je älter man wird, desto mehr Leute geben einfach auf. Ich finde, man sollte immer alles versuchen. Hat der Typ von der Rezeption leider anders gesehen. Als ich eben was essen gehen wollte, hat er mich angehalten und gesagt, wir müssten ein Bußgeld zahlen.“ Er schüttelte den Kopf. „Wir verschwinden durch die Balkontür. Warum sollten wir eine Strafe zahlen? Dem Gummibaum hat das bestimmt gutgetan, er sah wirklich vertrocknet aus. Wir ziehen in das Hostel am Ende der Straße. Ich kenn ein paar lustige Leute, die dort wohnen.“

Lustig war in jedem Fall Geschmackssache, aber Julius vertraute seinem neuen Weggefährten.

 

***

 

Zweieinhalb Meter trennten sie vom Boden, auch wenn sie im ersten Stock wohnten.

„Wenn uns eine Birkenfeige das Ganze eingebrockt hat, dann soll uns jetzt eine andere wieder da raushelfen“, entschied Yan nach fachmännischem Blick über den Balkon. Er zeigte auf einen hohen Baum mit breitem, geflochtenem Stamm und zahlreichen Ästen, die sich in den Himmel wanden. Er sah hart und rau aus, und das warme Holz mit seinen dunkelgrünen Blättern verströmte einen aromatischen, saftigen Duft. Yan testete vorsichtig die Haltbarkeit eines Astes, der sich wie eine fette Dschungelschlange direkt unter ihnen erstreckte. Den Bruchteil einer Sekunde stieß er sich daran ab, dann umgriff er mit beiden Armen den Stamm und rutschte einen kurzen Abschnitt herunter. Ein hässliches schleifendes Geräusch ertönte, das an Kratzer und Schürfwunden denken ließ. Ein Geräusch aus der Kindheit.

Julius beobachtete all das mit stechenden, trüben Augen, zu empfindlich, um an einem solch heißen Tag schon der Sonne ausgesetzt zu sein. Er beugte sich über das Gitter des Balkons und sah, dass Yan ihm zuwinkte. Er wollte, dass er sich beeilte.

„Du hast gesagt, dass du mir folgen würdest!“, rief er ihm zu. „Beweise es!“

Julius ahnte, dass es ein ziemlich anstrengender Tag werden würde. Und das, obwohl es eigentlich vieles gab, worüber er endlich einmal ernsthaft nachdenken musste. Er hatte eine Entscheidung zu treffen. Die erste große oder vielleicht auch die einzige, die er je hatte treffen müssen.

„Gibt es irgendwas, das du nicht weißt?“

Eine der wenigen Fragen, die Julius seinem neuen Freund gestellt hatte. Er hatte nur einen einzigen Abend gebraucht, um davon überzeugt zu sein, dass Yan der einfallsreichste und vielleicht auch gerissenste Typ war, den er je getroffen hatte.

„Ich kenne einen, der mehr weiß als wir beide zusammen“, hatte Yan geantwortet. „Und ich kann nur jedem empfehlen, ihn persönlich kennenzulernen – aber ich glaube, ich bin derjenige, der mehr Spaß hat.“

Zumindest schien er jemand zu sein, der aus jeder Lebenslage noch etwas herauszuholen wusste, ein Mensch, dem man intuitiv auf Bäume folgte – auch wenn Julius diese Idee im Augenblick weder als besonders klug noch spaßig empfand. Dennoch stieß er sich ab und griff nach dem Stamm.

„Wenn ich dir sage, dass sich dieser clevere Typ etwas ausgedacht hat, eine Art Spiel, bei dem ich mitmachen möchte. Würdest du dich anschließen?“

Julius’ Gedanken wurden gestört, denn im selben Moment spürte er, wie das Holz unter ihm wegbrach und er den Halt verlor.

„Es ist ein gefährliches Spiel, aber das beste, von dem ich je gehört habe.“

Zweieinhalb Meter trennten Julius vom Boden. Zweieinhalb Meter und ein Nebel aus Kopfschmerzen, der schlagartig zunahm, als er auf den Boden prallte.

„Keine Sorge“, war alles, was er Yan aus weiter Ferne sagen hörte. „So high wie du letzte Nacht warst, ist es kein Wunder, dass du heute tief fällst.“

Julius konnte sich vorstellen, wie sein neuer Reisegefährte bei diesen Worten grinste.

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Annika

Annika war noch nie der Gedanke gekommen, dass sie Flugangst haben könnte. Vor etwa einem halben Jahr hatte sie in einer Zeitschrift gelesen, dass beim Start die meisten Dinge schiefgehen konnten. Und nun, im denkbar unpassendsten Moment, fiel es ihr wieder ein. Wort für Wort.

Annika konnte von ihrem Fenster aus den wolkenverhangenen Himmel erkennen und begann, sich ausgesprochen unwohl zu fühlen. Normalerweise neigte sie nicht zum Schwitzen, selbst dann nicht, wenn sie Sport trieb, aber jetzt waren ihre Hände klitschnass. Sie warf ihrem Sitznachbarn einen kurzen Blick zu. Er war ein dicker, unförmig aussehender Mann, der tief und fest zu schlafen schien, seit er sich in seinen Sitz geklemmt hatte. Definitiv keiner der Menschen, die man als Letztes in seinem Leben gesehen haben wollte. Zumal er einen Absturz vermutlich noch beschleunigen würde. Als hätte sie ihre Gedanken gehört, baute sich die Stewardess vor ihnen auf und zeigte, wie man sich in einer Notfallsituation die Sauerstoffmaske aufsetzte. Besonders ihr Dauerlächeln schien dabei notfallerprobt zu sein. Annika sah schnell weg.

Als sie starteten, klammerte Annika sich mit ganzer Kraft an den Armlehnen fest. Ihre Hände waren noch feuchter, ihr Sitznachbar schlief noch fester und das Bild der Sauerstoffmaske schwebte ihr so deutlich vor Augen, als drückte die lächelnde Stewardess sie ihr mitten ins Gesicht. Es waren furchtbare Sekunden, besonders der Augenblick, in dem sie immer näher an das Ende des Rollfeldes gelangten und sich langsam die Frage aufdrängte, wann der Pilot das Flugzeug endlich in die Luft befördern wollte.

Als dieser Moment überstanden war, begann Annika, sich ein klein wenig zu entspannen. Immerhin wurde ihre Atmung langsamer und sie konnte ihre Hände von den Armlehnen nehmen. Eine Weile ließ sie den Blick über die immer kleiner werdenden Autos und Straßen unter sich gleiten, eine Puppenwelt, wie die, die sie als Kind aus Playmobil und Lego gebaut hatte. Es war ein beruhigender Anblick. Jedes Haus, jeder Fluss und jedes Feld schien von oben betrachtet seine Ordnung zu haben. Sie schloss die Augen und versuchte zu vergessen, dass sie sich in einem Flugzeug befand. Es gelang ihr sogar so gut, dass sich ihre Gedanken schließlich wieder ihrer anderen, viel größeren Sorge zuwenden konnten. Der Frage, die ihr schon die ganzen letzten Tage durch den Kopf gegeistert war.

Wo war Andi?

Seit fast zwei Wochen hatte er sich nun schon nicht mehr bei ihr gemeldet, auf keine ihrer Nachrichten oder Anrufe hatte er reagiert. Natürlich, auch davor war er nie besonders mitteilungsbedürftig gewesen und hatte nur schleppend von sich hören lassen. Aber nie waren mehr als drei Tage vergangen. Annikas Nachbar ließ ein Schnauben von sich hören. Seinem zufriedenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien er in angenehmeren Höhen zu schweben als der Rest der Passagiere.

Je länger sie unterwegs waren desto mehr begann Annika, das Flugzeug um sich herum zu vergessen. Es löste sich nach und nach auf, wurde zu der Luft, durch die sie schwebten, und nahm alles andere mit. Gedankenverloren kaute sie an ihren Nägeln und verzog das Gesicht, als sie einen bitteren Geschmack registrierte. Um sich das Kauen abzutrainieren, hatte sie sich am Vortag zum ersten Mal eine Tinktur auf die Nägel aufgetragen. Andi hatte diese Angewohnheit von ihr nie leiden können und sie zu ihrem Ärger gerne als Nagetier bezeichnet.

Andi.

Warum antwortete er nicht? Er konnte ihre Nachrichten noch nicht einmal gelesen haben, denn seit mittlerweile zwölf Tagen schien er weder bei WhatsApp noch auf Facebook oder Instagram online gewesen zu sein. Durch Annikas Kopf zogen fürchterliche Bilder, wenn sie an all das dachte, was ihren Freund davon abhalten könnte, sich bei ihr zu melden. Gerade erst vor wenigen Tagen hatte sie mit Entsetzen gehört, dass zwei junge Mädchen – beide Backpackerinnen in Thailand – als vermisst gemeldet worden waren. Und noch immer war unklar, was ihnen zugestoßen war.

Andis letzter Aufenthaltsort war Bangkok gewesen.

Annika versuchte, nicht schon wieder daran zu denken. Ganz abgesehen davon, dass es auch noch ausgesprochen ungünstig war, gerade jetzt nicht zu wissen, wo sich ihr Freund befand. Immerhin saß sie im Flugzeug, weil sie ihn mit ihrem Besuch hatte überraschen wollen.

„Ich bin ja so neidisch auf dich!“, hatte ihre kleine Schwester ihr morgens am Frankfurter Flughafen zum Abschied gesagt. „Thailand muss der Wahnsinn sein! Und ich schreib nächste Woche ’ne Französischklausur …“

Annika konnte nicht verstehen, wie man sie um ihre Lage beneidete. Sie musste Andi suchen und dazu einen fremden Kontinent betreten, von dem sie befürchtete, dass er das reinste Chaos war. Dabei war sie weder gut in Englisch noch mochte sie Dreck oder hektische Großstädte. Ein einziges Mal war sie in Rom gewesen und stellte sich Bangkok um einiges schlimmer vor. Die Umweltverschmutzung musste alarmierend sein und wenn es überall so zuging, wie im Asia-Imbiss ihres Heimatortes, dann wimmelte es an jeder Ecke nur so von frittiertem fettigen Tierfleisch. Wie sollte sie sich dort nur zurechtfinden?

„Ist sicher total einfach“, hatte ihre kleine Schwester gemeint, die seit neuestem auf jede Frage eine Antwort wusste. Anderthalb Jahre jünger war Alina und mittlerweile sogar einen Zentimeter größer als Annika. Damit war sie nun offiziell die Kleinste in der Familie, denn auch ihr fünf Jahre jüngerer Bruder hatte sie schon überholt.

„Was darf es für Sie zu Trinken sein?“

Es war die Stewardess mit der Sauerstoffmaske. Nur dass sie diesmal statt einer Maske einen Getränkewagen präsentierte. Annika entschied sich für eine Cola Light. Die Stewardess machte Anstalten, den Wagen weiterzurollen, doch Annikas Nachbar – eben noch in unerschütterlichem Tiefschlaf – hatte den Servierwagen scheinbar aus seinem Traum heraus gewittert und war nun hellwach. Er bestellte ein Bier.

Annika warf ihm einen abschätzigen Blick zu. Für sie gab es nur eine einzige logische Erklärung, warum ein Mann mittleren bis fortgeschrittenen Alters alleine nach Thailand reiste. Er musste ein Lüstling sein. Einer, der Frauen begrapschte und irgendwelche perversen Shows besuchte. Annika rückte unweigerlich ein paar Zentimeter weiter nach links in Richtung Fenster. Es wunderte sie nicht, dass der Lüstling sich für die Menüvariante Eins entschied, ein Schweinesteak mit pampigem Kartoffelpüree. Gierig machte er sich über das Fleisch her und gab eklige Schmatzgeräusche von sich. Annika rümpfte die Nase. Auch wenn sie keine überzeugte Vegetarierin gewesen wäre, hätte sie sich nur aus Trotz heraus für die Menüvariante Zwei entschieden, ein lockerluftiges Gemüseomelette. Es schmeckte scheußlich.

Man kann wohl durchaus von Pech sprechen, wenn man während eines Fluges in ein Unwetter gerät, und ganz besonders, wenn die Stewardessen gerade Getränke nachschenken. Es war daher auch nicht überraschend, dass das zweite Bier ihres Nachbarn nicht in dessen breiter, kurzfingriger Hand, sondern auf Annikas Pulli landete. Annika bemerkte es nicht einmal. Das Flugzeug bebte. Über den allgemeinen Lärmpegel erhob sich die Stimme des Piloten. In einer Nüchternheit, die vielleicht beruhigend, vielleicht aber auch erschreckend wirkte. Man sollte bitte auf seinen Plätzen sitzen bleiben und sich wieder anschnallen, verkündete er fast schon gelangweilt, denn sie wären in ein Unwetter geraten und es könnte eventuell turbulent werden. Annika schaute aus dem Fenster und sah, wie düster es um sie herum geworden war. Ihre Sorgen um Andi wurden schlagartig von der grauschwarzen Wolkenwand verdeckt. Wenn sie nur heil ankommen würde, dachte sie, würde sich sicher alles regeln. Ihre Hände wurden wieder feucht, und mit aller Kraft klammerte sie sich an ihren Armlehnen fest.