Leseprobe Sonnenküsse auf Madeira

1. Kapitel: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Eine angenehme Wärme dringt durch das geöffnete Seitenfenster und bläst mir ins Gesicht. Ich atme auf und genieße die subtropischen Temperaturen. Obwohl kaum vierundzwanzig Stunden vergangen sind, seit ich Kalifornien hinter mir gelassen habe, inhaliere ich den Geschmack nach Sonne und Meer wie eine Süchtige.

Je weiter ich das dicht besiedelte und heiße Funchal hinter mir lasse, desto angenehmer wird die Luft im Wagen. Zu sehr habe ich dieses Fleckchen Erde und seine vielen Besonderheiten vermisst. So abwechslungsreich die Wetterlage und die Temperaturen auf der restlichen Insel auch sind, so siedend heiß sind sie in ihrer Hauptstadt. Gerade im Sommer wirkt Funchal wie ein Glutofen, aufgeheizt durch die vielen Gebäude, Straßen und Dächer. Einzig in dem höher gelegenen Wallfahrtsort Monte kann man sich innerhalb der Stadt eine kurze Pause von der nahezu unerträglichen Tropenhitze gönnen. Von daher bin ich froh, dass ich die Hauptstadt – trotz der Blütenpracht, der prunkvollen Paläste und exotischen Parkanlagen – hinter mir lassen kann. Mich verschlägt es in angenehmere Gefilde.

Ich dirigiere den kleinen, geliehenen Seat weiter auf der rechten Spur die Schnellstraße entlang. Autos rauschen an mir vorbei und ignorieren die herrliche Aussicht, die uns umgibt. Auf meiner linken Seite befindet sich der endlose Atlantische Ozean, rechts von mir grünbewachsene Hänge mit Bananen- und Zuckerrohrplantagen, hinter denen es steil nach oben geht. Im Radio dudeln irgendwelche portugiesischen Lieder, die ich leider nur bruchstückhaft verstehe. Das wird jedoch besser werden, je länger ich mich hier aufhalte. Wie immer.

Zunächst lenke ich den Wagen aber weiter die Autobahn entlang, um kurz nach dem Örtchen Ribeira Brava nördlich gen São Vicente abzubiegen. Direkt über die erhabene Berglandschaft Madeiras, westlich am Pico Grande vorbei. Ich habe etwa eine halbe Stunde Fahrzeit vor mir und in meinen Fingern kribbelt es bereits vor Aufregung. Bevor ich auf die Abzweigung fahre, werfe ich einen Blick in den Rückspiegel. Ich sehe zufrieden aus. Glückselig und entspannt. Wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet? Und jetzt ist mein Traum zum Greifen nahe!

Ich konzentriere mich wieder auf die Fahrt und muss feststellen, dass die Autos vor mir deutlich langsamer werden. Mehrere Polizeifahrzeuge stehen quer zur Straße und blockieren die Weiterfahrt. Nach kurzen Gesprächen mit den Polizisten wenden die Fahrer vor mir ihre Autos und fahren in die entgegengesetzte Richtung weiter. Was hat das nur zu bedeuten? Ein Polizist tritt an das Seitenfenster meines Kleinwagens heran, das ich jetzt ganz oldschool nach unten kurble.

»Bom dia!«, begrüßt mich der junge Mann.

»Olá!«

Mit einem schnellen, melodisch klingenden Singsang antwortet er mir und fuchtelt dabei wild mit seinen Händen. Ich verstehe kein Wort.

Gott, mein Portugiesisch ist echt eingerostet …

Verständnislos und mit einem unsicheren Lächeln auf den Lippen lege ich den Kopf schief. Hoffentlich spricht der Kerl Englisch.

»Desculpe. Não compreendo. Fala inglês?«, frage ich ihn höflich.

»Ah, Amerikanerin?«

Nicht direkt, aber das sage ich nicht. »USA. Kalifornien«, antworte ich lächelnd und bin erleichtert, dass er mich versteht. Obwohl meine Muttersprache Deutsch ist, ist mir der kalifornische Akzent in Fleisch und Blut übergegangen. »Können Sie bitte wiederholen, was Sie eben gesagt haben? Warum kann ich nicht weiterfahren?«

»Sie müssen momentan einen Umweg fahren, wenn Sie Richtung Norden wollen. Im kompletten Gebiet rund um den Parque Natural und den Pico Ruivo herrscht höchste Gefahr durch Waldbrände. Es ist zu gefährlich weiterzufahren. Wo wollen Sie denn hin?«

»Para São Vicente.«

»Dann tut es mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber da werden Sie wohl die Umleitung in Kauf nehmen müssen. Eine andere direkte Route an die Nordküste gibt es nur bei Funchal.«

»Ich weiß …«, brumme ich. »Este é um desvio de duas horas.« Damit habe ich einen Umweg von zwei Stunden vor mir. Na toll …

Der Polizist sieht kurz auf seine Armbanduhr.

»Sim. Das ist richtig. Aber die Aussicht an der Süd- und Westküste entlang ist besser, statt zu dieser Uhrzeit durch den Feierabendverkehr von Funchal zu gondeln. Da kommen Sie in die andere Richtung viel schneller voran, selbst durch den langen Umweg.«

»Lässt sich da nichts machen?«, frage ich dennoch hoffnungsvoll.

»Ich bedaure, nein, Senhora.«

Ich seufze auf, schiele an dem Polizisten vorbei und sehe ein Feuerwehrauto, welches von der Bergstraße herunter und hinter den anderen Fahrzeugen zum Stehen kommt.

»Wenn ich Sie dann bitten dürfte, die Straße freizumachen? Kehren Sie da vorne um und folgen Sie den Schildern nach Calheta und Paúl do Mar. Von dort aus einfach der Küstenstraße entlang Richtung Norden. Siga as indicações das placas.«

Einfach den Schildern nachfahren. Alles klar.

Ich nicke, lächle und bedanke mich. »Obrigada.«

»De nada.« Mit einem Zwinkern tippt er sich an seine Dienstmütze, zieht eine Sonnenbrille aus der Brusttasche und setzt sie sich mit einem koketten Grinsen auf die Nase. Danach winkt er mich an sich vorbei und ich wende den Wagen. Das Fenster lasse ich unten.

Knappe zwanzig Minuten später verlasse ich den Kreisverkehr, um Paúl do Mar zu passieren. Da kommt mir eine brillante Idee. Wieso missmutig im Auto sitzen? Stattdessen könnte ich die zusätzliche Fahrzeit sinnvoll nutzen und den Weg mit einem kleinen Sightseeing verbinden.

Seit ich Funchal verlassen habe, habe ich schon unzählige Ausprägungen der Landschaft an der Südküste gesehen. Grün, rau, felsig. Im Prinzip ist alles dabei, was das Herz begehrt. An jedem Fleck der Insel herrschen unterschiedliche Klimata und Vegetationen. Feuchte Hochebenen wie in Schottland und subtropische Mittelmeervegetationen wechseln sich mit nebelumwobenen Urwäldern ab – an keinem Ort der Welt findet man so viele Varianten der Natur gebündelt wie hier.

Soeben habe ich die grünbewachsenen Bananen- und Zuckerrohrplantagen hinter mir gelassen. Stattdessen begleiten mich seit ein paar Kilometern weitläufige Weinhänge, an denen unter anderem die über dreißig Rebsorten für den landestypischen Madeira-Wein angebaut werden. Straßen und Wege werden von wild wuchernden Oleandern in Weiß- und Magentatönen, bunt gemischten Hortensienbüschen und orangefarbenen Strelitzien gesäumt. Ein Traum für jeden Botaniker. Nicht umsonst wird Madeira auch als Blumeninsel bezeichnet.

Ich fahre weiter die Küstenstraße entlang und beobachte majestätisch in den Lüften kreisende Vögel und die weiße Gischt, die krachend an die felsige Küste donnert. Mein Weg führt mich auf Serpentinen weiter hinauf, sodass ich schon bald kleine Bergdörfer durchfahre.

Nach einer knappen Dreiviertelstunde habe ich mein erstes Ziel erreicht. Endlich!

Breit lächelnd steige ich aus dem Wagen. Ich habe ihn direkt vor dem Farol da Ponta do Pargo geparkt, einem weiß-roten Leuchtturm, der sich an der Westspitze der Insel befindet. Ein angenehmer Wind weht mir um die Nase und wirbelt einzelne Haarsträhnen durcheinander. Ich löse meinen Zopf und zwirble mir aus den langen, rotblonden Wellen stattdessen eine große Schnecke am Hinterkopf.

Dann gehe ich am Gebäude vorbei, um zum Miradouro zu gelangen, dem eigentlichen Aussichtspunkt. Mit meinen beigefarbenen Keil-Espadrilles stakse ich über den rötlichen Sand- und Lehmboden und gehe bis zum äußersten Rand der Klippe. Zum Glück habe ich mir vorhin die Haare schon zusammengebunden. Kräftige Winde peitschen an die Kante und erzeugen enorme Verwirbelungen. Mein leichter Sommerrock flattert mir wild um die Knie. Tief unter mir erkenne ich den blaugrünen Ozean, der in rauen Wellen an das steinige Ufer schlägt. Ich schließe die Augen und lausche dem Rauschen, das man bis hier oben hören kann. Ich atme tief durch und sauge den Geruch nach Salzwasser, Meer und Natur ein.

Und genieße die Stille.

Kein Verkehrslärm, kein Gehupe, kein Gequatsche.

Mich empfängt nichts, abgesehen von dem Flüstern des Windes und dem beruhigenden Meeresrauschen, das knapp dreihundert Meter unter mir entsteht.

Gott, wie lange bin ich schon nicht mehr hier gewesen?

Keine Ahnung. Irgendwann habe ich aufgehört, die Jahre zu zählen. Wobei keine Ahnung falsch ist. Ich weiß, seit wann ich nicht mehr hier war. Das letzte Mal im Sommer, bevor meine Eltern gestorben sind. Das war vor vier Jahren. Das heißt, ich war das letzte Mal vor fünf Jahren hier, also mit zweiundzwanzig. Schon so lange? Einerseits kommt mir diese Zeit wie eine Ewigkeit vor. Andererseits fühlt es sich an, als wäre ich zuletzt gestern hier gewesen.

Hier, wo ich immer sein wollte. Mein Leben lang. Was immer mein Traum war. Und mein Traum wird ab heute in Erfüllung gehen: Ich werde einen neuen Lebensabschnitt beginnen und auf Madeira von vorn anfangen. Ganz von vorn. Ohne Altlasten. Ohne Vorgeschichte.

Go for it, Charlotte!

2. Kapitel: Fremder in einer bekannten Welt

»Verflucht! Das darf doch nicht wahr sein! Wo ist denn jetzt diese blöde Straße?«

Mit meinem Smartphone bewaffnet stehe ich vor dem weißen Seat. Mein Blick huscht von den örtlichen Straßenschildern zu Google Maps auf dem Handydisplay.

Die Weiterfahrt zur Nordküste und dem winzigen Städtchen Seixal ist reibungslos verlaufen. Bis jetzt. Denn jetzt stehe ich vollkommen ahnungslos an einer der engen und extrem kurvenreichen Serpentinen, die durch Weinberge und Obstplantagen führen, und suche eine Straße an einer Stelle, wo keine Straße ist. Vielmehr: Nicht mehr ist. Denn laut Navi sollte da eine sein. Also war dort eine. Irgendwann einmal. Aber eben jetzt nicht mehr.

Vor mich hin fluchend versuche ich, mir einen Überblick auf der digitalen Landkarte zu verschaffen. Dabei würde ich viel lieber den Ausblick auf das pittoreske Dorf, den dunklen Kiesstrand und die umwerfend schöne Natur der Nordküste Madeiras genießen. Im Gegensatz zur Südküste brennt hier die Sonne nicht so kräftig, das Land wird durch viele Wolkenbänder abgeschattet.

Ich bin so auf meine Wegsuche konzentriert, dass ich erst im letzten Augenblick mitbekomme, wie ein alter, hellblauer Ford Pick-up vor mir zum Stehen kommt. Auf dem rostigen Lack ist ein verblasster Schriftzug zu erkennen. Ist das etwa ein ausgemustertes Fahrzeug der Polícia Maritima?

Irritiert blicke ich zum Fahrer, der den Ellbogen aus dem Fenster hängen lässt und mich schief angrinst. Unverschämt schief.

»É a primeira vez que cá vens, menina?«

Ernsthaft? Fräulein? Aus welchem Jahrhundert stammt der Kerl? Und, nein, ich bin nicht zum ersten Mal hier. Außerdem: Seit wann sind wir eigentlich beim Du?

Aus zusammengekniffenen Augen mustere ich ihn und würde ihm am liebsten sein freches Grinsen aus dem Gesicht wischen.

»Não«, gebe ich einsilbig und ziemlich schnippisch zurück.

»O seu passaporte, faz favor! Tem alguma coisa a declarar?«, will er wissen und gluckst dabei. Er fragt nach meinem Pass und verzollbaren Waren. Soll das witzig sein? Findet er sich etwa witzig?

»Como?«, hake ich nach. Oder ist der Kerl etwa wirklich von der Polizei? Das Auto … Nein, viel zu abgewrackt … Außerdem trüge der Mann dann höchstwahrscheinlich eine Uniform. Dieser Typ hingegen … Ich mustere ihn anhand dessen, was durch das heruntergelassene Autofenster erkennbar ist. Definitiv keine Uniform. Vielleicht in Zivil unterwegs?

Als er meinen prüfenden Blick registriert, fängt er schallend an zu lachen. Ich runzle die Stirn.

»Isso é uma graça.«

»O ja, das glaube ich aber auch, dass das ein Witz ist. Ein sehr schlechter sogar«, murmle ich.

»Ach, sag das doch gleich, dass du Englisch sprichst, Lady!«

Verdattert blinzle ich ihn an. Ich muss mich wohl verhört haben. »Wie bitte?«

»Na, dass du offensichtlich Amerikanerin bist.«

Ich schüttle den Kopf. Zumal das falsch ist, aber das ist im Moment egal. »Das meinte ich nicht«, fauche ich. »Haben Sie mich gerade wirklich Lady genannt? Wie alt sind Sie? Zwölf?«

»Woahwoah, Lady, immer mit der Ruhe!«

Abwehrend hebt er die Hände und steigt danach aus dem Wagen. Mit verschränkten Armen lehnt er sich gegen die geschlossene Fahrertür, ehe ich einen Schritt auf ihn zumache. Mitten auf der Straße. Na, zum Glück ist hier so wenig los.

»Hören Sie auf, mich Lady zu nennen!«

»Wie soll ich dich denn sonst nennen, Süße? Ich weiß schließlich nicht, wie du heißt.«

Spöttisch hebe ich eine meiner Augenbrauen.

»Das wäre jetzt der Zeitpunkt, in der du mir deinen Namen verrätst.«

Da kann er lange warten.

»Na schön, dann fange ich an. Hallo, fremde Lady, ich bin Asher.«

Asher? Ein Amerikaner? Einen portugiesischen Akzent hat er jedenfalls nicht.

»Und du?«

»Ich nicht«, antworte ich spitz, muss mir aber ein Lachen verkneifen.

»Touchdown!«, jubelt er und fängt an, schallend zu lachen.

Okay, definitiv Amerikaner!

»Sie sind ebenfalls nicht von hier, Mister?«

»Waren wir nicht schon bei unseren Namen?«

»Bei Ihrem schon. Bei meinem nicht.« Meine deutschen Wurzeln protestieren stillschweigend.

»Ist das Förmliche wirklich nötig?«, fragt er, erneut mit seinem unverschämt schiefen Grinsen auf den Lippen.

Er ist ansehnlich anzusehen. Wenn ich es mir genau überlege, sogar sehr attraktiv. Braune, verwuschelte Haare, die in alle Richtungen abstehen. Tiefgebräunte Haut und ein dichter Vollbart wie bei einem Holzfäller. Fehlt nur noch das passende Flanellhemd. Klischeehafter geht’s wohl nicht mehr, Charlotte? Aber statt dem Flanellhemd trägt der Typ ein lindgrünes Pilotenhemd, dessen ersten beiden Knöpfe offen sind und damit den Blick auf seine muskulöse und gebräunte Brust freigeben. Seine Beine stecken in einer verboten tief auf der Hüfte sitzenden Jeans. Großartig.

Auf den ersten Blick hätte ich ihn für einen Portugiesen gehalten. Was auch sonst?

Was mich am meisten an ihm fasziniert, sind seine grünen Augen, die irgendwie denselben Farbton haben wie das Hemd, das er trägt. Gibt es solche Iriden überhaupt?

Als er sich räuspert, um meine Aufmerksamkeit zurückzuerlangen, spüre ich, wie mir die Hitze in die Wangen schießt. Ich habe ihn abgecheckt! Aber sowas von. So wissend, wie er mich angrinst, hat er das mitgekriegt. Und wie er das hat …

O Gott, wie peinlich. Aber vermutlich ist er das eh gewohnt. Würde mich nicht wundern …

»Okay, schön. Ungehobelter Schuft …«, gebe ich mich geschlagen.

Er schnalzt lautstark mit der Zunge. »Ein Fortschritt in unter zwei Minuten. Wenn wir in dieser Geschwindigkeit weitermachen, landen wir heute Abend noch zusammen in der Kiste.«

Bitte?! »Was?«

»Ein Scherz!« Er lacht wieder. Ich nicht. »Herrgott nochmal, das war ein Scherz!«, betont er.

Ich setze mein bestes Resting-Bitch-Face auf. »Siehst du mich lachen?«

»Ich sehe dich auf alle Fälle nicht weinen. Wäre auch eine Schande bei diesen Augen. Sie sind wirklich traumhaft schön …«

Ich quittiere seine kitschige Billiganmache mit einem theatralischen Augenrollen. Mit meinen traumhaft schönen Augen. Gruselig. »Gott, gibt es eigentlich irgendeine Frau, die du mit deinen billigen Sprüchen rumkriegst?«

»Ich weiß nicht, klappt es?« Er lässt spitzbübisch seine Brauen hüpfen.

Ich rolle mit den Augen. Der Kerl nervt. Ich stöhne auf und massiere mir angestrengt die Nasenwurzel. Tief durchatmen, Charlotte. Nicht ausrasten. Du willst nur nach São Vicente. Und vielleicht schaffst du das sogar mit der Hilfe dieses Trottels.

»Ich sehe schon, du bist nicht zu Scherzen aufgelegt.«

»Ach, tatsächlich, ja? Ist dir das aufgefallen?! Du bist ja ein ganz Schlauer.« Meine Stimme trieft vor Sarkasmus, mein Bitchy Face erreicht seinen Höhepunkt.

Also ignoriere ich seine Sprüche einfach und beschäftige mich wieder mit meinem Handy.

»Was hast du denn für ein Problem, unbekannte Lady?«

Der gibt wohl nie Ruhe.

Ich seufze und zeige abwechselnd von dem Navi im Auto zu den Schildern auf der gegenüberliegenden Straßenseite und zu meinem Telefon mit der geöffneten Google-Maps-App. Das mittlerweile schon wieder schwarz und gesperrt ist.

»Ich will eigentlich nach São Vicente, aber die Straße, die mir das Navi vorschlägt, gibt es nicht. Oder nicht mehr. Auf jeden Fall komme ich hier nicht weiter. Und die Wegweiser passen irgendwie nicht zu Google Maps.«

»Lass mal sehen.« Er tritt an meine Seite und späht auf das Display, das ich erneut entsperre. »Ach ja …«, beginnt er. »Der Weg von deinem Navi war der hier auf der Karte. Aber die Straße wurde vor einem halben Jahr verlegt und ausgebaut, weshalb sie jetzt hier entlang geht.« Er zeigt auf eine nahezu transparente Linie in der App. »Die Navigationssoftware im Auto ist vermutlich nicht auf dem neuesten Stand. Und bei Google Maps ist die neue Route noch halb grau hinterlegt. Das müsste man mal melden.«

»Wäre besser …«

»Du folgst jetzt einfach diesem Schild und danach kommst du wieder auf die VE2, die direkt nach São Vicente führt.«

Ich nicke und mein Blick folgt seinem ausgestreckten Zeigefinger. Ist im Endeffekt logisch, aber allein hätte ich etwas länger gebraucht, um mich zurechtzufinden.

Wobei …

Durch Ashers alberne Witze habe ich ebenso wertvolle Zeit verloren.

»Dann vielen Dank. Den restlichen Weg schaffe ich allein.«

Nichts wie weg hier!

»Kein Thema, fremde Lady.«

Ich stöhne erneut auf. Sein Ernst?

»Verrätst du mir jetzt deinen Namen?«, fragt er abermals.

Der Kerl gibt wohl nie auf.

»Nope. Wie heißt es so schön? Kommt Zeit, kommt Rat. Und wer weiß, Asher mit dem hellblauen Pick-up, vielleicht begegnen wir uns irgendwann wieder.«

Er legt erneut sein schiefes – und zugegebenermaßen ziemlich beeindruckendes – Grinsen auf.

»Wir sind hier auf einer mickrigen Insel. Irgendwann werden wir uns wieder begegnen, fremde Lady!«

3. Kapitel: Aller Anfang ist … aufregend

»Boa tarde e bem-vindo a São Vicente!« Ein junger Mann mit dichtem, schwarzem Haar und sonnengebräunter Haut tritt lächelnd hinter dem Empfangstresen hervor und bleibt mit gefalteten Händen vor mir stehen.

»Obrigada«, antworte ich dem portugiesischen Mitarbeiter des Weingutes freundlich. Ich bin vor ein paar Minuten angekommen und stehe jetzt in der großzügigen Eingangshalle mit dem Informationstresen.

»Chamo-me Leandro Ventura.«

»O meu nome é Charlotte Baumgartner. Muito prazer.«

»Ah, Senhora Charlotte Baumgartner! Ich finde es ebenfalls schön, Sie endlich begrüßen zu dürfen!« Er wechselt ins Englische und wir schütteln uns die Hand. »Hatten Sie eine angenehme Reise? Ist alles glatt verlaufen?«

»Sim. Alles wunderbar.«

Bis auf einen ziemlich nervtötenden, amerikanischen Touristen. Aber gut, war nicht so schlimm. Ein paar kindische Sprüche. Ansonsten war er harmlos.

»Das freut mich zu hören. Haben Sie Ihr Gepäck noch im Auto, Dona Charlotte?«

»Sim. Aber nennen Sie mich doch bitte einfach nur Charlotte.«

»Na boa! Dann bin ich aber Leandro.« Wir lächeln uns gegenseitig an und ich erkenne feine Lachfältchen, die sich dabei um seine dunkelbraunen Augen bilden. »Ich bin der COO von Vinho Vicente und werde mich um das Kerngeschäft kümmern und die Produktionsabläufe sowie die Ressourcen bei der Vinifikation überwachen. Außerdem bin ich gemeinsam mit Adelia Cruz für das Personal zuständig.«

Der stellvertretende Geschäftsführer also. Das bedeutet, er untersteht dem CEO.

»Dann werden wir in Zukunft sehr eng zusammenarbeiten«, stelle ich fest.

»Evidentemente!« Leandro winkt einen anderen Angestellten heran und beauftragt ihn, mein Gepäck in das für mich vorgesehene Appartement zu bringen. Die Wohnungssuche ist mir im Vorfeld zum Glück erspart geblieben. In dem Einstellungsgespräch per Videokonferenz hat mir Adelia Cruz mitgeteilt, dass für alle Mitarbeiter ein Gebäudekomplex mit möblierten Wohnungen gebaut wurde. Was ich recht praktisch finde und das Angebot, dort zu leben, bedenkenlos und gern angenommen habe.

»Willst du dich erst ein wenig ausruhen und etwas essen? Oder soll ich dir schon mal das Gelände von Vinho Vicente zeigen?«

Und wie ich das möchte! »Schlafen kann ich später noch genügend.« Ich zwinkere ihm zu. »Ich würde mir das Weingut sehr gern ansehen!«

»Dann komm mal mit.« Leandro lächelt und winkt mich hinter sich her. Zunächst zeigt er mir die verschiedenen Büros und anderen Mitarbeiterräume des Weinguts. Danach geht es weiter in den riesigen, kühlen Weinkeller, den Verkostungssaal, den Ausstellungsraum – eine Art Mini-Museum –, den kleinen Weinladen und die Investorenstube. Das ist ein gläserner Gebäudeteil, in dem zukünftig erlesene Weinfässer mit den Logos oder Namen der Investoren präsentiert werden sollen, zum Dank an die – hoffentlich – vielen Geldgeber. Zur Ansicht ist schon eine Reihe an Fässern aufgeschichtet, das Firmenzeichen von Vinho Vicente ist beispielhaft in ein paar Holzfässer eingebrannt.

»Das sieht spitze aus! Die Innenarchitekten haben sich wirklich viel Mühe gegeben. Alles ist perfekt aufeinander abgestimmt«, staune ich nach der Hausbesichtigung.

»Sim. Vinho Vicente hat mit dem Interior Design ein ausgezeichnetes Konzept ausgearbeitet. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.«

Da hat Leandro recht. Ich hatte bisher lediglich Baupläne und eine Flurkarte gesehen. Jetzt kann man in jedem Winkel des Weingutes die Liebe zum Detail erkennen. Naturmaterialien kombiniert mit vielen Betonoberflächen und reichlich eingearbeitetes Glas. Die Verbindung mit Elementen aus dem Weinanbau, der Kellerei und alten Holzfässern rundet das moderne Konzept harmonisch und gelungen ab. Den Räumen wurde Platz gegeben. Nichts wirkt gedrungen oder gestopft.

»Dann zeige ich dir jetzt noch einen kleinen Teil der Außenanlage. Unsere Rebfläche umfasst zwanzig Hektar. Da fährst du am besten in den nächsten Tagen mit dem Chef persönlich herum und siehst dir alles genau an.«

Wir gehen einen geschotterten Fußweg entlang, der in einem Halbkreis um das Hauptgebäude angelegt ist. Nachdem wir am Ende unseres kleinen Spaziergangs angelangt sind, befinden wir uns im Weingarten, einer weitläufigen Terrasse mit Blick auf die malerisch schöne und hügelige Landschaft und den Ort São Vicente. Weit und breit grünbewachsene Berge und dunkle Wälder. Trotz des teils bewölkten Himmels schirme ich meine Augen mit der Hand ab und erkenne am Ende der Talschneise den blauschimmernden Ozean.

»Wow!«, entfährt es mir.

»Es ist ein überwältigender Ausblick, oder?«

»Das ist es. Die Gäste und Kunden werden es lieben.«

»Sim. Davon gehe ich aus, Charlotte.«

Ich drehe mich zu Leandro und stelle fest, dass er mich beobachtet. »Ich habe mich tierisch darüber gefreut, dass das mit der Vertriebs- und Marketingstelle bei euch geklappt hat«, gebe ich breit lächelnd zu.

»Wir sind auch froh, dass wir dich für unser Team gewinnen konnten. Durch deine Vorkenntnisse und dein Studium stellst du eine Bereicherung für uns dar.«

Ich spüre eine leichte Hitze in mir aufsteigen.

Oh, wow, wenn er weiter mit Komplimenten um sich wirft, mache ich bald einer Tomate Konkurrenz.

»Muito amável, obrigada«, bedanke ich mich deshalb für seine netten Worte.

Allerdings hätte ich diese Zusatzausbildung kaum absolviert, wenn ich nicht ursprünglich–

Ach, egal …

Leandro sieht mich fragend an. »Alles okay bei dir?«

Keine Ahnung. Vielleicht? Irgendwie ja? Ich denke schon.

Statt zu antworten, presse ich nur die Lippen aufeinander und nicke gequält.

Ich bin nicht bereit, über meine Vergangenheit zu reden. Nicht jetzt. Möglicherweise nie mehr. Ich habe Kalifornien und damit Potter Valley hinter mir gelassen. Selbst wenn das bedeutet, dass ich von vorn beginnen muss. Und nicht den bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten ursprünglichen Lebensplan durchlaufe. Mit Raphael.

Es stimmt schon. Mein englischsprachiges Betriebswirtschaftsstudium von der renommierten Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, die Zusatzausbildung zur Sommelière sowie die langjährige Tätigkeit in der Firma von Raphaels Eltern in Kalifornien sind absolut vorteilhaft für die ausgeschriebene Stelle bei Vinho Vicente. Trotzdem habe ich Bammel. Wer hätte das nicht? Ich beginne hier ein völlig neues Leben. Zwar auf einer Insel, die ich von unzähligen Familienurlauben wie meine eigene Westentasche kenne, und mit einem stattlichen Budget aus dem Millionenerbe meiner Eltern. Allerdings ohne eine bekannte Seele. Mit einer Sprache, die ich nur noch rudimentär spreche. Aber wie heißt es im Weinbusiness so schön? Die Leber wächst mit ihren Aufgaben. Und ich werde als neue Vertriebs- und Marketingleiterin bei Vinho Vicente Großes vollbringen!

4. Kapitel: Blut ist dicker als Wein

Nach einem kurzen Müslifrühstück in meinem Appartement finde ich mich am nächsten Morgen im Konferenzsaal von Vinho Vicente ein. Nachdem sich Leandro gestern von mir verabschiedet hat, habe ich meine Koffer ausgepackt und ein paar Kleinigkeiten und Lebensmittel im örtlichen Supermarkt besorgt. Danach bin ich hundemüde in das weiche Bett gefallen.

Jetzt sitze ich auf einem der Konferenzstühle und lasse einen Bleistift in meiner Hand kreisen. Dazu wippt mein rechtes Bein unruhig. Zapple ich? Ich zapple …

Falls mich jemand fragt, ob ich nervös bin. Was? Nein. Nie und nimmer. Nein! Nein. Na ja, vielleicht ein kleines bisschen? Okay, ich bin ultranervös. Sagt man das so? Gibt es einen Superlativ für nervös? Nervös, nervöser … okay, definitiv ultranervös.

Immer mehr Menschen betreten den Raum. Leandro stößt ebenfalls hinzu. Er entdeckt mich und winkt mir lächelnd zu. Ich winke zurück. Wenigstens eine Person, die ich schon kenne.

Nach ein paar Minuten sieht sich Leandro um und eröffnet die Teambesprechung.

»Bom dia! Olá zusammen! Ich freue mich, euch alle begrüßen zu dürfen. Da wir nahezu vollzählig sind, schlage ich vor, wir fangen an.«

Zustimmendes Gemurmel erfüllt den Raum und alle nehmen Platz, ehe Leandro weiterspricht: »Vinho Vicente begrüßt euch alle recht herzlich hier im schönen São Vicente. Ich hoffe, die Neuankömmlinge leben sich schnell ein.« Mit diesen Worten blickt er in meine Richtung und zwinkert mir zu.

Flirtet er etwa?

»Da ihr alle das Hauptgebäude bereits besichtigt habt, erspare ich uns eine weitere Führung durch die Räumlichkeiten. Mit unserem CEO solltet ihr jedoch das gesamte Gelände und die einzelnen Weinhänge mit ihren Rebsorten besuchen. Wir bauen hier fünf verschiedene Rebsorten für den aus Portugal bekannten Vinho Verde an: Alvarinho und Loureiro für die weiße Variante, Espadeiro für den Roséwein und Azal Tinto und Rabo de Ovelha für den Rotwein. Außerdem planen wir langfristig, Madeirawein ins Programm zu nehmen. Da der Wein aber nach der Canteiro-Wärmebehandlung erst einige Jahre in Eichenholzfässern reift, bevor wir ihn verkaufen können, müssen wir das hintenanstellen.«

»Existieren denn die Weinstöcke schon?«, fragt einer.

»Gute Frage.« Leandro nickt ihm anerkennend zu. »Sim. Die Rebstöcke gibt es bereits seit einigen Jahrzehnten und gehörten einer alteingesessenen Familie. Da keine Erben vorhanden waren, hat die Familie verkauft. Wir haben das beste Angebot abgegeben. So können wir unser bestehendes Sortiment aus kalifornischen Weinen erweitern und den Vinho Verde sogar in die USA exportieren.«

Auf einmal wird die Tür zum Konferenzraum schwungvoll aufgerissen und ein weiterer Mann stößt zu uns. Ich muss gleich zweimal hinsehen. Und. Traue. Meinen. Augen. Kaum.

»Desculpa! Entschuldigt bitte die Verspätung!«

O Gott …

Das darf doch nicht wahr sein!

Ausgerechnet er?

Der Holzfäller-Verschnitt aus Seixal? Was tut er hier? In seinem Businessoutfit und … frisch rasiert.

Ich stöhne lautlos auf und lasse mich tief in meinen Sitz sinken. Ohne den dichten Vollbart hätte ich ihn fast nicht erkannt.

Leandro sagt irgendetwas und lauter Applaus ertönt, doch ich bin zu abgelenkt. Wie in Trance stimme ich in den Beifall mit ein. Ohne zu wissen, warum ich überhaupt klatsche. Nichts dringt zu mir durch. Viel zu geschockt bin ich über … äh … Ashers Auftauchen. Himmel, ja, ich habe mir seinen Namen gemerkt. Meine Gedanken kreisen um unser gestriges Kennenlernen. Habe ich irgendetwas übersehen? Wer ist der Kerl?

Mit Karacho werde ich in die Realität zurückkatapultiert, weil Asher seine Stimme erhebt: »Olá zusammen! Es freut mich, eure Bekanntschaft zu machen. Ich bin Asher.« Überraschung. »Einige von euch kennen mich schon. Um uns besser kennenzulernen, wäre es schön, wenn wir kurz all eure Namen durchgehen.«

Er sucht den Augenkontakt zum Publikum und sieht nacheinander alle Kollegen an, während sie sich vorstellen und ihre jeweilige Firmentätigkeit nennen.

Als ich dran bin, legt er den Kopf leicht schief. Auf der Stelle setze ich mich aufrechter hin. Ein amüsiertes Lächeln umspielt seinen rechten Mundwinkel. Sein schiefes Grinsen. Sein verboten attraktives, schiefes Grinsen. Ein schelmisches Funkeln liegt in seinen Augen.

Ich kann die Anziehung zwischen uns förmlich spüren. Und das, obwohl er einige Meter entfernt von mir steht. Das Herz klopft mir schlagartig bis zum Hals. In meinem Bauch kribbelt es. Wie kleine Kolibris, die aufgeregt flattern.

Wieso bringt er mich so aus der Fassung? Liegt es an seinem unverschämt guten Aussehen? An seinem durchdringenden Blick? Oder dem lächerlichen, aber rückblickend betrachtet dennoch witzigen Gespräch, das mir seit gestern im Kopf herumschwirrt?

Mein Fuß beginnt erneut, zittrig zu wippen. Verlegen beiße ich mir auf die Unterlippe, Asher bemerkt das sofort. Sein Blick fällt zu meinem Mund und verschleiert sich augenblicklich. Ich schlucke nervös, denn in seinen Augen schimmert jetzt etwas Dunkles.

»Und du?« Er sieht mich mit einer ungeheuren Intensität an.

Ich blinzle. Und löse mich damit aus der Schockstarre, die mir sofort das Bild von dem Kaninchen vor der Schlange in den Kopf schießen lässt. Aber wer von uns beiden ist jetzt das Kaninchen?

Ich räuspere mich. »Hmm?«

»Wie heißt du?«, fragt er mit so sanfter Stimme, dass ich erröte.

Wo ist der freche Womanizer von gestern abgeblieben?

Leandro hüstelt und ich zucke zusammen. »Das ist Charlotte Baumgartner, unsere Marketing- und Vertriebsmanagerin«, erklärt er und sieht Asher dabei fragend von der Seite an.

Richtig, das bin ich, die CCO. Da staunst du, was, Asher?

Ashers Blick ist weiterhin auf mich gerichtet. Seine Mundwinkel deuten ein Lächeln an, er mustert mich offenkundig. »Charlotte, also?«

Ich nicke. Unfähig, nur einen einzigen Ton herauszubringen. Mein. Gesicht. Glüht.

»Nett, dich kennenzulernen, Charlotte.« Er spricht meinen Namen so sinnlich aus, dass ich mich unter seinem durchdringenden Blick winde.

»Ebenso«, krächze ich. »Ich freue mich auf die Möglichkeit dieser neuen Herausforderung. Vielen Dank, dass mir Vinho Vicente diese Chance einräumt.«

Geht doch! Dabei klinge ich um einiges selbstbewusster, als ich mich fühle. Meine Hormone spielen verrückt. Wie bei einer verliebten Vierzehnjährigen. Reiß dich zusammen, Charlotte!

»Dabei gibt es Menschen, die behaupten, ich sei ein ungehobelter Schuft

O nein …

Wieso muss er mich ausgerechnet mit meinen eigenen Worten aufziehen? Gibt es irgendein Loch, in dem ich versinken kann? Am liebsten würde ich mir die Hände vor das Gesicht schlagen. Aber, nichts da! Der Kerl will mich nur aus der Reserve locken … Darauf lasse ich mich erst gar nicht ein.

Ich hebe beide Augenbrauen. »Ist das so?«

Er grinst mich an. »Sag du es mir, Charlie

Hey! Wer hat ihm erlaubt, mir einen Spitznamen zu verpassen?

Argh! Glasklar: Asher. Denn Asher Wer-auch-immer braucht keine Erlaubnis, er erteilt sie sich selbst.

»Wir werden sehen, Mister …« Mit einem gekünstelten Lächeln hebe ich das Kinn.

Er lacht leise, fährt sich mit der Hand über die rasierten Wangen und richtet seine Aufmerksamkeit auf die restlichen Mitarbeiter rechts von mir.

Ich atme erst einmal tief durch. Habe ich etwa die Luft angehalten?

Ab dieser Sekunde bekomme ich erneut nichts mehr mit, sondern muss mich darauf konzentrieren, Puls und Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Was zur Hölle ist nur los mit mir? Solch heftige Gefühlsregungen hat nicht einmal mein Ex-Verlobter Raphael bei mir hervorgerufen.

Als Leandro wieder das Wort übernimmt, habe ich mich halbwegs beruhigt und bin gefasster. Den Bleistift drehe ich dennoch zwischen meinen Händen hin und her. Meinen Fuß zwinge ich zum Stillstand.

Ich kann es immer noch nicht fassen. Dieser unverschämte Asher. Hier?!

Kann es eigentlich noch schlimmer werden?

»Es gibt eine organisatorische Umstrukturierung.«

Ich horche auf.

»Zunächst einmal benennen wir unser Weingut um.«

Ich nehme einen Schluck Wasser aus dem Glas vor mir. Keine drei Sekunden später werde ich eines Besseren belehrt: Es kann noch schlimmer kommen.

»Um das Corporate Identity zu vereinheitlichen, sind wir ab sofort nicht mehr Vinho Vicente, sondern Vinho Monteiro da Madeira, kurz Vinho Monteiro. Vielleicht haben Sie schon von uns gehört? Monteiro Winery aus Napa Valley, Kalifornien, steckt hinter unserer Marke.«

Ich verschlucke mich und huste.

Bitte was?

Vinho Vicente ist eine Tochtergesellschaft von Monteiro Winery? Ich spüre regelrecht die kleinen Zahnrädchen in meinem Kopf, wie sie angestrengt eins und eins zusammenzählen. Monteiro Winery … die bekannterweise portugiesische Wurzeln haben … Damn – what?!

»Zur dieser Änderung haben wir, das heißt, meine Familie und ich, uns erst vor Kurzem entschlossen. Da unser Unternehmen hier auf der Insel noch jung ist, erhoffen wir uns mit der Umbenennung und Offenlegung der Verbindungen zu Monteiro Winery Synergieeffekte«, erklärt Asher.

Völlig verdattert und mit offenem Mund starre ich zu ihm. Versuche, das Gehörte zu verarbeiten.

Bis eben bin ich der festen Überzeugung gewesen, dass es sich bei Vinho Vicente – pardon, Vinho Monteiro – um ein regionales Unternehmen handelt. Mit keinem Wort wurde beim Vorstellungsgespräch erwähnt, dass Berührungspunkte mit Monteiro Winery aus Kalifornien bestehen. Diese Neuigkeit ist noch nicht einmal bis zu den Fachkreisen durchgesickert. Ich weiß, von was ich spreche. Wenn sogar die eigenen Eltern beruflich im Weingeschäft tätig gewesen sind, ist einem bekannt, in welchem Loch man graben muss, um an bestimmte Informationen zu gelangen. Aber dass das neu gegründete, angebliche madeiranische Weingut mit Monteiro Winery zusammenhängt? Nichts. Nada. Niente. Absolut gar nichts. Warum denn nicht, zum Geier?

Und dann ist meine neue Stelle ausgerechnet bei einem der Konkurrenten von Grizzly Bear Vineyards? Benannt nach dem Nationaltier Kaliforniens. Bei mir besser bekannt als die Firma der Familie Johnson. Raphael Johnsons Familie. Der Familie meines Ex-Verlobten.

Was für ein bescheuerter Zufall.

»Des Weiteren gibt es eine personelle Änderung, die sich ebenfalls erst in den vergangenen Tagen ergeben hat«, fährt Leandro fort.

Himmel, was kommt denn noch?

»Als CEO von Vinho Monteiro auf Madeira werden wir Senhor Asher Monteiro einsetzen, statt wie ursprünglich geplant Senhor Lionel Monteiro, seinen Vater. Ashers Bruder Jaiden wird dann in Zukunft die Werke in Napa Valley übernehmen.«

Moment, was?

Nein! Neinneinnein!

Wie habe ich nur diesen essentiellen Gesprächsteil versäumen können?