Kapitel 1: Anna
Mein Atem bildet kleine, weiße Wölkchen in der kalten Winterluft Kanadas. Ich ziehe den karierten Schal bis über die Nasenspitze und die Bommelmütze tief in die Stirn, wodurch die vorbeilaufenden Menschen nur meine blaugrünen Augen zu sehen bekommen.
Mein Blick wandert immer wieder von dem Display meines Handys auf die verschneite Straße vor dem Airport in Halifax und mit jeder verstreichenden Minute wächst meine Nervosität. Ob sie mich vergessen haben?
Zweifelnd werfe ich einen weiteren Blick auf die digitale Uhr des Handys. Schneeflocken fallen darauf, die ich mit dem Daumen wegwische. 15:45 Uhr. Inzwischen stehe ich seit zwanzig Minuten vor dem Flughafen und warte. Nicht nach der Handynummer von Papas altem Schulfreund gefragt zu haben, stellt sich in diesem Moment als ein großer Fehler heraus.
Gerade, als ich denke auf dem vermaledeiten Gehweg bald zur Eisstatue zu gefrieren, fährt ein schwarzer Pick-Up mit Ladefläche vor und kommt direkt neben mir zum Stehen. Das Beifahrerfenster wird heruntergelassen und ich werfe automatisch einen Blick in das Innere des Wagens.
Ein junger Mann, höchstens ein paar Jahre älter als ich, beugt sich über das Lenkrad, wobei ihm eine dunkelblonde Locke in die Augen fällt, und mustert mich. »Anna?« Er spricht das erste »A« wie ein »Ä« aus.
Mein Nicken gleicht vermutlich dem eines Roboters, so festgefroren bin ich inzwischen. Aber immerhin hat das Warten ein Ende.
»Steig ein.« Er lehnt sich wieder zurück in seinen Sitz und schließt das Fenster.
Perplex blinzle ich zweimal. Der spart wohl Wörter. Ich öffne die Tür und warte, bis er mir wieder den Kopf zuwendet. »Wer bist du?«
»Ich soll dich hier abholen.«
Sehr hilfreiche Antwort. Immer noch unsicher ziehe ich die Augenbrauen nach oben, worauf er ein genervtes Seufzen ausstößt und sich weiter in meine Richtung beugt. »Wir haben in den nächsten Wochen das zweifelhafte Vergnügen unter einem Dach zu leben, solange du bei deinem Tanzwettbewerb mitmachst. Würdest du jetzt bitte einsteigen, damit wir auf den Highway kommen, bevor dort die Hölle losbricht?«
»Eiskunstlauf«, korrigiere ich ihn.
Er fährt sich frustriert durch das Haar und schüttelt den Kopf. Doch da tatsächlich sonst niemand weiß, dass ich für einen Wettbewerb hier bin, lasse ich mich auf den Sitz sinken. Die Heizung läuft auf Hochtouren, worüber ich dankbar bin.
Er sieht wieder zu mir und dann aus dem Beifahrerfenster raus. »Hast du nicht etwas vergessen?« Ich folge seinem Blick und sehe meinen knallpinken Koffer einsam und allein auf dem Gehweg stehen.
»Oh.« Mehr bringe ich nicht heraus. Stattdessen spüre ich, wie mir die Hitze in die Wangen steigt. Schnell öffne ich die Autotür, schnappe den Koffer und bugsiere ihn auf die Ladefläche. Misstrauisch werfe ich einen Blick nach vorn auf die Fahrerkabine. Hoffentlich rutscht mein Gepäck nicht zu viel hin und her. Wer weiß schon, welchen Fahrstil der Typ an den Tag legt.
Ich lasse mich abermals auf den Beifahrersitz fallen und schließe die Tür, da fährt er schon los. Ohne ein weiteres Wort zu sagen. Einige Minuten sitzen wir stillschweigend nebeneinander, während er den großen Wagen sicher in den fahrenden Verkehr einfädelt. »Wie heißt du?«
»Fynn.«
»Bist du Richards Sohn?« Ich bemerke zwar, dass er nicht unbedingt zu den redseligen Menschen gehört, gebe aber nicht so schnell damit auf, ein Gespräch in Gang zu bringen.
»Stiefsohn«, antwortet Fynn wieder nur einsilbig. Wow. Er macht es einem wirklich schwer.
Unschlüssig sehe ich ihn von der Seite an. »Wir müssen nicht miteinander reden. Aber …«
»Gut«, unterbricht er mich und streicht sich mit der rechten Hand durch die Locken. Dabei lässt er den Verkehr keine Sekunde aus den Augen.
Dieser Zwischenruf nimmt mir den Wind aus den Segeln. Ich sehe aus dem Fenster. Um ehrlich zu sein, habe ich mir die Reise anders vorgestellt und in mir regt sich die Befürchtung, dass die nächsten zwei Wochen lang werden.
Ich beschließe, mir von Fynn meinen Aufenthalt nicht vermiesen zu lassen. Vielleicht hat er einen schlechten Tag und morgen sieht die Welt anders aus? Ich sollte nicht zu früh urteilen. Immerhin bin ich diejenige, die ihren Koffer vor dem Flughafen hat stehen lassen. Wer weiß, was er über mich denkt? Bestimmt hält er mich für eine blöde Pute.
Ich drehe den Kopf nach rechts und schaue aus dem Fenster. Dicke, weiße Schneeflocken fallen vom Himmel und verschleiern meine Sicht auf die Außenwelt. Sie legen sich auf die Fensterscheibe und hinterlassen darauf hunderte Wasserbahnen. Dennoch erkenne ich die Farben der vorbeizischenden Autos auf dem Highway. Und wenig später das Dunkelgrün der sich unter dem Gewicht des Schnees biegenden Tannenzweige.
Nach einer Stunde fahren wir endlich den schmalen Weg zu einem Blockhaus hinauf. Für den Geländewagen ist der verschneite Weg kein Problem. Papa hätte es mit seinem alten Golf vermutlich nicht geschafft, direkt vor der Treppe zu parken. Trotzdem würde er ihn nie gegen einen Neuwagen austauschen. Dafür hängt er zu sehr an ihm.
Der alte Golf erinnert mich immer an die zahlreichen Ausflüge, die wir zu dritt unternommen haben, als Mama noch am Leben war. Vor allem der zuerst geplante Museumsbesuch, der aufgrund einer Reifenpanne ausfiel, ist mir im Gedächtnis geblieben. Stattdessen sind wir in ein Fast-Food-Restaurant und anschließend ins Kino gegangen, während die Werkstatt sich um den Schaden gekümmert hat. Wir hatten unheimlich viel Spaß und ich war fast dankbar für die Panne. Bei dieser Erinnerung legt sich ein Lächeln auf meine Lippen.
Sobald Fynn den Motor ausschaltet, öffne ich die Autotür und stolpere hinaus an die frische Luft. Mein Blick wandert umher und bleibt dann auf dem gemütlich wirkenden Blockhaus vor mir hängen. Die weiß eingerahmten Fenster mit den grünen Fensterläden und das helle Holz erwecken einen freundlichen Eindruck. Auf der linken Seite erkenne ich einen kleinen Schuppen, der seine besten Tage hinter sich hat. Die grauen Bretter wirken morsch und die schmale Tür hängt etwas schief in ihren Angeln.
Ich sehe zurück zu der dunklen Haustür, über der sich das Dach zu einem Dreieck formt, und aus der mir ein rundlicher Mann mit einem herzlichen Lächeln auffordernd zuwinkt. Das wird Richard sein, Papas ehemaliger Schulfreund. Ich erwidere sein Lächeln und drehe mich um, als sich jemand laut neben mir räuspert.
»Willst du Wurzeln schlagen?« Fynns graublaue Augen betrachten mich argwöhnisch. Ich schüttle den Kopf und möchte ihm den Griff meines Koffers aus der Hand nehmen, doch er presst ein »Das mache ich schon« zwischen zusammengekniffenen Lippen hervor.
»Danke.« Das Wort klingt aus meinem Mund eher nach einer Frage. Kurz überlege ich, ob ich irgendetwas getan habe, das ihn beleidigt hat. Aber mir fällt beim besten Willen nichts ein.
Vorsichtig, um nicht auszurutschen, laufe ich die paar Schritte auf die Treppe zu und steige die wenigen Stufen hinauf. Ehe ich mich versehe, schließen sich zwei starke Arme um meinen Körper und ich werde beinahe zerquetscht. »Ich freue mich sehr, dass du uns besuchst.« Richard löst die Umarmung und ich sehe perplex zu ihm auf. Diese herzliche Art von Begrüßung habe ich nicht erwartet. »Nur schade, dass Andreas nicht dabei ist. So, wie ich ihn kenne, lässt es die Arbeit nicht zu. Nicht wahr?«
»Ja, er hat im Krankenhaus sehr viel zu tun.« Das ist die Standardaussage, die wir seit fast fünf Jahren benutzen. Im Endeffekt brummt Papa sich die Extraschichten selbst auf. Er will das so.
»Richard!«, ruft eine Frauenstimme aus dem Inneren des Hauses. Dann vernehme ich eilige Schritte, die auf uns zukommen. Eine dunkelhaarige, schlanke Frau schiebt Richard zur Seite und stellt sich neben ihn in die Tür. »Lass das arme Mädchen erst einmal hereinkommen.« Sanft lächelt sie mich an und feine Lachfältchen bilden sich dabei um ihre braunen Augen. Sie strahlt förmlich und ist mir sofort sympathisch.
»Du hast Recht, Liebling.« Richards ohnehin rotes Gesicht nimmt mehr Farbe an und er tritt hastig zur Seite. »Komm rein, Anna.«
Staunend betrete ich das Innere des Hauses. Wir stehen direkt im großzügigen Wohnzimmer mit angrenzender, offener Küche. Die Einrichtung ist schlicht, aber behaglich, und in hellen Braun- und Grüntönen gehalten. Das große Sofa lädt zu gemütlichen Filmabenden und der dunkelgrün und braun karierte Ohrensessel zum Lesen vor dem Kaminfeuer ein.
»Ihr Haus ist wunderschön, Mrs. Gagnon.«
»Das ist lieb von dir, danke. Aber nenne mich gerne Sophia.« Ihr offenes Lachen erfüllt den Raum und das dunkelbraune Haar glänzt im warmen Licht der Lampen. »Mrs. Gagnon war meine Mutter.« Immer noch lächelnd zwinkert sie mir zu und ich kann nicht anders, als ebenfalls zu lachen.
Die Aufregung fällt mit jeder verstreichenden Minute mehr von mir ab und macht einer bleiernen Müdigkeit Platz. Ich schaffe es nicht, das Gähnen zu unterdrücken, und hebe mir rasch die Hand vor den Mund. »Entschuldige. Der Jetlag.«
»Aber dafür brauchst du dich nicht zu entschuldigen. In Deutschland wäre es zehn Uhr abends, wenn ich mich nicht täusche. Möchtest du dich ein wenig ausruhen?«
Zuerst will ich verneinen, doch der Flug war anstrengend, weil meine Gedanken ständig um meine Kür und den bevorstehenden Wettbewerb kreisten. Ein wenig Ruhe würde mir sicher guttun. Ich nicke und schenke Sophia ein kleines Lächeln. »Das wäre eine gute Idee, danke.« Auch wenn ich nicht glaube, dass ich schlafen werde. Dafür ist noch nach dem Abendessen Zeit.
Ihre Augen bleiben für einige Sekunden auf mir liegen, bevor sie sich ihrem Sohn zuwendet. »Fynn? Würdest du Annas Sachen bitte nach oben bringen und ihr das Gästezimmer zeigen? Ich muss in die Küche und nach dem Essen sehen. Es müsste in der nächsten Stunde fertig sein.«
»Du meinst das Zimmer, das bis gestern noch mein Eishockeyraum werden sollte?«
Sophias Augen sprühen Funken. »Nein, ich meine das Zimmer, das du ohne unsere Zustimmung in eine Rumpelkammer verwandelt hast. Wir haben bereits darüber gesprochen, dass dieser Raum ein Gästezimmer ist und auch bleiben wird. Und jetzt hör bitte auf damit und zeige ihr das Zimmer.« Einige Sekunden lang fechten die beiden ein stummes Blickduell aus, bis Fynn leise fluchend den Kopf senkt, meinen Koffer packt und ein »Komm mit« knurrt.
Es fällt mir schwer, mit ihm mitzuhalten, denn er hetzt mit großen Schritten durch das Wohnzimmer, die Holztreppe hinauf und durch den langen Gang bis zur vorletzten Tür. »Das ist es.« Er stellt meinen Koffer ab und schiebt sich an mir vorbei, um wieder hinunterzugehen.
»Warte«, halte ich ihn zurück und er bleibt ruckartig ein paar Schritte von mir entfernt stehen, dreht sich jedoch nicht um. »Es tut mir leid, dass du das Zimmer wegen mir räumen musstest. Das wusste ich nicht.«
Fynn linst über die Schulter und scheint zu überlegen, ob er etwas sagen soll. Doch dann lässt er mich wie eine alte Ramschkiste vor der Haustür einfach stehen. Was war das denn? Kopfschüttelnd starre ich auf den Fleck, wo er eben noch stand. Aus dem soll mal einer schlau werden.
Ich drehe mich um und betrete das Zimmer, in dem ich die nächsten zwei Wochen wohnen werde. An dem großen Fenster im hinteren Teil des Raumes, vor dem ein heller Schreibtisch mit Stuhl steht, hängen leichte, weiße Vorhänge mit winzigen beigen Musterungen. Mit drei kurzen Schritten gehe ich auf den Holzschrank an der gegenüberliegenden Wand zu und werfe einen Blick hinein. Bis auf ein Fach, in dem frische Bettwäsche liegt, ist er leer. Kurzerhand entscheide ich mich dazu, meine Kleidung einzuräumen. Es dauert ohnehin ein wenig, bis das Abendessen fertig ist.
Papas geschocktes Gesicht steigt vor meinem inneren Auge auf, wenn er mich dabei sehen würde, wie ich die Klamotten feinsäuberlich in den Schrank einräume, anstatt sie wie üblich im ganzen Zimmer zu verteilen. Er hat mich immer Chaos-Prinzessin genannt. Meine Mundwinkel wandern wie von selbst nach oben bei dem Gedanken an den Spitznamen, obwohl ich von ihm schon länger nicht mehr so genannt wurde. Dafür sehen wir uns zu selten. Bei dem Gedanken an ihn fällt mir ein, dass ich mich noch gar nicht gemeldet habe. Rasch ziehe ich mein Handy hervor und tippe an ihn und meine beste Freundin Lena eine kurze Nachricht, dass ich gut bei den Gagnons angekommen bin und mich jetzt einrichte. Da der Akku fast tot ist, sehe ich mich nach einer Steckdose um und werde neben dem schmalen Bett fündig. Es steht rechts neben dem Fenster und ein rot-weiß gemusterter Comforter liegt darauf. Ich schiebe meinen leeren, pinken Koffer darunter, stecke mein Handy ein und lasse mich dann seufzend rückwärts auf das weiche Bett fallen. Es ist gemütlich und wenn ich jetzt die Augen schließe, würde ich sofort einschlafen. Da bin ich mir sicher. Tief atme ich den Geruch nach frisch gewaschener Wäsche ein und blicke einige Momente an die weiße Zimmerdecke.
In zwei Tagen werde ich das erste Mal in der Eishalle trainieren. Mein Körper kribbelt bei dem Gedanken daran, bald wieder auf dem Eis zu stehen. Das Gefühl der Freiheit, der Kufen auf dem Eis und dieser kurze Augenblick, in dem es sich anfühlt, als könne man fliegen. Diese Schwerelosigkeit, wenn man zum Sprung ansetzt und das pure Glücksgefühl, wenn man mit jeder Pore seines Körpers spürt, dass das Element gelungen ist.
In den vergangenen Wochen konnte ich an nichts anderes als an die Qualifikation zur Eiskunstlauf-WM denken. Ich habe viel Zeit in der Eishalle verbracht und geübt und in jeder freien Minute außerhalb der Halle bin ich in Gedanken meine Kür durchgegangen. Es war ein sehr harter Weg. Die Wettbewerbe, um diese Qualifikation zu erreichen, haben viel von mir abverlangt und mich bis an meine Grenzen gebracht. Aber jetzt bin ich tatsächlich hier.
»Das Essen ist fertig.«
Ruckartig setze ich mich auf und sehe, dass Fynn im Türrahmen steht und mich mustert. Seine Mundwinkel zucken und in seinen Augen blitzt der Schalk auf.
»Komme schon.« Eilig stehe ich auf, streiche den Comforter glatt und schiebe mich an Fynn vorbei, der immer noch grinsend in der Tür steht.
Bestimmt macht er sich lustig darüber, wie ich verträumt an die Zimmerdecke gestarrt habe und in Gedanken versunken war.
Ein köstlicher Duft erfüllt das Wohnzimmer und lockt uns direkt in die offene Küche, wo der Tisch zum Abendessen gedeckt ist.
»Setz dich, Anna.« Richard schiebt den Stuhl an seiner linken Seite zurück und lächelt mich auffordernd an. »Ich hoffe, du isst gerne Suppe mit verschiedenem Gemüse. Sophia hat ihre wunderbare Soupe aux pois gekocht.«
»Das klingt perfekt für den Winter«, antworte ich.
»Ganz richtig.« Sophia kommt schwungvoll auf uns zu und stellt einen großen Topf vor uns ab.
Im selben Moment tritt Fynn hinter sie und legt eine Kelle daneben. »Ich habe einen Bärenhunger.« Er lässt sich auf den Stuhl gegenüber von Richard fallen und greift nach dem Topfdeckel, um sich etwas von der Suppe zu schöpfen.
»Wer den ganzen Tag auf dem Eis verbringt, kann nur hungrig sein.« Richard lacht dröhnend und klopft seinem Stiefsohn freundschaftlich auf die Schulter. Fynn scheint sich unter der Berührung sofort zu versteifen und lächelt gezwungen. Es sieht aus, als würde ihm das körperliche Schmerzen zufügen.
Erstaunt hebe ich die Augenbrauen. »Du kannst Schlittschuhlaufen?«
»Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen. Ich spiele Eishockey. Zumindest normalerweise.« Fynn wirft mir einen kalten Blick zu, unter dem ich sofort zu einer Eisstatue erstarrt wäre, wenn er magische Kräfte besitzen würde.
Und da fällt es mir wieder ein. Das Zimmer, in dem ich die nächste Zeit schlafen werde, hat Fynn als seinen Hockeyraum bezeichnet. »Stimmt, das habe ich vergessen«, nuschle ich und wende meinen Blick ab. Eilig probiere ich den ersten Löffel der Suppe, die Richard mir inzwischen in den Teller geschöpft hat. »Die Suppe schmeckt wunderbar. Anders als zu Hause. Viel intensiver. Welche Zutaten hast du verwendet?«, wende ich mich an Sophia.
»Grüne und gelbe Erbsen, Zwiebeln, Sellerie, Karotte in Rinderbrühe«, zählt sie an der Hand ab. »Oh, und einen Schinkenknochen. Das verleiht noch einmal zusätzlich Würze. Es freut mich, dass es dir schmeckt.« Sie schenkt mir ein warmes Lächeln.
In den nächsten Minuten genießen wir schweigend die heiße Suppe. Es ist keine unangenehme Stille wie im Auto mit Fynn. Man hat nicht das Gefühl, etwas sagen zu müssen.
»Warst du schon einmal in Kanada?« Richard sieht mich fragend an und ich schlucke schnell die warme Suppe hinunter, um ihm zu antworten.
»Leider noch nicht. Aber es war schon immer mein Wunsch, hierher zu kommen. Ich befürchte nur, dass ich in den nächsten zwei Wochen nicht allzu viel zu sehen bekomme. Abgesehen von der Eishalle.«
»Vielleicht könnten wir morgen etwas unternehmen. Was denkst du, Anna?« Sophia streicht sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und sieht mich erwartungsvoll an.
»Das fände ich schön.«
»Solange es nicht Fallschirmspringen oder Bungeejumping ist«, wirft Richard ein und schüttelt sich, als würde er eine lästige Fliege loswerden wollen. Als er meinen fragenden Blick auffängt, schmunzelt er, während Sophia die Augen verdreht. Doch ihre Mundwinkel zucken auffällig. »Meine Frau ist ein kleiner Adrenalinjunkie. Lass dich von dieser karierten Kochschürze mit den Rüschen und dem ständigen Kochen bloß nicht in die Irre führen.«
Ich werfe Sophia einen erstaunten Blick zu, die sogleich abwehrend die Hände hebt. »Keine Sorge. Ich habe eher an einen Ausflug nach Halifax gedacht«, wendet sie sich an mich.
»Das wäre super. Ich hatte nicht so viel Zeit, um mich über die Gegend schlauzumachen, aber die Waterfront würde ich gerne mal sehen.« Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, ertönt gegenüber von mir ein lautes Aufstöhnen. Ich drehe meinen Kopf und blicke in Fynns genervtes Gesicht.
»Das volle Touri-Programm also. Ich bin raus.« Er schmeißt die Serviette auf seinen leeren Teller, schiebt den Stuhl laut quietschend über den Boden und verschwindet mit langen Schritten nach oben.
Perplex sehe ich ihm nach. »Welche Laus ist ihm denn über die Leber gelaufen?«
Sophia seufzt leise und Richard legt einen Arm um ihre schmalen Schultern. »Ich glaube, der Umzug macht ihm zu schaffen«, gibt sie zu und versucht sich an einem etwas schiefen Lächeln.
»Ich wusste nicht, dass ihr erst vor Kurzem hergezogen seid.« Hilflos sehe ich zwischen den beiden hin und her. »Und ich dachte, ich hätte irgendetwas falsch gemacht.«
»Oh nein. Mach dir da bitte keine Gedanken.« Richard winkt mit beiden Händen ab.
»Er wird sich bald an die Situation gewöhnt haben«, fügt Sophia hinzu. Sie scheint über das Thema nicht sprechen zu wollen, weswegen ich meine Neugier herunterschlucke und nicht weiter nachfrage.
»Ich bin ziemlich müde und würde mich gerne ein wenig hinlegen.«
»Selbstverständlich. Brauchst du noch irgendetwas?«
»Ich würde ein Glas Wasser mit nach oben nehmen, aber ansonsten bin ich wunschlos glücklich. Danke.« Ich stehe auf und lächle Richard und Sophia an. »Gute Nacht.«
»Schlaf gut, Anna«, antworten beide gleichzeitig.
Die Treppen geben ein leises Knarzen von sich, als ich nach oben in mein Zimmer gehe. Aus dem Schrank ziehe ich einen bunten Pyjama hervor und wechsle im Badezimmer nebenan rasch die Klamotten. Dann lege ich mich aufs Bett und sehe zum Fenster in die Dunkelheit hinaus.
Ich wälze mich hin und her auf der Suche nach einer bequemen Position. Obwohl ich müde bin, kann ich nicht schlafen. Die Eindrücke des Tages sind zu präsent in meinem Kopf und Fynns abweisendes Verhalten trifft mich mehr, als ich mir eingestehen will.
Kurzentschlossen stehe ich wieder auf und inspiziere meine Handtasche, die ich achtlos auf dem Tisch habe liegen lassen. Wie bei vielen anderen Frauen gleicht auch meine einem schwarzen Loch. Für einen Moment habe ich Angst, den E-Book-Reader vergessen zu haben. Doch dann ziehe ich ihn mit einem weithin hörbaren »Da bist du ja!« hervor. Blöderweise habe ich ihn mit zu viel Schwung herausgeholt. Meine Tasche fällt mit einem lauten Plumpsen herunter und ihr gesamter Inhalt ergießt sich über den Boden: Zeitschriften, Kugelschreiber, Geldbeutel, Kaugummis, Kopfhörer, die Trinkflasche, die ich mir am Flughafen gekauft habe und mein Schlüssel, der wohl am meisten Lärm verursacht.
Sofort bücke ich mich, um alles wieder einzuräumen. Da ertönen laute Schritte im Flur und wenige Sekunden später wird die Tür aufgerissen.
»Geht das auch noch lauter? Soll ich dir vielleicht dabei helfen, das Zimmer auseinanderzunehmen?« Fynn steht wutschnaubend in der Tür und seine graublauen Augen sprühen Funken.
Mein Gesicht brennt. »Sorry, mir ist die Handtasche runtergefallen.« Wie eine Idiotin deute ich mit dem Finger zuerst auf die dunkelbraune Tasche und dann auf den restlichen Inhalt, der auf dem Boden verstreut liegt.
»Was du nicht sagst.«
Ich schlucke fest und weiß nicht genau, was ich antworten soll. Daher wende ich mich von Fynn ab und fahre damit fort, die Sachen zu verstauen. Die ganze Zeit über liegt sein Blick auf mir. Wieso verschwindet er denn nicht wieder?
Erst als meine Kopfhörer ihren Weg zurück in das schwarze Loch gefunden haben und ich die Tasche auf dem Tisch ablege, macht sich Fynn ohne ein weiteres Wort zu sagen aus dem Staub. Das Letzte, was ich höre, ist, wie er die Tür laut hinter sich ins Schloss zieht.
So ein Arsch.
Kopfschüttelnd gehe ich mit dem E-Book-Reader auf das Bett zu, ziehe den Comforter zurück und lasse mich auf das Laken fallen, das auf der Matratze festgezurrt ist. Lesen würde mir dabei helfen, zur Ruhe zu kommen. Das hat es bislang immer.
Ich springe bis zu dem Kapitel vor, das ich zuletzt gelesen habe, und lasse mich tiefer in das Kissen sinken. Ich finde direkt wieder in die Geschichte und werde in eine magische Welt hineingezogen, die weit weg von Kanada ist, und endlich schaffe ich es, abzuschalten.
Kapitel 2: Anna
In der Nacht wache ich immer wieder auf. Es hat nicht daran gelegen, dass das Bett unbequem oder ich nicht müde genug war. Im Gegenteil. Das Problem lag in Fynns Verhalten. Ich verstehe, dass es nicht leicht ist, an einem neuen Ort von vorne anzufangen. Aber dadurch hatte ich das Gefühl, nicht willkommen zu sein und in eine Familie einzufallen, die sich zuerst untereinander zurechtfinden sollte. Aber auch die Nachwehen des Jetlags haben ihren Teil zu der unruhigen Nacht beigetragen.
An Schlaf ist jetzt jedenfalls nicht mehr zu denken. Ein Blick auf die Uhr meines Handys verrät mir, dass es ohnehin bereits acht Uhr ist. Seufzend rutsche ich aus dem Laken hervor, werfe den Comforter zurück und stehe auf. Vielleicht hilft mir ein Schwall kaltes Wasser, um wach zu werden. Mit einem dunkelblauen Wollpullover und einer ebenso dunklen Jeans über dem Arm und meiner Kulturtasche in der Hand gehe ich in das Badezimmer nebenan.
»Raus hier!«
Als wäre ich gegen eine unsichtbare Wand geknallt, halte ich ruckartig an. Direkt vor mir steht Fynn und er ist nur mit einem Handtuch um die Hüfte bekleidet. Ich schlucke mehrmals nacheinander. Sein Haar ist noch nass und Wassertropfen bahnen sich einen Weg von seiner durchtrainierten Brust über die Bauchmuskeln, um schließlich unter dem Badetuch zu verschwinden. Meine Augen folgen ihnen, als würden sie magnetisch von den Tropfen angezogen werden.
»Bist du taub?« Fynns laute Stimme reißt mich schonungslos aus der Erstarrung und ich schaffe es, meinen Blick von seinem Körper loszureißen.
»Was?« In diesem Moment verstehe ich kein Wort von dem, was er sagt.
Ohne auf die Frage einzugehen, legt er eine Hand um mein Handgelenk und zieht mich aus dem Badezimmer heraus. Seine Berührung sendet kleine Blitze durch meinen Körper. »Stalkst du andere immer beim Duschen?«
Die Frage hat dieselbe Wirkung wie ein Eimer voll mit eiskaltem Wasser, der über meinem Kopf ausgeschüttet wird. »Da… Das war keine Absicht! Ich wusste nicht, dass du im Badezimmer bist«, verteidige ich mich halbherzig.
Fynn lehnt sich an den Türrahmen und ich versuche, den Blick auf seine Augen gerichtet zu lassen. »Das nächste Mal könntest du einfach klopfen.«
»Sagt derjenige, der einfach Türen aufreißt und rumbrüllt«, erinnere ich ihn an den vorherigen Abend. »Du könntest einfach abschließen.«
Fynn hebt eine Augenbraue und seine Mundwinkel zucken. »Du bist gerade mal einen Tag hier und stellst schon Ansprüche?«
Tief atme ich ein und wieder aus. Mann, der Kerl bringt mich auf die Palme. »Jetzt hör mir mal gut zu. Es war keine Absicht. Ich wollte nur …«, versuche ich mich noch einmal zu erklären, bevor ich von Schritten auf der Treppe unterbrochen werde.
Nur wenige Sekunden später steht Sophia neben uns. »Ist alles in Ordnung?« Verwundert sieht sie zwischen Fynn und mir hin und her. Ihr Blick bleibt einen Moment länger an dem Aufzug ihres Sohnes hängen.
»Anna wollte mich gerne beim Duschen beobachten. Aber ich mache das, um ehrlich zu sein, lieber ohne Zuschauer.«
Die Hitze kriecht mir in die Wangen. Oh, bitte Erdboden. Tu dich auf und verschlinge mich. Mehrmals öffne ich den Mund und setze zum Sprechen an, doch ich bekomme kein weiteres Wort heraus.
Fynn fährt sich mit einer Hand durch die nassen Locken und scheitert kläglich daran ein ernstes Gesicht aufzusetzen.
»Anna, du kannst unser Bad benutzen. Hinter der Treppe, die zweite Tür links. Ich muss mich um das Essen kümmern.«
Ich nicke eilig. Dankbar für eine Entschuldigung, um dieser unangenehmen und vor allem peinlichen Situation zu entgehen. Im Weggehen höre ich, wie Sophia in zischendem Tonfall etwas zu Fynn sagt und er darauf antwortet. Aber die genauen Worte verstehe ich nicht.
Unten gehe ich ins Badezimmer, schließe ab und lasse mich tief einatmend auf die Kante der Badewanne sinken. Das war peinlich. Sehr, sehr peinlich. Und noch schlimmer wurde es, als Sophia dazukam. Warum bin ich nicht vorher sichergegangen, dass niemand in dem Raum ist? Die Frage kann ich mir selbst beantworten: Weil ich mir sonst keine Sorgen darüber machen muss. Mein Vater und ich wohnen zwar offiziell gemeinsam in einem Einfamilienhaus in Hamburg, aber die meiste Zeit bin ich dort alleine. Er arbeitet viel. Nimmt ständig Extraschichten im Krankenhaus an und manchmal habe ich Angst, dass er das macht, um mir aus dem Weg zu gehen.
Mit einem ruckartigen Kopfschütteln verbanne ich diese negativen Gedanken aus meinem Kopf. Ich will weder darüber noch über den Badezimmervorfall weiter nachdenken. Also stehe ich auf, putze mir die Zähne und ziehe mich um. Nachdem ich mir dann mehrmals kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt habe, fühle ich mich schon fast wie ein Mensch.
»Guten Morgen, Anna«, grüßt mich Richard, als ich auf der Treppe stehe, um meinen Schlafanzug und den Kulturbeutel wegzuräumen. Er sitzt auf dem großen Ohrensessel vor dem Kamin. Die Zeitung liegt aufgeschlagen auf seinem Schoß und vor ihm auf dem Tisch steht eine orangene Kaffeetasse. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen. Hättest du Lust, heute nach Halifax zu fahren?« Richard fällt mein fragender Blick auf, denn er setzt unsicher nach: »Du wolltest dir doch das Hafenviertel ansehen. Und Halifax bietet noch mehr Sehenswürdigkeiten.«
»Oh ja, das würde ich gerne sehen. Wenn euch das keine zu großen Umstände macht.«
Richard winkt mit der Hand ab. »Das machen wir sehr gerne. Es ist auch nicht ganz uneigennützig.« Er lacht leise. »Fynn möchte die ein oder andere Besorgung machen. Das trifft sich also gut.«
Zwei Stunden später sitzen wir in Richards Wagen. Eingequetscht wie die Sardinen in einer zu kleinen Blechbüchse, denn die Hälfte der Rückbank ist voll mit Hockeykram, der nicht mehr in den Kofferraum gepasst hat. Zu allem Überfluss habe ich den Platz in der Mitte – direkt neben Fynn.
Sophia dreht sich nach hinten um und sieht uns skeptisch an. »War es wirklich notwendig, die ganze Hockeyausrüstung der letzten zehn Jahre mitzunehmen?«
»Ihr wolltet, dass ich mitkomme. Dann kann ich genauso gut das Zeug mitnehmen, um es zu verkaufen und mich im Shop nach neuen Sachen umsehen.« Das ist also der Grund für Fynns plötzlichen Meinungswechsel. Hockey-Besorgungen.
Sein Knie berührt meinen Oberschenkel und ein Kribbeln durchzuckt meinen Körper. Eilig drehe ich das Bein nach links, um die Berührung zu unterbrechen. Im selben Moment spüre ich seinen Blick auf mir liegen, doch ich ignoriere ihn und sehe stattdessen geradeaus zum Fenster raus.
In jeder Kurve lehne ich mich in die genau entgegengesetzte Richtung auf den Hockeykram, um nicht auf ihn zu rutschen, aber meine Bemühungen funktionieren leider nicht wie erhofft.
»Pass doch auf!«, zischt Fynn, als ich ihn in einer besonders engen Kurve aus Versehen anstoße und ihm sein Handy dabei aus der Hand fällt.
»Sorry, das war nicht mit A… «
»Nicht mit Absicht. Schon klar«, knurrt er. »Irgendwann ist das etwas unglaubwürdig.«
Bevor ich etwas erwidern kann, ertönt ein »Wir sind gleich da« von vorne und ich schließe meinen geöffneten Mund wieder. Einfach ignorieren, sage ich mir selbst in Gedanken.
Zehn Minuten später fahren wir auf einen Parkplatz, der bereits gut gefüllt ist. Richard muss ihn mehrmals umrunden, bevor er einen freien Platz findet, der groß genug für den Wagen ist.
Sobald das Auto steht, öffnet Fynn die Tür und springt hinaus. So, als würde er so schnell wie möglich Distanz zwischen uns bringen wollen. Bevor ich aussteigen kann, klatscht er mir die Autotür vor der Nase zu.
Frustriert rutsche ich auf seinen Sitz hinüber, öffne die Tür und steige aus. »Danke, sehr liebenswürdig.« Vielsagend sehe ich Fynn mit hochgezogenen Augenbrauen an und deute hinter mich auf das Auto.
»War nicht mit Absicht.« Mit einem breiten Grinsen zwinkert er mir zu. Am liebsten würde ich es ihm aus dem Gesicht wischen. Empört schnaube ich auf. Wie kann man nur so unausstehlich sein?
»Kommt ihr?« Richard und Sophia stehen Hand in Hand einige Schritte entfernt und sehen fragend zu uns.
Es ist kein weiter Weg, bis wir auf dem Waterfront Boardwalk angelangt sind. Das in der Wintersonne glitzernde Wasser und die im Hafen liegenden Boote, in den verschiedensten Formen und Größen, ziehen meinen Blick förmlich an.
»Der Hafen gehört zu den Größten in Nordamerika. Im Sommer ist hier viel mehr los, da weiß man gar nicht, wo man zuerst hinsehen soll.« Richard lacht und Sophia hakt sich ebenso lächelnd bei ihm unter. »Diese Häuser«, er deutet auf die andere Seite, »waren früher Lagerhäuser von Piraten.«
»Wirklich?«, frage ich erstaunt und betrachte die Restaurants und Bars.
»Im Moment wirkt es nicht so, aber das Hafenviertel ist in den Nachtstunden vor allem bei jungen Leuten sehr beliebt.« Sophia lächelt vielsagend und deutet mit dem Kinn auf eine Bar.
»Wenn wir schon hier sind, sollte Anna auch die Zitadelle sehen. Oder was denkst du, Mom?«
»Das ist eine hervorragende Idee!«, ruft Richard begeistert und Sophia stimmt nickend zu.
Über Fynns Gesicht huscht ein Lächeln, bevor er wieder einen ernsten Blick aufsetzt. »Ich müsste dann nur wieder zum Auto. Der Eishockey-Shop würde zumachen, bis wir von der Zitadelle zurück sind.«
Warum war mir klar, dass es sich dabei um keine nette Geste handelt? Er versucht uns loszuwerden.
Sophia presst die Lippen zusammen. Sie scheint ebenso wenig davon zu halten, dass Fynn sich abseilen möchte.
»Da könntest du recht haben«, wendet Richard ein. »Dann treffen wir uns wieder am Parkplatz? Um fünf?« Er sieht fragend zu Sophia, die ergeben mit den Schultern zuckt.
Fynn nickt und fährt sich mit der Hand durchs dunkelblonde Haar. »In Ordnung. Brauche nur den Autoschlüssel.«
Richard kramt in seiner Jackentasche und überreicht ihm das gewünschte Objekt. »Dass du mir bloß nicht wegfährst, Junge.« Er lacht viel zu laut und keiner steigt auf seinen Witz ein.
Fynn hebt die Hand mit dem Schlüssel. »Danke.« Dann dreht er sich um und läuft davon.
Für einen Moment sehen wir ihm hinterher. Erst als Sophia sanft, aber bestimmt, an Richards Jacke zupft, fängt sich dieser wieder. Er räuspert sich leise. »Na dann wollen wir mal. Auf zur Zitadelle von Halifax würde ich sagen.«
Auf dem Hügel, Citadel Hill, angekommen, lasse ich meinen Blick über die Landschaft schweifen. Trotz des Schnees und der ungemütlichen Temperaturen haben sich einige Menschen dazu entschlossen, die Anhöhe zu erklimmen. Viele von ihnen schießen Fotos mit diesen bescheuerten Selfie-Sticks. Meine beste Freundin Lena nennt sie Deppenzepter und auch wenn ich ihre Meinung nicht teile, finde ich diesen Vergleich ziemlich lustig.
»Dort vorne ist die Town Clock.«
Ich drehe mich wieder zu Richard um und sehe in die besagte Richtung. Ein eckiger Turm steht auf einem quaderförmigen, weißen Gebäude mit Fenstern. Die Old Town Clock ist scheinbar in drei Ebenen aufgeteilt. Die Erste wird von mehreren Säulen umrahmt. Die zweite Ebene besitzt ein großes, blaues Zifferblatt mit goldenen römischen Ziffern. Da fällt mir etwas auf, was mich kurz stutzen lässt. »Wieso ist die Vier auf dem Zifferblatt der Uhr falsch geschrieben?« Anstatt ›IV‹ steht dort ›IIII‹.
»Gut aufgepasst. Dafür gibt es tatsächlich verschiedene Gründe. Bei sehr alten Uhren wurde das häufig so gemacht. Zum einen, weil das damals noch die richtige Schreibweise war, zum anderen aber auch, weil die Uhrenmacher so nur drei Formen gebraucht haben, um die Zahlen darzustellen. Meine Lieblingserklärung ist aber eine andere.« Er schmunzelt und seine Augen leuchten begeistert auf. »Die Buchstaben IV waren die Anfangsbuchstaben von Jupiter. Früher hat man es als respektlos empfunden, diese auf dem absteigenden Teil einer Uhr zu verewigen.«
Ich sehe während Richards Erklärung zu dem Zifferblatt auf. »Das ist echt interessant.«
»Wenn ich mich nicht täusche, ist es bei allen vier Uhren so.«
»Vier?« Ich sehe aus dieser Perspektive nur eine.
»Es sind vier Uhren, die in die vier Himmelsrichtungen weisen.«
»Wofür wurde sie erbaut?«, frage ich Richard ohne meinen Blick von dem Glockenturm zu lösen.
»Das ist eine komische Geschichte.« Richard räuspert sich und lächelt leicht. »Die Old Town Clock wurde im 19. Jahrhundert erbaut. Prinz Edward, der Graf von Kent und Strathearn und Queen Victorias Vater, hat sie in Auftrag gegeben und der Stadt geschenkt. Als Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte in Nordamerika war er um 1800 in Halifax stationiert. Edward ließ diesen Glockenturm bauen, um die angebliche Unpünktlichkeit der Truppeneinheit einzudämmen. Du musst wissen, dass er eher von der Sorte oberpünktlich war.« Es klingt, als hätte Richard ein Geschichtsbuch verschluckt. Er scheint in solchen Dingen richtig aufzugehen. Wir setzen unseren Weg zur Zitadelle fort.
Staunend betrachte ich die sternförmige Anlage und die Besucherströme. Ich bin fast ein wenig enttäuscht, dass die Zeit nicht ausreicht, um an einer Führung teilzunehmen. Aber Richard wirft mit so vielen Fakten und Informationen um sich, dass ich nicht einmal annähernd ein Drittel davon behalten kann. Er blüht förmlich auf und zum ersten Mal wird mir klar, wieso er als Immobilienmakler so erfolgreich ist: Richard schafft es, die Menschen mit seiner Euphorie anzustecken und mitzureißen.
Sophia tippt lächelnd auf ihre Uhr und es kommt mir vor, als wären erst fünf Minuten vergangen. »Wie du siehst, sind wir nicht zum ersten Mal hier. Und wenn ich meinen Liebsten«, Sophia wirft Richard ein herzerwärmendes Lächeln zu, »jetzt nicht unterbreche, werden wir mit noch mehr Informationen überhäuft. Richard könnte eine Führung alleine veranstalten und würde den Besuchern vermutlich mehr Wissen vermitteln als jeder Angestellte. Er ist ein großer Fan der Architektur.« Sophia zwinkert mir vielsagend zu und sieht dann zu ihrem Mann auf. Sanft tätschelt sie seinen Unterarm. »Aber heute sollte die Lehrstunde etwas kürzer ausfallen. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr, bis wir den Rückweg antreten müssen und uns mit Fynn auf dem Parkplatz treffen. Wie wäre es, wenn wir noch einen Abstecher in das Pier 21 Museum machen?«
»Ich glaube, davon habe ich schon mal gelesen. Das ist das Einwanderungsmuseum, oder?«
Sophia nickt. »Genau. Als ich das erste Mal dort war, war ich wirklich begeistert. Ich könnte mir vorstellen, dass es dir dort gut gefällt.«
»Also ich würde es mir gerne ansehen.«
Richard, Sophia und ich machen uns auf den Rückweg, der sehr ruhig verläuft. Ein starker Kontrast zu davor. Wir schlendern an der Waterfront entlang, bis wir vor einem quaderförmigen Gebäude aus roten Backsteinen ankommen. Auf der Vorderseite über dem Eingangsbereich steht in großen schwarzen Lettern »Pier 21«.
»Vor knapp einhundert Jahren kamen hier die ersten europäischen Immigranten auf den Schiffen an. Auf der Suche nach einem besseren Leben haben sie den Atlantik überquert und wurden dann hier in eine Halle gebracht, um ihre Einwanderungspapiere genehmigen zu lassen«, erklärt mir Sophia, nachdem wir hineingegangen sind und unsere Tickets bezahlt haben.
»Das ist noch gar nicht so lange her, wie man zuerst denkt. Von mir ist das so weit weg, dass es mir wie aus einem völlig anderen Leben vorkommt.«
Ich trete näher an eines der zahlreichen Schriftstücke heran, die seit der Eröffnung des Museums gesammelt wurden. Die Schrift wirkt alt und einige Wörter sind kaum noch zu lesen. Es dauert eine Weile, bis ich es durchgelesen habe und mit jedem weiteren Wort schnürt es mir die Kehle ein wenig mehr zu. Dieser Brief ist so voller Hoffnung auf ein neues, besseres Leben in Kanada, aber auch die Angst ist deutlich herauszulesen.
»Ich glaube, ich kann mir nicht einmal annähernd vorstellen, wie viel Angst diese Menschen gehabt haben müssen. Ich meine, sie haben ihre Heimat und alles, was sie kannten, hinter sich gelassen. Sie kamen in ein anderes Land mit fremden Menschen und einer fremden Sprache. Es war unsicher, wie es weitergeht und sie haben sich trotzdem auf dieses Abenteuer eingelassen«, wende ich mich an Sophia, die sich gerade eine der zahlreichen schriftlichen Aufzeichnungen ansieht.
»Oh ja, der Mut dieser Menschen ist beeindruckend. Auch heute noch.«
»Absolut«, murmle ich.
Der Besuch in dem Museum ist eine der besten Ideen überhaupt gewesen. Die Geschichten dieser Menschen gehen mir unglaublich nah. Es sind nicht nur die schriftlichen Aufzeichnungen, die man sich hier ansehen kann. Sondern es gibt auch viele Audio- und Videoaufzeichnungen von Interviews mit Immigranten und Menschen, die damals hier gearbeitet haben. Am meisten fasziniert mich das Archiv. Dort sind Passagierlisten enthalten, man kann sich die verschiedenen Routen der Schiffe und Immigrationsdokumente ansehen.
Ich komme einfach nicht von dem Gedanken weg, wie mutig diese Menschen waren. Es herrschte Krieg. Viele von ihnen haben Familienmitglieder verloren und mussten sich ein neues Leben aufbauen. Und dann diesen Schritt zu gehen und einfach in das Unbekannte loszuziehen, ist extrem beeindruckend. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals.
Auch Papa und ich haben nach dem Tod von Mama versucht, weiterzumachen. Wieder zu leben. Aber ich bin nicht so mutig, wie diese Menschen. Ich habe es bis heute nicht geschafft loszulassen. Mein altes Leben zurückzulassen und etwas Neues anzufangen. Ich weiß, dass das nicht heißt, Mama zu vergessen. Und trotzdem kann ich es nicht.
»Anna?« Sophia drückt meinen Oberarm und wirft mir einen Blick zu, den ich nicht deuten kann. »Es wird langsam Zeit, zu gehen. Fynn wartet bestimmt schon auf uns.«
Ich brauche einen Augenblick, bis ihre Worte bei mir ankommen. Zu tief stecke ich noch in meinen Gedanken, die ich weit von mir schiebe. »Oh, jetzt schon?«
Richard schiebt sich neben Sophia und schmunzelt. »Schon ist gut, wir sind fast zwei Stunden hier gewesen.«
»Das habe ich gar nicht bemerkt«, gebe ich zu, worauf Sophia lacht.
»Ja, das kenne ich zu gut. Die Geschichten hier sind so ergreifend, dass man kaum merkt, wie die Zeit vergeht.«
Am Parkplatz angekommen, wartet Fynn tatsächlich bereits auf uns. Lässig an den Kofferraum von Richards Auto gelehnt, scrollt er auf seinem Smartphone herum und scheint uns entweder nicht zu bemerken oder absichtlich zu ignorieren.
Erst als Richard neben ihm zum Stehen kommt und Fynn freundschaftlich auf die Schulter boxt, sieht dieser von dem Handy auf. »Da seid ihr ja endlich.« Er drückt seinem Stiefvater den Autoschlüssel in die Hand und begibt sich zur hinteren Autotür auf der linken Seite.
Die Autofahrt zurück nach Tangier verläuft genauso unangenehm wie die Hinfahrt. Denn das, was an altem Hockeykram im Laden zurückgeblieben ist, liegt jetzt in fast derselben Menge in Form von neuen Sachen auf der Rückbank. Daher atme ich erst einmal erleichtert auf, als wir auf die verschneite Einfahrt fahren und ich nur wenig später aus dem Auto steigen und Fynns Nähe entfliehen kann.
»Gut, dass ich das Essen heute Morgen schon vorbereitet habe. Es muss nur noch einmal aufgewärmt werden.«
Richard nickt. »Das war tatsächlich eine hervorragende Idee.« Er küsst Sophia lächelnd auf den Scheitel. »Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe einen Riesenhunger.«
»Hast du das nicht immer?« Fynn verzieht missbilligend den Mund und wirft einen vielsagenden Blick auf Richards Bauch.
»Ich habe auch großen Hunger«, beeile ich mich zu sagen, um dem Gespräch die Härte zu nehmen.
Weder Richard noch Sophia gehen auf Fynns hämischen Kommentar ein. Sie sieht ihm nur kopfschüttelnd hinterher und Richard wirkt bedrückt, als Fynn immer zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben in sein Zimmer verschwindet.
Sophia zieht sich in die Küche zurück und ich folge ihr. »Kann ich dir etwas helfen?«
»Sehr gerne. Das ist lieb von dir.« Sie schenkt mir ein warmes Lächeln, doch ich erkenne in ihren Augen, dass Fynns Verhalten nicht spurlos an ihr vorbeigeht. »Könntest du den Tisch decken?«
»Schon so gut wie erledigt.«
Zwanzig Minuten später sitzen wir alle gemeinsam am gedeckten Esstisch. Es duftet wieder herrlich und mein Magen gibt bei dem wunderbaren Geruch ein forderndes Knurren von sich. Gerade hoffe ich noch, dass es niemand gehört hat, aber dann lacht Richard leise auf und zwinkert mir zu. »So geht es mir auch immer, wenn sie gekocht hat.« Er wirft Sophia einen Blick zu, der so voller Liebe ist, dass mir zuerst warm ums Herz wird, bevor es sich schmerzhaft zusammenzieht.
Schnell schaue ich weg. Bei diesem Anblick überkommen mich augenblicklich Erinnerungen, die mir die Kehle zuschnüren. Um mich abzulenken, esse ich die erste Portion, worauf mein Magen einen kleinen Hüpfer vollführt. Sophia ist wirklich eine begnadete Köchin.
»Kochst du eigentlich beruflich?« Sophia stand in der kurzen Zeit seit ich hier bin so oft in der Küche, dass ich sie kaum woanders zu Gesicht bekommen habe.
»Nein, es ist nur ein schönes Hobby«, winkt sie ab. »Ich probiere einfach gern neue Rezepte aus. Meine Mutter war früher genauso.«
Richard schüttelt den Kopf und beugt sich näher zu mir, als würde er mir ein Geheimnis erzählen. Trotzdem spricht er laut genug, sodass jeder am Tisch ihn hören kann. »Irgendwie muss sie ihre verrückte Seite ausgleichen.«
»Hey!«, ruft Sophia aus und droht Richard mit der erhobenen Gabel. »Pass bloß auf, was du sagst.«
»Komm schon Schatz, sich aus einem Flugzeug zu stürzen und das auch noch gerne zu machen, ist verrückt.«
Sophia rollt mit den Augen, gleichzeitig liegen jedoch Lachfältchen darum und ihre Mundwinkel zucken.
»Muss ja nicht jeder ein Schisser sein«, wirft Fynn ein und sieht Richard mit hochgezogenen Augenbrauen an, damit jeder am Tisch weiß, dass er ihn damit meint. Er fängt sich dafür einen wütenden Blick seiner Mutter ein und für ein paar Augenblicke entsteht Stille. Ich hätte gern mehr über Sophias Fallschirmsprung erfahren, traue mich jetzt aber nicht mehr, danach zu fragen.
Richard überbrückt das Schweigen schnell wieder, bevor es zu unangenehm wird. »Sag mal, Anna, was ist das genau für ein Eiskunstlaufwettbewerb, bei dem du dabei bist? Andreas hat mir am Telefon nur erzählt, dass die Teilnahme für dich sehr wichtig ist.« Richard blinzelt und führt die Gabel dann ein weiteres Mal zum Mund.
»Es ist einer der Qualifikationswettbewerbe für die Eiskunstlauf-Weltmeisterschaft und ich trete im Einzellauf der Damen an. Man muss einundzwanzig Tage vor der WM an einem von der Internationalen Eiskunstlaufunion eingetragenen Wettbewerbe teilnehmen. Und in einer dieser Qualifikationen dann unter den drei Besten sein, um ein Ticket für die WM zu ergattern. Die findet dann im Januar in Schweden statt.«
»Und wegen so etwas Bescheuertem findet in den nächsten Wochen keine Auswahl für das Team statt. Schöner Scheiß. Da könnte man meinen, dass die kommende Eishockey-Saison wichtiger wäre, und dann …«
Sophia saugt scharf die Luft ein und bedenkt Fynn mit einem feurigen Blick, der ihn augenblicklich verstummen lässt. »Du überspannst den Bogen.«
»Das klingt aufregend. Aber es ist bestimmt merkwürdig für dich, dass deine Trainerin nicht mitkommen konnte und du jetzt allein hier bist, oder?«, schaltet sich Richard ein und setzt damit unser Gespräch fort.
»Ja, ein wenig schon«, gebe ich zu »Nach ihrem Schwächeanfall vor ein paar Wochen haben die Ärzte ihr ein Flugverbot erteilt. Aber ich kann sie jederzeit telefonisch erreichen.« Ich räuspere mich leise, bevor ich weiterspreche. »Ich bin wirklich froh, hier sein zu dürfen, vielen Dank dafür. Papa hat mir damals oft von eurer gemeinsamen Schulzeit erzählt und wie ihr die Lehrer in den Wahnsinn getrieben habt.«
»Aber das ist doch selbstverständlich«, sagt Sophia.
»Genau, wir freuen uns, dass du hier bist«, stimmt Richard zu. »Und ja, Andreas und ich hatten sehr viel Spaß dabei, unsere Lehrer auf den Arm zu nehmen. Es ist schade, dass der Kontakt abgebrochen ist.«
»Das war auch einer der Gründe, warum ich Papa überredet habe, dich anzurufen. Ich dachte, es wäre schön, wenn ihr eure Freundschaft wiederaufleben lassen könntet.«
Richard lächelt mich an, doch ein Schatten huscht über sein Gesicht. »Er war einer meiner besten Freunde, als ich noch in Deutschland gelebt habe. Wir waren früher unzertrennlich und jeden Tag nach der Schule noch zusammen unterwegs und haben die Straßen unsicher gemacht«, schwelgt Richard in Erinnerungen. »Ich hätte es öfter versuchen müssen. Aber als er die Einladung zu unserer Hochzeit ablehnte, dachte ich, er würde den Kontakt nicht mehr wollen.«
Ich schüttle hastig den Kopf. »Das war nicht der Grund.«
Eine Stille entsteht am Tisch, die nur von dem Klirren des Bestecks unterbrochen wird. Richard isst den letzten Rest auf seinem Teller auf und wendet sich abermals an mich. »Das Eiskunstlaufen liegt dir gewiss im Blut. Ich erinnere mich noch genau daran, wie sehr deine Mutter es liebte, auf dem Eis zu stehen.«
Durch seine Worte, mit denen er vermutlich ein in seinen Augen unverfänglicheres Thema anschneiden wollte, verkrampfe ich augenblicklich und sie versetzen der Stimmung am Tisch einen weiteren Tiefschlag. Wie bereits im Museum, bildet sich ein Kloß in meinem Hals und ich umklammere die Gabel in meiner Hand fest. Ich schlucke und versuche, mir von meinen aufgewühlten Gefühlen nichts anmerken zu lassen.
»Ja, sie war wunderbar«, bringe ich ein wenig erstickt hervor. »Papa nannte sie immer seine Eisprinzessin.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Sophias besorgtem Blick nach zu urteilen, fällt es alles andere als echt aus. »Er hat es geliebt bei ihr zu sein, wenn sie trainiert hat und konnte stundenlang auf der Tribüne sitzen und ihr dabei zusehen.« Fynns Blick liegt auf mir, doch dieses Mal sagt er nichts.
»Entschuldige bitte, das war unsensibel. Ich dachte nur, nach all den Jahren …« Den Rest des Satzes kann ich selbst beenden. Nach all den Jahren solltest du über den Tod deiner Mutter hinweg sein. Darüber reden können, ohne dass sofort alles um dich herum schwarz wird und du das Gefühl hast zu fallen. Immer tiefer zu stürzen. Nach fünf Jahren sollte dich dieser Schmerz nicht mehr wie eine Lawine überrollen und unter sich begraben.
Aber ich schaffe es nicht sie loszulassen. Besonders jetzt nicht, wo sich ihr Todestag bald ein weiteres Mal jährt. Die Zeit um Weihnachten stellt für mich Jahr für Jahr eine scheinbar unüberwindbare Hürde dar. Ich dachte, es wäre das Richtige hierher zu kommen, nach allem, was ich dafür gegeben habe. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Zu viel prasselt auf mich ein und dass Richard Mama kannte, macht es nicht einfacher.
»Danke für das wunderbare Essen. Nur bin ich furchtbar müde und würde gerne nach oben gehen, wenn das für euch in Ordnung ist. Das sind bestimmt noch Nachwehen des Jetlags.«
»Natürlich«, sagt Sophia. In ihren Augen spiegelt sich ihre Besorgnis wider. Es ist erst früh am Abend. Sie wissen, dass ich nicht schlafen werde. Trotzdem bin ich froh, dass mich niemand zurückhält oder mit mir darüber sprechen will. Das würde alles nur verschlimmern.
Im Zimmer oben angekommen, schließe ich die Tür hinter mir und lasse mich auf das Bett fallen. Mein Gesicht presse ich auf das Kissen und schon fließen die ersten Tränen. »Ich vermisse dich so sehr«, schluchze ich in das Polster. Mein Herz bricht ein weiteres Mal und ich weiß nicht, ob es je eine Möglichkeit geben wird, es von diesem Verlust zu heilen.