Leseprobe Tequila Secrets

Prolog

Samstag! Heute gehen wir Eis essen und dann schwimmen! Aufgeregt schlage ich die Bettdecke zurück und flitze zu meinem Bruder Jason, der im Bett gegenüber liegt. Ich stemme die Hände auf die Matratze und hüpfe vor ihm auf und ab.

»Maddy, lass das!«

»Jason! Jetzt wach auf! Los. Nicht, dass das Eis schmilzt.«

Mein Bruder jault und meckert, reißt erst beim Wort »schmilzt« endlich die Augen auf. »Kann das passieren?«

Die Hände in die Hüften gestemmt nicke ich energisch, obwohl ich keine Ahnung habe.

»Meinst du, Dad lässt mich extra Streusel nehmen?«, überlegt Jason, doch ich höre ihm nicht mehr zu und flitze in die Küche.

In die leere Küche.

Kein Frühstück, keine Kaffeetassen von Mom oder Dad, keine Musik. Nur dreckige Teller neben der Spüle, eine große Flasche Alkohol und eine leere Papiertüte wie aus der Apotheke auf dem Esstisch, wo wir gestern noch zu fünft riesige Sandwiches gegessen haben.

»Dad?«, rufe ich, ohne eine Antwort zu erhalten. Mein Herz schlägt schneller. Dad ist hier bestimmt noch. Vielleicht wartet er draußen? Ich laufe durch das Wohnzimmer und luge durch das Fenster, das die Straße vor unserem Apartment hinabschaut. Er wartet irgendwo auf uns. Bloß wo? Er hat gesagt, dass wir etwas unternehmen! Ich raufe mir durch das kurze Haar und schlurfe mit hängenden Schultern zurück in die Küche. Habe ich etwas übersehen? Nacheinander öffne ich Kühlschrank, Mikrowelle und die obersten Schubladen, ohne unseren Proviant zu finden.

Jason erscheint neben mir. Seine Augen werden groß und panisch, spiegeln meine Gefühle. Er hat die gleiche Befürchtung wie ich.

Aber Dad hat es versprochen!

»Mom?«, kreische ich und laufe in ihr Schlafzimmer, wodurch ich Jason bereits zum zweiten Mal stehen lasse.

Im Schlafzimmer stinkt es. Nach Zigaretten, Alkohol und Kranksein. »Wo ist Dad?«

Ein Zigarettenstummel glimmt auf dem Nachttisch, ein leeres Glas steht daneben, am Boden liegt eine orangefarbene Pillendose.

»Geh weg«, mault Mom, doch ich trete näher. Sie sieht ungesund aus, hat Augenringe, zerzauste Locken und einen giftigen Blick aufgelegt.

»Aber Dad wollte mit uns Eis essen gehen! Hat er gestern noch gesagt.«

Jason läuft ebenfalls ins Zimmer, knallt mit seiner Brust versehentlich gegen meinen Oberarm, weil ich im Weg stehe.

»Er ist weg.«

»Was?«, rufen wir synchron.

Das kann nicht sein! Wieso verspricht er Abenteuer, wenn er zu tun hat? Er meinte, er bleibe. Er meinte, wir seien eine Familie und er müsse nicht mehr arbeiten. Deswegen hat er für den Gemeinschaftsgarten einen aufblasbaren Swimmingpool gekauft und sogar Mom dazu gebracht, einen Badeanzug anzuziehen. Sie haben gelächelt, sind glücklich gewesen!

»Hört ihr schlecht? Euer Dad ist abgehauen. Penner, der er ist. Er hat sich verpisst und will uns nicht. Und jetzt geht.« Sie macht eine abwertende Handbewegung und dreht sich von uns weg.

Jasons Hand berührt meine, und ich greife danach, drücke zu.

Nicht schon wieder. Dieses Mal wollte er bleiben. Dad weiß, was er mit Mom macht. Jedes Mal zerstört er sie. Sie hält das nicht aus und er weiß …

Jason zieht mich aus Moms Schlafzimmer. Unsere jüngeren Geschwister jauchzen in ihrem Zimmer, und ein Blick zwischen Jason und mir genügt. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals und droht, mich zu ersticken. Ich bin wieder allein. Jedes Mal diese Versprechen, die sie nicht halten. Erwachsene sind alles Lügner.

»Scheiße.« Ich presse die Handflächen gegen meine Augen, damit ich nicht heule … und tue es trotzdem.

»Madison.« Jason klingt genauso hilflos, wie ich mich fühle. Aber ich bin die Ältere.

Laut schniefend strecke ich den Rücken durch. »Schon okay. Ich ziehe Alex und Faith an. Machst du Frühstück?«

Mein Bruder brennt alles an, so wie ich es einfach nicht hinbekomme, dass unsere Geschwister, ohne zu murren, aufstehen, aber haben wir eine Wahl?

Jason nickt, und wenigstens ein kleiner Hoffnungsschimmer bleibt: Ich bin nicht allein, wir sind es. Jason und ich sind ein Team. Für immer. Wir gegen die Welt. Scheiß auf Eltern.

1

Madison

Nachlässige Küsse, leises Seufzen, ein sanftes Streicheln über die Kurven.

Ich sauge an seinen Lippen, wandere langsam an seinem Hals hinab, schmecke seine salzige Haut, während Musik aus dem Zimmer nebenan wummert. Sein Mitbewohner ist genauso beschäftigt wie wir. Mein Typ zieht mein Kleid unwirsch über den Kopf, lässt BH und Slip folgen und streckt sein Becken vor, damit ich den Reißverschluss seiner zerfledderten Jeans öffne. Die Geräuschkulisse im anliegenden Zimmer treibt ihn genauso an wie mich. Ich schäle ihn aus seiner engen Hose und beuge mich vor, um Küsse seinen Bauch hinab bis zu der Beule in seinen Boxershorts zu platzieren. Direkt über dem Bund halte ich inne, obwohl mein Unterleib sich bereits sehnsuchtsvoll zusammenzieht. Er wandert mit seinen Händen zwischen meine Beine und reibt über meinen Kitzler, bis ich vergesse, wo wir eigentlich sind, und nur noch die warmen, stärker werdenden Wogen in mir spüre.

»Wo liegen die Kondome?« Ich keuche und zwinge mich, die Augen zu öffnen, um das Ganze nicht zu schnell enden zu lassen.

»Nimmst du nicht die Pille? Ich habe keine.«

Wie bitte? Das kann mir jeder erzählen. Arschloch! Ich greife nach seinen Händen, die eine inzwischen feucht von mir, damit er seine kreisenden Bewegungen unterbricht.

»Darum geht’s nicht.«

»Bist du prüde?« Er lächelt mich schief an, wodurch die Spider Bites an seiner Lippe näher zusammenrutschen. Genauso wie sie auf der Straße dafür gesorgt haben, dass mein Blick an ihm hängen geblieben ist, sorgt es jetzt dafür, dass ich von ihm hinuntergleite. Sein verlockendes Grinsen hat plötzlich etwas Arrogantes angenommen.

»Na, so hat mich noch keiner genannt. Du hast wirklich kein Gummi?« Ich liebe Sex, aber nicht unter Risiko meiner Gesundheit.

Er schüttelt den Kopf.

»Können wir deinen Mitbewohner nach einem fragen?« Es klingt eh gerade nach seinem Höhepunkt.

»Oder wir könnten einfach …« Er zieht mich an den Armen wieder zu sich hinab, sodass ich sie links und rechts von seiner Schulter platziere. Sein warmer Atem streift meine Wange, hält mich für einen Moment gefangen, obwohl mein Entschluss längst gefasst ist. Für einen One-Night-Stand werfe ich meine Prinzipien nicht über Bord. Meine Lust flaut ab, als wäre sie nie dagewesen, und die Nässe zwischen meinen Beinen hat plötzlich etwas Klebriges.

»Nein, Mann. Ich bin weg.«

Etwas ungalant schwinge ich mein Bein von ihm und fische nach meinem Kleid. Auf der Suche nach meinem Slip drehe ich mich herum, finde ihn allerdings genauso wenig wie meinen BH. Wo hat er meine Kleidung hingeworfen? Er schaut mir gelangweilt dabei zu, wie ich lediglich mein Kleid anziehe und meine Sneaker zuschnüre. Seine weiße Haut leuchtet im Mondlicht, ich verschmelze mit der Nacht. Hätte ich ihn doch nicht angesprochen. Aber selbstbewusstes Auftreten zieht bei mir. Kann ich ja nicht wissen, dass sich dahinter ein sorgloses Arschloch verbirgt.

Auch bei einem zweiten Herumdrehen finde ich nichts mehr. Ich zucke mit den Schultern. Dann eben ohne Unterwäsche.

Ohne ein weiteres Wort schnappe ich mir an der Wohnungstür meine Jacke und flitze die Treppe hinab und nach draußen. Frische Nachtluft und lärmende Autos empfangen mich und geben mir sofort das Gefühl, zu Hause zu sein. Seattle ist weder überragend schön noch sonnig, sondern eben normal und passt damit perfekt zu mir. Das Herz sitzt am richtigen Fleck, man muss sich nur trauen, die Stadt kennenzulernen.

Scheiße. Mein Nicht-One-Night-Stand wohnt in Denny-Blaine im Osten Seattles. Eine Fußstunde von South Lake Union, die mit einem Uber hierher kein Ding gewesen ist. Beim Warten vorhin hat er mich angesprochen und wir haben uns auf einen Drink zurück in die Bar gesetzt. Verschwitzt, stöhnend, bereit für Dummheiten hätte der lange Arbeitstag perfekt ausklingen können.

Was hoffen auch so viele Leute, auf ein Kondom zu verzichten! Wie oft ich dieses Verhalten wohl inzwischen unterbunden habe, weil ich selbst immer welche dabei habe? Nur heute nicht, weil ich durch die neuen Möbel in Rubys Friseursalon keine Zeit gehabt habe, meinen Bestand aufzustocken, und nun seit ein paar Tagen keine mehr hatte. Ich hätte ihr nicht beim Montieren oder Einräumen der neuen Regale oder beim Austauschen der Lampen helfen müssen. Aber wer wäre ich, wenn ich es nicht getan hätte, nachdem ich ihr meinen Job verdanke? Ich liebe meinen Beruf als Friseurin. Ohne Ruby hätte es mich niemals in diese Richtung verschlagen. Mir egal, wenn meine Nacht dadurch kürzer wird.

Tagsüber sorgt der Frühling bereits für warme Temperaturen, wenn die Sonne auf der Haut kitzelt, doch während ich mit den Händen in den Taschen meiner Lederjacke nach Hause stapfe, ist davon nichts zu spüren. Kalter Wind peitscht durch meine Beine und erinnert mich bei jedem Schritt daran, dass ich keinen Slip anhabe. Ein echter Walk of Shame, ohne dass überhaupt etwas passiert ist.

***

Obwohl es drei Uhr morgens ist, steuere ich meinen Zweitjob an: ein kleines Diner, in dem ich während der Stoßzeiten aushelfe. Die Chefin ist nett und behandelt uns Mitarbeiter mit einem Verständnis, als hätte sie in ihrer Jugend selbst gern von flexiblem Schichtdienst profitiert. Sobald ich die Tür mit der Hüfte öffne, umhüllt mich der vertraute Geruch nach Fett und Kaffee, der vierundzwanzig Stunden am Tag der gleiche ist. Warme Mahlzeiten und Koffein – egal, wann. Ein genauso simples wie erfolgreiches Konzept.

»Madison, du schon hier?«

Ich grinse meine Chefin Eloise an, die, verborgen in einer der altmodischen Sitzecken, über Dokumenten brütet. Sie ist Nachteule und Frühaufsteherin in einem und regelt ihre Angelegenheiten inmitten des Geschehens – sofern sie niemandem den Platz wegnimmt. Ihr blondes, strähniges Haar steckt in einem strengen Dutt und an ihren fülligeren Armen klimpern mehrere Armbänder, die mich verrückt machen würden.

»Ja, ich konnte nicht schlafen.« Meine Standardantwort. Eigentlich versuche ich, nachts mindestens fünf Stunden Schlaf zu bekommen, aber die harte Realität sieht deprimierender aus.

»Mach dir einen Kaffee, und dann könntest du dich um die Fritteusen kümmern. Bitte nacheinander, falls jemand Pommes haben will.« Wie gesagt, Eloise ist für einen da, auch wenn man seine Arbeitszeiten verschiebt.

»Jaja.« Meine schweren Füße ignorierend laufe ich an ihr vorbei. Ich binde mir eine Schürze um und meine rosa Haare zurück. Die Perücke ist zu schön für diesen Job, aber angenäht ist angenäht und wann sonst sollte ich sie tragen? An freien Tagen? Das wäre nie.

Ich wurschtle mich durch meine verfrühte Schicht, trinke zwei Tassen Kaffee und fege mit mehr Adrenalin als Energiereserven durch das Diner, nehme Bestellungen an und räume sie am Ende wieder ab.

Nach der Schicht packe ich Frühstück ein, das ich mit nach Hause nehme – in eine Nachbarschaft voll müde aussehender Häuser –, wo mich prompt Geschrei erwartet.

»Spinnst du! Das ist mein T-Shirt!«

»Und wieso habe ich es letzte Woche dann getragen?«

»Alex! Faith! Einigt euch oder ich ziehe das Teil an«, geht Jason, mit sechszehn Jahren der Älteste meiner Geschwister, dazwischen. Als ich durch die über den Boden schabende Haustür ins Wohnzimmer trete, schmiert er gerade Erdnussbutterbrote für die Jüngeren zum Mitnehmen. Jason steht tatsächlich ohne T-Shirt da, als wolle er seine Drohung wahr werden lassen.

Das Wohnzimmer ist zu klein für uns vier, aber gemütlich. Die leicht durchgesessene Couch steht für Filmabende, die wir regelmäßig veranstalten, neben dem Fernseher wachsen großblättrige Pflanzen, die mehr Wasser trinken als ich am Tag, und an den Wänden hängen ein Dutzend nicht zusammenpassende Spiegel, die optisch den Raum vergrößern.

»Und kommt her!«, ergänze ich laut, damit sie mich durch den Flur hinter der Küche hören. Ich stopfe mein Trinkgeld unter den Bestecksortierer und stelle das Frühstück auf der Küchentheke ab.

»Ich habe Frühstück dabei.«

Jason dreht sich bei meinen Worten um. »Oh, nice. Auch für mich?«

Hinten in der Wohnung poltern unsere Geschwister, als nähmen sie ihr Zimmer auseinander. Wenn sie ihren Streit nicht alsbald schlichten, hämmert gleich die Nachbarin unter uns mit ihrem Besen gegen die Decke. Ihr Lieblingshobby, neben Zeitunglesen und Anwohner-durchs-Fenster-Ausspionieren.

Ich trete neben ihn, stupse ihn mit meiner Schulter an. »Na, logo.«

Neugierig holt er die Hash Browns, gekochten Eier und English Muffins hervor und teilt sie gerecht auf. Wenn ich ihn nicht hätte. Ich drücke ihn kurz an mich, wobei er sein Kinn gegen meine Stirn lehnt.

»Du warst heute Nacht nicht zu Hause«, tadelt Jason und sieht mich grüblerisch an, während er sich ein Ei pellt.

»Ruby hat mich gebraucht, sonst hätten wir heute nicht rechtzeitig öffnen können.«

»Und Schlaf? Inzwischen eher ein Hobby als ein Grundbedürfnis?«

Ich verdrehe die Augen und schnappe mir einen der English Muffins. »Du machst dir um dich Sorgen und ich …«

»Auch um mich?« In seiner Stimme liegt ein Schmunzeln, aber auch so viel Wahrheit. Seufzend breche ich mir ein Stück vom English Muffin ab und schiebe ihn mir trocken in den Mund. Die Marmelade dürfte eh alle sein.

Jason besteht nicht weiter auf eine Antwort, sondern legt eine Sofaecke mit einem Handtuch aus und bügelt ein Oberteil darauf. Immer wenn ich ihn ansehe, wandern meine Gedanken zu Mom, so ähnlich sehen sie einander. Die Stupsnase, die buschigen Brauen, die gleichen Bewegungen des Kiefers beim Sprechen. Er kann in den Spiegel schauen und unseren Vater ignorieren, ich nicht. Ich habe seinen Kiefer, die Augen und die schmale Statur. Das Einzige, was mich mit unserer Mutter verbindet, ist der Hautton. Sie hat ein warmes Dunkelbraun, ich bin wie meine Geschwister etwas heller. Würde Dad uns eigentlich erkennen?

Ich klatsche laut in die Hände. »Alex, Faith!«

Mit dem letzten Bissen Frühstück stopfe ich die Brote in ihre Schultaschen und stapfe ins Badezimmer, dessen Tür ich aufreiße. »Jetzt macht!«

Beide schauen mich ertappt an, haben wenigstens von dem T-Shirt abgelassen, das nun über dem Badewannenrand neben Faiths Haarmaske zum Schlafen hängt. Alex hält eine Zahnbürste fest, Faith hantiert mit Haargummis, von denen bereits weitere am Boden liegen, als wären sie umhergeschnippt worden. Faith ist dreizehn, Alex vierzehn Jahre alt, und seitdem sie in der Pubertät sind, zanken sie sich nur noch. Meist bestehen sie darauf, wie Erwachsene behandelt zu werden, aber untereinander kabbeln sie sich wie Kleinkinder.

»Brauchst du Hilfe mit deinem Haar?«

Faith nickt und ich deute zur Badewanne.

»Und du, ab in die Küche«, weise ich Alex an, der sich über seinen Buzz Cut reibt und schnell seinen Mund ausspült. Obwohl ich ihm jede Frisur schneiden würde, hat er sich für eine ebenmäßige Rasur unter drei Millimetern entschieden. Effizienz geht bei ihm vor.

»Was möchtest du haben?« Vorsichtig streiche ich über Faiths Afro. Wenn ich die Strähnen lang ziehe, reichen sie bis über ihre Schultern. Etwas, wovon ich mit meinem eigenen Haar nur träumen kann.

»Einen strengen Zopf und dann Volumen.«

»Okay.«

Bevor ich es style, pflege ich Faiths Haar mit verschiedenen Seren und Leave-in-Spülungen. Ich teile es in mehrere Abschnitte, arbeite Gel ein, glätte das Haar und vergrößere Partie für Partie den Zopf, damit er so sleek wie möglich am Kopf anliegt. Kleine Strähnen fixiere ich mithilfe einer Zahnbürste und in den Zopf gebe ich ein pflegendes Öl, das die Locken stärker hervorholt. Eigentlich müsste ihr Haar noch unter einem Seidentuch ruhen, bis das Gel ausgehärtet ist, aber Faith wirbelt herum, bevor ich ihr diesen Vorschlag machen kann.

»Kann ich Alex’ Shirt anziehen?« Sie deutet auf das schwarze Oberteil, das bei ihr oversized wäre.

»Ich kauf dir ein eigenes und schreibe euren Namen ins jeweilige Etikett«, verspreche ich und mache mir eine mentale Notiz, es direkt heute Abend zu holen. Eigentlich spare ich mal wieder für Echthaar, aber wie soll ich ihr einen Wunsch ausschlagen? Faith muss so viel Getragenes annehmen und hat weniges, das nur ihr gehört. Dass Alex nicht mit ihr teilt, obwohl er das Shirt heute nicht einmal braucht, spricht auch für seine Genervtheit.

Sobald ihre Frisur sitzt, flitzt sie aus dem Badezimmer, und ich mache den Fehler, in den Spiegel zu schauen. Augenringe graben sich in meine Wangen und sogar das Rosa meiner Haare hat etwas Farbloses. In der Hoffnung, dass Jason die Kids nicht weglaufen lässt, bevor sie gefrühstückt haben, wasche ich mein Gesicht, trage Concealer und Mascara auf und ziehe den Bogen meiner Augenbrauen nach. Gerade als ich meine Haare ebenfalls durchbürsten will, scheppert etwas in der Küche und ich hetze dorthin.

Jason steht an der Spüle und hebt abwehrend die Arme. »Sag nichts. Es ist nichts zerbrochen, mir ist nur die Tasse aus der Hand gerutscht.«

Mein Blick fällt auf das Geschirr vor ihm. Wäre auch nicht schlimm, dann müsste ich wenigstens nicht spülen. Für jede Aufgabe im Haus haben wir jemanden eingeteilt, bloß das Geschirr treibt uns in den Wahnsinn. Manchmal würde ich es selbst gern an die Wand schmettern, aber wer kauft mir dann Neues?

Alex und Faith verschlingen ihre Kartoffeln und kippen je ein Glas Orangensaft hinterher. Und das so schnell, als hätten sie endlich mal auf die Uhr an der Wand über ihren Zeichnungen geschaut. Sie sind teils zerrissen, teils zerknickt, weil sich beide für ihre kindlichen Kunstwerke schämen, aber ich habe sie genüsslich aus dem Müll geholt und erfreue mich täglich an ihnen.

Ich lehne mich mit der Schulter gegen die Wand und betrachte meine Geschwister. Jason ist inzwischen angezogen, etwas schicker als sonst, und ich erinnere mich vage an ein Event bei ihm an der Highschool. Die Kids sind ebenfalls startklar und haben Snacks eingepackt. Irgendein Ausflug oder eine Unterschrift, die ich vergessen habe zu fälschen? Ich denke nicht. Wortlos sehe ich zu, wie sie in ihre Outdoorkleidung schlüpfen und Jason den Jüngeren die Tür aufhält. Mit einem Winken flitzen sie unter seinem Arm in das Treppenhaus und sind weg.

»Wie geht’s Mom?«, hake ich noch schnell nach, woraufhin Jason sich noch einmal umdreht.

Er zuckt mit den Schultern, deutet zu der einzigen verschlossenen Tür des Hauses. »Sie lebt.«

Ich nicke müde und winke zum Abschied. Mit der Kaffeemaschine im Visier setze ich mich an die Küchentheke und strecke den Arm nach der Kanne aus. Eine Tasse dürfte noch im Gefäß schwimmen. Mein Blick gleitet zur Uhr. Bloß noch ein bisschen Zeit, bis ich in Ruby’s Salon muss. Aber wenn ich mich jetzt hinlege … Die Augenlider drücken auf meine Sicht und seit meiner Arbeit im Diner kündigt sich ein Gähnen an, das ich vehement unterdrücke. Noch nicht. Wenn ich mich für ein Nickerchen hinlege, komme ich danach nicht mehr hoch, und meine liebste Stammkundin will ich auf keinen Fall verärgern.

Ich gieße mir den restlichen Kaffee in Jasons Tasse und genieße zumindest für eine halbe Stunde Ruhe.