1
Maxine
Klack. Klack. Klack. Der metallene Klang meines Tabletstifts, der auf den Holztisch knallte, durchdrang den Raum, wiederholte sich in einem monotonen Rhythmus. Klack. Klack. Klack. Erst als sich die Brünette in der Reihe vor mir umdrehte und mich mit hochgezogenen Augenbrauen musterte, wurde mir bewusst, wie sehr mein nervöses Ticken sie störte. Ich spürte ihren Blick auf mir lasten, ein stummer Vorwurf für meine Unaufmerksamkeit. Obwohl mein Körper physisch anwesend war, war mein Geist weit entfernt, verloren in Gedanken.
Die Stimme des Professors, monoton und ermüdend, verschwamm im Hintergrund. Ich hasste die Stimme mit dem tiefen Bassvibrato, das vor Überlegenheit und Arroganz strotzte.
Meine Kommilitonen waren genauso frustriert wie ich. Ihre Köpfe ruhten auf den mit Notizen übersäten Tischen, während andere gedankenverloren auf leuchtende Bildschirme starrten. Wir würden das Wissen später von den hochgeladenen Folien kratzen, in unser Hirn befördern, nur um es bei der nächsten Gelegenheit wieder loszuwerden. So funktionierte die Universität und ich hasste es. Ich liebte mein Fach, war so verdammt fasziniert von der Psychologie und doch hasste ich das System, das mir dieses Wissen vermitteln sollte. Aber ich hatte es fast geschafft, war fast am Ende des Studiums. Nur noch dieses eine Semester, sagte ich mir immer wieder, wenn ich kurz davor war, aufzugeben und alles hinzuschmeißen.
Am liebsten wäre ich gar nicht erst zu dieser Vorlesung gegangen. Aber es nutzte alles nichts, ich konnte es mir nicht leisten. Nicht bei diesem Professor, nicht in meiner Position. Ich wollte meine Abschlussarbeit in dem Thema schreiben, das mich am meisten interessierte. Auch wenn das bedeutete, dass ich um Professor Oswalds Anerkennung buhlen musste.
»Wenn wir uns nun dem Konzept der Motivation widmen, wird schnell deutlich, wie wichtig der Zusammenhang zur Emotion ist. Emotionen beeinflussen die Ausrichtung sowie die Intensität unseres Verhaltens. Dabei ist es unerheblich, ob es positive oder negative Emotionen sind. Relevant ist lediglich, dass sie uns dazu veranlassen, bestimmte Ziele zu verfolgen oder Handlungen durchzuführen.« Und schon hatte ich wieder abgeschaltet, seine nervige Stimme aus meinem Kopf verbannt. Wie gerne wäre ich ihm einfach gefolgt, wie gerne ich mehr Interesse an dem ganzen Schauspiel haben wollte. Doch er las nur ab, was er vor hundert Jahren auf eine weiße Folie getippt hatte. Ihm fehlte die Leidenschaft, die Überzeugung für das, was er sagte, die Fähigkeit, uns mitzureißen oder zu begeistern.
»Er ist noch langweiliger als sonst, oder?« Erin hob stöhnend den Kopf vom Tisch. In den vergangenen fünfundvierzig Minuten hatte sie nicht einmal aufgeschaut. Ich war mir sogar sicher, ein leises Schnarchen vernommen zu haben. Sie fasste ihre wirren braunen Locken, die sich kaum bändigen ließen, in einer Haarklammer zusammen. Ihr brauner Hoodie und die verwaschene schwarze Jeans umspielten ihre weiblichen Kurven. Auch wenn sie versuchte, ihre Müdigkeit vor mir zu verbergen, konnte der verwischte Concealer ihre Augenringe nicht überdecken. Sie war gestern erst spät nach Hause gekommen. Ich hatte sie fluchen hören, als sie die Treppe heraufgekommen und gegen irgendetwas gelaufen sein musste. Und dennoch hatte sie es geschafft, mich heute Morgen zur Vorlesung zu begleiten. Ganz im Gegensatz zu Sue und Florence.
»Den brauche ich wirklich nicht am frühen Morgen«, hatte Florence gestern Abend verkündet, bevor sie sich mit Vincent getroffen hatte. Ihre Abneigung gegen unseren Lieblingsprofessor war vermutlich noch größer als meine. Einmal davon abgesehen, war Florence’ Motto sowieso eher: Weniger ist mehr. Je weiter das Semester voranschritt, desto seltener nahm sie an den Vorlesungen teil. Alles, was nicht Pflicht war, war nichts für sie. Und trotzdem bestand sie jede Veranstaltung mit Bestnoten. Sue war wenigstens bemüht gewesen, hatte mich heute Morgen aber nur mit ihrem Kopfkissen beworfen, als ich zu ihr ins Zimmer gegangen war, um sie zu wecken.
Also saßen wir nur zu zweit in der Vorlesung. Wieder einmal. Ich wusste, dass Erin nur mir zuliebe mitgekommen war. Ihre Nachtschichten im Shadow kosteten sie ihre gesamten Kraftreserven. Sie brauchte das Geld, schob dafür Überstunden und Doppelschichten, auch wenn das bedeutete, dass sie die Uni dafür regelmäßig vernachlässigte. Wir unterstützten sie, so gut es ging, wollten ihr unsere Mitschriften schicken, hatten angeboten, einen Teil ihrer Miete zu übernehmen, aber nichts davon kam für sie infrage.
Kurz spielte ich mit dem Gedanken, sie noch einmal unter vier Augen auf die Situation anzusprechen, aber sie kam mir zuvor und lenkte die Aufmerksamkeit auf ein Thema, um das ich gerne einen Bogen gemacht hätte.
»Willst du heute nach der Vorlesung zu ihm gehen?«
Ich schürzte die Lippen und nickte zaghaft. Allein bei dem Gedanken, mit Professor Oswald zu sprechen und ihn um einen Platz für die Abschlussarbeit zu bitten, stieg Galle in mir hoch. Immer und immer wieder war ich meine Optionen durchgegangen, hatte nach anderen Themen gesucht, Anfragen an andere Dozierende gestellt, nur damit am Ende doch alles auf diesen einen Moment hinauslief.
»Er wird dich schon nicht fressen.«
Ich zog eine Augenbraue hoch und musterte meine Freundin.
»Nun, zumindest wird er dich nicht auf einmal verspeisen. Er wird dich Stück für Stück kleinmachen und dann verschlingen.«
»Hahaha. Fast hätte ich gelacht. Ich meine es ernst, Erin. Ich weiß nicht, ob ich das packe.«
Erin atmete schwer aus und zuckte mit den Schultern. Zwischen ihren Brauen bildete sich eine Falte, die sich in letzter Zeit viel zu häufig dort festsetzte. »Du packst das! Er wird deine Thesen super finden!«
»Ich hoffe es einfach nur noch, mehr bleibt mir nicht übrig. Andernfalls bekomme ich echt ein Problem.«
Die Brünette aus der Reihe vor uns drehte sich erneut um. »Warum bleibt ihr nicht einfach zu Hause, wenn euch die Vorlesung eh nicht interessiert?« Ihr bissiger Ton schoss uns entgegen. Ich fühlte mich ertappt und fokussierte mich wieder auf die Redeschwaden des Professors, während Erin als Antwort nur den Kopf in die Arme auf der Tischplatte zurücksinken ließ.
Mit Mühe schaffte ich es, den Ausführungen unseres Dozenten für die nächsten vierzig Minuten zu folgen. Die Theorien über Motivation fanden aber nicht den Weg in mein Langzeitgedächtnis. Stattdessen streiften sie mein Kurzzeitgedächtnis, bevor sie von meiner Panik vor dem Gespräch vergrault wurden. Ich wollte mich so gerne mit diesem Thema beschäftigen, wollte mein Studium genauso gut beenden, wie ich es begonnen hatte. Aber die Mauern schienen unüberwindbar. Das Monster, das dahinter lauerte, ebenso unzähmbar.
»Maxine?« Erins Stimme drang leise an mein Ohr. Das Gemurmel der Studierenden um uns herum war zu laut. Alle waren aufgestanden, verließen die Stuhlreihen. Ich saß nur stocksteif auf meinem Platz. Regungslos sah ich noch immer nach vorne. Mein Körper wehrte sich, wollte dieses Gespräch nicht zulassen.
Sanft legte meine Mitbewohnerin die Hand auf meine Schulter. Ihre Wärme löste mich aus meiner Schockstarre, befreite mich aus der Eiseskälte.
»Maxine Williamsen, du gehst jetzt da runter und zeigst diesem Professor, was für eine gute, interessierte und engagierte Studentin du bist. Ich wüsste nicht, wer es mehr verdient hat. Er wird dich anhören und dir diese Chance geben.«
Ein hoffnungsvolles Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Wo wäre ich nur ohne meine Freundinnen? Gemeinsam hatten wir uns durch endlose Nächte voller Statistikformeln, Theorien über neuronale Verbindungen und Wälzer der Psychologiegeschichte gekämpft. Wir waren füreinander da, standen uns bei, bauten die andere auf, wenn es einmal nicht so lief. Durch das Gespräch mit Professor Oswald musste ich aber ganz allein durch.
»Ich warte draußen, okay?« Erin lächelte mir noch einmal aufheiternd zu, bevor auch sie die hölzernen Stuhlreihen entlangging und mich allein zurückließ.
Ich sah nach vorne, wo sich eine Traube Studierender um das Dozentenpult gebildet hatte. Immerhin konnte ich so den Gang nach vorne noch einige wertvolle Minuten hinauszögern. In Zeitlupe räumte ich meinen Tisch leer, packte erst mein Tablet, dann meinen metallenen Kaffeebecher in meine graue Stofftasche, die mich seit dem ersten Semester begleitete.
Dann blieb mir aber nichts anderes mehr übrig, als mich von meinem Stuhl zu erheben, um das Unausweichliche nicht weiter zu verschlimmern.
Ich straffte die Schultern, konnte damit aber kaum über das flaue Gefühl in meinem Magen hinwegtäuschen. Ich stieg die Treppen hinab. Jede einzelne Stufe fühlte sich tiefer an als die zuvor. Meine Beine waren bleischwer. Nur noch ein Absatz. Fünf Stufen. Wenige Schritte. Zwei Kommilitoninnen standen vor mir, kicherten nervös, verabschiedeten sich schließlich. Nervös wippte ich von einem Bein aufs andere. Wartete, bis sie außer Hörweite waren und Professor Oswald seinen schweren Blick auf mich richtete. Er durchbohrte mich mit seinen stierenden, dunklen Augen. Erwartungsvoll zog er eine Augenbraue hoch, wodurch sich noch mehr Falten auf seiner Stirn zeigten.
Sein braun karierter Anzug saß für meinen Geschmack zu eng. Die ebenfalls braunen Lackschuhe unterstrichen seinen Look ebenso wie seine streng zurückgekämmten blonden Haare. Professor Oswald gehörte zu den jüngeren Dozenten an unserer Fakultät, auch wenn er vermutlich doppelt so alt war wie ich.
Ich schluckte schwer, wollte wegschauen, unter gar keinen Umständen diesem Blick standhalten. Er wollte mich einschüchtern, seine Überlegenheit demonstrieren. Aber nicht mit mir. Ich schob die Schauergeschichten meiner Kommilitonen beiseite, widerstand dem Drang, wegzusehen, und räusperte mich, bevor ich ihm direkt in die Augen sah.
»Professor Oswald, haben Sie einen Moment? Ich würde gerne mit Ihnen über meine Abschlussarbeit und die Möglichkeit, diese bei Ihnen zu verfassen, sprechen.«
Meine Worte verhallten in der Leere des Hörsaals. Sekunde um Sekunde verstrich, in denen ich mir nicht sicher war, ob ich wirklich etwas gesagt hatte. Ob meine Worte nicht nur eine Illusion gewesen waren.
»Williamsen, richtig?«
»Ähm ja, Sir. Maxine Williamsen, viertes Studienjahr.«
»Schwerpunkt?« Die Fragen schossen aus seinem Mund wie spitze Pfeile, die nur ein Ziel hatten: mich.
»Klinische Psychologie.«
»Ihr GPA?«
Ich zögerte, nahm mir einen Moment, um mich zu erinnern. »Irgendwo zwischen 3,50 und 3,75?« Es war mindestens ein Semester her, dass ich meinen durchschnittlichen Punktestand gecheckt hatte. Unsicherheit flutete meine Blutbahn.
Professor Oswald nickte. Meine Antwort schien also zu reichen. Erleichterung vertrieb die Nervosität, normalisierte meinen Blutdruck. Er griff nach einem Buch, das nach einem Kalender aussah. Schnell blätterte er hindurch, bevor er es beiseitelegte und sich wieder mir zuwandte. Zuerst sah er mir direkt in die Augen. Als er sich sicher war, Herr meiner gesamten Aufmerksamkeit zu sein, ließ er seinen Blick entschlossen immer tiefer wandern. Hinterließ eine eisige Spur auf meiner Haut, ließ mich frösteln. Ich fühlte mich nackt, ihm vollkommen ausgeliefert. Als er bei meinen Beinen angekommen war, hatte er sich alles genommen, was er für eine Antwort zu brauchen schien.
»Also gut, Ms. Williamsen. Ich werde noch einen Platz für Sie einräumen können. Kommen Sie am Montag um fünfzehn Uhr in mein Büro. Bereiten Sie ein Exposé und eine kurze Präsentation Ihres Forschungsinteresses vor.«
Ohne es zu merken, hatte ich die Luft angehalten. Als hätte mein Körper auf Pause gedrückt. Als wäre mein Geist aus dieser Situation geflüchtet. Jetzt übernahm wieder mein Instinkt. Lautlos japste ich, füllte meine Lungen wieder mit Luft.
»Wollen Sie gar nicht wissen, welches Thema ich gedenke anzustreben?« Mit meiner Frage preschte ich voran, versteckte meine Verwunderung nicht vor ihm. Ich verstand nicht, was hier gerade passierte, was noch vor wenigen Sekunden geschehen war.
Ihn schien meine Verwunderung hingegen nicht zu beeindrucken. »Das ist nicht nötig. Alles Weitere dann am Montag.«
Während ich überrumpelt dastand und dieses verwirrende Gespräch auf mich wirken ließ, verließ Professor Oswald den Raum. Seine einschüchternde Präsenz verschwand, gab mir wieder mehr Raum. Genauso wie dem unangenehmen Ziehen auf meiner Haut, das er nicht mitgenommen, sondern für mich hiergelassen hatte. Damit ich ihn nicht vergaß, diesen ungeschützten Moment nicht vergaß. Es klammerte sich an mich und fraß sich langsam bis in mein Inneres.
2
Lio
Über mir der Himmel, die aufgehende Sonne, hinter mir der grüne Rasen, um den ich meine unerbittlichen Runden drehte. Ich lief und lief und lief. Lief davon, ohne zu wissen, wovor. Doch das Gefühl, die Zeit würde knapp werden, saß mir die ganze Zeit im Nacken.
Ich drosselte mein Tempo, bis ich schließlich zum Stehen kam. Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen, meine Lunge brannte. Kurz gönnte ich mir einen Moment, stützte mich auf meine Oberschenkel, atmete durch, bevor ich meinen Lauf fortsetzte. Ich wusste nicht, wie viele Runden ich mittlerweile gedreht hatte. Nach der elften oder zwölften hatte ich aufgehört zu zählen, mich stattdessen nur noch auf das Hämmern in meiner Brust, das Brennen in meinen Muskeln konzentriert. Doch sobald ich aufhörte zu laufen, drängte sich das beklemmende Gefühl unaufhaltsam in meinen Körper zurück.
Ich kam kaum eine Bahn weiter, als die tiefe Stimme von Coach Gibbons über den Platz hallte.
»Strickland. Das reicht!«
Ich seufzte, wissend, wie zwecklos Widerstand sein würde. Der Coach hatte sowieso nicht verstanden, wieso ich mich an diesem Morgen für eine Laufeinheit entschieden hatte. Normalerweise hasste ich das Laufen, die eintönigen Bewegungen, die immer gleichen Runden. Aber heute hatte es sich richtig angefühlt. Ich wollte nicht fühlen, nicht denken, sondern einfach nur sein. Nur für diesen einen Moment, in dem die Sonne sich über Milwaukee, über den Trainingscourt erhob und mir eine fremde Ruhe schenkte. Eine Ruhe, mit der es nun vorbei war.
»Hat dich was gebissen?«, fragte der Coach lachend, als ich näher trabte. Er stand in seinem typischen Trainingsanzug, den er mindestens in fünffacher Ausführung haben musste, und Basecap am Rand der Tartanbahn. Hinter ihm erhob sich die Zuschauertribüne, die mit ihren weißen Plastiksitzen bereits bessere Zeiten gesehen hatte.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Einfach einen gewissen Bewegungsdrang, dem ich nachgeben wollte.« Und dem dauernden Druck entfliehen.
»Und die Technikeinheit?«
Wieder hätte ich am liebsten geseufzt, verbiss es mir aber. Wenn es etwas gab, das Coach Gibbons hasste, dann das. Er gab den Ton an, er bestimmte, was trainiert wurde. Mit viel Glück überließ er uns die Wahl zwischen zwei Sachen, immer mit dem Wissen, dass wir uns vor der Alternative nicht lange drücken konnten. Was gemacht werden musste, musste gemacht werden.
»Heute Nachmittag. Versprochen.«
Er nickte bedächtig. »Du weißt, wie wichtig die …?«
»Jaja, natürlich weiß ich das.« Mein Tonfall war barsch. »Aber heute Morgen musste ich einfach den Kopf freibekommen.« Alles in mir sträubte sich. Ich wollte raus aus dieser Situation. Einfach weg und zu meiner ersten Vorlesung.
Coach Gibbons zog die Augenbrauen kraus. Verwunderung spiegelte sich in seinem Gesicht wider. Und er war nicht der Einzige, dem mein Verhalten heute Morgen komisch vorkam. Ich nervte mich verdammt noch mal selbst.
Mit einem Blick über den Platz vergewisserte ich mich, dass die anderen bereits in der Kabine waren und ich mich ihnen guten Gewissens anschließen konnte.
»Ich muss dann …«, sagte ich mit einem Kopfzucken in Richtung der Umkleiden.
»Da wäre noch etwas.«
»Hm?« Ich hörte kaum zu. Letztendlich war es mir gerade auch egal, was der Coach mir noch zu sagen hatte. »Können wir das heute Nachmittag besprechen? Ich muss wirklich los.«
»Geht ganz schnell. Ich habe gestern Abend mit dem Scout aus Seattle telefoniert. Er wird sich am Samstag das Spiel ansehen. Vielleicht wäre dann eine extra Technikeinheit nicht schlecht. Nur so als Gedanke.«
In meinen Ohren rauschte es. Ohrenbetäubender Lärm, der mir die Sinne vernebelte. Alles, was wirklich zu mir durchdrang, waren die Worte Scout und Seattle.
Statt etwas zu erwidern oder meine Freude, meinen Dank zum Ausdruck zu bringen, lächelte ich nur halbherzig. Es war genau das, was ich mir immer gewünscht hatte. Wovon ich träumte, seit ich von meinem Vater meinen ersten Baseball geschenkt bekommen und wir stundenlang Bälle im Voyageur Park in Green Bay geworfen hatten. Aber jetzt engte mich dieser Gedanke nur noch ein. Ich wusste, was der endlose Druck der Major League mit einem machen konnte, wie sehr der Profisport einen ruinieren konnte. Es hatte immer nur dieses eine Ziel, diesen einen Weg gegeben. Er war immer derselbe geblieben. Selbst als ich vom Absturz meines Vaters erfahren hatte. Niemals wollte ich glauben, dass der Druck für mich derselbe sein würde. Aber jetzt hatte ich mich geändert. Auch wenn ich bisher nur eine Kostprobe bekommen hatte, drohte er mich in die Knie zu zwingen.
»Das ist doch, was du immer wolltest. Wir reden seit fast vier Jahren von diesem Moment.« Das taten wir. Als hätte mich diese Erkenntnis wachgerüttelt, setzte ich mein bestes Lächeln auf und heuchelte Enthusiasmus.
»Klar, Coach. Du hast recht. Sorry, bin einfach noch nicht ganz wach. Das ist mega. Wirklich. Danke! Ich bin schon gespannt, was er am Samstag sagt.«
»Na geht doch. Diese Reaktion hatte ich erwartet.« Aus seinem Mund drang ein kehliger Laut, der einem Lachen glich.
»Heute Nachmittag trainieren wir dann Curveballs. Die Nashville Bulls hatten wohl die letzten Spiele einige Probleme damit. Wäre ja schön, wenn wir dem Scout ein paar ordentliche Outs präsentieren könnten!«
Die Worte des Coaches hingen mir den ganzen Tag nach. Unter der Dusche konnte ich sie nicht wegspülen und auch Konzepte zum mathematischen Modellieren konnten sie nicht vertreiben.
Ich musste am Samstag abliefern. Und natürlich wollte ich auch genau das. Nie war ich meinem großen Ziel von der Major League näher als jetzt gerade. Aber ich schaffte es nicht, diese unklaren Gedanken zu packen und so weit wegzuschlagen, dass es einem Homerun gleichkommen konnte. Das traurige Gesicht meines Vaters blitzte vor meinem inneren Auge auf. Immer und immer wieder. Woher kam diese plötzliche Fokussierung auf das, was passieren konnte? Auf die Frage, ob ich stark genug war, um der Last des Profisports standzuhalten? Immerhin gelang es mir, sie für die Zeit des Nachmittagstrainings auszusperren. Ich schaltete in den Trainingsmodus, fokussierte mich nur auf meine Wurftechnik, auf die Flugbahn der Bälle. Und ich lieferte ab. Im Training brachte ich die Leistung, die man von mir erwartete, die mir am Ende einen Daumen hoch vom Coach bescherte. Weiter brauchte ich für diesen Moment nicht zu denken.
»Kommst du gleich noch mit zum Brew Shop? Die Mädels sind auch da.« Mein Mitbewohner und bester Freund Brody kam mir entgegen, als ich zum zweiten Mal an diesem Tag die Duschen im Trainingsraum ansteuerte. Seine blonden Haare klebten ihm noch feucht in der Stirn. Er trug den blauen Teamhoodie, mit dem Dachs und unserem Logo. Über seinen Schultern baumelte eine Trainingstasche in dem gleichen Farbton.
»Ja, warum nicht.« Etwas Ablenkung würde mir sicherlich helfen. Allein zu Hause zu hocken und auf meinen Unikram zu starren, würde mich hingegen eher noch mehr zermürben. Ich hatte es satt, Gedanken hinterherzujagen, die einfach nicht gefasst werden wollten. »Geh ruhig schon mal vor. Ich komm später nach. Was ist mit Vince?«
Vincent war der Dritte in unserer Chaos-WG und auch Spieler der Badgers. Brody lachte süffisant und konnte sich eine zweideutige Anmerkung mal wieder nicht verkneifen. Er und sein lockeres Mundwerk hatten mir schon den ein oder anderen Ärger eingebracht und doch wollte ich meine Mitbewohner für kein Geld der Welt eintauschen. »Der hatte kein Training. Also wirst du ihn vermutlich an den Lippen der lieben Florence und somit ebenfalls im Brew Shop finden.«
Ich schnaubte, dennoch konnte ich nicht verhindern, dass sich meine Mundwinkel leicht nach oben bogen. Es war das erste halbwegs ehrliche Lachen an diesem Tag. Und das tat gut. Eine neue Wärme und Dankbarkeit fluteten meinen Körper. Vielleicht würden die letzten Stunden des Tages wenigstens noch erträglich werden.
Ich ließ mir Zeit beim Duschen, genoss das warme Wasser, das endlich einen Teil dieser endlosen Gedanken mit sich riss und die Wärme vertrauter werden ließ. Ich wehrte mich nicht mehr, sondern akzeptierte sie als Teil meiner selbst.
Ich war der Letzte in der Umkleide, wie so oft. Häufig trainierte ich länger oder hatte noch ein Thema mit dem Coach zu besprechen. Als Pitcher war es nichts Ungewöhnliches, auf irgendeine Art und Weise der Captain zu sein. Ich war nicht wie ein Quarterback beim Football, ich gab nicht den Ton an. Es war vielmehr eine Symphonie aus den Schlägen, die der Catcher ansagte, und der Geschwindigkeit, die ich vorgab. Und doch hatte ich mich in den vergangenen vier Jahren zum Captain gemausert. Ich war nie darauf aus gewesen. Aber die Jüngeren im Team schauten zu mir auf, was nicht zuletzt an meinen Leistungen fürs Team lag. Aber ohne mein Team wäre auch ich nur ein Mann, der Bälle durch die Gegend warf.
Schnell schlüpfte ich in den blauen Pullover, der noch in meinem Schrank hing. Passend dazu setzte ich meine Baseballcap auf, da ich keine Lust hatte, meine Locken zu föhnen und zu bändigen. Ich hatte Hunger, wollte endlich meine Freunde sehen, mich von ihren Geschichten einhüllen lassen, um meine eigenen Probleme zu vergessen.
Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, tauchte den Himmel dieses Mal in pinke Streifen. Ich ließ den leeren Trainingscourt hinter mir und lief das kurze Stück bis zum Hauptcampus der Milwaukee City University. Die roten Backsteingebäude wirkten im ersten Licht des Sonnenuntergangs noch strahlender als am Tag. Vereinzelt kamen mir Studierende entgegen, die wahrscheinlich gerade von ihrer letzten Vorlesung kamen und einfach nur nach Hause wollten. Ich hingegen lief direkt auf den Campus zu, über den Al-Simmons-Platz, an dessen Ende sich der Brew Shop befand.
Der Brew Shop war unser zweites Zuhause, seit wir ihn in unserem ersten Semester entdeckt hatten. Hendrix war die gute Seele des Ladens und hatte sein Leben komplett gesunden Leckereien und Kaffeespezialitäten verschrieben. Ich bewunderte ihn für seine Hingabe, seine Leidenschaft. Die Leidenschaft, die ich bei mir gerade so unendlich vermisste.
Ich lehnte mich gegen die gläserne Tür, um sie zu öffnen. Sofort schlug mir ein himmlischer Geruch entgegen. Kaffee, Kakao, Schokolade. Salate, Bagels, Limonaden. Alles, was ich in diesem Moment brauchte. Ohne zu suchen, steuerte ich auf die linke Ecke des Cafés zu, in dem sich mehrere Grüppchen grauer und grüner Sessel befanden. Unser Stammplatz in unserem Stammlokal. Meine Vorstellung von Nachhausekommen. Als ob ich sie übersehen könnte, reckte Brody die Hand, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Hendrix wandte sich gerade von einem Tisch ab, wo er abkassiert und abgeräumt hatte, als ich an ihm vorbeikam.
»Strickland! Hab dich schon vermisst. Das Gleiche wie immer?«
Dankend nickte ich, froh darüber, dass er mir die Entscheidung abnahm.
»Bitte mit extra viel Käse. Den habe ich mir heute echt verdient.«
»Einmal den Protein Bomber für unseren Lieblingspitcher.« Hendrix grinste nur, bevor er dann an mir vorbei zur Theke ging.
Wärme breitete sich in meinem Magen aus. Für einen kurzen Moment hoffte ich auf ein vertrautes Gefühl, aber sie hielt nicht an. Die Wärme verwandelte sich in ein Brennen. Es setzte sich fest und wurde schließlich bitterkalt. Seine Worte hingen mir nach. Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Alle Blicke waren auf mich gerichtet. Die Blicke meiner Freunde, meines Coaches, der ganzen verdammten Universität. Es ging nicht nur um meine Karriere. Es ging auch um die Championship, die wir uns in diesem Jahr endlich sichern wollten.
Ich stand noch immer wie verloren in der Mitte des Sitzbereiches, starrte vor mich hin, als wüsste ich nicht, wohin mit mir.
»Lio?« Eine vertraute Stimme riss mich aus meinen Gedankenschwaden. Sie griff nach mir, sanft, führte mich langsam zurück in die Gegenwart. Ich folgte der Stimme, überbrückte die letzten Meter, bis ich mich auf den einzigen freien Sessel in der Runde fallen ließ. Das weiche Polster begrüßte mich und nahm mir schon jetzt eine gewaltige Last von den Schultern.
Ich sah mich in der Runde um, alle waren da. Brody, der gerade ein dampfendes Panini verdrückte. Vincent, auf dessen Schoß tatsächlich Florence saß. Erin und Sue, die sich gerade mit ihren übergroßen Kaffeegläsern zuprosteten. Und Maxine. Mit ihrer zierlichen Gestalt verschwand sie in dem großen, grünen Ohrensessel. Ich suchte ihren Blick, aber in ihren sonst so strahlend blauen Augen lag heute eine Traurigkeit, die mir das Herz ganz schwer werden ließ. Egal, was es war, ich wollte es ihr nehmen, diese Melancholie sollte sie nicht allein tragen.
Gerade wollte ich mich erkundigen, ihr zuhören, aber Max blockte sofort ab. Sie sah mir an, was ich fragen wollte, und stoppte mich mit einem kurzen, aber bestimmten Kopfschütteln. Ich sog die Luft ein und sah Hilfe suchend zu ihren Freundinnen, die mir sofort zur Seite sprangen.
»Sie hat mit Professor Oswald gesprochen!«, sagte Erin, biss sich jedoch gleich danach verlegen auf die Unterlippe, als sie den finsteren Blick von Maxine einfing.
Anerkennend hob ich die Augenbrauen, sah hinüber zu Maxine, die jedoch gar nicht glücklich aussah. »Hast du wirklich? Was hat er gesagt? Warum hast du mir nicht geschrieben?«
Sie zuckte unsicher mit den Schultern. »Ja, wirklich. Aber es ist keine große Sache.« Ein Stöhnen entfuhr ihr und ich konnte meiner besten Freundin ansehen, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte.
»Hat er Nein gesagt und abgelehnt?«
»Nein.« Wieder nur ein verhaltenes Schulterzucken.
»Aber?«
»Kein Aber. Er hat gesagt, ich könne den Platz haben. Aber ich weiß nicht … das Gespräch war komisch. Professor Oswald war komisch.«
»Der Oswald ist immer komisch. Sind wir mal ganz ehrlich.« Florence schaltete sich von der gegenüberliegenden Seite des Tisches ein.
»Ja, das stimmt schon. Es war dennoch alles irgendwie verwirrend. Er wollte nicht mal wissen, worüber ich schreiben will, dabei hatte ich mir alles so perfekt zurechtgelegt.«
»Das kannst du ihm ja am Montag immer noch präsentieren«, redete Sue ihr gut zu.
Anscheinend fehlte mir noch immer eine ganze Menge Informationen. »Montag?«
»Montag soll ich zu ihm ins Büro kommen und ihm mein Thema präsentieren.« Maxines Stimme war dünn, nicht kraftvoll und überschwänglich wie sonst. Irgendetwas bedrückte sie, das merkte ich sofort, aber ich konnte nicht ausmachen, was ihr wirklich auf dem Herzen lag. Nicht ohne mit ihr allein zu sprechen.
Instinktiv griff ich nach ihrer Hand und drückte sie. »Das wird gut! Du wirst ihn umhauen!« Aufmunternd lächelte ich sie an.
»Das hoffe ich.« Sie rang sich ein Lächeln ab, mit dem ich mich schließlich zufriedengab. »Wie läuft es mit deinem Projekt?«
Ich war bei meinem Abschlussprojekt schon in den letzten Zügen. Die meiste Arbeit hatte das Computerprogramm gemacht, das ich im letzten Semester in einem Seminar über Algorithmen programmiert hatte.
»Nehmt euch mal ein Beispiel an Lio!« Florence hob tadelnd den Zeigefinger in die Richtung von Brody und Vince. »Ihr beide habt nicht einmal ein Thema oder auch nur einen Plan!«
»Wir sind ja auch keine Goldjungen und haben kein Stipendium mit unendlich viel Zeit.« Brody verschränkte genervt die Arme vor der Brust.
»Ich möchte hier einmal festhalten, dass ein Mathematikstipendium kein Kindergeburtstag ist!«, erklärte ich. »Immerhin hab ich keine andere Wahl, als dieses Semester meinen Abschluss zu machen.« Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte ich meine Freunde. Sie schoben alles so gerne darauf, dass ich ein Stipendium hatte. Nur leider vergaßen sie viel zu oft, was es für eins war. Während man mit einem Sportstipendium alle Zeit für den Sport hatte, hatte ich in der Mathematik eine Menge Auflagen und konnte es nur mit guten Noten behalten. Nur hatte ich es satt, sie immer und immer wieder daran zu erinnern.
In diesem Moment kam Hendrix und servierte mir meine Lieblingsbowl sowie eine Mango-Maracuja-Limonade. Augenblicklich zogen sich meine Geschmacksnerven zusammen und ließen mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Erst jetzt merkte ich, wie hungrig ich wirklich war und wie sehr ich dieses Komfortfood nach einem Tag wie heute nötig hatte.