Leseprobe The Millionaires Deal

1 Reduzierte Ware

»Das ist aber herabgesetzt. Auf dem Schild stand 3,99!«

Ich starre auf die Leopardenprintleggings in meinen Händen und dann auf die Frau, die sie kaufen will. Unweigerlich vereinen sich diese Eindrücke in meinem Kopf und führen dort zu Konfusion. Die Dame auf der anderen Seite des Warenbandes ist mindestens dreißig Jahre zu alt für so ein Teil, ganz gleich, ob es 6,99 kostet oder 3,99.

»Die Schlüpfer!«, ruft Florine an der Kasse hinter mir. »Der Zehnerpack Schlüpfer ist reduziert. Die liegen direkt neben den Hosen.»

Ich sehe der Frau an, dass ihr das bewusst war und sie auf meine Unaufmerksamkeit gehofft hat. Ihr Blick schwankt zwischen Trotz und Schuldbewusstsein. »Das sollten Sie besser ausschildern. Ist irreführend, so wie es ist.«

Seufzend halte ich ihr die Plastikverpackung mit der Plastikhose entgegen: »Soll ich stornieren oder wollen Sie sie trotzdem kaufen?«

Erst scheint es eine Täuschung, dann sehe ich, wie der Frau Tränen in die Augen steigen. Die Haare in meinem Nacken richten sich auf. Das passiert immer, wenn mich das Mitleid anspringt. Sie öffnet ihr Portemonnaie, kramt mit dem Zeigefinger darin herum. Viel scheint nicht darin zu sein.

»Meine Tochter hat morgen Geburtstag«, sagt die Frau leise. »Die Leggings wollte ich ihr schenken. Ihr gefällt so etwas.«

Sie starrt mich an, als erhoffe sie von mir eine Lösung jenseits von ›Ich gebe mehr Geld aus, als ich dürfte‹ und ›Ich enttäusche meine Tochter‹.

»Dauert das noch lange?«, brüllt jemand aus meiner mittlerweile ziemlich angewachsenen Kundenschlange.

»Mann, bleiben Sie ruhig!«, ruft Florine. »Sie müssen bestimmt nicht zu einer Herz-OP!«

Ich bin dankbar für ihre Intervention. Mir fallen meistens nicht die richtigen Antworten ein – oder erst drei Stunden später.

»Dann stornieren Sie es«, sagt die Frau. »Muss hier ja weitergehen.«

Ich sehe sie an. Denke an meine Mutter, die mir auch so oft Wünsche nicht erfüllen konnte und daran, dass mich ihr trauriges Gesicht mehr geschmerzt hat als irgendein unerfüllter Spielzeugtraum. Kurzentschlossen reiße ich ein Loch in die Verpackung.

»Oh, das sehe ich jetzt erst. Das Stück ist schadhaft. Möchten Sie es trotzdem kaufen? Der Preis wäre dann auf 3,99 reduziert.«

Sie nickt mir zu, bezahlt und geht, ohne sich zu bedanken. Was ich gut verstehen kann. Ich habe ihr zwar geholfen, aber sie gleichzeitig gedemütigt.

 

Nach Dienstschluss stehe ich mit Florine auf dem abgezäunten Müllplatz unseres Supermarktes, der uns Mitarbeitern als Raucherlounge und Fahrradparkplatz dient. Zwischen den tiefen Zügen, mit denen Florine ihre erste Zigarette nach vier Stunden inhaliert (und das wiederholt sie mit zum Ausrufungszeichen erhobenem Zeigefinger: vier Stunden!), erfahre ich von ihr, dass momentan alle Mitglieder ihrer Familie mit Magen-Darm-Grippe darniederliegen. Nachdem sie mir detailgenau und in lebhaften Bildern geschildert hat, wie sich der gestrige Abend bei ihr Zuhause abgespielt hat, fügt sie im Ton größter Zufriedenheit »Ich habe mir auch so eine geholt« hinzu.

Sensibilisiert durch ihre Erzählung rücke ich ein Stück von ihr ab. »Dann solltest du zu Hause im Bett bleiben, Flo.«

»Was? Nein, das doch nicht! Diese coole Hose.« Sie kramt in ihrem Oversize-Beutel und zieht eine der Leopardenleggings hervor.

»War die Einzige in XXL. Da musste ich zuschlagen.«

Florine trägt so etwas und es kümmert sie nicht im Geringsten, ob andere über sie reden. Sie ist mutig und laut und großartig. Ich bin sehr viel dünner und sehr viel feiger. Meine Klamotten sind Secondhand-Jeans und Shirts, in denen ich zu verschwinden versuche. Seit David habe ich keine Lust mehr, der Männerwelt aufzufallen.

»Die werde ich anziehen, wenn ich heute mit Jean tanzen gehe.«

»Du triffst dich noch mit ihm? Ist es etwas Ernstes?«

»Nee.« Sie wirft die Zigarette zu Boden, tritt sie mit dem abgelaufenen Hacken ihrer Stiefelette aus. »So doll ist er wirklich nicht. Aber fürs Wochenende und fürs Bett reicht es.«

»Flo!«

»Sophie!«, ahmt sie meinen entsetzten Tonfall nach. »Sind wir im einundzwanzigsten Jahrhundert? Sind Frauen gleichberechtigt? Darf ich meinen Spaß haben?«

»Ja, ja und ja.«

»Na also. Mach das auch, Mäuschen. Such dir was fürs Bett.«

Geht bei mir leider nicht. Für mich sind Sex und Liebe Synonyme. Ich wünschte, es wäre anders. Nach zweieinhalb Jahren ohne Mann in meinem Leben fände ich es schon schön, mal wieder fremde Haut zu spüren und leidenschaftliche Berührungen. Heißen Atem in meinem Nacken und …

Mit quietschenden Bremsen hält ein altes Citroën-Cabrio auf der Straße vor uns.

»Jean!«, ruft Florine. Sie verabschiedet sich mit einem Kuss auf meine Wange, dann sitzt sie schon im Wagen und ist auf und davon.

Sehr viel weniger beschwingt rüttele ich an meinem Drahtesel, um zu testen, ob in der Zwischenzeit irgendwelche Teile abgerostet sind und fahre los. Der Weg nach Hause führt mich nicht direkt am Uni-Gelände vorbei, aber trotzdem nehme ich diesen Umweg. Es ist kurz vor siebzehn Uhr, Davids Kurs ›Wissenschaft der sozialen Arbeit‹ endet in ein paar Minuten und damit seine Vorlesungen am heutigen Tag. Wenn ich jetzt eine Viertelstunde hier warte, weil ich einen Wadenkrampf habe und nicht weiterfahren kann, dann sehe ich ihn eventuell. Und nein, das mache ich nicht regelmäßig. Ich bin keine Stalkerin. Aber heute fehlt er mir noch so viel mehr als sonst. Vielleicht, weil Florine bei Jean ist und weil sie recht hat. Ich sollte mir jemanden suchen, nur so zum Spaß. Leichter gesagt als getan.

 

Eine halbe Stunde später will ich weiterfahren, ohne David entdeckt zu haben im Gewimmel der Studenten. Ich habe mal dazugehört, aber das ist so lange her, dass ich mich ihnen so fremd fühle, als kämen sie von einem anderen Stern. Oder bei Anwendung von Ockhams Rasiermesser wohl eher ich. Es ist wahrscheinlicher anzunehmen, dass nicht alle Studenten, sondern nur eine Supermarktkassiererin ein Alien ist. Ich betrachte eindringlich meine Hände und Arme. Keine Tentakel, alles vollkommen menschlich. Also ist mein Gefühl der Entfremdung rein psychisch. Gerade als ich auf den Sattel steigen will, verlässt David das Gebäude. Genauso schlaksig wie eh und je, die braunen Haare lang bis auf die Schultern. Ich habe es geliebt, in sie hineinzufassen. Jetzt scheint es der jungen Frau neben ihm zu gefallen. Sie versenkt ihre Finger darin, als sich die beiden küssen. Schwer zu entscheiden, was mich stärker trifft: Dass sie mir ähnlich ist – klein und schlank – oder dass sie so ganz anders aussieht mit ihren glatten, zu einem asymmetrischen Bob geschnittenen blonden Haaren. Aber wie auch immer. Es war zu erwarten, dass David, der hübsche, kluge David, nicht lange allein bleiben würde. Ich gönne ihm sein Glück. Von Herzen.

Hastig wische ich mir mit dem Ärmel über die Augen und steige auf mein Rad. Jetzt bloß weg hier, bevor er mich sieht.

 

Auf dem Weg nach Hause denke ich an diese kurze Begegnung heute an der Kasse. Im Grunde bin ich selbst eine reduzierte Ware. Der Mann, den ich für mein ›immer und ewig‹ gehalten habe, hat mich verlassen, ich werde mein Studium nie zu Ende bringen, auch wenn ich mir an jedem Monatsende vorlüge, vom nächsten Gehalt etwas dafür zur Seite zu legen. Ich werde für den Rest meines Lebens nichts anderes mehr machen als an der Kasse des Prix malin sitzen.

Dumme Sophie!, rufe ich mich selbst zur Ordnung. Finde dich damit ab! Es könnte schlimmer sein. Zum Beispiel könnte der Laden dichtmachen, weil niemand mehr atmungsinaktive Hosen oder Socken aus reinem Erdöl kaufen möchte. Und was machst du dann? Glasperlen auf Angelschnur fädeln und die Ketten an Touristen verkaufen?

 

Als ich nach Hause komme, sitzt Maman wie jeden Abend um diese Zeit schon vor dem Fernseher und wartet mit zwei Tellern Brot und Wurst samt einer Kanne Pfefferminztee auf mich. Ich bin weder ein Fan von Wurstbroten noch von Pfefferminztee, aber dass Maman wieder in der Lage ist, Abendbrot zu bereiten, lässt mich beides genießen. Vor drei Jahren, nach der Trennung von ihrem damaligen Freund Jacques, hatte sie das Bett monatelang nicht verlassen. Lange Zeit danach wusste ich abends nie, wie ich sie zu Hause vorfinden würde: traurig, zornig oder so still, als würde sie nicht einmal atmen.

»Hallo Kleine.« Mit dem Zeigefinger streicht sie über meine Wange. »Hast du geweint?«

Hastig zaubere ich ein Lächeln auf mein Gesicht. »Der Wind war kühl beim Radfahren.«

»Im April?«

Die süßliche Titelmusik von Mamans Lieblingstelenovela rettet mich vor weiteren Lügen. Sie lehnt sich in die Kissen zurück und verfolgt mit glänzenden Augen die Abenteuer von Danielle und Marc in L’amour éternel. Egal, welche fürchterlichen Tragödien die beiden auch ereilen – ihre Liebe ist unzerstörbar. Maman lebt für diese Geschichten und ich sehe sie jeden Abend mit ihr zusammen an. Zwei Verlassene, die sich für eine halbe Stunde nur zu gern einreden lassen, dass Liebe ein Happy End haben kann.

 

Später im Bett, beim letzten Blick auf mein Smartphone, sehe ich, dass ich einen Anruf verpasst habe. Die Nummer ist mir genauso unbekannt wie die kühle, tiefe Männerstimme, die eine Nachricht hinterlassen hat.

»Mademoiselle Morel, Carnaud am Apparat. Ich benötige Nachhilfeunterricht für meine Tochter, rufen Sie mich zurück.«

Kein Guten Tag, kein Bitte, kein Danke. So einen unhöflichen Typ kann man auch nach zehn Uhr abends noch zurückrufen. Nach einmaligem Klingeln wird abgenommen und die gleiche eisige Stimme meldet sich: »Ja?«

»Monsieur Carnaud, Morel am Apparat«, imitiere ich seinen Anruf. »Sie benötigen Nachhilfeunterricht für Ihre Tochter, deshalb rufe ich Sie zurück.«

Eine kurze Pause, dann: »Ach ja, das. Ich habe Ihre Nummer von Madame Beaufort. Sie haben Ihren Sohn unterrichtet.«

»Ja, das stimmt.«

Als Nachhilfelehrerin verdiene ich mir hin und wieder etwas dazu – Pascal Beaufort im letzten Jahr war ein recht schwerer Fall.

»Gut. Meine Tochter Eliane ist sechzehn und braucht Unterstützung bis zum Baccalauréat. Können Sie das leisten?«

»Ja sicher, ich …«

»Dann kommen Sie am Montag um fünfzehn Uhr für ein erstes Gespräch vorbei.«

Seine bestimmende Art nervt mich, aber ich kann jeden Cent gebrauchen und montags arbeite ich nur bis halb zwei. Es gibt also keinen triftigen Grund, abzulehnen.

»Einverstanden. Treffen wir uns bei Ihnen?«

»Selbstverständlich.« Er sagt das in einem Ton, als sei es eine Zumutung von mir, auch nur daran zu denken, dass er sich meinetwegen woanders hinbegeben könnte. Kurz angebunden nennt er mir seine Adresse und ich kippe fast hintenüber vom Bett. Belard-sur-Mer, die Stadt, in der ich lebe, zerfällt in vier Teile. Da gibt es einmal das Quartier Sud. Es ist geprägt von vielstöckigen Menschenverwahranstalten aus Stahlbeton, auch Hochhäuser genannt, und einem immerwährenden Geruch nach Frittierfett und Gras. Dort scheint die Cote d’Azur so weit entfernt wie der Mond und dort bin ich zu Hause. Der Campus, zu dem neben den Hörsälen und Verwaltungsgebäuden das große Studentenwohnheim gehört, grenzt direkt daran, wirkt aber so wenig dazugehörig wie der Nerd zu den Schlägertypen in einer Klasse. In der Innenstadt finden sich Klamottengeschäfte, Bioläden, der Apple-Store und Wohnungen für Besserverdienende. Und dann sind da noch das Meer und die Menschen, die sich seine Nähe leisten können. Mit eigenen Strandabschnitten, Villen, Gärten und einer Sonne, die heller zu strahlen scheint als über dem Rest der Stadt. Dort lebt Monsieur Carnaud. Kein Wunder, dass er so unhöflich ist. Dieser Mann muss sich nicht mehr anstrengen.

»Also Montag um fünfzehn Uhr, Mademoiselle?«

»Sicher. Möchten Sie Referenzen sehen?«

»Nicht nötig. Ich kenne Pascal. Dass Sie dieser tauben Nuss zu guten Noten verhelfen konnten, ist mir Referenz genug.«

»Dann bis …«

Er hat einfach aufgelegt. Natürlich. Ich lege mich hin und schließe die Augen, sehe das Meer vor mir, den Strand und eine Villa, die sich wie ein Vogelnest an die roten Steilklippen schmiegt. Dort lebt in meiner Vorstellung Monsieur Carnaud mit der kalten Stimme.

2 Er wird schon nicht beißen

»Soll ich wirklich hingehen?«

»Warum nicht? Was kann dir denn passieren?« Florine zündet ihre zweite ›nach der Arbeit‹-Zigarette an der Kippe der ersten an. »Er wird schon nicht beißen. Und wenn doch – wer sagt, dass es dir nicht gefällt.« Augenzwinkernd stößt sie mir ihren Ellenbogen in die Rippen.

»Mann Flo! Es gibt Wichtigeres im Leben als Sex.«

»Das würde ich dir eher glauben, wenn du welchen hättest. Aber du weißt gar nicht mehr, wovon du redest.«

Es ist kurz nach zwei. Allmählich muss ich mich auf den Weg machen, will ich pünktlich bei Monsieur Carnaud erscheinen. Trotz seiner Ablehnung habe ich drei Beurteilungen von früheren Nachhilfestellen und einen Lebenslauf eingepackt. Ich will einen professionellen und vorbereiteten Eindruck machen.

»Er wirkte am Telefon so unangenehm, weißt du. Wie ein reicher, arroganter Schnösel.«

»Na und? Lass ihn doch glauben, er sei der Geilste, solange er dir Geld zahlt. Manche Leute wollen belogen werden und je eingebildeter sie sind, umso leichter klappt es.«

Auf mich macht der Typ nicht den Eindruck, er ließe sich belügen, aber ich will Florine nicht weiter mit meinen Bedenken nerven, also steige ich aufs Fahrrad.

»Viel Glück!«, ruft sie mir hinterher und ich fahre aus dem grauen Beton des Quartiers über die Straßen der Stadt, bis ich den Teil Belards erreiche, der mir genauso fremd ist wie Kuala Lumpur. Zwischen mir und dem Meer, das sich zu meiner rechten Seite blau und endlos erstreckt, stehen hinter Zäunen und Gittern die Villen der Monsieur Carnauds dieser Stadt. Manche von ihnen tarnen sich in falscher Bescheidenheit als rustikale Landhäuser, andere protzen wie eine geschmacklose Geliebte mit jedem Cent, den sie gekostet haben.

Das Haus, zu dem mich mein Weg führt, ist weder das eine noch das andere. Es steht auf exakt manikürten Rasen und sieht aus, als sei es aus Bauklötzen zusammengesetzt. Ein verglastes quadratisches Erdgeschoß, darauf ein kleineres weißes Viereck mit einer großen Terrasse. Schlicht, aber beeindruckend sagt es: ›Ja, ich war teuer. Komm damit klar‹.

Einmal mehr wird mir bewusst, dass ich gleich auf einen sehr wohlhabenden Mann treffen werde, und fühle mich noch linkischer als sonst. Auf meinen Secondhand-Klamotten scheint in Neonschrift zu stehen: ›Verlierer der Gesellschaft‹.

Das schwarze Flügeltor schwingt auf, kaum dass ich den Summer betätigt habe. Hastig schiebe ich mein Rad hindurch und stelle es dort ab. Der Weg zum Haus führt auf einem schnurgeraden Kieselpfad vorbei an Rosensträuchern, die mit ihren ersten zarten Sommerblüten vor diesem Kubistentraum unpassend wirken. Die Sonne prickelt in meinem Nacken, als ich an der Haustür klingele. Da ich einen ältlichen Butler mit gestreifter Weste und weißen Handschuhen erwartet habe, überrascht mich umso mehr der Mann, der mir öffnet. Ich schätze ihn auf höchstens Mitte dreißig. In seinem leicht gebräunten Gesicht strahlen ein paar blaue Augen wie Edelsteine und die blonden Haare verleihen ihm trotz seines hellgrauen Anzugs etwas von einem Surferboy. Ob er der Majordomus dieses Anwesens ist? Oder Carnauds Bodyguard und unter dem perfekt sitzenden Jackett versteckt sich sein Pistolenholster, wobei dieser Mann keine Waffe braucht, um sich zu verteidigen. Er wirkt so durchtrainiert und erprobt in allen asiatischen Kampfsportarten, dass er bestimmt jeden Angreifer mit einem Handkantenschlag zu Boden bringen kann. Aber das ist nur die eine Seite von ihm. Er kann auch zärtlich sein und romantisch. Und er liebt Bücher. Und Kakao. Auf jeden Fall Kakao.

Nein, dieser Tagtraum wird zu unordentlich, also von vorn: Der attraktive Mann vor mir ist eine unüberwindliche Kampfmaschine, aber der Frau, die sein Herz erobert, serviert er Kakao ans Bett und liest ihr aus klassischen Romanen vor, wenn er sie nicht auf seinen Armen zum Sonnenuntergang am Meer trägt und im Hintergrund Je t’aime … moi non plus gesungen wird. Ich starre ihn an. Vielleicht könnte ich mich ja doch an Flos Vorschlag der unverbindlichen Affäre gewöhnen – auf jeden Fall, wenn so ein Kerl involviert ist.

»Sie sind …«

Sofort erkenne ich die kalte Stimme. Kein Bodyguard, sondern Monsieur Carnaud höchstpersönlich. Das Kopfkino stoppt und ich falle ihm unhöflich ins Wort: »Ich bin die Nachhilfelehrerin. Sophie Morel.«

Nach einer etwas zu langen Pause, während derer ich mich gleichermaßen be- und verurteilt fühle, streckt er mir seine Hand entgegen: »Carnaud. Sie sind pünktlich, Mademoiselle.«

Seine Hand ist so groß, dass meine fast vollständig in ihr verschwindet. Ihre Wärme zeigt mir, wie kühl meine nervösen Finger sind und als er sie nach einem festen Druck loslässt, fühlt es sich an wie ein Verlust.

»Kommen Sie.«

Ich folge ihm ins Haus, schlüpfe aus meinen Schuhen und versuche, nicht allzu beeindruckt zu wirken, als ich mich umsehe. Alles hier ist von einem strahlenden Weiß – der Marmorboden, die Wände, die vier Türen, die rechts und links vom Flur abgehen. Auch die Treppe, die ins Obergeschoss führt, ist aus weißem Stein. Ein abstraktes Gemälde, das mindestens zwei mal drei Meter misst, bildet den einzigen Farbfleck. Alle Schattierungen von Rot fließen vor einem dunkelblauen Hintergrund ineinander, lassen mich an einen Steppenbrand denken oder an die Sonne oder eine Liebe, die so intensiv ist, dass man die Augen vor ihr schließt.

»Kommen Sie?«, wiederholt Carnaud seine Worte, diesmal aber als Frage formuliert, die seine Ungeduld über mein Zögern nur allzu deutlich zeigt.

Ich mache einen Schritt auf ihn zu und komme auf dem spiegelglatten Marmorboden ins Rutschen.

»Brechen Sie sich nicht den Hals«, sagt Carnaud kühl. »Sie sollen meine Tochter unterrichten.«

Na klar, das ist hier die Priorität. Unwichtig, ob ich mich verletze: Hauptsache das Töchterchen segelt unbeschadet zwischen Skylla Naturwissenschaften und Charybdis Fremdsprachen hindurch.

»Möchten Sie etwas trinken?«

»Nein danke.«

Ich würde mich sowieso nur verschlucken und auf seinen tadellosen grauen Anzug husten.

»Das ist unvernünftig von Ihnen, Mademoiselle. Es ist warm und Sie sind mit dem Fahrrad unterwegs.« Er öffnet die erste Tür rechts und offenbart damit eine große, helle Küche, die von einer Kochinsel und einem überdimensionalen Kühlschrank dominiert wird, der wie ein Wachsoldat in einer Ecke steht. Links davon befindet sich ein Esstisch für acht Personen. Die Akkuratesse, mit der die Stühle gegen die Tischplatte geschoben sind, verrät mir, dass Monsieur Carnaud entweder eine zwangsneurotische Reinigungskraft hat oder nur selten Gäste zum Essen empfängt.

Während ich im Flur stehen bleibe, holt er eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und zwei Gläser aus einem der Schränke, dann läuft er schnellen Schrittes an mir vorbei zur nächsten Tür und deutet darauf. »Würden Sie bitte aufmachen? Ich habe Ihretwegen die Hände voll.«

»Meinetwegen? Ich wollte kein Wasser.«

»Mademoiselle, bitte.«

Mit einem leisen Seufzer öffne ich die Tür zu einem Raum, dessen eine Wand mit deckenhohen, übervollen Bücherregalen bestückt ist. Es gibt sogar eine dieser rollenden Leitern, wie man sie in alten Filmen sieht. Das gefällt mir richtig gut! Am liebsten würde ich sofort darauf steigen und an all diesen Büchern vorbeifahren, es geht aber leider nicht. Ich bin nicht deshalb hier.

Am Fenster steht ein Campaign-Schreibtisch aus viktorianischer Zeit von wunderbarer Qualität, der mit Computer, Monitor, Drucker und Fax ausgestattet ist. Das Zimmer ist riesig – wahrscheinlich größer als die komplette Zweiraumwohnung, in der ich mit Maman lebe. Die gesamte rechte Seite wird von einer Fensterfront eingenommen und gibt den Blick frei auf den untadelig gepflegten Garten, einen Pool mit kleinem Wasserfall und dahinter auf das blauglitzernde Meer. Ein Funke entflammt in meinem Herzen. Ein grüner Funke Neid. Nie im Leben werde ich mir etwas wie das hier leisten können. Niemals. Also sollte ich diesem Funken den Sauerstoff entziehen und mich mit dem begnügen, was ich habe. Was war das noch mal?

Carnaud steuert eine Sitzecke an, bestehend aus zwei schwarzen Freischwingern und einem Rauchglastisch. Unschlüssig nehme ich meinen Rucksack ab und warte.

»Nun nehmen Sie schon Platz.« Mit einem Kopfnicken weist er mir einen der Stühle zu, die so niedrig sind, dass ich mich nicht elegant hinsetzen kann, sondern wie ein Sack Mehl hineinfalle.

Carnaud schraubt die Flasche auf, gießt die Gläser halb voll und reicht mir eins. »Trinken Sie.«

Noch nie in meinem Leben wurde ich so herumkommandiert, aber statt zu protestieren, gehorche ich und nehme einen Schluck, denn leider hat er recht. Ich habe schrecklichen Durst. Teils wegen des Wetters, teils vor Nervosität. Es ist diese Nervosität, die dazu führt, dass ich mit ungelenken Fingern am Verschluss meines Rucksacks hantiere, den Knoten erst nicht aufbekomme und deshalb Carnaud ein Lächeln schicke, dass sich missglückt anfühlt. »Ich bin gleich so weit. Wirklich.«

Endlich gelingt es mir, den Verschluss aufzuziehen.

»Bitte sehr«, ich hole den Hefter mit meinen Unterlagen heraus. »Zu Ihrer Information.«

Wortlos beugt er sich mir entgegen und nimmt ihn an sich. Blättert darin, als wäre es ein Hundertseitiger Geschäftsbericht und nicht bloß ein Lebenslauf, mein Bac-Zeugnis sowie drei Arbeitsreferenzen.

»Sie waren auf derselben Schule, die Eliane besucht«, sagt er schließlich. »Nur mit besseren Noten. Danach haben Sie Politikwissenschaft und Physik studiert. Eine interessante Mischung. Sie wollen die Welt verstehen, Mademoiselle.«

Seine Worte fühlen sich gut an. Wertschätzend. Und ja, er hat recht. Soweit es möglich ist, will ich die Gesellschaft und die Akteure in ihr begreifen.

»Aber anscheinend war Ihre Motivation nicht sehr groß. Warum haben Sie Ihr Studium nach vier Semestern abgebrochen? Sie scheinen intelligent zu sein.«

Einen ganz wunden Punkt hat der Gute da angesprochen. Soll ich ihm von meiner Mutter erzählen, die nicht mehr in der Lage war, sich selbst zu versorgen, so sehr hatte die Depression sie im Griff? Würde ihn interessieren, wie schnell man den Boden unter den Füßen verliert, wenn der Job weg ist und das Arbeitslosengeld ausläuft? Verstünde er, dass es Situationen gibt, in denen andere wichtiger sind als man selbst?

»Es passte eben nicht. Ich bin noch auf der Suche nach dem, was ich später machen möchte.«

»Aha.« Wieder vertieft er sich in meinen Lebenslauf. So viel steht da nicht drin. Als er aufblickt, mich mit seinen durchdringenden blauen Augen ansieht, stöhne ich innerlich auf. Das Verhör ist nicht zu Ende, er hat der Gefangenen nur eine kurze Verschnaufpause gegönnt.

»Statt zu studieren, arbeiten Sie also seit drei Jahren im Prix malin, was, wie ich vermute, ein Billig-Supermarkt ist. Nebenbei geben Sie Nachhilfe. Wie lange wollen Sie diesen Zustand aufrechterhalten?«

Und wieder – das geht dich nichts an!

»So lange wie nötig.«

»Also für die nächsten zwanzig, dreißig Jahre.« Carnaud klappt den Hefter zu und legt ihn auf den Glastisch. »Spiralen führen sehr viel leichter nach unten als nach oben. Kann es sein, Mademoiselle, dass Sie Ihre angebliche Selbstfindung als Ausrede benutzen, um nicht voranzukommen? Intelligenz ist die eine Sache, aber wenn Hartnäckigkeit und Durchsetzungsvermögen fehlen, dann …«

Durchsetzungsvermögen? Das kannst du haben, du eingebildeter Lackaffe!

»Sie sollten froh sein, dass es Menschen wie mich gibt. Sie profitieren doch von uns«, platzt es aus mir heraus. »Wir arbeiten für wenig Geld und vermehren den Reichtum von Leuten wie Ihnen, damit sie sich solche Häuser leisten können. Also zeigen Sie ein wenig Dankbarkeit.«

Carnaud schlägt die Beine übereinander und verschränkt die Arme vor seiner Brust. Eine dreifach verschlossene Panzertür könnte nicht abweisender sein.

»Eine kleine Kommunistin, ja?«, fragt er herablassend.

Ich springe aus dem niedrigen Stühlchen auf, was mir glücklicherweise gelingt, ohne mich lächerlich zu machen. »Ein großes Arschloch, ja?«, schleudere ich ihm entgegen, greife den Hefter und meinen Rucksack. »Danke, ich finde selbst hinaus.«

»Brechen Sie sich nicht den Hals«, höre ich seine Stimme in meinem Rücken.

»Sicher nicht!«, rufe ich, schlittere prompt kurz auf diesem verdammten Marmorboden, fange mich und haste hinaus.

 

Nachdem ich ein paar Meter gefahren bin, muss ich anhalten. Tränen drängen sich empor. Ich versuche sie zu unterdrücken, aber nicht einmal dafür habe ich offenbar genug Hartnäckigkeit. Heulend stehe ich zwischen diesen Protzbauten auf einem makellos gepflegten Weg und höre das Surren einer Überwachungskamera, die sich langsam in meine Richtung dreht. Ich wische mir über das Gesicht und halte der dunklen Linse meinen ausgestreckten Mittelfinger entgegen.

 

Maman erwartet mich schon an der Tür. Wir nehmen uns in die Arme wie nach jeder Trennung, mag sie auch noch so kurz gewesen sein. Sie streicht mir mit ihrer warmen Hand über die Wange und sieht mir prüfend in die Augen. »War der Fahrtwind wieder kühl?«

Ich antworte mit einem kurzen Lächeln. Weder will ich sie abermals anlügen noch ihr sagen, dass ich geweint habe.

»Wie war dein Vorstellungsgespräch?«

Schrecklich. Ich bin dem arrogantesten Menschen der Welt begegnet.

»Ich habe abgesagt. Das wäre nicht das Richtige für mich.«

Sie legt ihre Hand auf meine, nachdem ich einen Schluck getrunken und die Teetasse abgestellt habe.

»Gut so, Liebes. Du verdienst im Prix genug und wenn ich in ein paar Monaten auch wieder arbeite, dann geht es uns richtig gut. Lass uns dann ein Wochenende wegfahren. Nur wir beide, ganz mondän in Nizza, was meinst du?«

»Eine tolle Idee«, erwidere ich. Allerdings wird das nie passieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie in ein paar Monaten belastbar genug sein wird, um zu arbeiten. Aber das ist egal. Wer braucht schon Nizza? Letztlich gibt es immer nur uns beide.

 

»Wenn du so willst, habe ich ihn gebissen. Zumindest mit Worten.« Damit schließe ich den Bericht über meinen Besuch bei Monsieur Carnaud, der mittlerweile zwei Tage zurückliegt.

Flo sieht mich skeptisch an. »Du hast ihn beleidigt? Wieso?«

»Du würdest nicht fragen, wenn du ihn getroffen hättest.«

»Aber du hast doch gesagt, dass er gut aussieht.«

»Habe ich nicht. Nur dass er blonde Haare und blaue Augen hat und recht groß und schlank ist. Und muskulös.«

Wenn ich ehrlich bin, kann man das durchaus als ›gut aussehend‹ bezeichnen. Sehr sogar.

»Bestimmt macht er irgendein lächerliches Work-out. Pappnasen-Pilates oder Arschloch-Yoga.«

Flo verzieht ihr Gesicht zu einer Grimasse des Ekels. »Das will ich mir jetzt echt nicht vorstellen.«

Ihr immer stärker werdendes prustendes Lachen unterbricht unser Schweigen. »Arschloch-Yoga für Fortgeschrittene«, keucht sie atemlos. »Wir fangen an mit dem Aufgehenden Mond. Macht euch alle weit und offen.«

»Hör auf!«

»Ob man dabei Chaps trägt? Würde sich anbieten.« Grölend lehnt sie sich gegen den Plastiksammelcontainer. »Beim Training läuft bestimmt spezielle Meditationsmusik, aber die will ich lieber nicht hören.«

»Du bist so eklig!«, rufe ich und lache, bis ich Seitenstechen bekomme.

 

Das ist der richtige Weg, um mit solchen Leuten umzugehen, denke ich auf dem Heimweg. Wenn man über sie lacht, verlieren sie ihre Macht. Es kann mir egal sein, was dieser Typ über mich denkt. Ja, ich habe mit Monsieur Carnaud abgeschlossen. Davon bin ich so lange überzeugt, bis ich abends eine Nachricht von ihm erhalte:

Dienstags und donnerstags jeweils von 18.00 bis 20.00 Uhr? Reichen achtzig Euro pro Stunde oder verlangt die ausgebeutete Werktätige mehr?

Ich lese den Text und werfe mein Smartphone aufs Bett, als hätte er mir eine Morddrohung geschickt. Glaubt dieser Kerl wirklich, ich würde für ihn arbeiten? Was für ein überheblicher, widerlicher …

Nein, reg dich nicht auf, Sophie. Du musst nur ablehnen. Oder besser noch – reagiere überhaupt nicht.

Ich krame mein Phone aus den Falten der Bettdecke. Achtzig Euro pro Stunde. Normalerweise verlange ich nur ein Bruchteil davon. Bei vier Stunden in der Woche würde ich im Monat um die tausenddreihundert Euro dazuverdienen. Mehr als ich für meinen Teilzeitjob im Prix malin bekomme und dann noch bar auf die Hand. Im Jahr wären das über sechzehntausend Euro und Eliane hat sogar zwei Jahre bis zum Bac. Das läuft auf eine so unfassbare Summe hinaus, dass ich mich aufs Bett fallen lasse. Damit könnte ich – und der Gedanke sorgt gleichermaßen für Freude wie Angst – mein Studium fortsetzen.

Würde ich David an der Uni wiedersehen? Nein, bis dahin müsste er schon seinen Abschluss in der Tasche haben, aber ich könnte ihn über Facebook kontakten, wenn es so weit ist. Unsinn, über LinkedIn. Das ist viel erwachsener. Er würde mir zurückschreiben, sich für mich freuen, dass ich wieder studiere. Dann könnte ich ihn zu einer Bereichsparty einladen. Natürlich würde er kommen und wir würden tanzen, noch etwas distanziert, aber bald wäre es zwischen uns wie früher und am Ende gibt er zu, einen riesengroßen Fehler gemacht zu haben. Er nimmt mich in die Arme, wir küssen uns, heiraten, werden erfolgreich in unseren Jobs, kriegen zwei Kinder, wobei Louis nach mir kommt und Catherine so schlaksig wie David sein wird. Dieses Szenario habe ich mir wieder und wieder ausgemalt, seit David unsere Beziehung beendet hat, aber zum ersten Mal erscheint es nicht nur eine Phantasmagorie zu sein, sondern ein erreichbares Ziel. Ich muss nur eins tun: für Carnaud arbeiten. Willkommen bei dem riesengroßen Haken eines ansonsten wunderbaren Plans. Aber was ist mir wichtiger – ein erfülltes Leben an der Seite des Mannes, den ich liebe oder die Aversion, die ich Carnaud gegenüber empfinde? Es ist ein kurzer, heftiger Kampf, bei dem eine Packung Madeleines als beklagenswertes Opfer auf der Strecke bleibt. Kaum ist er ausgefochten, schnappe ich mein Smartphone und schreibe:

120/Stunde

Es dauert nicht lange, bis die Antwort eintrifft.

100. Seien Sie morgen pünktlich.