1
Tilda
„Endlich geschafft.“ Erschöpft schüttele ich meine Hand aus. Amanda Rose King, mit einem Herzchen statt eines i-Punkts. So habe ich es in der letzten halben Stunde in fünfzig Bücher geschrieben, auf die erste Buchseite gleich unter den Titel.
Romantische Liebesromane lassen sich um ein Vielfaches besser verkaufen, wenn sie von der Autorin signiert angeboten werden. Und bei einem Bestseller wie Zuckerkuss bedeutet das; klingelnde Kassen für mein kleines, aber feines Unternehmen.
Bisher habe ich zweihundertneununddreißig Bücher mit Widmung verkauft. In Liebe, Amanda Rose King stand in jedem einzelnen davon. Da meine einfallsreiche Verkaufsmasche dermaßen gut funktioniert, überlege ich, den nächsten Schritt zu wagen: Die persönliche Widmung.
Ungeahnte Möglichkeiten würden sich auftun.
Man braucht kein Genie zu sein, um zu wissen, dass ein individueller Gruß bei einer anspruchsvollen Leserschaft weitaus besser ankommt als ein allgemeingehaltenes In Liebe.
Da eh schon jeder im Umkreis denkt, dass ich Amanda persönlich kenne, – was ich natürlich nicht tue – sollte das Risiko nicht allzu groß sein. Selbstbewusstes Auftreten kombiniert mit Vorwitz sind der Schlüssel für ein gutes Gelingen. Zumindest, wenn es um meine Existenzgrundlage geht, welche ich mit jeder Menge Herzblut aufgebaut habe.
Mein Geschäft Der kleine Laden ist mein Ein und Alles und liegt mitten in Berlin. Es ist winzig, wie der Name bereits verrät. Die Verkaufsfläche umfasst gerade mal fünfundzwanzig Quadratmeter und macht jede Überwachungskamera überflüssig. Hinter meinem Verkaufstresen bekomme ich alles mit.
Aber wie bei so vielen anderen Dingen im Leben, kommt es nicht auf die Größe an. Die Sachen, die es bei mir zu kaufen gibt, sind verschiedenartig und stets von mir persönlich ausgewählt. Nicht selten arbeite ich mit Künstlern zusammen und verkaufe ihre Artwork in Kommission. Die Kunden kommen zu mir, wenn sie ein besonderes Geschenk suchen. Und da ich mich stets bemühe, in jeder Preisklasse etwas anzubieten, werden sie nie enttäuscht. In meinem Laden gibt es die ausgefallensten Dinge. Vintage, Antiquitäten, Kunst und sogar Schnickschnack für Kinder ab dem Vorschulalter. Wer gerne auf den Trödelmarkt geht, kommt auch gerne zu mir.
Leider herrscht seit ein paar Wochen eine Flaute, sodass mir die Idee, im Namen der Autorin zu signieren, kam. Zum Glück hat mein Einfall gezündet und die Kasse ordentlich klingeln lassen.
Beflügelt von meiner nächsten originellen und, wie ich finde, cleveren Idee mit der persönlichen Widmung, greife ich nach dem Stift, den ich gerade erst weggelegt habe und ziehe die Schublade meines Schreibtisches auf. Irgendwo muss hier noch ein schlichter weißer Büttenkarton sein.
Nachdem ich fündig geworden bin, fasse ich mir ein Herz, überwinde die letzten Skrupel, und schreibe: Sie möchten Ihr Zuckerkuss-Exemplar mit persönlicher Widmung? Kein Problem, sprechen Sie uns an.
Als bestünde die Gefahr, dass der Stift im nächsten Moment Feuer fängt und mich in Brand setzt, lasse ich ihn fallen. O Gott! Bestürzt von der Leichtigkeit, mit der ich die Worte verfasst habe, trete ich ein Stück zurück. Was habe ich getan? Wie konnte ich nur? Ich fühle mich schlecht. Jedenfalls ein bisschen und ein paar Sekunden lang.
Wie unehrlich und aalglatt du doch bist! Das Karma wird dich finden, Tilda. Du begehst eine Straftat.
Einen Moment lassen meine eigenen Worte mich innehalten. Aber … Herr im Himmel! Wer glaubt schon an Spiritualität? Oder an Karma? Was ich mache, ist maximal ein kleines Vergehen, niemals eine Straftat. Bestimmt machen sowas auch andere Leute.
Kaum sehe ich die akkurat geschwungenen Buchstaben auf dem strahlend weißen Büttenkarton mit der Riffeloptik, verfliegt mein schlechtes Gewissen und macht Bewunderung Platz.
Wunderschön. Einzigartig. Stolz schwellt meine Brust und lässt mich ausatmen. Die letzten Zweifel verpuffen wie heiße Luft.
Du bist eine Meisterin deines Fachs, Tilda. Eine begnadete Künstlerin. Die Worte meines ehemaligen Professors hallen in mir nach und lassen mich die gewohnte Zufriedenheit empfinden. Wenn der Laden pleite geht, weil ich auffliege, kann ich mein Geld mit Grußkartenschreiben verdienen.
Vielleicht bin ich voreingenommen und überheblich, aber der Schwung des kleinen Ms gelingt mir auch nach den vielen Jahren des Pausierens noch ausgesprochen gut. Prof. Dr. Jonn, mein Typografieprofessor im zweiten Semester, wäre stolz auf mich. Meine kaligrafischen Übungen waren immer die besten der Klasse. Damals dachte ich, die Hochschule für bildende Künste wäre der richtige Ort für eine kreative und vor Ideen überschäumende Person wie ich es bin. Weit gefehlt.
So weit meine künstlerische Ader auch ausgeprägt war, es reichte nicht, um länger über die Runden zu kommen. Ohne einen Job, der für ein regelmäßiges Einkommen sorgte, ging es nach zwei Semestern nicht weiter. Meine mickrigen Rücklagen waren schneller aufgebraucht, als ich es für möglich gehalten hatte. Zum Glück hielt das Schicksal eine auf mich zugeschnittene Lösung bereit. Sogar mein Wohnungsproblem löste sich auf einen Schlag.
***
Dass ich im Alter von fünfundzwanzig Jahren ohne die nötige Qualifikation den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt habe, war ein Abenteuer. Ein Abenteuer, in das ich mich jederzeit wieder stürzen würde.
An den kleinen Laden, der früher „Hilles Lädchen“ hieß, bin ich durch die Erbschaft einer entfernten Tante gekommen. Tante Hildegard ist im Alter von vierundachtzig hinter der Ladentheke an einem Schlaganfall gestorben. Ganz plötzlich. Sie war eine Großcousine meiner Mutter. Da niemand aus der wohlhabenden Familie von Tante Hildegard das heruntergewirtschaftete Geschäft mit seinem Ramsch und Trödel übernehmen oder verkaufen wollte, haben alle Erbberechtigten das Erbe abgelehnt. Alle außer mir. Ich habe den kompletten Nachlass übernommen. Mit all seinen Rechten und Pflichten.
Glück für mich, denn die kleine Wohnung über dem Geschäft gehörte ebenfalls zum Erbe und wurde zu meinem neuen Zuhause.
Auch fünf Jahre nach der Eröffnung des kleinen Ladens an der Oderberger Straße bereue ich den Abbruch meines Studiums nicht. Ich verdiene keine Millionen, aber ich liebe, was ich tue, und das ist um ein Vielfaches mehr wert.
Hingerissen blicke ich auf meine ausgezeichnete Freitechnik mit den geschwungenen Ms. Erneute Bedenken und Skepsis überkommen mich und machen Platz für Besorgnis. Diesmal klingt mein Ausatmen eher wie ein Seufzen.
Wird jemand die Ähnlichkeit zu Amandas Schrift auffallen? Sollte ich den Büttenkarton lieber von jemand anderem beschriften lassen? Nur zur Sicherheit? Äußerst ungern möchte ich ins Visier eines übergenauen Gesetzeshüters kommen. Ich könnte Gioseppe aus dem Eiscafé gegenüber fragen. Er schreibt die Eissorte des Monats immer mit Kreide auf eine Schiefertafel, die über seiner Ladentheke hängt. Die Schönschrift des aus Italien stammenden Eisverkäufers ist nicht so ausgebildet wie meine, aber dennoch ganz passabel.
Ein Blick in das Chaos meiner Schreibtischschublade verrät mir, dass dies der letzte Büttenkarton war.
Na, dann…
„Das Schicksal hat bestimmt, Tilda“, rede ich laut mit mir selbst. Entschlossen lege ich mein eindrucksvoll kalligraphiertes Schild auf den Stapel Bücher, die ich gerade signiert habe und bringe alles zusammen in den Verkaufsraum. Ein Platz im Schaufenster wäre sicher angemessen für das Schild. Ich könnte es auf einen Stapel Zuckerkuss-Exemplare stellen, gleich neben die eigens von mir gestrickten Socken und Schals.
Verdammt ja! Ich bin ein Genie – ein wahres Verkaufstalent. Mit meinem neuen Plan schlage ich sicher noch mal zweihundertfünfzig Exemplare des Bestsellers los. Das wird der bereits abflauenden Geschäftsflaute den Rest geben. Ich liebe meine Idee so sehr, wie ich Zuckerkuss liebe. Hoffentlich kommt die gute Amanda nie dahinter, dass ich ihr einen Teil der lästigen Signierarbeit abnehme.
Es wäre mir sehr unangenehm, da ich ihre Geschichte vom verliebten Zuckerbäcker doch so mag.
Wie kann sie dir böse sein, wo du doch dafür sorgst, dass ihre Verkaufszahlen stetig steigen?, versuche ich mich zu beruhigen. Du spielst ihr tagtäglich Geld in die Kassen.
Ich komme nicht dazu, meinen inneren Monolog fortzuführen, da Kundschaft den Laden betritt.
Ach du grüne Neune!
Im ersten Moment bin ich schockiert und denke, Gott bestraft kleine Sünden sofort, aber dann sehe ich, dass die Frau, die gerade mein Allerheiligstes betreten hat, nicht Amanda Rose King ist. Zum Glück. Sie sieht meiner favorisierten Bestsellerautorin lediglich unglaublich ähnlich. Die Augen der Kundin stehen weiter auseinander und die Nase ist etwas spitzer.
Alles ist paletti! Amanda Rose King befindet sich nicht in meinem Geschäft.
Die Erkenntnis reicht nicht aus, um meinen sprunghaft angestiegenen Puls zu beruhigen. Was hat das zu bedeuten? Alles Zufall?
Verdammt! Muss ich mir Sorgen machen? Möchte das Universum damit etwas ausdrücken? In meinem Magen bildet sich ein Klumpen, der sich schwer und groß anfühlt.
Bitte lieber Gott, lass mich den Fingerzeig verstehen, sollte es einer sein. Mit wenig subtilen Vorwarnungen kann ich nichts anfangen. Ich brauche klare Anweisungen.
„Guten Tag“, werde ich lächelnd begrüßt.
„Äh. Hey. Guten Tag“, antworte ich und ignoriere das klumpige Gefühl.
Reiß dich zusammen, Tilda – und starr nicht so dämlich. Vor dir steht nicht Amanda.
„Entschuldigung.“ Ich schüttele den Kopf, um meinen Blick loszureißen. „Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie Amanda Rose King ähnlichsehen?“
Verwunderung schlägt mir entgegen. „Wer ist Amanda Rose King? Muss ich die Frau kennen?“
„Eine Bestsellerautorin.“ Kurz schnappe ich nach Luft. Schwer zu glauben, dass jemand so unwissend sein kann. „A. R. Kings letzter Liebesroman hat sich zehn Wochen auf den Bestsellerlisten gehalten“, erkläre ich stolz, als wäre das allein mein Verdienst.
Die Kundin klammert sich an ihre Handtasche und fängt an, mich zu mustern, als müsste sie abwägen, ob ich eine vertrauenswürdige Person bin oder ihr nur etwas aufschwatzen möchte. Unter Umständen wirke ich tatsächlich ein wenig besessen. Zugegeben, die wenigsten Menschen wissen, wie der Autor oder die Autorin hinter der Geschichte aussieht.
„Was kann ich für Sie tun?“ Endlich übernimmt die Geschäftsfrau in mir das Ruder. Besser ich gebe der unechten Amanda nicht zu viel Zeit, mich in Augenschein zu nehmen. Mein Kleidungsstil ist heute Morgen etwas experimentell und nicht jedermanns Sache. In einem Anflug von Übermut habe ich eine lilafarbene hautenge Cordhose mit einer schwarzen Bluse mit Rüschenärmeln kombiniert. Lila und Schwarz sind natürlich nicht gewagt, aber die gelben wadenhohen Boots, die, wie ich finde, hervorragend dazu passen, schon.
„Ich suche nach einem Geschenk für meinen Freund.“ Ihr Blick heftet sich an meine Fräulein-Rottenmeier-Bluse. „Er hat Geburtstag und sammelt Dosenöffner.“ Sie beendet ihre Musterung, bevor ihr meine Schuhe auffallen. „Meine Nachbarin hat mir versichert, Sie würden einige interessante Vintage-Stücke verkaufen und ich hätte nirgendwo eine bessere Chance, etwas für meinen Robin zu finden.“
Einen vintage Dosenöffner?
Sowas gibt‘s?
Schwer vorstellbar.
Welche Frau schenkt ihrem Schatz einen rostigen Dosenöffner zum Geburtstag? Was ist das überhaupt für eine merkwürdige Liebesbekundung? Ist dieser Robin der verschlossene Typ, der einen subtilen Hinweis benötigt?
„Äh ja. Natürlich“, reiße ich mich zusammen und räuspere mich, ohne länger über den tieferen Sinn dieses Geschenkes nachzudenken. „Ich habe ein paar erschwingliche Schätze aus den frühen Zwanzigern und Dreißigern da. Vielleicht möchten Sie die durchsehen.“ Geschäftig setze ich mich in Bewegung. „Ob sich ein Dosenöffner darunter befindet, kann ich nicht versprechen, aber wir haben ein paar sehr schöne silberne Löffel. Möglicherweise würden die Ihrem Robin auch gefallen.“
2
Conrad
„Hast du gesehen, was Juliane in den sozialen Netzwerken gepostet hat?“, frage ich meinen Freund Hagen, während ich auf dem Handy durch das Profil meiner Ex-Freundin scrolle und mich neben ihn auf die Couch fallen lasse.
„Jep.“ Der Klugscheißer, der sich eine WG mit mir teilt, grinst auf eine schadenfrohe Art, die mir nur allzu vertraut ist. „Außerdem ist mir aufgefallen, dass sie für ihre Anschuldigungen reichlich Bestätigung in den Kommentaren bekommen hat.
„Ihre Anschuldigungen sind eine Unverschämtheit“, rege ich mich auf und spüre, wie neuer Zorn in mir hochkocht. „Nichts davon ist wahr“, erkläre ich, während ich mir die Kommentare ansehe, die natürlich hauptsächlich von Julianes BFFs stammen. Gut möglich, dass sich darunter ein paar meiner Verflossenen befinden. In den letzten Monaten ging es heiß her. Eigentlich schon in den letzten Jahren.
„Bist du zu mir auf die Couch gekommen, um von mir gebauchpinselt zu werden?“ Hagen stößt mich in die Seite und wartet, bis ich ihn ansehe. „Ich weiß nicht, wie gut deine Küsse sind, Alter, und kann Julianes Behauptungen weder dementieren noch bekräftigen. Wir haben schließlich noch nie …“ Eine eindeutige Handbewegung, die meinen Mund mit seinem verbinden soll, folgt den Worten.
Igitt.
Ganz üble Vorstellung. Mein Freund liebt Zwiebeln und Zaziki über alles. Niemals würde ich darüber nachdenken, ihm auf diese Weise näher zu kommen. Davon abgesehen, stehe ich nicht auf Männer.
In der Regel liebt die Frauenwelt mich und liegt mir zu Füßen. Zumindest solange keine beleidigten Ex-Freundinnen im Netz über mich herziehen.
„Sie hat mich den schlechtesten Küsser aller Zeiten genannt“, beschwere ich mich, obwohl ich weiß, dass es wenig Sinn macht und ich Hagen mit meinem offen zur Schau gestellten Frust nur mehr Stoff zum Tratschen gebe. „Außerdem hat sie ihre Lügen mit dem Hashtag Montagsküsser gekrönt. Montagsküsser!“, wiederhole ich, weil diese Ungeheuerlichkeit für einen erfahrenen Mann wie mich schwer zu fassen ist. „Das Wort hat die Bitch von Montagsauto abgeleitet.“
Hagens Grinsen verbreitert sich und zeigt mir, dass er die Erklärung nicht gebraucht hätte. „Originell ist der Hashtag allemal, das musst du zugeben. Auch wenn ich nicht glaube, dass er in den Top-10 landet. So berühmt bist du dann doch nicht. Sorry, mein Hübscher.“
Ein empörter Laut entschlüpft mir. „Juliane möchte mir schaden, weil ich mit ihr Schluss gemacht habe. Das ist der alleinige Grund. Sie hat Angst und Sorge. Ohne mich fehlen ihr die nötigen Kontakte, um ihre Karriere als internationales Model anzutreiben.“ Eigentlich müsste meinem Freund das klar sein.
„Gut möglich.“ Hagen hebt die Schultern. „Sie kennt dich und dein Ego ziemlich gut und weiß, wo sie dich treffen kann.“
Bitte?
Die Worte sind eine Beleidigung. Sie verletzen mich mehr als sie sollten.
„Behauptest du gerade, dass ich eingebildet bin? Anmaßend? Dass ich ein zu großes Ego habe?“ Sind denn alle um mich herum verrückt geworden? Ich bin selbstbewusst, nicht eingebildet. Das ist ein Unterschied. Als Model muss ich selbstsicher rüberkommen, sonst werde ich von keinem Auftraggeber gebucht. Ein gesundes Selbstbewusstsein ist der Schlüssel zum Erfolg. Das weiß doch jeder.
Hagens Miene verändert sich. Plötzlich ist jedes überhebliche, leicht spaßige Grinsen verschwunden. An den gehobenen Augenbrauen und dem durchdringenden Blick erkenne ich, dass er mehr als bereit ist, mir seine Sicht auf die Dinge aufzutischen.
„Nein, das behaupte ich nicht. Ich weiß, dass du arrogant bist und die meiste Zeit auf einem zu hohen Ross thronst.“ Die Couch wackelt, als mein Freund sich mit seinen eins zweiundneunzig erhebt. „Schau mal in den Spiegel Conrad, und überprüfe, wie hoch du deine Nase wirklich trägst. Du bist ein hochbezahltes Supermodel, das einmal zu oft auf der Fashion Week gelaufen ist. Viele Menschen haben dich in den letzten Jahren hochgelobt und für dein Aussehen und deine Ausstrahlung bewundert. Ich denke, in einem rachsüchtigen Post einer Ex-Freundin als Montagsküsser betitelt zu werden, hilft dir von Wolke sieben auf den Boden zu schweben. Zeig Klasse und finde dich damit ab. Steh drüber! So einfach ist das.“
Kaum ausgesprochen, dreht Hagen sich um und verschwindet in sein Zimmer. Verwirrt von dem Gefühlsausbruch sehe ich ihm nach. Anscheinend ist nicht nur Juliane eifersüchtig auf meinen Erfolg. Mein bester Freund ist es ebenfalls.
***
Da die Menschen in meinem Umfeld mich offensichtlich für egoistisch und selbstbezogen halten, beschließe ich, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Wäre doch gelacht, wenn ich sie nicht überzeugen könnte. Ich gehöre schließlich zu den Guten. Ich trage meine Nase niemals oben. Hagen schätzt mich völlig falsch ein.
Oder?
Erste Zweifel überkommen mich. Unter Umständen hat mein Freund ein winziges bisschen recht. In den letzten Wochen habe ich mich wirklich ein wenig gehenlassen und mich und meine Bedürfnisse an die erste Stelle in meinem Leben gesetzt.
Aber sollte nicht jeder bei sich selbst an erster Stelle stehen. Selbstfürsorge – Self-Care – nennt sich das. Daran ist nichts falsch. Ich habe schließlich eine Verantwortung mir gegenüber. Körper, Geist und Seele und so weiter …
Mit dem Ziel, etwas Gutes für andere zu tun und Hagen eines Besseren zu belehren, stelle ich den leeren Karton, den ich zuvor aus dem Keller geholt habe, auf mein Bett.
„Zeit für ein bisschen Gemeinnützigkeit“, spreche ich zu mir selbst und öffne den Deckel.
Suchend blicke ich mich um. Wovon in meinem Reich kann ich mich trennen? Was hat Wert und lässt sich gebraucht weiterverkaufen? Mein Zimmer, welches ich erst seit wenigen Monaten bewohne, platzt bereits aus allen Nähten. Es sollte nicht schwer sein, etwas Angemessenes zu finden. Designerstücke habe ich schließlich zuhauf. Mein Kleiderschrank ist voll davon.
Nicht selten können wir die Sachen, die wir bei einem Shooting präsentiert haben, behalten. Manchmal ist etwas dabei, das ich auch tragen würde, aber das ist nicht die Regel. Für gewöhnlich reicht mir eine bequem gewordene Jeans und ein schlichtes weißes T-Shirt, im Winter kombiniert mit einem Hoodie. Ich bin nicht anspruchsvoll. Eingebildet auch nicht.
Verdammt! Ich bin so wenig eingebildet, dass ich kein Problem damit habe, Kleidung im Wert von tausenden Euro in den Ramschladen gegenüber zu geben. Wenn das keine gemeinnützige, von Herzen kommende Geste ist, weiß ich es auch nicht. Hagen wird sich wundern. Aber so was von.
Höchstwahrscheinlich macht die Ladenbesitzerin einen Luftsprung, sobald sie hört, dass ich bereit bin, ihr meine Sachen zu schenken. Sollte sie meine Designerstücke nur für den Bruchteil ihres Wertes verkaufen, kann sie von dem Gewinn ihr komplettes Geschäft renovieren.
Von meiner grandiosen Idee beschwingt, stopfe ich so viele unvergessliche und extravagante Kleidungsstücke in den Karton, dass es unmöglich ist, den Deckel zu schließen. Womöglich hätte ich besser einen Koffer genommen.
Egal. Irgendwie bekomme ich den Kram schon über die Straße. Noch schnell die Gürtel von Gucci aus der letzten Kollektion oben draufgelegt, dann kann es losgehen.
Warum habe ich mich nicht schon früher von dem unnützen Ballast in meinem Leben erleichtert? Obwohl ich mich noch von nichts getrennt habe, fühle ich mich bereits beflügelt wie lange nicht. So überwältigend fühlt sich also Loslassen an.
Julianes Hasspost vom Montagsküsser ist vergessen, als ich die quietschende Tür zum kleinen Laden aufstoße. Beinahe hätte ich auf dem Weg über die Straße einen Teil der Sachen verloren. Zum Glück ist das nicht passiert.
Mit lautem Gebimmel fällt die Tür hinter mir ins Schloss und ich stehe zum ersten Mal in dem Ramschgeschäft, welches alles und nichts zu verkaufen scheint. Bisher hatte ich kein Bedürfnis, einen Fuß in diesen sonderbaren Store zu setzen. Warum auch? Im Schaufenster lag noch nie etwas Ansprechendes. Nur Trödel und Bücher.
„Hallo?“, rufe ich, weil niemand da zu sein scheint. Der vollgestopfte Verkaufsraum ist wahrlich winzig. Ich kann mich mit dem Karton im Arm kaum umdrehen. Hoffentlich reiße ich nicht eines der wackelig aussehenden Regale um.
„Moooment!“, höre ich eine Stimme, die offensichtlich aus dem Nebenraum kommt. „Bin gleich da.“
Da auf dem Tresen neben der Kasse Platz ist, stelle ich mein Hab und Gut dort ab. Erste Zweifel überkommen mich. Braucht dieser Laden noch mehr Zeug? An der hinteren Wand sehe ich einen Kleiderständer, auf dem zu meiner Verwunderung einige Designerstücke hängen. Auf den ersten Blick erkenne ich einen Mantel von Versace und einen Hosenanzug von Prada, den ich letztes Jahr zur Eröffnung eines Kaufhauses getragen habe. Wie kommt der hier her? Ich dachte, er wäre ein Einzelstück.
Möglicherweise gibt es hier doch nicht nur Ramsch.
„Was kann ich für Sie tun?“, kommt die Frage leicht atemlos. Vor mir steht eine Frau, höchstens eins fünfundsechzig groß, blonde lange Haare mit einem frechen Grinsen, das einem Kind aus dem Kindergarten gleichkommt. Sogar ein paar vereinzelte Sommersprossen entdecke ich auf ihrer Nase. Sie ist etwa in meinem Alter; siebenundzwanzig, höchstens achtundzwanzig. Auf keinen Fall über dreißig.
Ihre Klamottenkombination lässt darauf schließen, dass sie ein Mensch ist, der keine Scheu vor Farbe hat. Nur mit Mühe unterdrücke ich ein Schmunzeln als ich den Blick senke. Die gelben hochglänzenden Boots erinnern mich stark an meine Gummistiefel aus Kindertagen.
Ob sie eine Aushilfskraft ist?
„Könnte ich bitte den Eigentümer sprechen?“, frage ich, weil mir die Frau zu jung für eine Geschäftsinhaberin erscheint. Sogar für einen heruntergewirtschafteten Laden wie diesen.
„Steht vor Ihnen.“ Ihr Lächeln hat an Kraft verloren und Argwohn macht sich breit.
Tatsächlich?
„Äh. Ja. Gut“, stammele ich von der Neuigkeit aus dem Konzept gebracht. „Ich wohne in dem Haus gegenüber und habe ein paar außergewöhnliche und sehr interessante Kleidungsstücke für Sie. Für Ihr Geschäft, meine ich.“
Was ist los, Conrad? Wo ist deine Coolness? Warum klingt deine Stimme so kratzig?
Die Frau schüttelt vehement den Kopf, bevor ich weiterreden und ihr meine Schätze anpreisen kann. „Nein, danke.“ Sie schiebt den Karton in meine Richtung. Das Lächeln ist verschwunden. „Klamotten verkaufe ich nicht.“
„Ach wirklich? Und was ist das da?“ Ich deute auf den Kleiderständer mit dem besonderen Hosenanzug. Eine offensichtlichere Lüge gibt es kaum. Hält sie mich für blöd?
„Diese Sachen stehen nicht zum Verkauf. Das ist meine Garderobe. Es geht Sie zwar nichts an, aber ich streiche gerade meinen Kleiderschrank und wollte nicht riskieren, dass ich ein paar meiner besten Stücke mit Farbe ruiniere.“
Nun gut, das erklärt den Ständer. Trotzdem verstehe ich ihre Einstellung nicht.
„Wie können Sie mein Angebot ungesehen ablehnen?“, frage ich ohne Verständnis. „Sie wissen doch gar nicht, welche Schätze sich hier drin befinden.“ Unnachgiebig schiebe ich den Karton zurück und lockere meine Schultern. Ein Gespräch wie dieses, verursacht Spannungen im Nacken.
„Ist mir egal.“ Wieder wird der Karton über den Tresen gerückt. Was soll dieses Spielchen? Unter keinen Umständen schleppe ich das Ding zurück in meine Wohnung. Mein Ziel war es, Gutes zu tun.
„Hören Sie, ich schenke Ihnen die Sachen“, versuche ich es in versöhnlichem Tonfall. „Ich möchte die Stücke nicht an Sie verkaufen. Sie bekommen sie unentgeltlich. Umsonst. Gratis. Kostenlos. Als Spende.“ Deutlicher kann ich es nicht erklären. Mit jedem Wort bin ich lauter geworden, als wäre mein Gegenüber schwerhörig.
„Nein. Danke.“ Die Frau überkreuzt die Arme und wirkt abweisend wie ein Türsteher vor einem Nachtclub. Was ist das für eine merkwürdige Geschäftsfrau? Hat sie mich nicht verstanden? Sie schlägt ohne Frage den Deal ihres Lebens aus. Wie unprofessionell – und dumm.
„Wenn Sie diese einzigartigen Designerstücke verkaufen, könnten Sie Ihre Ladentür streichen und die stumpf gewordene Glasscheibe Ihres Schaufensters austauschen lassen …“ Mit angeekeltem Blick sehe ich zur Decke, an der sich ein Wasserfleck befindet. „… und noch einige andere Dinge machen lassen.“ Obwohl es nicht nötig ist, deute ich mit dem Finger nach oben.
Ohne die Arme zu lösen, beugt die Unbelehrbare sich vor. „Ich. Verkaufe. Keine. Kleidung.“ Sie spricht abgehackt und betont jedes Wort, als wäre ich schwer von Kapee. „Was verstehen Sie daran nicht?“
Heiliger Samariter. Anscheinend ist es gar nicht so leicht, sich mustergültig zu verhalten und beispielhaft voranzugehen. Das gute Gefühl, welches mich erfüllt hat, als ich den Laden betreten habe, ist verpufft.
Sei’s drum! Wenn die Frau kein geschenktes Geld möchte, ist das ihr Pech. Verzichtet sie eben auf die Renovierung ihrer Bruchbude. Frustrieren lasse ich mich von dem Rückschlag nicht.
„Machen Sie mit den Sachen, was Sie wollen. Werfen Sie sie in den Müllcontainer oder spenden Sie sie der Wohlfahrt.“ Langsam weiche ich zurück. „Es ist mir egal.“ Mit der Hand tippe ich mir grüßend an die Stirn. „Ich verschwinde.“
Ohne mich nochmal umzudrehen, verlasse ich den Laden, den ich sicher kein zweites Mal betreten werde. Nicht in diesem Leben.