Leseprobe Tod am Teufelstein

Kapitel 1

17. September

Jetzt liegt sie da oben ganz allein. Direkt neben dem Teufelstein.

Hihi, das reimt sich sogar.

Selbst schuld, die fürwitzige Person! Hat wirklich geglaubt, sie kann hier Geheimnisse aufdecken. Na ja, jetzt weiß sie es besser.

Der Wind ist eisig, dringt durch die Regenjacke. Ein Pullover drunter wäre gut gewesen.

Ein Blick zurück, direkt auf den Teufelstein, einen sechs Meter kantigen Felsen. Bei Schönwetter ist er ein beliebtes Ausflugsziel und geradezu überlaufen. Doch nun prasselt seit Stunden der Regen auf die Felsbrocken und die ohnehin schon durchweichten Grasflächen dazwischen.

Gut so. Auf diese Weise werden sämtliche Spuren fortgewaschen.

Niemand ist in der Nähe. Die Frau da droben, deren Mund schweigt, für immer. Und die Kälte spürt sie auch nicht mehr.

Schön war sie, das muss man ihr lassen. Sportliche Figur, fest und kein Gramm Fett zu viel. Das dunkle Haar, die ebenmäßigen Gesichtszüge und die tiefblauen Augen. Ein Männertraum.

Nicht unsterblich, wie sie jetzt weiß. Zu spät. Meine Güte, was ist sie peinlich und naiv in die Falle getappt. Wie eine Kuh zur Schlachtbank. Sie ist selbst schuld, hat nicht lockergelassen, sich hartnäckig in ihre Fragerei verbissen. Man soll seine Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten stecken! Das wäre ein neues Gebot, eines, das Überleben sichert.

Beinahe wäre es ihr gelungen, sämtliche Pläne zu zerstören.

Letztlich ist sie an ihrer eigenen Sensationsgier gepaart mit Dummheit gestorben. Wer steigt bei so einem Wetter auf den Teufelstein?

Die Gummihandschuhe sind unangenehm. Aber das Mordinstrument muss weg. Ist ausreichend Wald hier, da fällt ein Ast nicht auf. Sollte nur weit genug weg sein, vom Tatort. Der Regen wird das Blut wegwaschen.

Tatort. Wie das klingt. Zugegeben, manche würden es so bezeichnen. Ein Mord ist passiert. Nein. Die wissen gar nichts. Eine Notwendigkeit ist kein Mord.

Hoppla, nicht ausrutschen. Zu viel Nachdenken bringt nichts.

Es wird eine Zeit dauern, bis die Frau gefunden wird.

Schade um sie. Aber nicht zu umgehen gewesen.

Der Regenguss nimmt an Kraft zu, ebenso der Wind, der hier oben fast ständig bläst. Nichts wie zurück, bevor doch noch jemand kommt.

 

Kapitel 2

Drei Wochen zuvor

»Das darf doch nicht wahr sein! Du hast gespielt wie eine Anfängerin!« Philipp Kinzmann sprang auf und warf seine letzte Karte auf den Tisch. »Du bist meine Partnerin, hättest Tarock spielen müssen und«, er fuhr sich durchs Haar, »dem Gegenpart die Trümpfe herausziehen.«

Sie saßen zu viert bei der allwöchentlichen Kartenspielrunde im gemütlichen Wohnzimmer der Kinzmanns, die über Toni wohnten.

»Ist doch nur ein Spiel.« Anneliese, Kinzmanns Frau, zog beleidigt die Schultern hoch. »War sowieso viel zu knapp. Du hättest deinen dämlichen Pagat nie durchgebracht.«

»Jetzt beruhigt euch mal.« Vincent Straubinger zählte bereits die Karten. »Das Spiel habt ihr ja trotzdem gewonnen.«

»Ja, aber den Pagatrufer haben wir verloren, weil du noch ein Tarock übrig hattest, verdammt.«

Toni grinste innerlich. Philipp konnte sich so herrlich ärgern, wenn er verlor. Er musste aber zugeben, dass auch ihm Anneliese heute ein wenig zerstreut vorkam. Normalerweise war sie eine ausgezeichnete Spielerin. Es sah ihr nicht ähnlich, einen solch groben Fehler zu machen. »Hast du ein Problem, Anneliese?«, fragte er daher.

»Frag nicht.« Philipp fuhr abwehrend mit der Hand durch die Luft. »Sie redet schon den ganzen Tag von nichts anderem.«

»Und das wäre?«

»Meine Tante Hildegard ist verstorben.«

»Oje, mein Beileid«, erwiderte Toni mechanisch.

»Ich hab’s gewusst, dass du damit anfängst. Du mochtest die alte Schrulle nicht mal, wir hatten kaum Kontakt!« Philipp erhob sich und ging zum Barschrank hinüber. »Da brauch ich jetzt einen Cognac. Noch wer?«

»Sag nicht Nein«, sagte Straubinger.

»Ich nicht, muss morgen früh raus.« Trotzdem sah Toni mit Bedauern zu, wie Philipp ein Glas für Straubinger einschenkte. Der Cognac war nämlich einer von der feinen Sorte.

»Jetzt steckt aber die Journalistin mit drin.« Sie drehte sich zu Toni. »Seit sie bei mir war, kommt mir Hildegards Tod eben spanisch vor. Es ist doch mysteriös, dass sie offenbar nicht die erste Tote in der Kurklinik war.«

»Moment, es ist bereits zehn Uhr abends und ich habe auch schon zwei Glas Bier getrunken, da funktionieren meine Gehirnzellen nur mäßig.« Toni klopfte auf den Tisch. »Es gab mehrere Todesfälle in einem Kurheim? Vielleicht erzählst du von Anfang an.«

»Ich hab’s geahnt.« Philipp reichte Straubinger das Glas Cognac und nippte an seinem eigenen. »Das wird eine lange Nacht.«

»Schließlich ist Toni für so was zuständig.« Anneliese zog eine Schnute. »Und du kannst mir ruhig auch ein Glas bringen.«

Philipp nickte ergeben, stellte seins ab und trabte ein zweites Mal zum Barschrank. Toni seufzte innerlich, er würde sich die Geschichte wohl anhören müssen. Dabei wartete morgen ein anstrengender Tag auf ihn. Direktor Machacek hatte eine Besprechung einberufen, deren Thema ihm wegen Unwichtigkeit entfallen war. Zudem galt es, einige Berichte zu schreiben.

»Also, soweit ich es verstanden habe, ist deine Tante in einem Kurheim gestorben und sie war nicht die Einzige.« Er räusperte sich.

»Es passierte im Schwarz-Vital-Naturheilzentrum.« Anneliese schien in Fahrt zu kommen, nun da sie ein Publikum gefunden hatte. Sie griff sich das Glas Cognac, das ihr Mann ihr reichte, und nahm einen kräftigen Schluck, ehe sie es auf dem Tisch abstellte.

»Ich muss gestehen, dass ich noch nie von diesem Zentrum gehört habe.« Das stimmte nicht ganz, der Name kam Toni vage bekannt vor, vermutlich war er hier und da in der Zeitung aufgetaucht.

»Es ist eine sündteure Kurklinik in Gmoa, das ist in der Nähe von Fischbach, auf halbem Weg zum Teufelstein. Tante Hildegard hat dort im Mai gebucht, für drei Wochen. Sie ist, war steinreich …«

»Und geizig bis zum Gehtnichtmehr«, rief Philipp. »Ich schwöre, die Alte hat sich mehrmals jährlich auf unsere Kosten den Bauch vollgeschlagen, ohne uns ein einziges Mal zu irgendwas einzuladen.«

»Das tut jetzt nichts zur Sache.« Anneliese klang ärgerlich. Toni trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Als Anneliese vorwurfsvoll hinsah, zog er seine Hand zurück. »Also, die Kur in diesem Heim ist für Otto Normalverbraucher nicht leistbar, zumal die Krankenkasse nur einen geringen Teil übernimmt. Angeblich wird dort nur mit natürlichen Heilmitteln gearbeitet: Pflanzentees, Wickel und psychologische Gespräche, so ein Zeugs halt. Tante Hildegard hatte zeitlebens diesen Jugendwahn und wollte immer jünger aussehen. Und sie konnte es sich leisten.«

»Knausrig war sie, die alte Schachtel.« Philipp schnaubte erneut. »Nur für sich hat sie das Geld ausgegeben. Tolle Reisen, Kleidung, Luxusgüter.«

»Die Busreise zu den Loire Schlössern war nicht so extrem teuer«, sagte Anneliese nun und sah Toni an. »Das war ihre letzte Unternehmung, knapp vor ihrem Kuraufenthalt.«

»Wer hat die ganze Kohle jetzt geerbt?« Straubinger sprach nun zum ersten Mal.

»Wir mal nicht.« Philipp setzte sich wieder hin und schob die Tarockkarten zusammen. »Vermutlich das Tierheim oder so.«

»Nein, du weißt doch, wer ihr Erbe ist!« Anneliese drehte sich zu Toni. »Linus, dieser Schleimer. Er ist der Sohn von meinem verstorbenen Cousin und ihr einziger Enkel, die Geldgier hat er von seiner Mutter. Er hat Tante Hildegard den armen vaterlosen Jungen vorgespielt und das Ganze noch verstärkt, als seine Mutter letztes Jahr gestorben ist. Auf jeden Fall hat Hildegard ihn zum Alleinerben eingesetzt.«

»Ja.« Philipp wurde laut. »Du bist ihre direkte Nichte, hast dich um sie gekümmert, sie zum Essen eingeladen und Dinge für sie erledigt. Nicht dieser Nichtsnutz. Der hat jetzt ausgesorgt, hat eh nichts gelernt, und kann dem reichen Nichtstun frönen.«

»So wohlhabend war sie?« Toni wunderte sich, denn er hörte zum ersten Mal von dieser Tante. Dabei spielte er schon seit etlichen Jahren Tarock mit den Kinzmanns.

»Sag ja, stinkreich.« Philipp schwenkte sein Glas. »Und bei uns war sie mehrmals im Jahr zum Essen und hat uns nicht mal ein schnödes Souvenir vermacht.«

»Jetzt betonst du das schon zum dritten Mal.« Anneliese funkelte ihren Mann an. »Wir nagen auch nicht am Hungertuch und sie war einsam.«

»Ich löse mich gleich auf vor lauter Mitleid«, entgegnete er höhnisch.

Toni sah auf die Kuckucksuhr an der Wand über dem Barschrank, es war schon halb elf und Anneliese war immer noch nicht auf den Punkt gekommen. »Ich verstehe immer noch nicht, worum es eigentlich geht.« Die Ungeduld in seiner Stimme konnte er nicht unterdrücken.

Anneliese wandte sich ihm sofort zu. »Tante Hildegard war gerade mal achtzig, wir haben im Frühling ihren Geburtstag gefeiert …«

»Du hast ihr Blumen gebracht und sie hat uns nicht mal was zu trinken angeboten.« Der Spott in Philipps Worten war nicht zu überhören.

Anneliese winkte ab. »Sie war auf jeden Fall bester Gesundheit, hatte nie was am Herzen. Und dann stirbt sie ausgerechnet auf einer Kur an Herzversagen? Das passt nicht.«

»Den Floh hat dir diese Journalistin ins Ohr gesetzt, sonst nichts. Alte Leute sterben nun mal an Herzversagen. Denk an Udo Jürgens. Der war auch achtzig und niemand hat mit seinem Tod gerechnet.«

»Der hatte doch ein völlig anderes Leben als meine Tante! Immer mit Hochdruck und so. Jetzt sei endlich still und lass mich erzählen.«

Philipp hob ergeben die Arme.

Toni seufzte innerlich und rutschte auf seinem Stuhl nach vorn. Zudem war er müde. »Deine Tante ist also in besagtem Kurheim verstorben. An Herzversagen. Du glaubst das nicht und denkst was?« Worauf wollte Anneliese hinaus?

»Sie wurde ermordet.«

Kurz war Stille.

»Na denn, Prost.« Straubinger nahm einen großen Schluck, sein Glas war fast leer.

»Wurde keine Obduktion durchgeführt?«, fragte Toni schließlich und wünschte sich plötzlich, er hätte ebenfalls einen Cognac genommen. Wie kam Anneliese zu einer dermaßen schweren Anschuldigung?

»Wir hatten mal alle keinerlei Verdacht.« Philipp übernahm wieder das Wort. »Die Beerdigung ist außerdem schon zwei Monate her, beziehungsweise die Urnenbestattung.«

»Sie wurde mit Lichtgeschwindigkeit ins Krematorium gebracht, um alle Spuren zu verwischen.« Anneliese klopfte auf den Tisch. »Linus hatte es extrem eilig. Ihm kam ihr Tod gerade recht.«

»So einfach ist das nicht.« Toni verspürte einen wachsenden Druck im Kopf. Er mochte Anneliese wirklich, aber in dieser Sekunde musste er sich sehr beherrschen, nicht ungehalten zu werden. »Bevor das passiert, muss immer ein Amtsarzt oder Gemeindearzt den Leichnam ansehen und wenn er glaubt, dass eine unnatürliche Todesursache vorliegt, dann ordnet er eine gerichtsmedizinische Untersuchung an. Dies war hier offenbar nicht der Fall.«

»Richtig!« Philipp tippte mit dem Finger auf Anneliese. »Du hast ihren Tod doch auch nicht merkwürdig gefunden. Erst jetzt! Wenn diese Journalistin nicht aufgetaucht wäre …«

Toni brummte der Kopf. Er sah zu Straubinger, der gerade den letzten Schluck seines Cognacs nahm und aufstand. »Ich gehe jetzt, das ist mir zu wirr.«

Philipp sprang auf. »Ich begleite dich zur Tür.«

Toni hörte die Männer im Flur sprechen und beugte sich zu Anneliese. »Also, was ist mit der Journalistin?«

»Vanessa Kraut, sie war vor ein paar Tagen hier und hat berichtet, dass im Schwarz-Vital-Naturheilzentrum schon mehrfach Menschen gestorben seien. Und sie hätten alle eines gemeinsam: Sie seien wohlhabend gewesen. Aus diesem Grund witterte sie eine Story und hat mir erzählt, dass sie sich als Reinigungskraft in das Heim einschleichen wird.«

»Was tut sie?« Toni konnte es nicht fassen. »Sie ist wohl nicht die hellste Kerze auf der Torte?«

»Sie ist investigative Reporterin, hat sie mir erklärt. Und sie ist sich sicher, dass es da nicht mit rechten Dingen zugeht. Stell dir vor, in einem Kurheim sterben Menschen! Normalerweise wird man da gesund.«

»Ich habe nicht gehört, dass es in dieser Kurklinik eine Todesserie gegeben haben soll. Das müsste doch auffallen, meinst du nicht?«

»Frau Kraut hat glaubhaft gemacht, dass da einiges vertuscht wurde. Denkst du, sie ist in Gefahr?«

»Keine Ahnung. Aber vermutlich sind Schnüffler nirgendwo gern gesehen. Auf jeden Fall handelt sie unverantwortlich! Wenn sie stichhaltige Beweise hätte, wäre sie zur Polizei gegangen.«

»Hat sie eben nicht.«

»So ist es auf jeden Fall wahrscheinlicher, dass sie sich eine ordentliche Anzeige einhandelt, sollte sie an Orten erwischt werden, an denen sie nicht sein dürfte.«

Eine Tür klappte und Philipp trat wieder ein. »Genau meine Rede. Und bitte, Toni, sag meiner Frau, dass Hildegard eines natürlichen Todes gestorben ist. Wer um Himmels willen sollte sie umbringen?« Er kratzte sich am Kopf. »Na ja, da kämen viele infrage, sie hat alle genervt, das muss ich zugeben. Doch wer hätte ein Motiv?«

»Linus, das liegt doch auf der Hand.« Anneliese klang gereizt. »Immerhin erbt er ihr gesamtes Vermögen.«

»Linus ist ein arbeitsscheues, egoistisches Weichei, aber ein Mörder? Und wie soll er sich dort eingeschlichen haben?« Philipp legte seine Hand auf Annelieses Schulter. »Du steigerst dich da in was hinein.«

»Linus ist also der Alleinerbe.« Toni stoppte den Disput zwischen den Eheleuten, indem er aufstand und auf und ab ging. Wie konnte er nur möglichst rasch in sein Bett kommen?

»Ja. Hildegards einziger Enkel. Zu ihren Lebzeiten hat er nur wenig erhalten, Hildegard ist auf ihrem Geld gehockt wie Dagobert Duck. Linus hat sie oft um Geld angebettelt und sie hat ihm nur minimale Beträge überlassen. Das Betteln hat sich nun erübrigt, jetzt ist er fein raus.«

»Aber ich muss Philipp recht geben, es erscheint absurd, dass der junge Mann sich in die Kurklinik eingeschlichen hat, um seine Großmutter zu ermorden.«

»Meine Rede.« Philipp klang selbstgefällig.

»Tatsache ist, dass Vanessa Kraut die Sache ernst nimmt, und sie wird alles aufdecken.« Anneliese erhob sich ebenfalls und sah ihren Mann böse an.

»Da wünsche ich ihr viel Glück und dass sie kein Gesetz bei ihren detektivischen Tätigkeiten übertritt.« Toni blieb stehen. »Ich muss mich nun wirklich verabschieden. Danke für den netten Abend.«

Er ignorierte Annelieses enttäuschten Blick.