Tod auf Föhr
Kapitel 1
Sonntag, 13. Februar
Kari Lürsen stand am Fenster einer Wohnung direkt oberhalb der Strandpromenade von Wyk und starrte auf das dunkle, aufgewühlte Meer hinaus. Am grauschwarzen Himmel zuckten Blitze, ein Donnerschlag folgte gleich darauf.
Das Wetter passte genau zu ihrer düsteren Stimmung.
Hinter ihr öffnete sich eine Tür, Porzellan klapperte. Sie drehte sich um und betrachtete die kleine, schmale Frau, die ein Tablett mit einem blau-weiß gemusterten Teeservice hereintrug. Erfreulicherweise hatte sie eine Flasche Rum dazu gestellt.
»Du magst wirklich nichts essen?«, fragte sie.
Kari schüttelte stumm den Kopf. Sie setzte sich in Bewegung, um Frau Jaspers zu helfen, das Tablett auf dem niedrigen Couchtisch abzustellen. Das Wohnzimmer, in dem sie sich befanden, war ein bisschen überladen und wirkte wie aus den 1970er-Jahren. Dabei war alles blitzblank, sauber und aufgeräumt. Der Duft des kräftigen Tees mischte sich in den der Möbelpolitur. Kari konnte sich an diesen Geruch aus ihrer Teenagerzeit erinnern. Wann immer sie ihre Schulfreundin Wiebke besucht hatte, hing er in deren elterlichem Wohnzimmer. Nun war Wiebke nicht mehr da und der Gedanke daran, was mit ihr geschehen war, zog Karis Herz zusammen. Sie ließ sich in einen der schweren Sessel fallen. »Wann ist es denn passiert?«, fragte sie leise.
»Vor zehn Tagen wurde sie morgens am Strand gefunden«, antwortete Wiebkes Mutter mit halb erstickter Stimme und fuhr sich mit dem Finger unter den vom Weinen geröteten Augen entlang, um eine Träne wegzuwischen.
Vor zehn Tagen. Da hatte Kari ihrem Vorgesetzten gegenübergesessen. Worte wie »unprofessionell«, »Gefahr für deine Kolleginnen und Kollegen« und »beispiellose Verantwortungslosigkeit« waren gefallen. Kari hatte sich das alles stumm angehört. Es war ihr unmöglich erschienen, sich zu äußern, geschweige denn zu verteidigen. »Es tut mir leid, Jo«, war das Einzige gewesen, das sie herausgebracht hatte. Ein derartig verpatzter Einsatz, das hatte es in ihrer Abteilung bisher nie gegeben.
»Du bist beurlaubt. Ich muss sehen, wie es weitergeht«, hatte Jo Weinheimer am Ende gesagt, bevor er Karis Dienstwaffe und ihren Dienstausweis kassiert hatte.
»Bleib erreichbar. Aber rechne nicht damit, dass es schnell geht.«
Das hieß, dass er versuchen würde, sie herauszuboxen. Ob es ihm gelingen würde, stand in den Sternen.
»Du bist doch bei der Polizei.« Frau Jaspers’ Stimme holte sie aus ihren Gedanken. Wiebkes Mutter rutschte unruhig auf ihrem Sessel herum.
»Ja«, antwortete Kari. Polizei verstand jeder. So lautete seit Jahren ihre Standardantwort, wenn sie nach ihrem Beruf gefragt wurde. In Wahrheit war sie beim BKA. Abteilung OE, zuständig für Zielfahndung und Zeugenschutz. Aber das sagte sie Frau Jaspers nicht. Stattdessen murmelte sie die übliche Lüge von der Verwaltung, in der sie angeblich arbeitete.
»Aber du verstehst doch etwas von solchen Sachen«, bohrte Wiebkes Mutter nach. Die Verzweiflung in ihren Augen traf Karis Herz ungefiltert. Wie oft hatte sie in ihrer Jugend hier schon gesessen, den selbst gebackenen Butterkuchen gegessen und sich, zusammen mit Wiebke heimlich kichernd, die Schwärmereien der Älteren für seichte Schlager angehört? Wie oft hatte sie mit ihrer Schulfreundin und ihren Eltern spätnachmittags eine Runde Rommé gespielt, als Belohnung für die zuvor erledigten Hausaufgaben? Stets hatte Frau Jaspers dabei auf leise Art fröhlich gewirkt. Unerschütterlich in ihrem Mutterdasein. Manchmal hatte sich Kari im Stillen eine solch warmherzige Mutter gewünscht. Eine, die immer da war für ihre Tochter. Heute war ihr Gegenüber entsetzlich traurig, ja, sie schien sogar geschrumpft. Aber das war kein Wunder, wenn das einzige und innig geliebte Kind gestorben war.
»Was meinen Sie denn?«, kam Kari auf die Frage zurück. Sie rührte Zucker in ihren Tee und griff nach der Rumflasche. Sie trank für gewöhnlich wenig Alkohol, aber in den letzten Tagen waren einige der bisherigen Regeln ihres Lebens außer Kraft gesetzt worden.
»Ich …, wir sind so verzweifelt. Warum hat sie nie etwas gesagt? Ich dachte, sie wäre glücklich. Und dann, aus heiterem Himmel …« Ein Schluchzen unterbrach die Worte der Älteren. Sie beugte sich vornüber, die Arme um den Leib geschlungen als litte sie starke Schmerzen. Kari sah, wie zwei Tränen zu Boden fielen.
Sie erhob sich, kauerte sich neben Frau Jaspers und ergriff deren Hand. Die Haut war viel zu dünn, fühlte sich an wie Pergament. Wie alt war Wiebkes Mutter inzwischen? Schon Anfang siebzig. Die Jaspers hatten die Hoffnung auf ein Kind bereits aufgegeben gehabt, da hatte sich Wiebke angekündigt. Für das Ehepaar war die Geburt ihrer Tochter wie ein Wunder gewesen. Jetzt war Wiebke tot, sie war nur 32 Jahre alt geworden. Was für ein Schock für die Eltern. Die Freunde. Alle, die sie kannten.
»Und dass sie jetzt noch aufgeschnitten wird! Muss das denn sein?«
Ja, das musste sein. »Um jedwede Form von Fremdeinwirkung ausschließen zu können. Auch, um zu sehen, ob Wiebke vor ihrem Tod vielleicht etwas zu sich genommen hat«, erklärte Kari geduldig.
Frau Jaspers schien nicht zu verstehen, was sie damit sagen wollte.
»Alkohol. Beruhigungsmittel.« Drogen, aber das sagte sie nicht. »Eben alles, was ihr Urteilsvermögen hätte trüben können.« Sie ging nicht weiter auf das Thema ein. Das Fernsehen zeigte genügend ausufernde Szenen, die in der Pathologie spielten. So wenig vieles davon mit der Realität zu tun haben mochte, die Tatsache, dass man Tote bisweilen nicht nur von außen, sondern auch von innen anschaute, war tief in den Köpfen der Leute verankert. Genauso der charakteristische Y-Schnitt, der ja lediglich ein Teil des ganzen Prozedere war.
»Ob Carl etwas weiß?« Frau Jaspers hob plötzlich den Kopf. »Die beiden hatten doch Kontakt, oder?«
Karis älterer Bruder Carl lebte schon lange nicht mehr auf der Insel. Er und Wiebke waren als Teenager einige Jahre ein Paar gewesen. Eine enge, herzliche Beziehung, aber für beide nicht die wirklich ganz große Liebe.
»Ich weiß es nicht«, musste Kari gestehen. Der Kontakt zu Carl war seit einigen Jahren eher lose. Sie hatte sich auf ihren Beruf konzentriert. Sich mit Leib und Seele engagiert. Bis … ja, bis ihr dieser schreckliche Fehler unterlaufen war. Sie schob die Gedanken daran weg.
»Ich kann Carl fragen«, sagte sie und erhob sich. Aber was sollte ein Jugendfreund denn wissen darüber, warum sich jemand viele Jahre nach der Trennung das Leben nahm?
»Gibt es gar keine Hinweise?«, fragte sie, fast schon verzweifelt.
Frau Jaspers schniefte und zog ein bereits ziemlich malträtiertes Taschentuch aus ihrer Jackentasche, um sich die Nase zu putzen. »Sie hat diesen Abschiedsbrief verfasst. Dass sie vom Leben einfach genug hat. Sich viele Träume nicht erfüllt hätten. Und sie es darum hinter sich lassen möchte.« Ein Donnerschlag unterbrach sie, der Regen prasselte immer heftiger und ein starker Wind rüttelte an den Fenstern. »Sie wolle ins Licht gehen, hat sie geschrieben, um dort ihren Frieden zu finden.«
Kari fuhr sich mit dem Finger über die Stirn. So traurig das alles war, Wiebke hatte sich entschieden und was auch immer Frau Jaspers sich von ihr, Kari, erhoffte, es gab nichts, was sie tun könnte. Ihre Schulfreundin hatte sich das Leben genommen und nur sie alleine schien zu wissen, warum.
Kapitel 2
Montag, 14. Februar
Es hatte die ganze Nacht über geregnet und gestürmt. Die alten Fenster in der Kate hatten leise geklirrt und Kari fühlte sich am nächsten Morgen schrecklich ausgelaugt und unausgeschlafen. Herr Jaspers, der sich an dem Gespräch zwischen ihr und seiner Frau in keiner Weise beteiligt und sich den ganzen Abend über nicht hatte blicken lassen, hatte sie am Vorabend mit seinem Wagen nach Hause gefahren. Die Strecke zwischen Wyk und Utersum bei Dunkelheit, Wind und Wetter mit dem Rad zurückzulegen, wäre so gut wie unmöglich gewesen. Er hatte dabei kein einziges Wort gesprochen. Jetzt war der Himmel zwar wolkenverhangen, doch kam kein Wasser mehr von oben und der Wind hielt sich in Grenzen. Als Kari aus dem Haus trat, fuhr ihr dennoch die Kälte unter ihre Joggingkleidung. Langsam trabte sie los, lief aus dem Dorf hinaus in Richtung Meer, am kleinen Kurmittelhaus vorbei hinauf auf den Deich und dort weiter gen Hedehusum. Mehrfach wurde sie von anderen, die sportlich oder bei einem Spaziergang unterwegs waren, mit einem freundlichen »Moin«, gegrüßt. Sie musste sich erst wieder daran gewöhnen, dass man diesen Gruß von morgens bis abends hörte. Es herrschte Ebbe, einige Wanderer und Muschelsucher waren im Watt zugange, aber schon in ein paar Stunden würde die Flut einsetzen, schneller, als viele, die nicht wie sie am Meer aufgewachsen waren, vermuteten. Die Nordsee war tückisch. Besonders die Priele füllten sich mit ungeahnter Geschwindigkeit und das schlickige Watt, das kalte Wasser und beizeiten sogar heimtückische Strudel und heftige Strömungen waren gefährlich. Niemand von den derzeit am Strand Anwesenden schien sich zu weit hinausgewagt zu haben. Eine Mutter stand neben ihren zwei Kindern, die vermutlich Wurmlöcher bestaunten oder einen Einsiedlerkrebs entdeckt hatten. Ein weiblicher Teenager lief mit gesenktem Kopf am Wasser entlang, als suche sie nach Muscheln oder Bernstein. Ein Mann stand am Strand, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und sah mit großer Ruhe zum Horizont. Neben ihm saß sein Hund, ein dunkelbraun-weiß gescheckter Deutsch Drahthaar, der unbeweglich in dieselbe Richtung wie sein Herrchen blickte. Bilder des Friedens und der Gelassenheit, von der viele Norddeutsche ausreichend zu besitzen schienen. Nach einer halben Stunde kehrte Kari um. Zu Hause angekommen duschte sie, danach brühte sie sich einen starken schwarzen Tee und toastete sich zwei Brotscheiben, die sie mit Käse belegte. Sie war am Vortag nach Föhr gekommen und hatte am Bahnhof in Niebüll vor der Weiterfahrt nach Dagebüll, wo die Fähre ablegte, rasch ein paar Sachen gekauft. Die Kate ihres Großvaters väterlicherseits, ein weiß gekalktes, reetgedecktes Friesenhaus mit dunkelblauer Tür und ebensolchen Schlagläden, stand bereits eine Weile leer. Eine Nachbarin sah nach dem Rechten, machte offensichtlich hin und wieder dort sauber. Bei Karis Ankunft jedenfalls hatte es keinerlei unangenehme Überraschungen gegeben, kaum Staub, Fenster und Dach dicht und alles hatte an seinem Platz gelegen. Das war allerdings auch nicht schwierig, denn das ebenerdige Haus war nicht groß und dadurch recht übersichtlich. Vom kurzen Flur gelangte man direkt in einen offenen, gemütlichen Bereich mit Küche und Esszimmer. Von dort führte ein Durchgang zum Wohnraum, in dem in der kalten Jahreszeit stets ein Kaminfeuer brannte. Im hinteren Teil der Kate gab es zwei Schlafräume, einer davon war in den vergangenen Jahren nur sporadisch von zu Besuch weilenden Familienmitgliedern bewohnt gewesen. Das Badezimmer war winzig, mit Waschbecken und Dusche ausgestattet, das WC daneben separat. Die Kate war umgeben von einem weitläufigen Garten. Ein kurz geschorener Rasen, darauf verstreut einige alte Apfel- und Quittenbäume. Im hinteren linken Teil des Grundstücks stand eine Garage zu der ein, inzwischen reichlich eingewachsener, Grasweg führte. Daneben hatte Hein Lürsen irgendwann einen geräumigen Holzschuppen angebaut, der ihrem Fahrrad als Unterstand diente. Auch das hatte sie, wie die Kate, von ihrem Großvater geerbt. Die Garage war verschlossen. Von ihrer Mutter wusste sie, dass Hein sie verpachtet hatte. Weder Trine noch eines ihrer Kinder hatten die Notwendigkeit gesehen, an diesem Arrangement etwas zu ändern. Der Tod hatte den alten Seefahrer schnell und unspektakulär vor über einem Jahr geholt. Er war im Schlaf gestorben, so, wie er es sich immer gewünscht hatte. Seither war Kari nur einmal hier gewesen, bei der Seebestattung und der anschließenden Zusammenkunft im Seemannskrug, einer Gastwirtschaft, die es nicht mehr gab. Danach war viel geschehen. Denn Karis Mutter, eine gebürtige Dänin, hatte das Haus am Triibergem, in dem Kari und Carl aufgewachsen waren und das ihr Mann, Karis Vater, ihr alleine vermacht hatte, verkauft. Ohne mit ihren Kindern darüber zu sprechen. Kari spürte, wie sich ein bitterer Zug um ihren Mund legte. Obwohl sie Trine zum Teil verstehen konnte. Alle Familienmitglieder waren gestorben oder weggezogen. Warum hätte ausgerechnet sie bleiben sollen? Jetzt war Heins Haus alles, was Kari auf der Insel noch an Heimat hatte. Nun hatte sie darüber hinaus endlich auch die Zeit, sich in Ruhe darum zu kümmern. Von ihrer Mutter wusste sie, wo sie die Unterlagen fand, die sie benötigte. Hein hatte einen Zettel mit den Kontaktdaten aller für ihn wichtigen Personen in einer Schublade in der Küche liegen. Die klemmte ein wenig, und Kari musste daran ruckeln, bevor sie den Plastikordner mit dem linierten Din-A4-Bogen Papier darin herausziehen konnte. In Heins steiler und akkurater Schrift waren die Namen und Adressen von drei Personen notiert. An erster Stelle stand die direkte Nachbarin, Jette Beckum, die die Schlüssel für Heins Kate besaß und sich auch um das Grab von Karis Vater auf dem Friedhof St. Laurentii kümmerte. Kari hatte nicht vor, an dem Arrangement etwas zu ändern. Sie kannte die Frau, die schon ihr ganzes Leben nebenan wohnte. Da sie selbst nicht wusste, wie kurz oder lang ihr Aufenthalt hier sein mochte, würde sie sie lediglich über ihre Anwesenheit informieren. Der zweite Name gehörte einem alten Freund von Hein, einem Notar, der auch die Erbangelegenheiten geregelt hatte. Den konnte sie von der Liste streichen. Bent Sörensen wurde an dritter Stelle genannt. Das war also der Garagenpächter. Ihn kannte Kari nicht und sie wunderte sich über die Anschrift. War das nicht das Lokal Zur blauen Möwe, eine Kneipe, an der sie am Vortag vorbeigekommen war? Lange konnten er und Hein Lürsen sich nicht gekannt haben. Hein hatte in den letzten Lebensjahren kein Auto mehr besessen. Der Mietvertrag war ein Jahr vor seinem Tod abgeschlossen worden. Aber wieso mietete ein Mann, der, für die Verhältnisse am Ort, eine ganze Ecke weiter weg wohnte, hier eine Garage? Karis Neugier war geweckt. Am Schlüsselbrett hing ein Schlüssel für die Garage. Als sie sie öffnete, stieß sie einen überraschten Pfiff aus. Was sich unter der Abdeckplane verbarg, hatte mit einem einfachen Auto nicht viel zu tun. Ein Oldtimer der besonderen Art, ein silberfarbener Lamborghini Espada, war dort untergestellt. Sie hatte es beruflich einmal mit einer Autoschieberbande zu tun gehabt und wusste, dass es für diese Art von Automobilen einen Markt gab. Was der Wagen wohl wert war? Gefahren wurde er offensichtlich nicht, die Nummernschilder waren abgeschraubt. Sie hob die Plane ein bisschen mehr an, bevor sie sich eines Besseren besann. Wer wusste schon, was dieser Sörensen für einer war und wie er tickte. Manche Männer rasteten ja regelrecht aus, wenn nur der Hauch eines Kratzers an den Lack ihres Autos kam. Und bei diesem Stück … Den Schaden mochte sie sich überhaupt nicht vorstellen. Besser, sie schloss die Tür wieder und tat so, als habe sie das Gefährt nie gesehen. Sie ging zurück ins Haus, trank den Rest ihres Tees und zog sich um. Sie hatte einen Besuch vor sich, der sich nicht verschieben ließ.
Kapitel 3
Wer Sesle Bracht aus ihrer Jugendzeit kannte, hätte unmöglich annehmen können, dass dieser teilweise reichlich rebellische Teenager einmal Pfarrerin werden würde. Auch Kari hatte lange Zeit das Bild einer dünnen jungen Frau mit hüftlangem, zerzaustem Haar im Kopf gehabt, die die Nächte durchtanzte. Sogar mal ein paar Tage verschwunden war – hinterher hatte sich herausgestellt, dass sie trotz des Verbots ihrer Eltern ein dreitägiges Open-Air-Konzert auf dem Festland besucht hatte. Besonders in ihrer Teenagerzeit hatte sie weder besonders angepasst noch brav gewirkt. Irgendwann musste sich das geändert haben und niemand war von ihrer Berufswahl mehr überrascht gewesen als Kari. An diesem frühen Nachmittag standen sich die beiden in Sesles Arbeitszimmer im Pfarrhaus der Kirchengemeinde St. Laurentii in Süderende gegenüber. Sesle war voller geworden – »Essstörungen hatte ich lange genug« –, die dunklen Haare trug sie zu einem ordentlichen kinnlangen Bob geschnitten und die warmen braunen Augen wirkten hinter den Gläsern ihrer modischen Brille lebhaft und groß.
»Schön, dich zu sehen.« Sie zog Kari an sich und drückte sie fest. Dann hielt sie sie auf Armlänge von sich, ihr Blick war getrübt. »Auch wenn der Anlass kein angenehmer ist.«
»Ich war gestern Abend bei Wiebkes Eltern. Sie verstehen die Welt nicht mehr.«
»Das ist auch nicht zu verstehen.« Sesles Augen glitten ab, schienen einen Moment ins Nirgendwo zu starren. »Kaffee?«, fragte sie dann. Daran hatte sich nichts geändert. Sesle war schon immer eine Kaffeetante gewesen. Als Kari nickte, nahm ihre Jugendfreundin die Glaskanne von der Kaffeemaschine und schenkte ihnen beiden ein. Mit den Tassen in Händen setzten sich die Frauen einander gegenüber an einen Tisch, der vermutlich sonst Gesprächen mit den Gemeindemitgliedern vorbehalten war.
»Weiß man schon, wann die Beerdigung stattfindet?«, wollte Kari wissen.
Sesle schüttelte den Kopf. »Die Leiche wurde bisher nicht freigegeben.« Sie verzog leicht den Mund beim letzten Wort. »Du, als Polizistin, weißt ja sicher, dass das bei Suiziden so üblich ist.«
Kari nickte. Wobei es an Wiebkes Freitod keinen Zweifel geben konnte. Sie hatte einen Abschiedsbrief verfasst, ihren Schlüsselbund in den eigenen Briefkasten geworfen. War bei Ebbe losgelaufen – wann und wo genau ließ sich aufgrund der wechselnden Strömungen kaum sagen –, in der einsetzenden Flut ertrunken und zwei Tage später angespült worden. Sie kannte sich aus mit den Gezeiten, den Tücken der See, denn sie war hier aufgewachsen. Sie wusste, dass man alleine nicht ins Watt ging. Ein Versehen konnte da ausgeschlossen werden. Dazu gab es keinerlei Anzeichen von Fremdeinwirkung. Wiebke war im kalten Wasser der Nordsee ertrunken, weil sie ihrem Leben ein Ende hatte setzen wollen.
»Wirkte sie denn bedrückt in letzter Zeit?«
Sesle schüttelte den Kopf. »Sie kam mir eher aufgekratzt vor. So, als freue sie sich auf etwas. Aber was das war …« Sie zuckte mit den Schultern. » … das weiß ich leider nicht. Sie kam immer seltener zu mir. In den Wochen vor ihrem Tod haben wir uns kaum noch gesehen.«
Dabei war die Freundschaft zwischen Wiebke und Sesle die engste innerhalb ihrer Gruppe gewesen und die beiden hatten als Kinder nicht weit voneinander entfernt gewohnt, bevor die Familie Jaspers nach Wyk gezogen war.
»Und Mareike?« Mareike war die Vierte im Bunde in ihrer Freundinnenclique. Zu Schulzeiten waren sie alle unzertrennlich gewesen. Danach hatten sie ihre Wege auseinandergeführt. Als sie sich vor knapp zwei Jahren zu Sesles dreißigstem Geburtstag zuletzt gesehen hatten, waren sie lediglich gute Bekannte, die von alten Zeiten schwärmten, aber in der Gegenwart nicht mehr wirklich viel miteinander anfangen konnten.
»Mareike ist voll auf Karrierekurs. Sie fährt auf Sylt mit einem Porsche herum und dreht irgendwelchen reichen Leuten teure Häuser an, die dann fünfzig Wochen im Jahr leer stehen!« Auf Sesles Stirn hatten sich tiefe Falten gebildet. Es war ihr anzusehen, dass sie die Arbeit ihrer Schulfreundin kritisch bewertete.
»Sie ist jetzt auf Sylt?«
»Zumindest beruflich. Nachdem sie hier auf Föhr eher einen bescheidenen Umsatz hatte, scheint es dort zu boomen. Aber frag mich nicht nach meiner Meinung.« Sie blickte weg, als wollte sie nichts mit dem zu tun haben, was die Jugendfreundin trieb. Kari musste schmunzeln. Eines hatte sich nicht verändert. Wenn Sesle etwas kritisch sah, merkte man es ihr immer am Gesichtsausdruck an. Sie sah aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
»Apropos Arbeit. Gab es Ärger an Wiebkes Arbeitsplatz?«, bohrte Kari weiter. Auf der Suche nach einer Erklärung. Sesle zuckte mit den Schultern.
»Wiebke war nicht mehr glücklich mit ihrem Job im Drogeriemarkt. Fühlte sich unterfordert, wobei sie ja schon lange als stellvertretende Filialleiterin gearbeitet hat. Sie wollte etwas Neues anfangen. Was das war, darum hat sie ein großes Geheimnis gemacht.«
Bei diesen Worten flog die Tür auf und ein kleiner Junge stürmte ins Zimmer.
»Lars! Ich habe dir doch gesagt, dass du anklopfen musst«, ermahnte Sesle ihren Sohn liebevoll und mit einem Lächeln in den Augen.
»Klopf, klopf«, machte der Kleine und grinste Kari breit an.
Sesle schüttelte sanft den Kopf und strich ihrem Sohn über den flachsblonden Schopf. Lars war ganz der Vater. Alles an ihm schien zu leuchten. Das Haar, die helle Haut, die blauen Augen. Und wenn er auch sonst nach Magnus Bracht kam, würde er sehr groß, sehr breitschultrig und ein Mensch voller Herzenswärme werden. Bei dem Gedanken zog sich Karis Herz kurz zusammen. Sie gönnte Sesle ihr Glück. Doch beim Anblick der kleinen und überaus harmonisch wirkenden Familie hatte sie bereits zwei Jahre zuvor so etwas wie Neid verspürt. Jetzt kam Sesles Mann in den Raum. »Lars, Händewaschen.« Er war spürbar darum bemüht, seine Stimme streng klingen zu lassen, es gelang ihm jedoch ebenso wenig wie seiner Frau. »Moin Kari.« Er nickte ihr mit einem Lächeln zu, während er den Arm um die Schulter seines Sohnes legte und ihn sanft zur Tür dirigierte. Dann verschwanden Vater und Sohn und zurück blieb etwas in der Atmosphäre, das Kari zugleich fröhlich und traurig stimmte.
»Wie schön, dass ihr euch die Kinderbetreuung teilen könnt«, bemerkte Kari.
»Ja.« Sesle schob sich eine vorwitzige Strähne hinters Ohr. »Magnus kann sich seine Arbeitszeiten frei einteilen.« Sie blickte zu ihrem Schreibtisch, der recht voll wirkte. »Komm doch heute Abend zum Essen zu uns. Mein Mann kocht und wie üblich reicht das für eine Großfamilie.«
»Gerne. Aber bevor ich gehe, habe ich noch eine Frage. Kennst du einen Bent Sörensen?«
»Den Kneipenwirt der Blauen Möwe?« Sesle zog die Brauen fragend nach oben.
»Vermutlich ja. Er hat von meinem Großvater die Garage gemietet. Ich bin dem Mann bisher nicht begegnet. Ich frage mich, was er wohl für einer ist.«
»Tja.« Sesle rieb sich ausgiebig die Nase. »Ich kenne ihn kaum. Er ist kein Mitglied meiner Kirchengemeinde und kommt nie zum Gottesdienst. Da wir abends für gewöhnlich nicht ausgehen …« Sie beendete den Satz mit einer vielsagenden Geste.
Ja, vermutlich war es sowieso besser, wenn Kari sich den Mann selbst ansah. Doch jetzt musste sie erst ein paar Dinge einkaufen, danach die Kate auf Vordermann bringen und den Haken an der Hintertür erneuern. Gestern war ihr aufgefallen, dass er zu viel Spiel hatte. Als sie sich auf ihr Rad schwang, hatte der Wind aufgefrischt, aber es blieb trocken. Tief die würzig-salzige Luft einatmend fuhr Kari auf direktem Weg durch die Marschen zurück nach Utersum, um dort im einzigen Supermarkt einzukaufen. Eine halbe Stunde später war sie damit beschäftigt, ihre Einkäufe auszupacken, den Kühlschrank und die Vorratskammer zu säubern, das Bad gründlich zu wischen. Dann zeigte ihr ein Blick auf die Uhr, dass es kurz vor sechs und daher Zeit war, zum zweiten Mal an diesem Tag ihre alte Freundin Sesle aufzusuchen.