KAPITEL EINS: EIN UNANGEMESSENER VORSCHLAG
„Gott segne meine Seele!“, rief Mr. Bigg-Wither. Seine Frau, die halb auf dem Sofa eingenickt war, hob besorgt den Kopf. Er schien ungewöhnlich aufgeregt.
„Um Himmelswillen, was ist los?“, fragte sie.
Sein Gesicht war so entschlossen gegen das Fenster, das auf die New King Street unten hinausging, gepresst, dass er daran wie festgeklebt wirkte. Sein Blick zeugte von völligem Erstaunen.
„Ich glaube“, warf er über die Schulter zurück, „dass Miss Anthea Halliwell soeben auf der anderen Straßenseite vorbeigelaufen ist.“
„Unmöglich!“ Seine Frau setzte sich abrupt auf und eilte zu ihm ans Fenster. Sie erkannte eine schlanke Gestalt, die in einiger Entfernung davon schlenderte. Es war eine formschöne Dame, das konnte man selbst aus der Ferne und trotz ihrem altmodischen Kleid erkennen. Aber es konnte nicht Miss Halliwell sein. Das wäre äußerst unwahrscheinlich, nein, ganz und gar unglaubwürdig. Und falls doch, welchen Grund mochte Baths berüchtigtste Einsiedlerin haben, aus ihrem selbst auferlegten Exil zurückzukommen? Nein. Es musste einfach jemand anderes sein.
„Ich sag's dir, ich habe recht. Das ist sie.“
„Unsinn.“ Mrs. Bigg-Wither zuckte abweisend die Achseln und kehrte zu ihrem Sofa zurück. „Du hattest wohl ein bisschen zu viel vom Wein, mein Schatz.“
Während sie noch rätselten, ging Anthea zielstrebig ihrem Ziel entgegen, sich des Aufruhrs, den sie bei ihren Nachbarn verursachte, wohl bewusst, wenngleich nach außen hin unberührt. Sie beachtete niemanden, als sie vorbeiging, und wurde nicht aufgehalten, aber die Bewohner Baths starrten sie an und spekulierten offen weiter.
Weder ihre markante Schönheit noch ihre Figur waren der Grund für die so gierige Aufmerksamkeit. Gehässige Personen mochten behaupten, dass ihre Schönheit längst verblasst sei. Doch darin irrten sie sich. Nicht ihr Aussehen war verblasst, sondern ihre Hoffnung. Die blauen Augen waren so stechend schön wie immer, aber das Funkeln war aus ihnen gewichen. Der unerschütterliche Optimismus der Jugend war fort und hatte resignierter Demut Platz gemacht. Das unbekümmerte, mädchenhafte Lachen war nicht mehr, und selbst ihr Lächeln so selten geworden, dass sie sich kaum daran erinnerte.
Als sie sich ihrem Ziel in der nahe gelegenen Charles Street näherte, gleich unterhalb der südlichen Grenze von Bath, kreisten ihre Gedanken wie ein Karussell. In der Wohnung, die sie mit ihrem Vater, Sir Harry Halliwell, teilte, fand eine Revolution, wie sie es zuvor nur in Paris gegeben hatte, statt. Die endgültigen Folgen waren nicht abzusehen. Sie war immer eine pflichtbewusste Tochter gewesen, und die Umstände hatten eine mehr als übliche Abhängigkeit von Sir Harry diktiert, die sie eher mit Anstand als mit ungetrübter Freude akzeptiert hatte. Doch heute war eine Grenze überschritten worden, die einen radikalen Bruch erforderlich machte.
Die Gebäude der Charles Street erstreckten sich zu beiden Seiten wie ein vornehmer palladianischer Canyon, der zugleich tröstend und einengend war, während sie Hals über Kopf ihrem Schicksal entgegeneilte. Sie hielt nur inne, um einer Sänfte auszuweichen, die von zwei keuchenden Dienern getragen wurde, überquerte die Straße und trat mutig auf eine dunkle Eingangstür zu, die keinen Hinweis darauf gab, was für eine Person darin wohnte.
„Hab Mut“, flüsterte sie vor sich hin, ehe sie die Hand hob, um anzuklopfen. Einige Herzschläge später schwang die Tür nach innen auf. Eine stämmige Frau mittleren Alters stand da und runzelte die Stirn. Doch bevor sie etwas sagen konnte, erschien eine Gestalt direkt hinter ihr, drängte sich vor und sprach dabei atemlos.
„Wer ist es, Mrs. Norton?“
Die zweite Dame war viel jünger – kaum aus dem Schulzimmer heraus, schätzte Anthea. Sie hatte funkelnde dunkle Augen, ähnlich denen ihres Vaters, war etwas klein, aber schlank genug. Keine Schönheit, dafür hatte sie einen burschikosen Charme, der mit dem Alter zunehmen würde. Sie beäugte den seltsamen Besucher mit unverhohlener Neugier und ohne einen Anflug von Verlegenheit.
„Das weiß ich noch nicht, Miss“, antwortete die Haushälterin.
„Wären Sie so freundlich, Mr. Rodrigo darüber zu informieren, dass Miss Halliwell ein Gespräch mit ihm wünscht?“
„Anthea Halliwell!“, rief das Mädchen aus und starrte sie nun offen an. „Die Einsiedlerin von Bath?“
„Die bin ich.“ Zum ersten Mal an diesem Tag spürte Anthea, wie bei dieser Bemerkung ein Funke Belustigung in ihr aufstieg.
„Das kann nicht Ihr Ernst sein“, wandte die junge Dame ein.
„Ich versichere Ihnen, dass ich es bin, Miss.“
„Aber Sie sind viel zu schön, um eine Einsiedlerin zu sein!“, wandte sie ein, offensichtlich nicht, um ihr zu schmeicheln, sondern eine Tatsache zu benennen.
„Danke.“ Anthea lächelte leicht. „Darf ich eintreten?“
Als die junge Dame zu spät bemerkte, dass ihr unerwarteter Gast noch immer vor der Tür stand, trat sie zurück und bedeutete ihr, einzutreten.
„Ich bitte um Verzeihung, Miss“, antwortete sie, als Anthea eintrat.
„Ich informiere Mr. Rodrigo darüber, dass Sie hier sind“, sagte Mrs. Norton, aber bevor sie loslaufen konnte, kam ihr ihre Begleiterin zuvor.
„Nein, nein!“, beharrte sie. „Lassen Sie mich das meinem Vater selbst sagen. Dies ist schließlich ein höchst freudiger Anlass.“
Anthea wusste nicht recht, wie sie diese Bemerkung auffassen sollte, zuckte aber die Achseln und wartete im Flur, während die Haushälterin sich entfernte, um einer peinlichen Situation zu entgehen. Allein gelassen warf Anthea einen Blick auf ihr Spiegelbild in einem ovalen Spiegel, der praktischerweise in der Nähe des Eingangs angebracht war. Es war kein schmeichelhafter Anblick. Ihr Gesicht trug deutliche Anzeichen der Sorge, um nicht zu sagen Verzweiflung. Ihre Wangen waren nach dem flotten Spaziergang rosig und ihre Augen leuchteten, aber eher vor Angst als vor Aufregung. Ihr Hut war wie das Kleid ausgeblichen und ewig aus der Mode gekommen. Kein Wunder, schließlich hatte sie sich seit einigen Jahren keine neuen Outfits gekauft, nur die, die sie besaß, mehrfach umgestaltet.
Während sie wartete, hörte sie deutlich die Stimme der seltsamen jungen Frau, die eine Tür am Ende des Flurs öffnete und trällerte: „Papa, da ist eine schöne Dame in einem scheußlichen Kleid, um dich zu sehen!“
„Miss Halliwell ist hier?“, kam die gedämpfte Antwort. „Großer Gott!“
Einen Moment später erschien der Herr selbst im Flur und kam rasch auf sie zu.
„Meine liebe Miss Halliwell“, sagte er und hielt inne, um sich zu verbeugen, „das ist in der Tat eine unerwartete Freude.“
„Danke, Sir.“ Sie neigte den Kopf und ließ sich nichts anmerken, während die junge Dame hinter ihm sie beide mit unverhohlener Neugier musterte. „Ich – ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass ich unangekündigt vorbeigekommen bin.“
„Es gibt nichts zu verzeihen, Ma’am. Aber seien Sie bitte so gut und begleiten Sie mich in mein Arbeitszimmer. Diese junge Dame“, fügte er hinzu und deutete damit auf ihr interessiertes Publikum, „ist meine Tochter Rachel, die, wenn ich mich nicht irre, gerade etwas Wichtiges zu tun hat, nicht wahr?“
Rachel machte einen eleganten Knicks vor Anthea, streckte ihrem Vater die Zunge heraus und tat sofort, was er befohlen hatte.
An diesem Punkt erschien Mrs. Norton wieder und Antheas Gastgeber bat sie, ihnen Tee zu bringen. Die ältere Frau sah nicht aus, als ob sie es guthieß, dass ihr Herr seltsame fremde Frauen in seinem Arbeitszimmer empfing, aber das konnte sie natürlich nicht sagen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und zog sich würdevoll zurück.
***
Anthea fand sich in einem geräumigen Apartment wieder, dessen Möbel um einiges opulenter waren als die des schlichten Flurs des Eingangs. Ein großer Mahagoni-Schreibtisch dominierte den Raum, flankiert von zwei Wänden voller Regale mit Hunderten von teuren ledergebundenen Büchern. Ob sie bloß Zierde waren, fragte sie sich, oder war Mr. Rodrigo tatsächlich ein begeisterter Leser?
Sie balancierte auf der Kante eines Stuhls, der einigermaßen bequem hätte sein sollen. Nichts vermochte jedoch die extreme Unbequemlichkeit ihrer Lage wettzumachen. Nun, da der Moment gekommen war, auf den sie sich gefreut hatte, fehlten ihr die Worte, um ihre Gedanken auszudrücken. Stattdessen blickte sie schweigend auf den Mann vor ihr, der bedächtig hinter dem Schreibtisch saß und sich dunkel vor einem großen Fenster abzeichnete.
Er sah plötzlich so fremd aus. Die onyx-schwarzen Augen und Haare und der leicht gebräunte Teint hatten das, was viele als eindeutig israelitisch bezeichnen würden, obwohl sie vernünftig genug war, um zu erkennen, dass sein Aussehen, wie auch sein ungewöhnlich klingender Name, eher spanisch als jüdisch war. Er war einer der schönsten Männer, die sie kannte. Sogar der Hauch von Silber an seinen Schläfen war seltsam anziehend. Er mochte auf die vierzig zugehen, aber er hatte ganz sicher noch nicht die Erscheinung der mittleren Altersjahre angenommen. Er war nur wenig größer als der Durchschnitt, aber seine Schultern waren breit und seine Figur außergewöhnlich gut.
Einige Augenblicke lang erwiderte er ihren Blick kommentarlos, bis er schließlich verlegen hüstelte.
„Vielleicht möchten Sie mich etwas fragen, Miss?“
Anthea spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Sie hatte den Mann angestarrt wie ein verängstigtes Stubenmädchen, das gerade über einem zerbrochenen Stück Porzellan stehend entdeckt wurde. Doch sie war noch nie zuvor in einer solchen Lage gewesen, und es überraschte sie kaum, dass es ihr schwerfiel, ein so beunruhigendes wie dringendes Thema anzusprechen.
„Mr. Rodrigo“, begann sie langsam, „obwohl wir uns in der Vergangenheit nur kurz begegnet sind, weiß ich, dass Sie mehrmals geschäftlich mit meinem Vater zu tun hatten. Ich glaube, Sie haben ihm damals Geld vorgestreckt-“
Er runzelte die Stirn. „Sind Sie im Auftrag Ihres Vaters hier?“
„Nein, das bin ich sicherlich nicht.“ Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Ich habe nur gehofft, dass Ihre Bekanntschaft mit ihm Sie dazu bringen würde, mir freundlicher entgegenzutreten.“
„Meine liebe Miss Halliwell“, sagte der Mann vor ihr herzlich, „Sie brauchen keine Empfehlung von irgendjemandem. Sie können sich meiner Hilfe sicher sein, was auch immer Sie verlangen.“
Sie hielt einen Moment lang den Atem an, denn die Intensität seines Blicks war mehr als bloße Freundlichkeit. Sie hatte gelegentlich die Vorstellung gehabt, dass Mr. Rodrigos Interesse an ihr mehr als bloße Freundschaft sein könnte. Nun war es sogar mehr als eindeutig. Dennoch war sie zu weit gekommen, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen.
„Ich habe vor, einen kleinen Hutladen zu eröffnen“, platzte sie heraus. „Nichts allzu Großes, wohlgemerkt – aber ich bräuchte finanzielle Unterstützung. Ich werde jede vorgestreckte Summe strengstens verbuchen und Sie erhalten jeden Penny mit Zinsen zurück.“
Ihm war anzusehen, dass er das nicht erwartet hatte. Einen Moment lang war sein Gesicht ausdruckslos. Dann zogen sich seine dunklen Brauen zusammen, als er über die Sache nachdachte.
„Sie möchten hier in Bath ein Geschäft eröffnen?“
„Nein, nein“, beeilte sie sich zu erklären. „Vielleicht in Bristol oder Southampton.“
„Das ist ein höchst ungewöhnliches Bestreben für eine junge Dame Ihres Standes“, sagte er langsam, sein Blick viel zu durchdringend. „Ich kann nicht anders, als zu fragen, was Sie dazu inspiriert hat, Miss Anthea?“
„Meine Gründe sind persönlicher Natur, Sir.“ Sie hoffte, dass sie nicht unflätig klang, und begann zu begreifen, dass es vielleicht keine Alternative zur vollständigen Offenlegung gab.
Er erhob sich von seinem Platz und ging um den Schreibtisch herum, um sich neben sie zu stellen.
„Wenn Sie eine – nun, Meinungsverschiedenheit mit Ihrem Vater hatten, rate ich Ihnen, nichts Unüberlegtes zu tun, was Sie später bereuen könnten.“
„Wir sind mittellos, Sir“, sagte Anthea unverblümt. Die Zeit der Zurückhaltung war vorbei.
„Beim gütigen Gott, meine Liebe!“ Sein mitleidiger Blick war schrecklicher als jede Frage. „Vielleicht kann ich Ihrem Vater etwas unter die Arme greifen …“
„Das wäre nicht ratsam, Sir“, antwortete sie zügig und sah ihn direkt an. „Papa würde sicherlich alles wieder an den Spieltischen verlieren.“
„Es kann nicht so schlimm sein, wie Sie glauben“, widersprach er optimistisch. „Ein bisschen Sparsamkeit, ein vernünftigerer Umgang mit Sir Harrys Vermögen …“
„Vermögen!“, unterbrach Anthea ihn mit einem hohlen Lachen. „Ich wünsche Ihnen viel Glück dabei, davon noch irgendwas zu finden.“
Mr. Rodrigo presste schweigend die Lippen zusammen. Da er es schon mehrmals mit ihrem verantwortungslosen Vater zu tun gehabt hatte, kam er zweifellos zu dem Schluss, dass sie mit ihrer Einschätzung der Situation durchaus Recht haben könnte.
„Werden Sie mir also helfen, Sir?“, fragte sie erneut und straffte die Schultern.
„Ich mag mir nicht vorstellen, dass Sie sich mit so armseligen Mitteln durchschlagen, Miss Halliwell. Es muss eine Alternative geben.“
„Ja“, stimmte sie kläglich zu. „Mein Vater hat mir gnädigerweise erlaubt, mit ihm in die Avon Street zu ziehen, um das Haus von Mrs. Pomfrit zu teilen.“
„Avon Street!“, rief Rodrigo entsetzt aus. Ihm war klar, dass diese Adresse eher für Taschendiebe und Damen der Nacht als für vornehme Unterkünfte berüchtigt war. „Das kann ich nicht zulassen“, schloss er endgültig.
„Dann strecken Sie mir das Geld vor?“ Sie atmete erleichtert auf.
„Nein, Miss.“
„Also“, sie schluckte den Kloß aus Angst und Niederlage hinunter, der ihr in die Kehle stieg, „sind Sie trotz all Ihren Beteuerungen doch nicht bereit, mir zu helfen?“ Sie stand auf und versuchte, die zerfetzte Würde wiederzuerlangen, die ihr noch geblieben war. „Verzeihen Sie, dass ich Ihre Zeit in Anspruch genommen habe, Sir.“
„Wenn Sie mir zuhören, Miss Halliwell“, antwortete er und trat vor, um ihr den hastigen Abgang zu versperren, „würde ich Ihnen gerne eine andere Lösung für Ihr Dilemma anbieten.“
***
In diesem verheißungsvollen Moment kam Mrs. Norton mit dem Teetablett und musterte sie beide misstrauisch, bevor sie auf ein Zeichen ihres Arbeitgebers hin zurückwich. Diese kleine Abwechslung war eine willkommene Ablenkung für Anthea. Dieses Gespräch konnte niemandem Spaß machen. Trotz aller Eleganz und Höflichkeit war sie im Grunde eine Bettlerin, die auf jeden Krümel angewiesen war, der ihr zugeworfen wurde.
Rodrigo schenkte sorgfältig Tee ein, während sie die Zeit nutzte, um sich zu beruhigen. Sie nahm einen Schluck, um sich kurzzeitig zu erholen, und beäugte ihn über den Rand ihrer Tasse hinweg.
„Was meinten Sie, Sir?“, fragte sie, als das Schweigen zwischen ihnen länger dauerte, als sie es ertragen konnte.
„Nun, Sie haben meine Tochter kennengelernt, Miss Halliwell.“ Anthea blinzelte ihn an, unfähig, irgendeinen Zusammenhang zwischen seinem Sprössling und ihrem eigenen Dilemma zu erkennen. „Rachel ist ein frühreifes Mädchen, das die Führung einer Frau in Dingen braucht, die ich ihr als Mann nicht beibringen kann.“
„Ihre Tochter ist zu alt, um eine Gouvernante zu brauchen, Sir. Suchen Sie eine bezahlte Gesellschafterin?“ Anthea war sich nicht sicher, ob eine solche Anstellung der einer Hutmacherin vorzuziehen wäre, aber sie war kaum in der Lage, ein vernünftiges Angebot abzulehnen.
„Ich möchte Rachel in die Gesellschaft von Bath einführen.“ Er hielt eine bedeutungsvolle Pause ein. „Wie Sie sich vorstellen können, sind meine Kenntnisse in solchen Angelegenheiten begrenzt. Wäre ihre Mutter noch am Leben, wäre es natürlich eine andere Sache.“
„Ich verstehe nicht, wie ich Ihnen dabei von Nutzen sein könnte, Sir“, antwortete Anthea pragmatisch. „Es wäre kaum angemessen, wenn ich Ihre Tochter bei gesellschaftlichen Veranstaltungen begleiten würde.“
„Als ihre Gesellschafterin käme das nicht gut, nein“, stimmte er kühl zu. „Aber als meine Frau würde kein Hahn danach krähen.“
Anthea ließ beinahe ihre Teetasse fallen, schaffte es aber gerade rechtzeitig, sie festzuhalten, bevor ihr der Inhalt in den Schoß schwappte. Sie musste sich verhört haben!
„Wie bitte, Sir?“
„Das kommt vielleicht etwas plötzlich“, räumte er ein – eine grobe Untertreibung – „ich gestehe, die Idee kam mir gerade erst.“
„Ach, wirklich?“, fragte sie schwach.
„Ja.“ Er setzte sich auf den Stuhl, der in einem leichten Winkel zu ihrem vor dem Schreibtisch stand. „Ich war ziemlich ratlos, wie ich Rachels Debüt auf ehrenhafte Weise gestalten sollte. Mir scheint, dass dies eine Lösung ist, die beide Probleme auf einmal lösen würde.“
„Aber ich, Sie, wir-“, stammelte Anthea unbeholfen vor sich hin.
„Ich verstehe Ihre Vorbehalte, meine Liebe“, sagte der ältere Herr sanft. „Wir kennen uns kaum, und Sie hatten wahrlich keine Zeit, über dieses Angebot nachzudenken. Wenn es Ihnen völlig zuwider ist, haben Sie jedes Recht, es abzulehnen.“
„Oh, Sir, so meinte ich das nicht!“, rief sie, denn sie wollte auf keinen Fall, dass er dachte, sie hielte ihn für etwas, das sie unter ihrer Würde hielt. „Aber es ist so … unerwartet.“
„Sie brauchen keine Misshandlungen in meinem Haus zu befürchten, Miss Halliwell. Ich habe den größten Respekt und die größte Wertschätzung für Sie.“ Er streckte die Hand aus und nahm ihre linke Hand in seine. „Sie hätten keine materiellen Sorgen mehr. Ich bin ein großzügiger Mann.“
„Ich – ich habe in dieser Hinsicht keine Befürchtungen“, stammelte sie, erschrocken von dem Kribbeln, das seine Berührung in ihr auslöste.
„Was dann?“, fragte er. „Sind Sie anderweitig vergeben? Gibt es einen Gentleman, von dem Sie ein Angebot erwarten?“
„Das wohl kaum, Sir.“ Die Idee an sich war lächerlich, wie er sicherlich wissen musste.
„Dann bitte ich Sie, die Angelegenheit zu überdenken.“ Er ließ ihre Hand los. „Vielleicht ist Ihnen Ihre Unabhängigkeit lieber, aber ich biete Ihnen ein Zuhause, wo Ihr Wohlbefinden und Ihr Glück immer im Vordergrund stehen würden, und wo es Ihnen an nichts fehlen würde, was man mit Geld kaufen kann. Ihre Zukunft wäre gesichert und Ihre Bedürfnisse stets erfüllt. Verzeihen Sie mir“, fuhr er ein wenig schüchtern fort, „aber wäre das nicht besser als die unsichere Zukunft, die Ihnen bevorsteht, wenn Sie den Weg einschlagen, den Sie mir beschrieben haben?“
Es war nicht zu leugnen, dass das Bild, das er ihr zeichnete, durchaus ansprechend war. Sie hielt sich nicht für geldsüchtig, aber es war unmöglich, nicht von diesem Gedanken in Versuchung geführt zu werden. Nicht, nachdem sie so lange hatte sparen und zurückstecken müssen. Das Leben in der King Street war alles andere als einfach gewesen, und sie musste zugeben, dass ihr der Gedanke, ihren Lebensunterhalt in einem Beruf zu verdienen, der sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als Reinfall herausstellen könnte, nicht zusagte. Sie hatte es nur vorgeschlagen, weil sie keine vernünftige Alternative sah. Aber jetzt, da er ihr eine Chance auf Reichtum und Sicherheit bot, die alles übertraf, was sie je erwartet hatte, durfte sie es wagen, ihn abzulehnen? Die Ehe war in der Tat ein drastischer Schritt, aber viele hatten ihn aus weit weniger vielversprechenden Gründen unternommen.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, antwortete sie schließlich wahrheitsgemäß.
„Dann sagen Sie noch nichts“, riet er vernünftig. „Gehen Sie nach Hause und nehmen Sie sich Zeit, ausführlicher über mein Angebot nachzudenken.“
Es gab jedoch noch eine Sache, die sie ihm vorlegen musste. Sie stand zitternd da, und er kam sofort auf sie zu. Nur noch ein Meter trennten sie, und sie zwang sich, ihm direkt ins Gesicht zu sehen. Sie holte tief Luft, nahm den Mut zusammen, das auszusprechen, was sie verzweifelt vermeiden wollte.
„Es gibt da etwas, das Sie wissen sollten, Sir.“
„Ja, Miss Halliwell?“
„Vielleicht möchten Sie Ihr Angebot zurückziehen, wenn Sie erfahren, dass die Frau, die Sie gerade gebeten haben, Sie zu ehelichen, in breiten Kreisen als gewöhnliche Diebin gilt.“
KAPITEL ZWEI: EINE EILIGE HEIRAT
In der Stille, die dieser Offenbarung folgte, wartete Anthea steif auf den Schlag. Sie sah ihm in die Augen und wappnete sich gegen den Schock und den Ekel, den sie zeigen könnten.
„Ich bin mir des Skandals bewusst“, sagte er sanft und ohne mit der Wimper zu zucken. „Man hat Ihnen unverdientes Leid zugefügt.“
„Was?“ Es schien kein Ende der Überraschungen zu geben, die dieser Mann für sie darbot. „Sie wissen davon und wollen mich trotzdem heiraten?“
„Meine Liebe, das ist in dieser Stadt allgemein bekannt, aber ich sehe keinen Grund, warum es unserer Verbindung im Wege stehen sollte“, sagte er sachlich. „Nichts würde mich jemals davon überzeugen, dass Sie dieses Verbrechens schuldig sind.“
„Aber Sie können sich nicht sicher sein, dass ich unschuldig bin!“, rief sie schockiert aus. „Sie kennen mich nicht.“
„Solange Sie mir nichts anderes schwören“, sagte er mit einem unerklärlich freundlichen Blick aus seinen attraktiven dunklen Augen, „bin ich mir Ihrer Unschuld so sicher wie noch nie.“
Das war die unglaublichste Entwicklung von allen. Dass dieser Mann, praktisch ein Fremder, so unerschütterliches Vertrauen in sie hatte. Sie biss sich auf die Unterlippe und zwang die Tränen zurück. Es war so lange her, dass jemand sie ohne Argwohn angesehen hatte, dass sie kaum etwas so Schönes glauben konnte. Ihr eigener Vater war nie ganz davon überzeugt gewesen, dass sie Georginas Halskette nicht gestohlen hatte.
„Ich wurde nie offiziell angeklagt-“, begann sie und hatte das Gefühl, sie müsse sprechen, bevor sie sich durch Weinen blamierte.
„Ich weiß.“ Er legte eine starke, schmale Hand auf ihre Schulter – eine vertraute Geste, die unverschämt hätte sein sollen, aber seltsam tröstlich war. „Es wäre besser gewesen, Sie hätten vor Gericht gestanden. Gerüchte und Andeutungen können belastender sein als eine direkte Anklage.“
Sie sah ihn verwundert an. Er schien ihre Situation wirklich nachvollziehen zu können. Niemand sonst hatte je verstanden, was sie in den letzten sieben Jahren durchgemacht hatte.
„Wäre ich vor Gericht gestellt worden, wäre ich wahrscheinlich gehängt worden – oder würde mein Dasein in Australien fristen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Die Beweise gegen mich waren erdrückend. Ich kann es niemandem vorhalten, der an meiner Unschuld zweifelt.“
„Ich würde nie daran zweifeln“, sagte er schlicht.
„Wie haben Sie davon erfahren?“
„Obwohl ich erst ein Jahr nach dem Vorfall nach Bath kam, wurde mir die Geschichte rasch zugetragen. Sie ist den meisten hier bekannt.“ Er machte eine abwertende Geste. „Die Einzelheiten erzählte mir Mr. Feingold, der Juwelier, der in den Fall verwickelt war.“
„Hielt er mich für schuldig?“
„Das tat er, Miss.“
„Und doch glauben Sie mir eher als ihm?“
„Ich wäre niemals geneigt, irgendetwas von dem anzuzweifeln, was Sie mir erzählen.“
„Warum?“ Sie war verblüfft.
Er zuckte selbstironisch die Achseln. „Sagen wir, ich bin stolz darauf, ein ziemlich scharfsinniger Menschenkenner zu sein.“
„Ich bin Ihnen für Ihr Vertrauen aufrichtig dankbar, Sir.“ Das war die Wahrheit.
„Wenn Sie Ihre Dankbarkeit ausdrücken möchten“, sagte er lächelnd, „dann gehen Sie nach Hause in die New King Street und denken Sie ernsthaft über meinen Vorschlag nach.“
„Das ist nicht nötig.“ Sie holte tief Luft und stürzte sich ohne weiteres Zögern hinein. „Ich werde Sie heiraten, Sir.“
***
Anthea war kaum zur Haustür hinaus, als Rachel auch schon in das Arbeitszimmer ihres Vaters stürzte.
„Darf ich dir Glück wünschen, Papa?“, fragte sie sofort und nahm kein Blatt vor den Mund.
„Was in aller Welt meinst du damit, Rachel?“, fragte er.
„Wirst du Miss Halliwell heiraten oder nicht?“
„Hast du an der Tür gelauscht?“ Er war ziemlich verärgert.
„Nein, habe ich nicht“, korrigierte sie ihn. „Ich habe von der Treppe aus zugesehen, wie sie gegangen ist.“
„Wirklich, Rachel! Und wie kommst du darauf, dass ich Miss Halliwell heirate?“
„Nun, es ist absolut offensichtlich, dass du in sie verliebt bist“, verkündete seine scharfsinnige Tochter stolz.
Gideon spürte, wie seine Wangen trotz seiner Bemühungen wärmer wurden.
„Wie kommst du darauf?“, fragte er grob.
„Wenn du dein Gesicht gesehen hättest, als ich sie vorhin angekündigt habe, würdest du keine solche Frage stellen.“
Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, stützte den linken Ellbogen darauf und legte die Stirn auf seine Hand.
„Was soll ich mit dir machen, du freches Biest?“
„Vielleicht kann meine neue Stiefmutter mir die Zunge zügeln“, schlug sie frech vor.
„Das bezweifle ich“, murmelte er.
„Also wirst du sie heiraten!“ Sie ließ sich auf den Stuhl fallen, den Anthea gerade verlassen hatte. „Ich wusste ja nicht, dass du ein solcher Außenseiter bist, Papa, oder dass du eine heimliche Leidenschaft für eine herrlich ungeeignete junge Frau hegst.“
„Das tue ich nicht“, widersprach er ihr laut, als würde das die Wahrheit verdecken.
„Oh, ich mache dir nicht den geringsten Vorwurf“, fuhr Rachel leichthin fort. „Sie ist definitiv ein Diamant wie kein anderer – und du hast schließlich ein Auge für Edelsteine.“
„Das“, sagte er langsam und bedächtig, „wird eine Vernunftehe.“
Sie lachte ungläubig. „Oh, sicherlich ist es sehr praktisch für sie, einen reichen und angesehenen Mann zu heiraten – selbst wenn er Jude ist. Das Einzige, was du möglicherweise davon haben könntest, ist die Dame selbst. Aber ich vermute, dass du das ohnehin die ganze Zeit wolltest.“
„Und wenn es so wäre?“ Er ging in die Verteidigung, verärgert darüber, dass seine Tochter seine Gefühle so leicht entschlüsseln konnte. Er hoffte, dass Anthea weniger scharfsinnig war.
„Ich wünsche dir alles Glück der Welt, Papa.“ Plötzlich wurde sie ernst. „Wenn jemand Glück verdient, dann du. Ich weiß, dass du deine Ehe mit Mutter nicht selbst gewählt hast und dass ihr nie füreinander geeignet wart. Irgendwie glaube ich, dass Miss Halliwell dir tatsächlich das geben wird, was dir bisher verwehrt blieb.“
„Ich war vom ersten Augenblick an, als ich sie traf, bis über beide Ohren in sie verliebt“, gestand er schließlich. „Aber ich schäme mich, dass ich ihre derzeitige Situation auf diese Weise zu meinem eigenen Vorteil ausgenutzt habe. Ich verhalte mich wie ein egoistisches Schwein, das keinen Gedanken an ihre Gefühle verschwendet.“
„Unsinn.“ Seine pflichtbewusste Tochter tat dies mit einem lässigen Achselzucken ab. „Es ist der Traum jeder Frau, einen Ehemann zu haben, der ihr nicht nur jeden materiellen Komfort bieten kann, sondern auch die Leidenschaft, die sie bisher schmerzlich vermisst haben dürfte. Sie wäre eine Närrin, wenn sie nicht erkennt, wie glücklich sie werden kann. Und Miss Halliwell kommt mir wie eine sehr intelligente Frau vor.“
„Ich hoffe, dass du recht hast, meine Liebe.“
„Ich erwarte, innerhalb eines Jahres einen kleinen Bruder zu bekommen“, verlangte Rachel, woraufhin ihr Vater seinen Kopf in beide Hände legte und entschied, dass er Anthea noch mehr brauchte, als selbst er gedacht hatte.
KAPITEL DREI: EIN FLÜCHTLING AUS DEM EIGENEN HEIM
Den kurzen Weg zum Wohnsitz ihres Vaters bewältigte Anthea derart gedankenverloren, dass sie nicht einmal wusste, wie sie dorthin gekommen, oder ob sie auf der Straße an irgendjemandem vorbeigekommen war. Sie schaffte es, unbemerkt ins Haus zu schlüpfen und suchte Zuflucht in ihrem Schlafzimmer, während sie versuchte, mit all dem klarzukommen, was an diesem bedeutsamen Nachmittag geschehen war.
Sie würde Gideon Rodrigo heiraten! Mit einem einfachen ‚Ja‘ wären all ihre unmittelbaren Probleme gelöst. Die Heirat eines Juden wurde vielleicht von Personen höchster Ehrbarkeit missbilligt, doch sein großes Vermögen würde in den Augen vieler zweifellos eine Vielzahl gesellschaftlicher Sünden vertuschen. Schließlich war er durch und durch ein Gentleman. Es gab einen Altersunterschied – aber nicht so groß, dass er ein echtes Hindernis darstellte, insbesondere für eine Frau in ihrer Position: eine Frau von siebenundzwanzig Jahren, die bereits als alte Maid galt und deren Charme und Schönheit mit jedem Sommer weiter abnahmen.
Was sie jedoch wirklich dazu bewegt hatte, sein Angebot anzunehmen, war sein unerschütterliches Vertrauen in sie.
Er sagte, er habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie zu Unrecht angeklagt worden, und ihr Charakter tadellos sei. Allein aus diesem Grund wäre sie absolut fahrlässig, wenn sie ihn abweisen würde.
Schließlich fiel sie in einen angenehmen Schlummer, aus dem sie mehrere Stunden später durch ein Klopfen an ihrer Tür geweckt wurde, welches das Eindringen des Dienstmädchens Pamela mit der Nachricht ankündigte, dass Sir Harry zurückgekehrt war. Anthea machte sich sogleich zurecht, damit sie ihrem Vater die frohe Botschaft überbringen konnte.
***
Als sie ihr Zimmer verließ, fand sie ihren Vater bequem in einem der großen Sessel im Salon sitzen. In seiner Jugend war er ein gut aussehender Mann gewesen, obwohl Jahre der rücksichtslosen Selbstgefälligkeit vor langer Zeit begonnen hatten, an seinem einst so fein gemeißelten Gesicht zu nagen. Nach einem angenehmen Nachmittag mit Mrs. Pomfrit war er in rosiger Stimmung und ahnte nicht, welches Schicksal ihn sogleich ereilen würde.
Er begrüßte seine Tochter mit einem abfälligen Grunzen, ohne sich die Mühe zu machen, aufzustehen, und sie fragte sich, ob ihm ihr schäbiges grünes Kleid aufgefallen war – ein weiteres überholtes Überbleibsel ihrer jugendlichen Garderobe, einst schön und modisch, jetzt alt und verblichen. Wie sie selbst.
„Guten Abend, Vater“, sagte sie.
„Was ist los, Mädchen?“, fauchte er, wie immer unerklärlich verärgert mit ihr.
„Ich möchte dir mitteilen, dass ich dich bei deinem Umzug in die Avon Street nicht begleiten werde“, verkündete sie brüsk.
„Was meinst du damit?“ Er runzelte die Stirn. „Wenn du hierbleiben willst, würde ich gern wissen, wie du das bezahlen möchtest!“
„Ich bleibe nicht in der New King Street, Vater“, antwortete sie ruhig. „Nach meiner Hochzeit wohne ich in der Charles Street.“
„Heirat!“ Er starrte sie einen Moment lang an, bevor er von einem Lachanfall übermannt wurde, bei dem ihm die Tränen über die geröteten Wangen kullerten. „Du bist völlig durchgeknallt, Mädchen.“
„Nichtsdestotrotz werde ich Gideon Rodrigo heiraten.“
„Diesen Juden!“ Seine Augen verengten sich, als er schlagartig nüchtern wurde. „Was soll dieser Unsinn?“
„Mr. Rodrigo hat mir einen Heiratsantrag gemacht, und ich habe ihn angenommen.“
„Ich weiß nicht, ob du mich veräppeln willst, aber wenn nicht, dann sage ich dir Folgendes: Ich werde es nicht dulden! Keine Tochter von mir wird meinen Namen dadurch entehren, dass sie sich mit diesem Kreuziger verbündet.“
„Dieser plötzliche Anfall religiösen Eifers ist völlig unangebracht, Vater“, erwiderte seine kühl-köpfige Tochter. „Mr. Rodrigo ist ein getaufter Christ, der regelmäßig die Kirche von St. Swithin besucht – eine Tatsache, die dir vielleicht bekannt wäre, wenn du dieses Gebäude jemals mit deiner Anwesenheit beehrt hättest.“
„Einmal Jude, immer Jude“, war seine abfällige Antwort.
„Er wird dennoch bald dein Schwiegersohn sein.“
„Das verbiete ich dir aufs Schärfste!“, verkündete er in einer grässlich wütenden Stimme.
„Das kannst du nicht, Vater“, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich bin glücklicherweise über das Alter hinaus, in dem deine Zustimmung erforderlich war. Ich informiere dich lediglich darüber.“
„Lieber würde ich dich in der Hölle schmoren sehen!“, rief er wild und sprang dabei auf.
„Du wirst bestimmt bald dort sein.“ Sie sah ihm direkt in die Augen. „Es ist höchst unwahrscheinlich, dass mir in meiner Situation jemals ein anderes Angebot gemacht wird. Ich bin froh, dieses hier erhalten zu haben, und werde es nicht ablehnen, um deinen fehlgeleiteten Stolz zu befriedigen.“
Er ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder und sah sie düster an.
„Ich werde meinen Kopf nie wieder hochhalten können“, krächzte er.
„Das kannst du im Moment auch kaum“, entwich ihr kalt. „Du hast oft genug deine Sorge zum Ausdruck gebracht, dass du für den Rest deines Lebens mit einer alten Magd belastet sein würdest. Jetzt kann dieses düstere Schicksal vermieden werden. Du sollten einem Gentleman wie Mr. Rodrigo dafür dankbar sein.“
„Gentleman!“, schnaubte er verächtlich. „Ein heidnischer Kaufmann, dessen Hände durch unrechtmäßig erworbene Gewinne befleckt sind.“
„Musst du wie aus einem Gothic-Roman sprechen?“, fragte sie müde.
„Wenn du diesen Rodrigo heiratest, bist du nicht länger meine Tochter.“
„So sei es.“
Diese sorglose Haltung war zu viel für ihn. Der Kelch seines Zorns war jetzt voll und floss über sie.
„Wenn du dazu entschlossen bist, dann wasche ich meine Hände! Ich schlage vor, dass du dieses Haus heute Nacht verlässt und nie wieder meine Tür verdunkelst.“
Während er sprach, stand er auf und trat wütend vor. Er beendete seine Tirade, indem er sie am Oberarm packte und sie mit solcher Kraft aus dem Zimmer stieß, dass sie gegen die gegenüberliegende Wand fiel und sich gerade noch abhalten konnte, auf den Boden zu knallen.
„Also gut, Vater.“ Ihre Wut entsprach fast seiner eigenen. „Dein Wunsch soll in Erfüllung gehen. Auf Wiedersehen und möge Gott mehr Mitleid mit dir haben, als du deinem eigenen Fleisch und Blut erweist.“
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Innerhalb einer Stunde stapfte Anthea zum zweiten Mal an diesem Tag über den Bürgersteig in die Charles Street. Sie trug zwei Hutschachteln bei sich, die erbärmliche Summe ihrer weltlichen Besitztümer – oder eben so viele, wie sie für wert hielt, mitgenommen zu werden.
Es war jetzt fast dunkel, und sie spürte eine plötzliche Kälte, die nicht nur der kühlen Abendluft zuzuschreiben war. Erst heute Morgen hatte sie sich um ihre Zukunft gesorgt und sich gefragt, was sie tun würde, wenn Gideon Rodrigo sich weigerte, ihr zu helfen. Jetzt, da sie sein unerwartetes Angebot angenommen hatte, war sie sich einer neuen Angst bewusst. Was würde aus ihr werden? Wie würde es sein, die Frau eines solchen Mannes zu sein?
Sie machte sich keine Sorgen darüber, was die Leute sagen würden: Im Laufe der Jahre war schon zu viel über sie getuschelt worden, als dass sie sich noch um solche Dinge hätte kümmern können. Aber warum empfand sie eine so seltsame Mischung aus Besorgnis und Aufregung? Warum raste ihr Puls jedes Mal, wenn sie Rodrigos Blick begegnete, und warum wurde ihr so herrlich schwindelig, wenn er sie berührte?
Sollte sie sich umdrehen und weglaufen? War der gut aussehende Herr ein Ritter in glänzender Rüstung oder der verkleidete Teufel? War sie verrückt, auch nur über den verzweifelten Schritt nachzudenken, den sie unternehmen wollte? Ihre Gedanken kreisten unerträglich, bis sie schließlich erneut vor seiner Tür stand. Wieder wurde sie von der streng dreinblickenden Mrs. Norton begrüßt.
„Guten Abend. Dürfte ich hereinkommen?“, fragte sie, als wäre sie zum Nachmittagstee da.
„Das wäre wohl besser, Miss“, antwortete die Haushälterin, öffnete die Tür weiter und musterte sie mit etwas mehr Mitgefühl als zuvor.