Leseprobe Tod im Teeladen

Kapitel Eins

Snugford, einige Tage zuvor

Hinterm Wald ging die Sonne auf, strahlend schön und die ersten Knospen an den Bäumen und Sträuchern wach küssend, was Snugford jedoch nicht daran hinderte, einfach weiterzuschlafen. Der Tag begann hier für alle frühestens um acht, weil es schlichtweg eine Verschwendung gewesen wäre, früher aufzustehen. Es gab nichts zu erleben und im Morgengrauen noch weniger. Das englische Provinzdörfchen verfügte nicht einmal über einen Hahn, der die Bewohner zu früher Stunde geweckt hätte.

Maggie Rosenburn benötigte allerdings keinen solchen. Sie erwachte jeden Morgen mit den Sonnenstrahlen und fühlte sich auf der Stelle hellwach. Man konnte kein Bed & Breakfast führen, wenn man gleichzeitig mit den Gästen aufstand, mochten es noch so wenige sein.

Maggie schwang ihre alternden Knochen aus dem Bett, lüftete ihr Dachzimmer, machte das Bett, das sie seit einem Jahrzehnt nicht mehr mit ihrem guten Albert teilen durfte, Gott sei seiner Seele gnädig, und dankte ihm dafür, dass er zu Lebzeiten so tüchtig gewesen war. Ohne ihn wäre sie nicht im Besitz dieses herrlichen alten Landhauses, in dem sie das tun konnte, wonach ihr schon immer der Sinn gestanden hatte: sich um andere Menschen zu kümmern und ihnen eine erholsame Zeit in Snugford zu ermöglichen. Wer in ihrem B&B abstieg, wurde mit allem verwöhnt, was eine gute Bleibe zu bieten hatte: lichtdurchflutete Zimmer, herrliches englisches Frühstück, stets pünktlichen Nachmittagstee und jede Menge guter Unterhaltung. Letztere genoss sie selbst mehr als ihre Gäste. Geschichten zu hören und zu erzählen, war etwas Wunderbares.

Maggie hatte mit ihren vierundsechzig Jahren so einiges erlebt, obwohl sie im langweiligsten Dörfchen Englands wohnte. Aber wer seine Nase gerne in anderer Leute Angelegenheiten steckte, bekam auch entsprechend viel mit. Und Maggies zuweilen etwas spröde Art, sich in dies und jenes einzumischen, nahm ihr im Grunde niemand übel. Dafür war ihr B&B eine zu große Bereicherung für die Dorfgemeinschaft. Allein äußerlich war es das definitiv attraktivste Haus des gesamten Ortes. Es sah wie ein typisches englisches Cottage aus einem Katalog aus und bestach mit seinen alten Backsteinen, über die sich immergrüne Kletterpflanzen schlängelten. Die großen Sprossenfenster durchfluteten die Innenräume mit Sonnenlicht, und selbst wenn es die meiste Zeit im Jahr trüb war, herrschte in Maggies Gedanken immer Sommer, dachte sie an ihr Haus.

Ihre gute Freundin Liv hatte sich überdies um die Zucht schönster englischer Rosen für das Exterieur bemüht und der Rasen wurde regelmäßig vom jüngsten Sohn des Bürgermeisters gemäht, der in der Vollpubertät und entsprechend gelaunt war, aber gute Dienste leistete. Er ließ Maggie die Gänseblümchen stehen und rasierte nicht alles bis auf die Wurzeln nieder. Für seine Arbeit entlohnte ihn Maggie besser als mit dem Herrn Papa vereinbart. Womit alle Parteien hochzufrieden waren.

Ein dieser Art zufriedenes Lächeln schenkte Maggie nun ihrem Spiegelbild und steckte sich mit geschickten Händen ihr langes graubraunes Haar zu einem Landhausdutt nach oben. Anschließend verließ sie das Dachzimmer. Routinierten Schrittes ging sie die achtunddreißig Stufen hinunter zur Küche, um als allererstes Teewasser aufzusetzen.

Pünktlich um 07:45 Uhr hörte sie, dass der Schlüssel im Eingangsschloss herumgedreht wurde, und das „Guten Morgen“ ihrer Freundin Liv Oldstep wehte zu ihr in die Küche, in der sie bereits Rührei und Speck briet. Es trieb ein Schmunzeln auf ihr Gesicht, machte ihr Herz froh, glücklich und jung wie das der ewigen Zwanzigjährigen, die mit ihrer besten Freundin die Welt zu erobern gedachte. Mochten ihre Körper mittlerweile in die Jahre gekommen sein, im Geist fühlten sich die beiden wie neugeboren und würden es noch lange bleiben. Das war abgemacht.

Es gab nicht viele Dinge in ihrem Leben, die sie nicht geteilt hatten. Vielleicht ihre Männer und die ein oder andere berufliche Erfahrung. Wobei die nun wieder ein und dieselbe war, nachdem sich Liv in die Rente entlassen hatte – nach dem Tod ihres Mannes und wegen ihres Bandscheibenvorfalls, der halb so schlimm, aber zweckdienlich gewesen war. So führten sie Maggies B&B seit Jahr und Tag zu zweit und boten ein unschlagbares Team. Wer wollte in seinem Urlaub nicht von zwei toughen Ladys verwöhnt werden?

Liv kam in die Küche geplatzt, wie immer bester Laune, und fing sofort an, sich eine Küchenschürze umbindend, Maggie von ihrem aufregenden Opernbesuch am Abend zuvor zu erzählen.

„… und ich dachte noch, Himmel, wenn du nicht aufpasst, vernascht er dich wie einen Früchtekuchen und noch vor Ende des dritten Akts!“

„Was du tunlichst vermieden haben wirst, möchte ich annehmen“, sagte Maggie und grinste.

„Selbstverständlich, der Bursche war mit seiner Frau im Konzert. Ich bin ja vieles, aber keine Ehebrecherin!“

„Tja. Das hört sich an, als sei Figaros Hochzeit in der Pause noch spannender gewesen als im Opernsaal“, merkte Maggie an und überließ es Liv, das Rührei zu vollenden, um die Brötchen in den Ofen zu schieben.

Liv kicherte wie eine Teenagerin mit der Erfahrung einer Greisin. Maggie hatte in ihrem Leben allein einen einzigen Mann an ihrer Seite gehabt, Liv hingegen war viermal verheiratet gewesen, dreimal geschieden und einmal verwitwet, und blickte auf eine stolze Anzahl von Liebschaften zurück, auf die sie bis heute nicht verzichtete.

„Wieso sollte ich das Flirten lassen, wo es weiterhin gelingt? Eine exquisite Übung für das Ego“, pflegte sie zu sagen und hatte nicht unrecht, ihr Ego erfreute sich bester Gesundheit.

Liv ließ das Rührei schwungvoll tanzen und erwiderte: „Sagen wir, es war durchaus ein Abenteuer, diesem falschen Gentleman eine Abfuhr zu erteilen, ohne dass seine Gattin Wind davon bekam.“

Sie blies sich eine blondierte Strähne aus den hellblauen Augen. Anders als ihre Freundin wehrte sie sich vehement gegen das Ergrauen des Alters und trug grundsätzlich auffälligen Lippenstift. Ihre Röcke waren kürzer und enger als die Maggies, ihr Parfüm gewollter, obschon nicht aufdringlich. Sie besaß Klasse und das nicht nur rein äußerlich. Kein Wunder, dass ihr die Herren immer noch nachrannten.

„Das geschieht, lasse ich dich einmal unbeaufsichtigt in die Oper gehen.“

Maggie seufzte, wobei sie wusste, dass sich Liv selbst in Begleitung ihrer Freundin von nichts abhalten ließ. Während sich Maggie darüber amüsierte, schämte sich Livs Familie zuweilen für sie. Sie sei ja keine sechzehn mehr! Auch das amüsierte Maggie. Wie sich ihre Freundin einfach um nichts scherte, was andere dachten oder ihr rieten. Niemand, und seien es ihre engsten Verwandten, konnte dieser Frau Vorschriften machen. Schon gar nicht, wenn es um ihr Äußeres ging. Eigentlich in überhaupt keinem Punkt, denn den Mund ließ sich Liv nie verbieten, eine Eigenschaft, die sie mit Maggie teilte. Im Grunde kannte Maggie keine klügere Frau als Liv, weder in Snugford noch in irgendeiner anderen Ortschaft, und sie war stolz darauf, sie ihre Freundin nennen zu dürfen.

„Meine Liebe, ich bin völlig unschuldig an dem Debakel gewesen und zu keiner Zeit habe ich ihn ermutigt.“

„Allein dein Lippenstift ist die pure Ermutigung“, antwortete Maggie.

Ihr neckisches Gespräch fand ein Ende, als es direkt über ihnen im ersten Stock einen vernehmlichen Rumms gab, unter dem sie leicht zusammenzuckten. Die beiden Damen tauschten einen Blick, dem ein Grinsen folgte.

„Ah, der Detective Chief Inspector ist erwacht“, raunte Liv und beide fingen an zu glucksen, die Vorstellung teilend, er sei beim Versuch aufzustehen aus dem Bett geplumpst.

Alles andere als abwegig, war er immerhin nicht nur mit zwei linken Händen und Füßen ausgestattet, sondern obendrein mit einem Hirn so vollgestopft mit verworrenen Gedanken, dass er nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand.

Jay Jameson – der klangästhetische Sinn seiner Eltern für Namen war wirklich bemerkenswert – war mit dem Jahresbeginn nach Snugford und direkt in ihr B&B geschneit, um sich für die Stelle des Detective Chief Inspectors zu bewerben. Er machte keinen Hehl daraus, dass er nicht eine Sekunde an seine Einstellung glaubte. Als er von seinem Bewerbungsgespräch zurückkehrte, sah er dermaßen bedröppelt aus, dass sich Maggie und Liv gewiss waren, ihm Lebwohl sagen zu müssen. Was sie bedauerten, denn er war ein so liebenswürdiger Schussel, dass man ihn einfach mögen musste. Einen Detective Chief Inspector gab er nicht im Traum, zu Fasching oder in einer verkehrten Welt ab. Schwer zu sagen, wer von ihnen am überraschtesten darüber war, als er ihnen mitteilte, er habe die Stelle. Vermutlich er selbst. Jedenfalls verlängerte er deshalb seinen Aufenthalt im B&B, bis er eine angemessene Bleibe gefunden hatte.

Mittlerweile war es Ende März und er wohnte immer noch im Zimmer im ersten Stock. Nicht weil die Wohnungssuche in Snugford so schwierig gewesen wäre oder er vor lauter Arbeit nicht dazu kam, sondern weil er offensichtlich ein Problem mit seiner Selbstorganisation hatte. Er dachte zu viel und handelte zu wenig, lebte in den Tag hinein, ohne zu merken, dass es längst Nacht geworden war. Ab und an entdeckte man ihn in der Gegend stehend und sinnierend zum Himmel blickend, ehe er weiterging, um in Lady Mortimers Hundehaufen zu laufen.

Lady Mortimer war die Bulldogge der echten Lady Mortimer und hatte ein Problem mit ihrem Schließmuskel, während ihr Frauchen ein Problem mit den Augen hatte und deshalb das gesamte Dorf ständig Hundekot an den Schuhen. Allen voran Detective Chief Inspector Jay Jameson, denn der hatte bekanntlich ein Problem mit seiner Aufmerksamkeit.

Was sich an diesem Morgen bestätigte, als er nach seinem geräuschvollen Erwachen die Treppe herunterpolterte und wie immer bei ihnen in der Küche landete, obwohl es ein Frühstückszimmer gab, in dem es sich die Gäste gemütlich machen konnten. Aber Jay Jameson befand sich die meiste Zeit seines Lebens in einer anderen Welt. In der es sich gehörte, den Damen, bei denen er wohnte, beim Zubereiten des Frühstücks zu helfen, um schließlich mit ihnen zusammen zu essen. Dass er sich dabei wie ein Elefant im Porzellanladen verhielt, war ihm nicht bewusst und konnte ihm nicht übel genommen werden. Wer liebte Elefanten nicht? Maggie Rosenburn und Liv Oldstep jedenfalls unbedingt, und daher akzeptierten sie ihn in ihrer Küche. Groß genug für sie drei war sie ja. Man musste bloß rechtzeitig das gute Geschirr in Sicherheit bringen und ihn um Himmels willen nicht in die Nähe der Kaffeemaschine lassen. Eine Marotte hatte der Gute: Er trank zum Frühstück grundsätzlich Kaffee, zu allen anderen Mahlzeiten Tee, allerdings lediglich um siebzehn Uhr mit Zucker.

„Ah, guten Morgen allerseits“, begrüßte er sie mit seinem freundlichen Lächeln, dem eine minimale Abwesenheit eigen war, als befände sich ein Teil seines Geistes in anderen Sphären.

Er war Ende dreißig und nicht besonders groß. Den Besuch eines Friseurs schob er ebenso vor sich hin wie die Wohnungssuche. Sein braunes Haar reichte ihm bald bis zu den Schultern, kannte weder Schnitt noch Kamm und der Bart war definitiv älter als drei Tage. Maggie juckte es in den Fingern, sich beiden demnächst anzunehmen. Es mochte seinen Charme haben, wirklich ernstnehmen konnte man einen solchen Hippie als Detective Chief Inspector nicht. Von Respekt ganz zu schweigen, der jedem Verbrecher abhandenkommen dürfte, sobald Jay Jameson ihn mit diesem niedlichen Grübchenlächeln und den großen haselnussbraunen Augen ansah. Die Stimme war weich und sanft, viel zu nett für einen Mann, der im Notfall durchgreifen musste. Was zum Glück nie passierte. Snugford machte keinen Ärger. Nie.

„Wunderbares Wetter, nicht wahr? Ich habe … huch!“

Er verfehlte beim Hinsetzen knapp den Küchenstuhl, weil er gleichzeitig aus dem Fenster sah, und fing sich gerade noch rechtzeitig. Der Stuhl machte ein knarzendes Geräusch, als der Detective Chief Inspector damit über die Fliesen rutschte und schließlich gegen das Tischbein stieß, was wiederum den Tisch zum Beben und die Milch in der Karaffe in Bedrängnis brachte. Maggie und Liv warfen einander einen erleichterten Blick zu, als sie sich nicht über die gesamte Tischplatte ergoss.

„Ich habe selten einen so schönen März erlebt. Ist das in Snugford immer so?“

„Bestimmt nicht, Sie haben Glück, mein Lieber. Für gewöhnlich ist es im März noch äußerst trüb und regnerisch.“

Maggie legte ihm die Hand auf die Schulter, ehe er sich wieder erheben konnte, um zur Kaffeemaschine zu stolpern. Solange er saß, stellte er weit weniger an. Unterdessen beeilte sich Liv, ihm seine Tasse zu servieren.

„Da habe ich tatsächlich Glück, denn ich scheine meine regenfesten Schuhe in London gelassen zu haben. Zu dumm, die werden meine Nachmieter bestimmt entsorgt haben …“

„Ach iwo, die stehen draußen im Schuhschrank. Ich habe mir erlaubt, sie einzuräumen, sie standen so verloren herum.“

Unaufgeräumt herum, hätte Maggie auch sagen können, aber seine Niedlichkeit hielt sie davon ab.

Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, war sie sich sicher gewesen, einem Frauenhelden gegenüberzustehen, weil er durchaus attraktiv war und aus Livs Sicht sogar ein echter Hingucker. Kaum hatte er den Mund geöffnet, verflüchtigte sich dieser Gedanke, und ihn einmal durch einen Raum tappen zu sehen, vertrieb ihn erst recht. Eigentlich konnte man die meiste Zeit nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, hielt man sich in seiner Gegenwart auf. Er konnte von Glück reden, dass er eine so vorzügliche Erziehung genossen hatte.

„Ach, das ist ja über alle Maßen entgegenkommend von Ihnen, vielen herzlichen Dank, Mrs Maggie.“

Sie erwiderte sein Lächeln und verzieh ihm wie immer, während sich Liv ein Lachen verkniff, weil sie fand, dass er schwülstiger sprach als sie, und er war beinah zwanzig Jahre jünger.

„Was macht das Arbeitsleben, Detective Chief Inspector?“, erkundigte sich Maggie.

Die beiden Freundinnen tischten Speck und Eier auf und Maggie stellte das Salz dabei möglichst so, dass er es nicht umwerfen konnte.

Er lachte, murmelte in seine Bartstoppeln, sie möge ihn nicht so nennen, und erklärte etwas deutlicher: „Nun, ich gehe einige alte Akten durch, arbeite mich ins Büro ein und all solchen Kram. Nichts Spannendes, tut mir leid.“

Er kannte sie gut, das musste man ihm lassen. Trotz des Chaos in seinem Kopf hatte er sehr schnell begriffen, wie neugierig sie war und dass sich ihretwegen gerne mal etwas Aufregendes in Snugford ereignen dürfte.

„Ach herrje, das klingt in der Tat sterbenslangweilig. Wie lange sitzen Sie jetzt schon an diesen alten Akten?“

„Seit ich den Dienst angetreten habe, würde ich sagen. Ich bin bald damit durch und …“

„… dann wäre es wünschenswert, es würde mal etwas passieren, das Sie aus diesem muffigen Loch rettet, das Sie Präsidium nennen, was?“

Er lächelte höflich, teilte ihre Meinung nicht. „Etwas Ruhe ist durchaus in Ordnung, denke ich, Morde sind ja nichts, was man sich wünscht, und sonstige Unfälle meist ebenso unschön. Es geschehen häufig genug Unerfreulichkeiten, seien wir froh, dass Snugford ein friedlicher Ort ist. Früher oder später sehen wir einem Verbrechen ins Gesicht und ich hoffe, es wird eher später werden.“ Er lehnte sich zurück, wobei er zu viel Schwung nahm und sich an der Tischplatte festhalten musste, um nicht nach hinten wegzukippen. Er hustete. „Wie arm sind die, die nicht Geduld besitzen“, fügte er hinzu, um dem linkischen Gestus nicht zu viel Gewicht einzuräumen und das Gespräch einfach weiterzuführen.

Liv runzelte die Stirn. Maggie seufzte innerlich. Der Kerl brachte es noch fertig, dass sie ihre Shakespeare-Werke im Kamin verbrannte, weil sie nichts mehr davon hören konnte.

„Woraus ist das nun wieder?“

„Othello, zweiter Akt, dritte Szene“, klärte er Liv auf.

Himmel, da kannte jemand seinen Shakespeare in- und auswendig. Dass er sie nicht mit der Zeilenangabe beglückte, wunderte Maggie schwer.

„Ach, Othello.“ Liv rümpfte die Nase. „Habe ich nie gelesen. Viel zu depressiv und ungerecht.“

„Da stimme ich Ihnen zu, wenngleich ich es außerdem spannend finde, oder nicht? Wie man einen guten Mann dazu verleiten kann, ein schreckliches Verbrechen zu begehen.“

„Wer ein Verbrechen begehen kann, ist kein guter Mann.“ Liv war in diesem Punkt konsequent, vertrat die Meinung, dass ein Mensch immer die Wahl hatte, sich gegen das Abgrundtiefe zu entscheiden. Mit den allgemeinen Regeln und Normen des Lebens nahm sie es nicht so ernst und verzieh den Menschen gerne, aber bei Mord hörte ihr Verständnis auf. Wer mordete, hatte die eine Grenze überschritten, die es im Leben gab.

„Sind Sie sicher?“

Die Frage hörte sich naiv an. Nicht so, als würde er sie dazu auffordern, ihre Ansicht noch einmal zu überdenken, sondern, als würde er seine neu definieren. Seine Stirn lag in tiefen Falten. Sein Blick bereiste ferne Welten.

Maggie übernahm es, ihn davon abzuhalten, zu weit von seinen Anschauungen abzudriften. „Das möchte ich stark bezweifeln, meine Liebe. Jeder Mensch kommt einmal an einen Punkt, an dem ihm die Gefühle den Blick vernebeln, und dann die richtige Entscheidung zu treffen, ist gewiss nicht leicht.“

Liv rollte mit den Augen und blieb dabei: „Ich bin überzeugt, gute Menschen besitzen einen inneren Sicherheitsgurt, der sie von einem Mord abhält.“

Jay Jameson sah sie mit tief gefurchter Stirn an, ein amüsanter Anblick, und dachte darüber nach.

„So sollten wir hoffen, dass wir Snugforder alle über diesen Sicherheitsgurt verfügen, was, Detective Chief Inspector?“

Er lächelte Maggie vergeistigt zu, immer noch abwägend, ob Livs Behauptung Hand und Fuß haben könnte. Was bestimmt noch eine beträchtliche Weile dauerte und das Gespräch somit beendete.

***

Sie verließen gut eine Stunde später gemeinsam das Haus und trennten sich auf Höhe des alten Marktplatzes, wo die Damen frisches Suppengrün für das Mittagessen besorgen wollten, während sich Jay Jameson Richtung Präsidium aufmachte.

Erst, als er im Grunde bereits durch die Tür desselben verschwunden war, fiel Maggie auf, dass er zwei unterschiedliche Socken trug. Einer davon sonnengelb. Sie schüttelte den Kopf.

„In einem Punkt stimme ich ihm zu.“ Liv sah ihm mit vorgeschobenen Lippen hinterher. Die farbliche Missübereinstimmung seiner Strümpfe realisierte sie wie Maggie zu spät. „Wir können mehr als froh sein, dass Snugford so ein friedlicher Ort ist.“

Sie nickte Lady Mortimer zu, die mit ihrer Dogge gerade ihren Weg kreuzte. „Guten Tag.“ Die Lady und ihr Haustier wurden einander von Tag zu Tag ähnlicher – da waren sich alle Dorfbewohner einig und doch jeder zu freundlich, um den Gedanken laut auszusprechen.

„Guten Tag, die Damen. Wundervolles Wetter, nicht wahr?“

Liv blieb stehen und zwang damit automatisch Maggie ebenfalls dazu.

„Ja, ein herrlicher März.“

Womit die Konversation endete, weil Lady Mortimers Dogge gerade ihr Häufchen legte und sich die Lady entsprechend echauffierte.

„Was ich sagen wollte“, fing Liv neu an, während sie sich in Richtung Marktplatz bewegten, von dem gerade der örtliche Postbote auf seinem Fahrrad nahte.

„Guten Morgen, meine Damen“, rief er zu ihnen herüber. Robbie Nelson war als Frohnatur bekannt und lieferte obendrein niemals zu spät. Das akademische Viertel hielt er penibel ein, nur eben andersrum.

„Ja, ein wahrlich schöner Morgen, und danke gleichfalls, haben Sie einen guten Tag.“ Liv winkte ihm nach und fuhr fort: „Ginge es in Snugford so kriminell zu wie im alten London, könnten wir mit ihm einpacken.“ Sie bemerkte den mit großen Schritten vom Teeladen auf sie zukommenden Gemeindepriester und schenkte ihm zur Begrüßung ein Lächeln: „Guten Tag, Father Custom, und …“

„Ja, ja, das Wetter ist heute blendend“, fuhr Maggie dazwischen, ehe der Father hätte reagieren können, und blieb stehen. „Allein, weil es hier kein anderes Gesprächsthema als das verfluchte Wetter gibt, muss man sich ein Verbrechen beinah wünschen.“

„Hör auf zu fluchen“, sagte Liv, während sie mit gerunzelter Stirn dem grimmig dreinschauenden Dorfpfarrer hinterherblickte. Der sonst so wohlwollende Father Custom schien sie überhaupt nicht wahrgenommen zu haben und stapfte einfach weiter. „Was ist denn mit dem los? Hat er dich fluchen gehört?“

„Sieht nicht so aus. Außerdem ist so heilig nicht mal der, dass ihn mein kleiner Fluch stören könnte“, sagte Maggie. „Man kann hier ja vor lauter Liebenswürdigkeit keine Unterhaltung mehr führen. Und um auf diese zurückzukommen: Was heißt zum Glück? Ich hätte nichts gegen ein bisschen mehr Schwung in diesem Nest.“

Nahe dem Dorfplatz hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt, beziehungsweise artig in eine Schlange eingereiht, die zu Lyla Blooms neuem Teegeschäft führte.

Lyla war vor etwa einem halben Jahr in Snugford angekommen, um das alte Teehäusle ihrer verstorbenen Tante zu übernehmen. Wobei „revolutionieren“ der geeignetere Begriff sein dürfte. Sie begeisterte die Bewohner mit ihrem neuartigen Teerepertoire. Was die lange Schlange erklärte. Schon nach kürzester Zeit war der Lieblingstee der meisten Snugforder, der gute alte Earl Grey, in Vergessenheit geraten und stattdessen ersetzt worden durch allerlei interessante Sorten, deren Namen sich kein Mensch merken konnte. Was nichts daran änderte, dass er mit Begeisterung konsumiert wurde. Sogar noch vor Ort! Maggie entdeckte Lady Macsims, die genüsslich an ihrem Tee nippte und den beiden Damen zunickte, als diese vorüberschlenderten. Obwohl Maggie am liebsten in ihrem gemütlichen B&B saß, statt hier in der frischen Brise Tee zu trinken, konnte sie nicht bestreiten, dass dieser überdachte Außenbereich des Teeladens einen gewissen Charme hatte und sich die geblümten Sitzkissen hervorragend zu den Stühlchen machten.

„Och, ich weiß nicht, die kleine Bloom bringt meiner Ansicht nach einigen Schwung in dieses Dorf. Sie hat innerhalb von wenigen Monaten mehr reißerische Teesorten erfunden, als wir Teetassen im Schrank haben.“ Liv schaute in die Richtung der Schlange stehenden Einwohner. „Ihr werdet noch beste Freundinnen, Maggie.“

Es war kein Geheimnis, dass Maggie bis zu vier Kannen Tee am Tag trinken konnte und nichts gegen neue Kreationen einzuwenden hatte.

„Sie ist ein bisschen zu jung dafür und außerdem habe ich ja eine beste Freundin, die mir genug Arbeit macht.“ Maggie hakte sich bei Liv ein und bugsierte sie von Lylas Teeladen fort zu den Marktständen. „Es bleibt dabei, wenn Lyla Blooms Tee die einzige Aufregung hier ist, verkalke ich schneller als mein Wasserkocher.“

Im Vergleich zum Ansturm auf das Teegeschäft war die Schlange am Gemüsestand überschaubar, was für die Freundinnen angesichts des Grünzeugs, das Thelma Ericson ihnen an diesem Tag anzubieten hatte, kein Wunder war. Frisch sah anders aus.

„Schau nicht so grimmig, Maggie.“ Die alte Thelma, die jünger als sie alle war, sich aber seit dreißig Jahren wie eine Greisin verhielt, zog eine Grimasse. „Ich kann nichts dafür, dass mein Kohl vor sich hin schrumpelt. Es liegt an diesem verfluchten Wetter.“

Maggie und Liv sahen sie mit hochgezogenen Brauen an.

„Kein Tropfen Regen seit über zwei Wochen. Das geht nicht mit rechten Dingen zu.“

„Da haben wir es, das Wetter schon wieder.“ Maggie grummelte in ihr Halstuch, während Liv den Faden aufnahm.

„Keine Sorge, es regnet früh genug wieder. Bis dahin nehmen wir auch mit Schrumpelkohl vorlieb. Ist er mal im Topf, blüht ihm dieses Schicksal so oder so.“

Maggie verspürte nicht das Bedürfnis, dem zu widersprechen, obzwar sie lieber auf ihn verzichtet hätte.

„Meine Rede“, bestätigte Thelma, schlagartig wieder besser gestimmt, „bei mir kommt er heute in meine altbewährte Mockturtle Soup. Ich habe Charles losgeschickt, um mir einen halben Kalbskopf zu besorgen.“ Sie zögerte einen Wimpernschlag lang, ehe sie sich nach vorn neigte und ihnen über die Gemüsekörbe hinweg zuraunte: „Ich habe den Verdacht, dass er mir etwas verheimlicht.“ Sie nickte gewichtig.

„Ach, was?“ Maggie war im Nu hellhörig. Geheimnisse kamen ihr immer gelegen.

„Ja, seit ein paar Wochen verkrümelt er sich jeden Samstag um die Mittagszeit und kommt immer erst, wenn das Essen längst kalt ist.“

Liv schlug eine Hand vor den Mund. Maggie verzog keine Miene. „Er wird doch keine Affäre haben?“, wisperte Liv.

Maggie schnalzte mit der Zunge. „Höchstens mit dem Mittagstisch im English Prince“, erklärte sie gelangweilt. „Da sitzt er um diese Zeit und verdrückt sein Steak. Vielleicht solltest du mal über deine altbewährte Samstagskost nachdenken.“

Liv und die alte Thelma starrten sie an. Keine Frage, Maggie hatte ihre Augen und Ohren überall und war ein besserer Spürhund als ihr Detective Chief Inspector persönlich.

Mit dieser Enthüllung unschöner Wahrheiten verabschiedeten sich Liv und Maggie von der alten Thelma und schlenderten über das Backsteinpflaster davon. Die Turmuhr der zentral gelegenen St. Luke's Church schlug zehn vernehmliche Male, ehe sich das Dorf wieder in Schläfrigkeit bettete. Die wenigen Menschen, die unterwegs waren, taten dies gemächlich und ohne Eile. Manchmal fand Maggie, dass Snugford irgendwo im Mittelalter stecken geblieben war. Betrachtete man die Dorfkirche, bestätigte sich dieser Gedanke. Sie stellte den Siedlungskern Snugfords dar und war aus rötlichbraunen Quadersteinen erbaut. Ihr Kirchturm besaß ein eigenes Fundament und enthielt in seinem unteren Teil die Apsis. Er sah hübsch aus und kennzeichnete Snugford bereits auf einige Entfernung. Rein äußerlich war die Kirche der Romanik entlehnt. Erst im Innern machte sich der verspieltere gotische Stil bemerkbar, dem es nicht an Vergoldungen und Ornamenten fehlte. Das war das Mittelalterlichste an Snugford. Oder das Irischste, aber das hörte niemand gern.

In Snugford herrschte nahezu strenger Katholizismus. In der Realität war das tatsächlich dem irischen Einschlag des Dorfes zu verdanken. Snugford befand sich in der Grafschaft Cumbria im Nordwesten Englands und war dereinst von einem Iren gegründet worden. Das machte es zu einem bis heute von seinen Landsleuten ab und an frequentierten Ort. Für die überzeugten Briten, die die Snugforder waren, verhielt sich ihre Heimat schlicht und ergreifend in Fragen des Glaubens mittelalterlich. Folglich nicht anglikanisch. Gleichzeitig aufgeklärt und bestimmt nicht rückständig. Niemals. Fragte man Maggie, war das Ganze Firlefanz. Ob katholisch, protestantisch oder anglikanisch, Snugford war eben tiefgläubig und die Sonntagspredigten von Father Custom das Highlight eines jeden Wochenendes. Für die einen, weil sie in dieser Stunde endlich mal gepflegt schlafen konnten, für die anderen, weil er eben noch so wundervoll salbungsvoll sprach wie die Prediger vor Hunderten von Jahren. Liv fand seine Stimme erotisch, Maggie mochte sie am liebsten, wenn sie langsam verklang. Trotzdem pflegte sie ein gutes Verhältnis zu ihm, erkennbar an ihrer Kollekte, wofür er sich erkenntlich zeigte, indem er stets ihr B&B anpries und weiterempfahl.

Maggies persönliches Highlight an Sonntagen blieb der Organist, der eigentlich Gitarrist war, und es verstand, peppig zu spielen.

So viel zur Kirche. Ein wichtiges Thema für die Bewohner, ein eher langweiliges für Maggie, obwohl sie an Gott glaubte und so weiter. Sie sparte ihn sich lediglich für abendliche Gebete und den Sonntag auf. Im Alltag gab sie Fakten den Vorrang. Einer dieser Fakten war zum Beispiel, dass Snugford verdammt noch mal etwas unternehmen musste, um nicht demnächst in Snoreford umgetauft zu werden, so verschnarcht, wie es war! Es bestand vornehmlich aus Grau- und Brauntönen, die Häuser standen in Reih und Glied, waren ersetzbar und langweilig. Einzig durch die grünen Felder und Spazierwege rundumher wurde ihre Heimat aufgewertet.

Früher hatte es Maggie nicht gekümmert, neuerdings kribbelte es sie in den Fingern, zappelten ihre Zehen und juckten ihre Ohren bei der Vorstellung, jeder Tag ihres restlichen Lebens ginge auf dieselbe Weise weiter. Sie konnte von Glück reden, dass sie ihr abwechslungsreiches B&B besaß. Was ohne ihren Albert nicht möglich gewesen wäre. Von ihrem mickrigen Krankenschwesterngehalt hätte sie sich das nie leisten können und fühlte sich jeden Tag dankbar, dass sie damals dem attraktiven Oberarzt vorgestellt worden war, der ihr Leben auf jede erdenkliche Weise versüßt hatte. Etwas, das dieser Tage Liv übernahm, indem sie Maggie zu einem Einkaufsbummel überredete, bei dem sie sich mal wieder richtig was gönnen wollten. Auch wenn das primär auf Liv zutraf (sie würde am Ende des Vormittags gewiss drei Hüte mehr besitzen), so genoss Maggie derlei Ausflüge. Liv verstand es, einen mit ihrer frischen Art zu zerstreuen. Und ganz ehrlich: Was hatten sie schon Besseres vor?

Als sie sich zwei Stunden später mit etlichen Einkaufstüten auf den Heimweg zum B&B machten, kamen sie an Lylas Teeladen vorüber. Die lange Schlange vor dem Geschäft hatte sich aufgelöst. Das galt es auszunutzen, daher schlug Maggie Liv vor: „Sollen wir auf einen Abstecher bei Lyla Bloom vorbei? Dann haben wir für unsere Teegesellschaft heute Nachmittag nur das Beste anzubieten.“

„Warum nicht?“, erwiderte diese und deutete grinsend hinter sich. In der Ferne trat eine ihnen wohlbekannte Gestalt aus der Polizeistation und sah beinah so aus, als wollte sie den Teeladen ansteuern. „Sieh mal, unser Detective Chief Inspector will sich gleichfalls ein Tässchen genehmigen.“

Kapitel Zwei

Mittagspausen waren eine überaus feine Sache. Vor allem, wenn sich ein Traum erfüllte, den man sich unbedachterweise in den Kopf gesetzt hatte. Jay Jameson blickte mit seinen neununddreißig Jahren auf einen abwechslungsreichen beruflichen Werdegang zurück.

Er hatte seine Eltern früh verloren, den Vater durch einen Unfall, die Mutter, weil sie ohne diesen nicht mehr leben konnte. Jays Vermögen, als Sechzehnjähriger ohne beide auszukommen, war geleitet gewesen von der Suche nach dem, was zu ihm passte, was ihm eine neue Familie sein könnte. Oder ein neuer Lebensinhalt. Entsprechend war er viel herumgekommen. Vom Taxifahrer zum Tellerwäscher, ob Liftboy oder Zeitungsbote, die Liste seiner Odysseen war lang und sie alle waren lehrreich gewesen. Am wohlsten hatte er sich unter den fahrenden Schauspielern gefühlt, die ihm gezeigt hatten, wie enorm vielschichtig die menschliche Gefühlswelt sein konnte. Er für seinen Teil äußerte nicht viele davon gekonnt. Dazu fehlte ihm das Temperament und Selbstbewusstsein. Vielleicht auch das Verständnis. Fürs Kartenabreißen hatte es genügt. Sei es, wie es sei, ohne seine Erfahrungen bei der verrückten Schauspieltruppe wäre er niemals auf den Gedanken gekommen, sich als Polizist und mittlerweile Detective Chief Inspector zu versuchen. Die Faszination hatte ihn gepackt, die Ausbildung war ihm verblüffend leichtgefallen und das erste Berufsjahr hatte ihn zwar ernüchtert, nicht hingegen abgeschreckt. Ihm war lediglich bewusst geworden, dass er nicht in einer Großstadt arbeiten konnte. Er war schlicht und ergreifend zu langsam für deren Schnelllebigkeit. So ehrlich musste man mit sich selbst sein. Ja. Das musste man.

Aber wie war er noch gleich auf diesen Gedanken gekommen? Ah, richtig. Er war sich bis zum heutigen Tag nicht sicher, ob er wirklich ernsthaft vorgehabt hatte, als Detective Chief Inspector zu arbeiten, oder allein die Vorstellung davon faszinierend gefunden hatte. Jetzt, wo er mit diesem Amt belastet – Pardon – betraut worden war, fühlte er sich zuweilen … nun, nicht überfordert, eher unsicher. So ehrlich musste er sein. Immerhin war er hier der alleinige Chef, der ganz oben, der oberste in der Befehlskette und, tja, unter ihm gab es niemanden. Er trug die Verantwortung, musste die Entscheidungen treffen, sollte es zu einem Kriminalverbrechen kommen oder zu einem anderen. Denn wie er etwas verspätet erfahren hatte, existierten hier weder ein Constable noch ein Sergeant und das bedeutete, dass alles an Jay Jameson hing.

Zwar hatten die netten Herren bei seinem Einstellungsgespräch behauptet, ihm würde noch ein Gehilfe unterstellt werden, bisher war der nicht aufgetaucht. Schon in Ordnung, das ersparte ihm lästigen Small Talk. Mit seinen Gedanken war er gerne für sich und wahrscheinlich gerade deshalb wie gemacht für diesen Job. Also diesen speziellen, hier in Snugford. Wo die Bewohner zu liebenswürdig oder gottesfürchtig oder vielleicht zu träge für Verbrechen waren. Was aus Mittagspausen eine feine Sache machte.

Richtig, darauf wollte er hinaus. Mittagspausen bedeuteten, sich von einem Schreibtisch zu erheben, den Anrufbeantworter einzustellen und sein Büro zu verlassen, um sich eine Arbeitsauszeit zu genehmigen, die man mitnichten nötig hatte und gerade deshalb vollkommen entspannt begehen konnte. Luxus. Beim Verlassen der Polizeistation offenbarte sich ihm eine weitere gute Nachricht: Wie es aussah, würde er heute endlich einmal nicht stundenlang auf eine Tasse Tee warten müssen!

Lylas Small Teahouse, wie der geschwungene, orangefarbene Schriftzug verriet, wollte er seit einer Ewigkeit besuchen, einzig die riesige Menschenschlange davor hatte ihn bislang davon abgehalten. In seiner Pause dürstete es ihn nicht nach Gesprächen, sondern eben nach Tee. Vor allem, da das halbe Dorf von ihm schwärmte. Dabei war diese Lyla erst vor Kurzem nach Snugford gekommen, hatte es aber im Handumdrehen geschafft, ihr Etablissement mit Schwung und Innovation zu führen – womit sie ihm etwas voraushatte. Anders als er zählte sie dadurch zum Stammkern des Dorfes. Während man ihn eher verhalten musterte. Kein Wunder …

Er stolperte über einen abstehenden Pflasterstein und direkt in den Teeladen, die kleine Glocke an der Tür bimmelte zweifach und alle Augen wandten sich ihm zu. Er lächelte und das genügte, um sie wieder abzuwenden – nach einem höflichen Nicken. Er atmete aus und wieder ein, wobei seiner Nase erst jetzt das Odeur so vieler unterschiedlicher Teesorten gewahr wurde.

Sein Blick schweifte über die bunten Teedosen, jede einzelne von Hand beschriftet. Apfelträumchen verriet gleich die äußerste Teedose und somit die Besonderheit dieses Geschäfts, denn wer hatte so was je gehört? Noch wunderlicher klang die Vanille-Karamell-Reise, die Jay augenblicklich Bilder von Urlaubsorten in den Kopf sandte. Ohne Frage, dieser Teeladen erweiterte Geschmacksknospen bereits, ehe man vom Tee gekostet hatte.

„Sieh an, der Detective Chief Inspector! Haben Sie doch genug von Ihren Akten?“

Mrs Liv Oldstep schenkte ihm ihr breit geschminktes Lächeln und war im Begriff, mit ihrer Freundin den Teeladen zu verlassen. Gewiss hatten sie sich für ihre heutige Teegesellschaft ausgestattet. Die beiden Damen waren herzallerliebst, die perfekten B&B-Besitzerinnen.

„Iwo.“ Mrs Maggie Rosenburn winkte ab und zwinkerte Jay zu. „Es ist zwölf Uhr dreißig und Zeit für die Mittagspause. Da hier momentan weit weniger los ist als sonst, haben Sie die Gunst der Stunde genutzt, was?“

Jay schmunzelte. Der Frau entging nichts und sie zögerte niemals damit, ihre Mutmaßungen auszusprechen.

„Sehr scharfsinnig, Mrs Maggie. Ich wollte, mein Pferd wäre so schnell als Eure Zunge“, erwiderte er poetisch. Woraufhin sie tief seufzte.

„Sowie ich wollte, Sie würden einmal Ihren Shakespeare zu Hause lassen.“

„Wie könnte ich? Der Gute war mir ein treuer Begleiter, seit ich zum ersten Mal eines seiner Sonette gelesen habe! Seine Werke zählen zu den bedeutendsten Bühnenstücken der Weltliteratur, und ihm verdankt die englische Sprache ihre Vielfalt. Rund achtzehntausend verschiedene Wörter messen seine Stücke, das muss man erst mal hinbekommen. Seien Sie nicht zu streng mit ihm, er sollte jedermanns bester Freund sein.“ Aber er bemerkte, dass er abschweifte, und fügte mit einem abschließenden Grinsen hinzu. „Würde ich ihn außerdem zu Hause lassen, wäre er ja weiterhin bei Ihnen.“

Mrs Maggie entfuhr ein Lachen. Sie hob anerkennend einen Finger. „Gott bewahre, dann nehmen Sie ihn doch besser mit.“

Sie verabschiedeten sich und gingen schwatzend ihrer Wege. Wirklich reizend die beiden.

Jay blieb zurück im Teegeschäft, zusammen mit den drei anderen Wartenden, die sich auf eine Tasse Tee mit aromatischem Geschmack freuten, und der restlichen Kundschaft. Diese war interessant, bestand nicht, wie er fälschlicherweise angenommen hatte, ausschließlich aus alten Damen und jungen Müttern. Im Gegenteil, es hatte den Anschein, es wären fast mehr Männer zugegen. Es musste nur mal jemand mit einer neuen Idee ankommen und schon wurden aus den überzeugten Biertrinkern plötzlich Teegenießer! An der Wand lehnten zwei Kerle, die mit verträumten Blicken zur Theke schauten und mit den Teesorten liebäugelten. Ein älterer Herr trank seine Tasse mit einem Ausdruck der Verzückung auf dem Gesicht direkt im Laden – und all das, obwohl es draußen ausreichend Sitzmöglichkeiten gab. Derweil ging ein weiterer Bursche mit der Teeladenbesitzerin deren Sortiment durch. Er lehnte mit funkelnden Augen an der Theke und folgte jeder Bewegung Lyla Blooms.

„Was ist in der hellgrünen Dose mit den lila Blumen?“

Lylas Stimme war zart und weich, sie gab mit einem Lächeln ihre Antworten. „Amarena-Kirsch, sehr vollmundig.“

„Hm, das klingt natürlich verführerisch“, erklärte der Bursche, seine Augen glitten von den Teedosen zu Lylas Lippen. „So wie deiner, nehme ich an?“

Lyla lachte, nahm das Kompliment zur Kenntnis, ohne zu erröten, und sah ihn abwartend an.

Sie war durchaus eine hübsche Erscheinung und passte perfekt in diesen Laden mit ihrem bunt geblümten Kleid, das entfernt an die Muster auf den Teedosen erinnerte. Ihr tiefrotes Haar lockte sich, sie hatte es hochgesteckt und dank eines breiten Haarbands wurde es daran gehindert, ihr ins Gesicht zu wandern. Einzelne Sommersprossen verliehen ihrem Ausdruck etwas Munteres, ihr Lächeln unterstrich das, derweil das tiefe Blau ihrer Augen ihre Schönheit hervorhob. Kein Wunder, dass der junge Mann sich eingeladen sah, herumzuflirten.

„Ich denke, ich nehme trotzdem den mit Pflaume und Zimt. Ich bin ein Fan von Pfläumchen.“

Es gelang ihm, seine Hand auf ihre zu schieben, als sie nach einer der auf der Theke ausgestellten Dosen griff. Sie zog sie mit einer eleganten Geste zurück und füllte ihm den Tee in ein violettes Tütchen ab, versetzte es mit einem Schleifchen und reichte es ihm. Er nahm es entgegen und folgte ihr mit den Augen, als sie die Theke einmal umrundete, um den Betrag in die altertümliche Kasse einzutippen, die hier in diesem Geschäft genau richtig wirkte.

„Macht drei zwanzig.“

Jay verlagerte sein Gewicht auf das rechte Bein, während er zusah, wie der Kunde eine Fünf-Pfund-Note zückte und sie ihr reichte.

„Der Rest ist für dich.“

Und ehe diese Geste zu gentlemanlike wirken konnte, landete seine Hand an ihrer Hüfte. Ein Ruck ging durch den Raum. Lyla blinzelte, wehrte sich jedoch nicht. Sie hatte kaum Gelegenheit dazu. Ein anderer war schneller, trat aus der Reihe und packte den Burschen an den Schultern.

„Hey, lass deine Finger von ihr!“

Das war Finley Odell, der Sohn des Tabakwarenhändlers, und für gewöhnlich zeichnete er sich durch ein besonnenes Gemüt aus. Scheinbar nicht, wenn ein Kerl es mit dem subtilen Flirten übertrieb.

„Lass du deine von mir!“, zischte der andere. „Was mischst du dich ein?“

„Du hältst den gesamten Laden auf und benimmst dich unmöglich, also lass gut sein und Lyla in Ruhe!“ Finleys Stimme klang ruhig, aber entschlossen.

„Was bist du, ihr Vater? Oder stört dich einfach, dass ein anderer …“

Der Satz verhallte in einem dumpfen Gurgeln, nachdem Finley ihm eine verpasst hatte. Damit hatte Jay keine Sekunde gerechnet. Während er noch verblüfft dabei zusah, wie der Bursche sich von dem Schlag erholte, hatte dieser bereits die Faust geballt und ging auf Finley los. Einer jener Momente, in denen Jay zu langsam gewesen war. Selbst hier. Sämtliche Blicke richteten sich nun auf ihn und ihm dämmerte, warum. Weil es keinen Straßenpolizisten hier gab. Es gab nur ihn. Detective Chief Inspector Jay Jameson.

„Stopp“, meldete er sich folglich zu Wort, wurde jedoch nicht erhört, weil Finley von seinem Widersacher gegen einen der Tische gestoßen wurde, was eine Kettenreaktion lärmender Ereignisse nach sich zog.

Die pyramidenförmig gestapelten Teedosen gerieten ins Wanken, die oberste fiel, knallte gegen den Tischrand und von dort zu Boden. Sekunden darauf folgten ihr laut prasselnd alle anderen. Finley stand inmitten der über den Boden verteilten Dosen und warf einen schuldbewussten Blick zu Lyla hinüber, die der Szenerie mit tellergroßen Augen gefolgt war.

„Tut mir leid!“, murmelte er und fing an, die Teedosen wieder aufzusammeln, derweil sein Kontrahent die Fäuste ballte.

Jay bemerkte die Blicke der Umstehenden und waltete endlich seines Amtes. Er strich sich das Haar hinter die Ohren und nahm den Kerl am Arm, bugsierte ihn mit der nötigen Entschlossenheit aus dem Geschäft. Wahrscheinlich ließ dieser es nur geschehen, weil er zu perplex davon war, dass sich plötzlich der Detective Chief Inspector einmischte – den er bis zu diesem Zeitpunkt nicht bemerkt hatte. So erging es Jay häufig. Die Leute bemerkten ihn erst dann, wenn ihm etwas Blödes passierte. In diesem Fall gelang es ihm, den Kerl aus dem Teeladen zu befördern, ohne dass es so weit kam. Erst auf der Straße machte dieser sich los und setzte zur Beschwerde an.

„Was soll der Mist? Hab ich den Streit angefangen? Warum werde ich rausgeschmissen, wo Finley …“

„Vielleicht haben Sie den Streit nicht angefangen, aber ihn weitergeführt und vor allem nicht beendet.“ Jay sprach mit seiner ruhigen, freundlichen Stimme. Er hatte genug Autorität bewiesen. „Finley räumt da drin bereits auf, den musste ich nicht an die Regeln erinnern. Wie ist Ihr Name?“

„Pf“, sagte der Bursche.

Er trug so eine alberne Cap auf dem Kopf, die ein Schriftzug zierte: R.F. Wofür es auch stand, es sollte ihn wohl cool wirken lassen. Was nicht der Fall war, und eigentlich müsste er aus dem Alter für so was raus sein.

„Schöner Polizist sind Sie, wenn Sie noch nicht mal die Bewohner hier kennen. Das finden Sie mal selber raus.“ Damit wandte er sich um und stürmte davon.

„Ich bin kein Polizist“, murmelte Jay.

Was das andere anging, hatte der Kerl recht. Er sollte sich dringend mit den Leuten hier vertraut machen. Sonderlich viele waren es nicht. Zumindest im Zentrum Snugfords. Die meisten Bewohner der Gemeinde lebten in Höfen außerhalb, was aus Snugford ein schmales, dafür lang gezogenes Fleckchen auf der Karte machte. Hier im Kernort traf man immer dieselben Gesichter und bestimmt konnten ihm die beiden Ladys helfen, diese näher kennenzulernen. Die kannten hier gefühlt jeden – und nicht nur dem Namen nach.

Er kehrte zurück in den Teeladen, in dem es Finley gelungen war, das Chaos zu bändigen, und die beiden Kunden wieder in ihrer Schlange standen, Finley im Gespräch mit der Teeladenbesitzerin, die ihm wohl verziehen hatte.

„So, das wäre erledigt“, erklärte Jay. Es war mehr ein Murmeln als eine Information an alle. Entsprechend nahm sie niemand zur Kenntnis.

Lyla Bloom verabschiedete Finley und bediente ihre Gäste mit derselben Liebenswürdigkeit wie vor dem Zwischenfall.

Das war vermutlich der aufregendste Teil des Tages gewesen und Jay darüber keine Sekunde unglücklich. Er bestellte sich eine Tasse jenes vollmundigen Amarena-Kirsch-Tees und erntete dafür Lylas Zwinkern. Die Pause klang sanft und mit einem herrlichen Geschmack auf den Lippen aus.

Als er zahlte, öffnete sich die Ladentür und Bürgermeister Wolverton trat ein. Ein Mann, der stets seinen Anzug trug und einen perfekten graubraunen Schnauzer kultivierte. Viel mehr wusste Jay über ihn noch nicht zu sagen, er war der perfekte Anzug ohne Inhalt. Die Versammelten grüßten ihn im Chor und lächelten wohlwollend. Lylas Augen blieben einen Moment an Francis Wolvertons Erscheinung hängen, ihr Lächeln unverändert. Einzig ihre Hand zuckte leicht, ehe sie verzögert die Pfundnote entgegennahm, die Jay ihr hinhielt.

„Vielen Dank und haben Sie noch einen schönen Tag“, sagte sie mit den üblichen Abschiedsworten.

Jay erwiderte den Gruß, nickte den Umstehenden zu und verließ Lyla Blooms Teeladen.

***

Ein paar Straßen weiter und einige Stunden später versammelten sich die obligatorischen Lords und Ladys zum Fünf-Uhr-Tee in Maggies B&B. Eine muntere Gesellschaft, die selbstverständlich nicht ausschließlich aus reichen Schnöseln bestand, sich jedoch gerne dafür hielt. Maggie mochte sie ebenso, wie sie sie zeitweilig verachtete, aber Oberflächlichkeit konnte so herrlich interessant sein, daher sah sie über ihre Schwächen hinweg.

„Ah, meine Lieben, es gibt nichts Herrlicheres als eure Scones mit Clotted Cream an einem so wunderbar frühlingshaften Märztag!“, sagte gerade Lady Macsims und ließ sich die Süßigkeit mit gespitzten Lippenstiftlippen munden.

„Das freut mich, meine Teuerste“, antwortete Maggie mit angestrengtem Lächeln, weil sie gleichzeitig beobachtete, wie Lady Mortimer ihrer Dogge gestattete, den Löffel mit der Clotted Cream abzuschlecken. Das Biest hatte erst vor zwei Wochen auf den Teppich gemacht, weil es überfüttert worden war. „Finden Sie die Teevariationen der lieben Lyla Bloom nicht himmlisch?“

„Oh ja, formidable, wie die Franzosen sagen würden.“ Baronin von Lockspridge nahm einen großen Schluck aus ihrer Tasse, als sie dies mit ihrer nasalen Adelsstimme bestätigte.

„Sie machen sich vorzüglich zu eurem Gebäck“, stimmte Lady Macsims zu. „Ich habe gehört, die kleine Bloom kreiert sie selbst, alles in ihrem Laden ist selbst gemacht.“

„Nein!“ Lady Mortimer streichelte anerkennend ihre Dogge.

„Doch!“ Lady Macsims war es gewohnt, recht zu behalten. Ihr Mann hatte das inzwischen verstanden und schwieg bedächtig, wenn sie sprach. Wobei er im Augenblick in sein eigenes Gespräch mit Elinor Moncreif und Father Custom vertieft war.

Die Macsims wahrten den Schein einer perfekten Ehe. Maggie hingegen ahnte, dass jede Liebenswürdigkeit von Antony Macsims seiner Frau gegenüber einem mechanisch ausgeführten Ritual folgte und seine Gemütsruhe nur vorgetäuscht war. Während des gesamten Besuchs wippte sein Fuß auf und ab, tendenziell schneller, erklang die Stimme seiner Frau.

„Ich werde meine neue Küchenkraft damit beauftragen, mehr von diesem Wundertee zu kaufen, dann hat sie wenigstens etwas zu tun. Faules Ding.“ Baronin von Lockspridge, die sehr gerne ihre Luxusprobleme thematisierte, seufzte. Es gehörte sich natürlich für eine Baronin, auch dieser Tage noch Personal einzustellen, vom Butler zum Hausmädchen über den Gärtner zur Küchenmagd. „Ich bin selbst schuld. Ich habe die Preiswerteste genommen, weil sie dafür nett anzusehen ist. Das rächt sich nun. Na ja, besser als gar keine. Habt ihr das von den Jenkins gehört?“

Maggie hatte das von den Jenkins gehört. Die Ärmsten hatten sich verschuldet, so hoch, dass sie ihren Haushalt um ein bis zwei Hilfskräfte reduzieren mussten.

„Wobei es ihnen finanziell immer noch um Welten besser geht, als das auf mich jemals zugetroffen hat“, erklärte Maggie, „und ich konnte mit meinem Albert nicht klagen.“

Dazu schwiegen die Versammelten. Wenn die Reichen zur Kasse gebeten wurden, wurde daraus schnell ein kleines Drama. Maggies Abschwächung passte ihnen nicht. Was die nicht daran hinderte, ihre Gedanken auszusprechen. Ihr Blick schweifte hinüber zu Liv, die sich der Konversation mit dem tatsächlichen und dem Möchtegernadel entzogen hatte. Es war Maggie bereits vor ihr bewusst gewesen, dass es so weit kommen würde. Spätestens in dem Moment, in dem sie den gut aussehenden Lord Coldblut neben Father Custom in den Salon gebeten hatte. Er entsprach vom grau melierten Pferdeschwanz bis hinab zu seinen perfekt polierten cognacfarbenen Kalbslederschuhen Livs Beuteschema. So wie sie umgekehrt seinem, bedachte man, wo sich seine Hand befand – jetzt schon, etwa eine halbe Stunde, nachdem sie sich das erste Mal in ihrem Leben gesehen hatten. Er war ein Freund der Lockspridges und außerdem gebürtiger Snugforder. Ein attraktiver Charmeur, dessen Finger einen sanften Tanz über Livs Oberschenkel vollführten. Sie saß mit diesem Lächeln, das nur sie beherrschte, auf dem Sofa, den Ellenbogen elegant in die Lehne gebohrt, während die Finger mit ihren blondierten Locken spielten.

„Verzeihung, Maggie, meine Gute, du hast nicht zufällig ein paar pikante Sandwiches? Ich fürchte, ich bin kurz vor einem Zuckerschock.“

Maggie lächelte Lady Mortimer zu und verkniff sich die Bemerkung, dass sie vermutlich eher ihre Dogge zu verköstigen beabsichtigte. Stattdessen erhob sie sich.

„Gewiss, Marlena, sie stehen in der Küche bereit.“ Man kannte seine Pappenheimer.

Sie war im Begriff den Salon zu verlassen, als sich auch Father Custom empfahl und hinter ihr herkam.

„Ach, Sie gehen?“, entfuhr es Maggie mit einem Blick auf seine nicht angerührte Teetasse.

Der Weltpriester lächelte bedauernd. „Ja, leider, die Pflicht ruft. Ich muss noch die Predigt für das Hochfest der Verkündigung des Herrn vorbereiten.“

Er streifte sich seine dünnledrigen Handschuhe über und wuschelte sich im Anschluss durch die grauen Locken. Jesuslocken, wie sie die Klatschweiber nannten, weil es ansonsten für alle unpassend gewesen wäre, dass ein Geistlicher in seinem Alter noch so volles Haar vorzuweisen hatte.

Maggie nickte verstehend. Er verließ das Haus in jenem Moment, in dem ihr Detective Chief Inspector hereinkam. Sie prallten auf der Treppe gegeneinander, tauschten eine Entschuldigung und gingen ihrer Wege; Jay Jameson direkt auf Maggie zu. Er hatte sich seiner Dienstjacke entledigt und bewegte sich in einer Mischung aus Schlendern und Staksen durch den Flur. Er trug dieses sanftmütige Lächeln im Gesicht. Schief und mit einem Grübchen.

„Ach, ich grüße Sie, Mrs Maggie, ich hatte völlig vergessen, dass heute Kaffeekränzchen ist. Kann ich Ihnen bei irgendetwas zur Hand gehen?“

Tee, nicht Kaffee. Einerlei. Sie wollte dankend ablehnen, da war er bereits in die Küche gerumpelt und hatte sich die Platte mit den Sandwiches geschnappt.

„Das kann ich rüber tragen“, sagte er und Maggie blieb nichts weiter, als es inständig zu hoffen.

„Passen Sie mit der Schwelle auf“, warnte sie ihn gerade noch rechtzeitig. Er hob den Fuß und trat unfallfrei in den Salon.

„Ah, der Detective Chief Inspector!“, rief Baronin von Lockspridge. „Bringen Sie uns heute den Nachschub?“

„Oh, nein, oder doch, ich bringe ihn. Ich habe ihn nicht gemacht.“ Er stellte den Teller sicher auf den Tisch.

Baronin von Lockspridge lachte über diese Bemerkung. Das galt für alle anwesenden Damen. Sie waren auf geradezu lächerliche Weise hingerissen von Jay Jameson und machten prompt Platz auf dem Kanapee, um ihn zwischen ihren vornehmen Hintern einzuzwängen. Maggie setzte sich zurück in ihren Sessel und grinste. Natürlich konnte sie es ihnen nicht verdenken. Der Gute sah nicht schlecht aus, war jünger als jeder Ordnungshüter, den Snugford je besessen hatte, und lächelte alle Tage wie ein Teddybär. Wie sollte man den nicht mögen? Zumindest, sobald er außer Dienst war. Was sie über ihn als Detective Chief Inspector dachten, stand auf einer anderen Karte.

„Sie müssen sich furchtbar langweilen in unserem Örtchen, Detective.“ Das stellte Baronin von Lockspridge mit einem Anflug von Flirt in der Stimme fest. Den er nicht bemerkte, sondern ernst widersprach.

„Ganz und gar nicht, ich genieße das Landleben und die ruhige Lage. Snugford ist ein sehr … gemütlicher Ort.“

„In der Tat“, sagte Lady Macsims und nickte mit wippender Dauerwelle, „so friedlich.“

Zu friedlich, fügte Maggie in Gedanken hinzu.

„Ja, wir sind eine nette Gemeinschaft. Oder haben Sie schon jemanden in Verdacht, Leichen im Keller zu verstecken?“ Das Erfrischende an der Baronin war, dass sie Maggies Umtriebigkeit teilte. Oder in ihrem Fall konnte man getrost von Sensationsgeilheit sprechen. „Ich kann mir beim besten Willen niemanden hier vorstellen, der ein böser Junge sein sollte. Oder ein unartiges Mädchen!“

Sie kicherte, sah ihn jedoch an, als hoffte sie darauf, er würde ihr widersprechen. Sie kannte ihn schlecht.

Jay Jameson strich sich über den Bart. „Für den Augenblick würde ich Ihnen zustimmen, verehrteste Baronin von …“ Er sah Hilfe suchend zu Maggie, die ihm den Gefallen tat, den Namen mit den Lippen zu formen – zumindest die Gabe des Lippenlesens beherrschte er formvollendet. „… Lockbridge.“ Na ja. Fast. Seine darauffolgenden Worte machten den Fauxpas unwichtig. „Trotzdem kann sich das Blatt vom einen auf den anderen Tag wenden. Manche Menschen werden über Nacht zu Verbrechern. Es genügt eine Kleinigkeit und sie verwandeln sich in jemanden, den sie niemals zu sein beabsichtigt hätten. Denn an sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu.“

Diese tiefgründigen Worte übten, obwohl er sich wieder einmal des guten alten Shakespeares bedient hatte, eine gewaltige Wirkung auf die Damen aus. Sie nickten mit beeindruckten Mienen, Lady Macsims sogar fast beunruhigt. Ihr Lächeln ging in einen Spitzmund über.

„Danke, Inspector, für diese Erweiterung unseres Horizonts. Sie haben uns allen etwas zum Nachdenken gegeben.“

Unbeabsichtigt, nahm Maggie an. Doch sie war überrascht, wie passabel er sich heute sowohl in Gestik als auch Konversation schlug. Niemand hatte sich bislang einen Teefleck auf dem Kostüm eingefangen, das Geschirr war noch heil und zum Nachdenken hatte er ihre Köpfchen obendrein gebracht. Halleluja.