Leseprobe Tödlich verliebt

1

Auf Zehenspitzen versuchte Mia, das Gleichgewicht auf dem kleinen Hocker nicht zu verlieren, während sie einen Bücherstapel auf dem linken Arm balancierte und zugleich die rechte Hand ausstreckte, um nach dem Buch im obersten Regal zu greifen. Vielleicht wäre es schlauer gewesen, den Stapel vor dieser unbeabsichtigten Dehnübung abzulegen, aber wie schon so oft hatte sie die Herausforderungen an eine Bibliothekarin unterschätzt. Eine blonde Haarsträhne fiel ihr über die Stirn und landete mit der Spitze genau in ihrem Auge. Sie versuchte sie wegzupusten. Wenn zusätzlich zu ihrem Gleichgewicht auch noch die Sicht beeinträchtigt wurde, dann würde sie sich sicher gleich ganz von diesem Hocker verabschieden.

Als Tante Lena sie zwölf Wochen zuvor darum gebeten hatte, für zehn Monate die Leitung der Bibliothek in Pennygrave zu übernehmen, hatte sie mit keinem Wort erwähnt, dass das auch bedeutete, mit den schrulligen Dorfbewohnern klarzukommen, Mordfälle zu lösen, sich zu verlieben und immer wieder Missgunst und Vorurteile aus dem Weg räumen zu müssen. Ganz zu schweigen von den körperlichen Anstrengungen, die einem die Arbeit zwischen den Bücherregalen abnötigte.

Schritte näherten sich und verstummten genau hinter ihr. Mia konnte sie problemlos zuordnen, denn sie vernahm sie täglich. Das Geräusch eleganten Schreitens gehörte zu Lady Sophie, der achtundsechzigjährigen Bibliothekarin, die bereits mit Tante Lena hier zusammengearbeitet hatte, und in den vergangenen Wochen, trotz des Altersunterschieds von fast dreißig Jahren, zu Mias bester Freundin geworden war.

Mit ernster Miene sah Lady Sophie herauf. „Ach hier steckst du. Ich dachte schon, du wärst gegangen, ohne dich zu verabschieden.“

„Das würde ich doch niemals tun.“ Endlich gelang es Mia, das Buch zwischen Zeige- und Mittelfinger einzuklemmen und aus der Regalreihe zu ziehen. Triumphierend legte sie es zu den anderen in ihrem Arm, stieg vom Hocker und sah direkt in Lady Sophies wache blaue Augen.

„Du räumst schon wieder aus?“, fragte die alte Lady verwundert. „Wir haben doch gerade erst alle Neuankömmlinge einsortiert.“

Mia lächelte und hob den Stapel in ihrem Arm präsentierend in die Höhe. „Ich räume nicht aus, sondern habe die Bücher für Mrs Lampert zusammengesucht. Sie braucht ein paar neue Abenteuerromane, und ich habe versprochen, sie ihr gleich heute nach Feierabend noch vorbeizubringen. Dann kann sie nach Lust und Laune die ganze Nacht durchschmökern.“

„Ach Mia, du bist viel zu nett für diese Welt.“ Mit spitzen Fingern strich sich Lady Sophie eine weiße Strähne aus dem Gesicht. Es würde noch eine Weile dauern, bis Mia sich an die neue Frisur der Freundin gewöhnt hatte, welche bislang aus einem klassisch strengen Dutt bestanden hatte. Zu Mias Überraschung war sie heute Morgen plötzlich mit einem kinnlangen Bob aufgetaucht, der das leuchtende Weiß ihrer noch immer dichten Haare seltsam unwirklich erscheinen ließ und das Alter der Adligen noch schwieriger einschätzbar machte. Eine Midlife-Crisis Ende sechzig, mochte man vermuten, naheliegender war jedoch, dass die optische Veränderung eine Reaktion auf die Trennung von Mr Meil war. Mia bedauerte das Scheitern der Beziehung zutiefst. Nach all den Jahren, in denen die Freundin nun schon verwitwet war, hätte sie eine neue Liebe mehr als verdient. Anfangs hatte alles so gut ausgesehen. Nach anfänglicher Bewunderung für die englische Lady, die in Teilen schon fast an Liebeswahn grenzte, war Peter Meil dann doch nicht mit der Verantwortung zurechtgekommen, die eine solch lange, adlige Familientradition mit sich brachte. Leider ließ Lady Sophie noch immer nicht durchblicken, ob die Trennung eine Erleichterung oder tiefen Herzschmerz für sie bedeutete. Ohne konkrete Gefühlsäußerung war die resolute Frau zum Status quo zurückgekehrt, hatte Mia darum gebeten, die Beziehung als dummen Mädchenstreich abzuhaken und dann nicht mehr darüber gesprochen. Vorsichtigen Nachfragen zu diesem Thema wich sie konsequent aus.

„Du starrst mich schon wieder so an.“ Mit fahriger Geste fasste sich Lady Sophie ins Haar. „Sei ehrlich, sieht es nicht blöd aus?“

„Nein, nein“, wehrte Mia schnell ab. „Keineswegs. Es ist nur absolut ungewohnt.“

„Na dann ist ja gut. Es soll ja ungewöhnlich sein. Ich habe dieses immer gleiche Aussehen und Verhalten endgültig satt. Muss man immer demselben langweiligen Trott folgen, nur weil man die Sechzig überschritten hat? Mich gelüstet es nach neuen Herausforderungen.“

„Dich gelüstet es nach neuen Herausforderungen?“ Mia feixte. „Soll ich schon mal zu beten anfangen, dass die Herausforderung nicht in einem neuen Mordfall endet?“

„Nein, bitte nicht. Bei deiner Lieblichkeit erhört dich der Herrgott noch und lässt es in Pennygrave wieder so langweilig werden wie vor deiner Ankunft.“

„Ach komm schon, Sophie, das ist nicht fair.“ Mia drückte Lady Sophie den Stapel Bücher in die Hände und verstaute den Hocker in der dafür vorgesehenen Ecke. „Tu bitte nicht so, als hätte es was mit mir zu tun, dass Pennygrave so ein kriminelles Pflaster geworden ist.“

Lady Sophie grinste schelmisch. „Nicht unmittelbar. Aber indirekt irgendwie schon, oder? Ich meine … seien wir mal ehrlich, bevor du hier aufgetaucht bist, hatte der Ort, außer denen in unseren Bibliotheksbüchern, keine Abenteuer zu bieten.“

„Also wenn das im Umkehrschluss heißen soll, dass mein Verschwinden Leben retten würde, dann reise ich sofort wieder ab.“

„Bloß nicht“, protestiere Lady Sophie. „Wenn du gehst, komme ich mit. Nach dem, was wir in den vergangenen Wochen gemeinsam erlebt haben, kann ich ein langweiliges Leben wie zuvor nicht mehr ertragen.“

Mia lachte. „Gut. Dann hoffen wir mal, dass sich dieses Dörfchen von selbst beruhigt.“

„Ja, hoffen wir’s“, bestätigte ihre Freundin, aber sowohl Tonfall als auch Mimik straften ihre Worte Lügen.

„So“, mit einem Ruck nahm Mia ihr die Bücher wieder ab. „Dann mache ich mich mal auf den Weg zu unserer guten Mrs Lampert und bringe ihr den Stapel voller Abenteuer. Sie scheint zu Langeweile ein genauso gestörtes Verhältnis zu haben wie du.“

Ein tiefer Seufzer untermalte Lady Sophies mitleidigen Gesichtsausdruck. „Ich empfehle dir nach wie vor, die Bücher vor der Tür abzulegen, zu klingeln und dann schnellstmöglich wegzurennen.“

„Das wäre nicht besonders höflich, meinst du nicht?“

„Höflich oder nicht, wenn Amelia es schafft, dich in ihr Hexenhaus zu locken, kommst du da nicht wieder raus, ohne dir hundert Geschichten über ihren ach so geliebten Joseph, Gott hab ihn selig, anzuhören und mindestens zweihundert über ihre Weltreisen.“

„Na und?“ Mia zuckte mit den Achseln. „Ich finde ihre Geschichten über die Welt interessant. Mrs Lampert ist deutlich mehr auf diesem Planeten herumgekommen als ich, ihre Geschichten machen mich jedes Mal ein bisschen neidisch. Und dass sie ihren Mann nach Jahrzehnten liebevoller Ehe vermisst, kann ich auch nachvollziehen. Es ist doch wunderbar, wenn sie so ein erfülltes, glückliches und abenteuerliches Leben hatte. Wenn ich mal so alt bin, würde ich mich freuen, auf solche Erinnerungen zurückblicken zu können. Außerdem ist sie vollkommen allein.“

„Ich habe auch keinen Mann.“

„Aber du hast deinen Sohn. William lebt mit dir im Haus. Außerdem hast du mich, Walter und Nanna, deine Köchin. Ich weiß nicht, ob Mrs Lampert überhaupt eine einzige gute Freundin hat.“

„Ihre Nachbarin Caroline, den Kirchengemeinderat…“

„Aber das ist doch was ganz anderes, Sophie. Wenn Mrs Lampert abends in ihrem Bett liegt, ist sie allein. Das Haus ist still, es ist niemand da. Denk darüber wie du willst, aber mir tut sie leid.“

„Ich sage es ja, du hast ein zu weiches Herz.“ Wider Willen gab Lady Sophie ihre ernste Miene auf. „Sehen wir uns nachher auf Gellam Manor?“

„Ja. Aber nur kurz. William führt mich heute Abend ins Theater aus.“

„Oh. Na, dann drücke ich die Daumen, dass ihr die Vorstellung nicht verpasst. Möglicherweise verbringst du die Nacht bei Mrs Lampert auf dem Sofa oder vor ihrer Fotowand. Sehen wir uns dann wenigstens morgen am Frühstückstisch?“

„Ich weiß noch nicht.“ Verlegen verzog Mia die Mundwinkel. Die Beziehung mit William war noch ganz frisch. Und auch, wenn sie bereits vorher häufig auf Gellam Manor übernachtet hatte, so war es doch etwas anderes, im Gästezimmer untergebracht zu sein, als die Nacht mit dem Hausherrn zu verbringen. Zwar gab Lady Sophie die perfekte Schwiegermutter ab, aber oft fühlte Mia sich ein bisschen zwischen der Freundschaft mit ihr und der Beziehung mit Sir William hin und her gerissen. Auch jetzt wieder. Theoretisch hätte sie auch mit ihr ins Theater gehen oder ihr zumindest anbieten können, sie zu begleiten, aber da sie zugleich Sir Williams Mutter war, wäre das irgendwie seltsam gewesen. Wer nahm schon die Mutter des Geliebten mit auf eine Abendveranstaltung? Emotional war das alles noch ein wenig kompliziert. Hoffentlich würden sich früher oder später alle in ihre Rollen einfinden.

„Ich gehe dann, kannst du abschließen?“, fragte Mia und riss damit Lady Sophie, die ihrem Gesichtsausdruck zufolge eigenen Gedanken nachzuhängen schien, aus ihrer Erstarrung.

„Klar, geh nur. Dann bis heute Abend oder zum Frühstück oder eben morgen hier.“

„Ja, bis dann.“

Mia legte die Bücher für Mrs Lampert in den bereitgestellten Korb und machte sich wie immer zu Fuß auf den Weg zum Haus der alten Dame.

Wie liebte sie es, durch das idyllische Pennygrave zu schlendern. Die üppige Blumenpracht, die größtenteils der hiesigen Gärtnerei zu verdanken war, war wie ein Markenzeichen des Ortes. In jedem Vorgarten übertrumpften sich die Blüten und Farben in ihrer Pracht. Der betörende Duft, der infolgedessen die Gässchen durchzog und sich längst in dem alten Feldsteinpflaster festgesetzt hatte, ließ Mia von Zeit zu Zeit genüsslich die Augen schließen. In Pennygrave hatten Ort und Zeit ihre übliche Bedeutung verloren. Wenn man hier lebte, war es, als befände man sich auf einer bunten, duftenden Insel fernab der Realität. Traumhaft. Daran, dass sie hier lediglich auf Zeit lebte und das kleine Cottage sowie den Schlüssel zur Bücherei in wenigen Monaten wieder an Tante Lena zurückgeben sollte, mochte sie lieber nicht denken. Vielleicht ergab sich ja noch eine andere Möglichkeit, hier zu bleiben. Je nachdem, wie sich die Beziehung zwischen ihr und Sir William entwickelte, wollte sie nicht ausschließen, auch über Tante Lenas Rückkehr hinaus in Pennygrave zu bleiben.

Sir William. Niemals hätte sie für möglich gehalten, dass sie dem Prinzen aus ihren Mädchenträumen einmal in Wirklichkeit begegnen würde. Und noch weniger hätte sie daran geglaubt, dass er sich in sie verlieben würde. Gut, genau genommen war er kein Prinz, sondern ein Lord und lebte auch nicht in einem Schloss, sondern in einem Herrenhaus, aber was sie hier mit ihm erleben durfte, war dem Inhalt eines Märchens schon recht ähnlich. Hach, wie sehr freute sie sich auf das Theaterstück am Abend.

Als Mia nun durch das kleine Gartentürchen trat, das in Mrs Lamperts Vorgarten führte, schoss ihr unwillkürlich Lady Sophies Vorschlag durch den Kopf: Bücher ablegen, klingeln und wegrennen. Sofort verwarf sie ihn wieder. Zeitersparnis hin oder her, es wäre gemein. Mrs Lampert war nett. Die neugierige alte Frau war auf ihre Art an der Welt und den Menschen interessiert und die ausufernden Erzählungen über ihre Reiseabenteuer waren mehr als beeindruckend.

Fröhlich schritt Mia den gepflasterten Weg zum Haus entlang. Schon von hier aus konnte sie erkennen, dass die Haustür einen Spalt offen stand. Forschend ließ sie ihren Blick durch den Garten schweifen. War die alte Dame noch mit der Pflanzenpflege zugange?

„Mrs Lampert?“, rief sie laut.

Niemand reagierte.

Mia wartete einen Augenblick und ging dann weiter bis zur Haustür. Diese alten Holztüren klemmten manchmal, das kannte sie auch aus Tante Lenas Cottage. Kaum hatte man sie zugezogen, sprangen sie unverhofft wieder auf, weil das Scharnier nicht richtig einrastete.

Selbstverständlich klingelte sie trotzdem. Die arme Mrs Lampert würde sicherlich einen Herzinfarkt bekommen, wenn plötzlich jemand in ihrem Flur stand, ohne sich vorher bemerkbar gemacht zu haben.

Im Inneren des Hauses blieb es weiterhin still. Mia klingelte erneut. Wieder rührte sich nichts. Sollte sie die Bücher doch ablegen und gehen? Mrs Lampert würde die Romane schon finden, wenn sie nach Hause kam. Aber was, wenn es zu regnen anfing?

Beherzt trat sie in den Flur.

„Mrs Lampert?“, brüllte sie aus Leibeskräften, wohl wissend, dass deren Schwerhörigkeit fortgeschrittenen Stadiums war. „Mrs Lampert, hier ist Mia Midway. Ich bringe Ihnen die gewünschten Abenteuerromane.“

Noch immer blieb es ruhig. Mrs Lampert war entweder nicht da oder hatte einen gesegneten Schlaf. Gut, dann würde sie die Bücher einfach auf den Küchentisch legen.

Während Mia den Flur entlangging, zog die große Fotowand linkerhand ihren Blick wie ein Magnet auf sich. Bei ihrem ersten Besuch in diesem Haus hatte sie fassungslos vor der Wand gestanden, an welcher Amelia Lampert Fotos von ihren Reisen aus aller Welt aufgehängt hatte. Es waren so viele, dass sie die Blümchentapete, welche lediglich in der oberen Ecke noch zu erahnen war, vollständig bedeckten. Erstaunlich, was diese Frau schon alles gesehen hatte. Wenn irgendetwas schiefgehen und Mia nicht in Pennygrave bleiben sollte, dann würde sie definitiv erst einmal ein paar Monate reisen, ganz nach dem Vorbild dieser abenteuerlustigen alten Dame.

Verzückt schritt sie den Flur entlang und war schon fast auf Höhe der Küchentür angelangt, als sie mit dem Fuß an irgendetwas hängen blieb und ins Straucheln geriet. Im Affekt riss sie beide Hände nach oben und versuchte sich an der Fotowand festzuhalten. Zu spät. Sie fiel zu Boden und riss dabei einige Aufnahmen mit sich, die wie übergroßes Konfetti zeitverzögert auf sie herabrieselten. Der Korb schlug hart auf den Fliesen auf, die Bücher purzelten heraus und lagen nun ebenfalls auf dem Fußboden.

„Aua!“, entfuhr es Mia, während sie versuchte, sich aufzurichten und ein stechender Schmerz durch ihren Knöchel fuhr.

Ächzend setzte sie sich auf. Ihr Blick wanderte hinunter zu ihrem Fuß, um zu sehen, was den Sturz verursacht haben mochte. Auf dem Boden registrierte sie vier Beine. Ihre eigenen und … da waren noch zwei. Sie erstreckten sich quer über den Flur, und sicherlich war auch ein Oberkörper daran, aber diesen konnte Mia nicht sehen, weil er von dem Konsolenschränkchen verdeckt war, auf dem das Telefon stand. Normalerweise. Jetzt nicht. Wo war es nur? Und wem gehörten diese Beine?

Wie in Trance stand sie auf. Der Boden fühlte sich an wie Schlick, zäh und wackelig und so, als könnte sie jeden Moment darin stecken bleiben. Vorsichtig stieg sie über die Beine und kämpfte sich klopfenden Herzens bis zu dem leblosen Oberkörper vorwärts. Er gehörte zweifellos zu Amelia Lampert. Mia hatte es längst geahnt, aber wie bitteschön sollte sie diese Information in der Realität ihres Bewusstseins verankern? Amelia Lampert musste doch unterwegs sein oder bei ihren Blumen oder auf ihrem Sofa, aber auf keinen Fall konnte sie leblos auf dem Boden sitzen, den Oberkörper schlaff in der Ecke zwischen Telefonschränkchen und Wand verklemmt, um den Hals die Schnur des uralten Telefons gewickelt, das neben der Toten auf dem Boden lag.

Mia kannte den Schwindel, der sie überkam. Er war nicht aufzuhalten. Mit einem dumpfen Schlag plumpste ihr Oberkörper auf den der toten Mrs Lampert.

2

Unruhig tigerte Thomas McTrout in dem kleinen Zimmer auf und ab. Die Entdeckung der verräterischen Bankunterlagen lag nun schon einige Wochen zurück, und noch immer hatte er es nicht über sich gebracht, Melanie darauf anzusprechen. Zweitausend Pfund hatte sie an einen Mann namens Steve Courtney überwiesen. Aber warum? Und wer war dieser Typ? Thomas hatte den Namen nie zuvor gehört. Nicht nur einmal hatte er sich vorgenommen, seinen Zufallsfund zu ignorieren und so zu tun, als wäre nie etwas gewesen. Schließlich vertraute er seiner Frau. Melanie war die Liebe seines Lebens, das war sie vom ersten Augenblick an gewesen, als er ihr begegnet war. Warum sonst hätte er in jungen Jahren seinen vielversprechenden Ausbildungsplatz in London aufgeben und nach Pennygrave ziehen sollen? In London hätte er eine Chance auf eine eigene Karriere gehabt. Hier lebten sie hauptsächlich von den Einnahmen der Schneiderei, die seine Frau in sechster Generation führte. Überhaupt schien alles in diesem Dorf von Tradition und Idylle zu leben, ein Schein, der trog, wie die Todesfälle, Intrigen und kriminellen Machenschaften der vergangenen Wochen bewiesen. Bei der Erinnerung daran presste Thomas die Lippen aufeinander. Es war noch nicht lange her, dass dieser verrückte Dealer versucht hatte, ihn und seine gesamte Familie umzubringen. Und das nur, weil seine Tochter ein Geheimnis verschwiegen hatte. Seine Sally, das liebe Mädchen. Er hätte ihr so was nie zugetraut. Genauso wenig wie Melanie. Und doch schien auch sie ein dunkles Geheimnis zu haben. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Sie war von Schweißperlen benetzt. Was sollte er nur tun? Es widerstrebte ihm zutiefst, Melanies Büro zu durchwühlen. Das wäre ein absoluter Vertrauensbruch. Andererseits hatte er hier den Überweisungsträger an Steve Courtney gefunden. Und war es nicht auch ein Vertrauensbruch, wenn seine Frau einem fremden Mann Geld überwies? Viel schlimmer als die Tatsache war die quälende Frage nach dem Warum. Hatte sie ein Verhältnis mit diesem Mann? Wurde sie erpresst? Oder war sie auch in kriminelle Machenschaften verwickelt? Nach den jüngsten Ereignissen wäre er ja nicht der erste ahnungslose Ehepartner in Pennygrave, der gutgläubig eine Verbrecherin deckte.

Mit zitternden Fingern tastete Thomas nach dem Griff der ersten Schublade. Er musste es tun. Er musste einfach wissen, was seine Frau so krampfhaft vor ihm verbarg.

Seine Finger berührten gerade das kalte Metall, da hörte er die Haustür ins Schloss fallen. Schnell zog er die Hand zurück und stahl sich wie ein Dieb aus dem Zimmer. Angestrengt setzte er ein Lächeln auf und ging die Treppe hinab.

„Hallo, Schatz. Na, wie war dein Tag?“

„Gut, danke. Aber sehr anstrengend“, antwortete Melanie, gab ihm zuerst ein Küsschen und dann die leichte Strickjacke, die sie meistens trug, egal ob es Sommer oder Winter war.

Er behielt die Jacke im Arm und strich gedankenverloren mit der Hand über die weiche Wolle. „Soll ich uns einen Tee machen? Oder ist dir heute mehr nach einem Glas Wein?“

„Ein Tee wäre toll“, erwiderte Melanie.

Noch während sie sich an den Tisch setzte, vibrierte ihr Handy. Seufzend nahm sie es heraus, sah kurz auf das Display und nahm dann den Anruf entgegen, während sie aufstand und das Zimmer verließ.

Stirnrunzelnd hielt Thomas die Kanne in der Hand. Sollte er ihr folgen und lauschen? Auf keinen Fall würde er jetzt das Wasser aufdrehen, das jeglichen Gesprächsfetzen übertönen würde.

„Ich bin gleich da“, hörte er seine Frau sagen. Da betrat sie auch schon den Raum.

Als sie zurückkam, wirkte sie aufgebracht. „Ich muss noch mal kurz ins Atelier“, verkündete sie.

Thomas konnte sich bestens vorstellen, wer da eben angerufen hatte. Steve Courtney, wer sonst? Auch wenn es schwerfiel, durfte er sich jetzt nichts anmerken lassen.

„Was ist denn los?“, fragte er, um einen sachlichen Tonfall bemüht.

„Ach, Clara hat sich noch mal gemeldet.“

„Clottingham?“

Sie nickte. „Genau. Sie fährt doch nächste Woche in dieses schicke Hotel, um sich von dem ganzen Stress der vergangenen Wochen zu erholen.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

Wieder nickte Melanie. „Genau. Und jetzt hat sie erfahren, dass es dort einen Galaabend geben wird und ist der Meinung, sie habe dafür kein passendes Kleid.“

„Wann fährt sie, am Montag?“

„Ja. Montag früh.“

„Es ist Freitagabend. Wie willst du so schnell ein neues Kleid schneidern? Du willst doch wohl nicht das ganze Wochenende in der Schneiderei verbringen? Ich dachte, wir unternehmen etwas gemeinsam, du, Sally und ich.“

„Das wird kaum ein Problem darstellen. Ich kenne Claras Geschmack und Eigenheiten seit Jahren. Ich habe auch schon eine genaue Vorstellung im Kopf. Ich muss nur eben noch mal ins Atelier und ihre Maße nehmen. Der Stress hat sie ein paar Pfunde verlieren lassen. Erst letzte Woche habe ich einen ganzen Stapel ihrer Kleidung enger machen müssen. Vielleicht fange ich dann auch gleich nachher noch mit dem Entwurf an. Also warte lieber nicht auf mich. Du kannst dir natürlich gern auch ohne mich einen Wein aufmachen.“

So viele Worte für eine Lüge. Dieser Steve musste ihr wirklich wichtig sein. Thomas unterdrückte die Tränen, trat zu ihr, legte seine Hände auf ihre Schultern und sah ihr tief in die Augen. „Warum machst du dir denn den ganzen Stress?“

Angestrengt vermied sie den Blickkontakt. „Clara zahlt gut. Überdurchschnittlich gut. Außerdem mag ich sie. Und sie tut mir leid.“

„Das kann ich verstehen.“ Er nahm Melanies Strickjacke vom Stuhl und reichte sie ihr. „Dann bis später. Ich warte auf dich.“

„Das brauchst du nicht.“ Sie nahm die Jacke und schlüpfte hinein, gab ihm einen Kuss, wich aber seinem Blick weiterhin aus.

Traurig sah Thomas dabei zu, wie seine Frau aus dem Haus ging und auf ihr Fahrrad stieg. Plötzlich erschauderte er. Sie hatte gelogen, das wussten sie beide.

Überstürzt hastete er aus dem Haus und schnappte sich sein Mountainbike. In der Ferne konnte er sie im Davonfahren noch erkennen.