Leseprobe Tödliche Antiquitäten

1

Mit einem Kaffee von Espresso Yourself und der städtischen Tageszeitung unter dem Arm trat Henrietta Hewitt durch die Eingangstür von H. H. Antiques – bereit, die Welt zu erobern. Oder zumindest die To-do-Liste des Tages. Henriettas Mutter hatte immer gesagt, dass der Duft von frischem Kaffee und die richtige Einstellung etwas bewirken könnten. Hoffentlich stimmte das, denn sie hatte sich für heute viel vorgenommen und konnte jede Hilfe gebrauchen.

Sepia, eine cremefarbene Flame-Point Siamkatze, lief ihr vor die Füße und brachte sie mit ihrem langen Schwanz fast zu Fall. „Pass auf!“, rief sie. „Ich wollte meinen heißen Kaffee nicht verschütten, das wäre kein schöner Anblick.“

Die Katze schlich auf die andere Seite und starrte sie mit ihren unergründlichen blauen Augen an. Dann fuhr sie sich mit ihrer rosa Zunge über das Maul und leckte wahrscheinlich noch die Reste ihres Frühstücks ab. Sie drehte sich um, sprang über den Ohrensessel und den antiken Küchenschrank auf die alte Standuhr. Sollte Henrietta jemals einen Käufer dafür finden, würde Sepia sich einen anderen Schlafplatz suchen müssen.

Die silbernen Türglocken bimmelten und lenkten Henriettas Aufmerksamkeit von der frechen Katze weg.

„Hallo?“, rief sie.

„Ich bin’s nur“, eine atemlose Stimme antwortete ihr. Henriettas Assistentin und Historikerkollegin eilte durch den schmalen Flur des viktorianischen Antiquitätengeschäfts.

„Mensch, Olivia, du bist aber früh dran.“

„Warum bist du so überrascht?“, fragte die junge Frau. Obwohl sie fast dreißig war, wirkte sie jünger. Sie trug ein fließendes dunkelgrünes Top zu Capri-Jeans, die eckige Hornbrille saß auf ihrer kleinen Nase. Wenn sie lächelte, funkelten ihre blassblauen Augen unter dem stumpf geschnittenen Pony.

„Bin ich nicht. Na ja, eigentlich schon“, sagte Henrietta und zuckte mit den Schultern.

„Schon gut. Ich weiß, ich bin selten pünktlich.“ Olivia verdrehte die Augen und zuckte ebenfalls mit den Schultern. „Aber es ist nie zu spät, sich neue Gewohnheiten zuzulegen, oder?“

„Liv“, sagte Henrietta und warf ihr einen hoffentlich aufmunternden Blick zu. „Tu, was du für richtig hältst.“

Olivia grinste verhalten und nickte in Richtung Henriettas Kaffee. „Hattest du schon einen?“

„Ja“, sagte Henrietta, seufzte und drehte sich zum Tresen um, wo die Kasse zwischen einem Stapel alter Bücher und einer Kiste mit noch zu sortierendem Kleinkram stand. „Kein Koffein am Morgen geht gar nicht.“

„Schon klar.“ Olivia stellte ihre Handtasche unter den Tresen und rückte ihre Brille zurecht. „Darf ich mal eben rübergehen?“

Die Ruf des Espresso Yourself war stark, und nur wenige konnten ihm widerstehen. Ein Café in der Nachbarschaft war Fluch und Segen zugleich.

„Kein Problem. Sag Gina, das geht auf mich.“

„Das ist doch nicht nötig.“

Henrietta sah sie nur kurz an und Olivia ging lächelnd zur Tür und verschwand.

So viel zum Thema Pünktlichkeit, dachte Henrietta schmunzelnd.

Seit ihrer Einstellung vor zwei Monaten war Olivia kein einziges Mal pünktlich gewesen. Bei anderen hätte Henrietta das massiv gestört, aber Olivia glich das durch ihre Arbeitsweise aus. Um Daten für Artikel oder Preise für den Transport durch in- und ausländische Spediteure zu recherchieren, arbeitete sie regelmäßig länger. Ihre lockere Einstellung machte sie durch hervorragende Leistungen wett.

Henrietta schaute auf den gelben Notizblock neben der Kasse. Gestern Abend, bevor sie nach oben in den Wohnbereich des Hauses gegangen war, hatte sie mit der Liste begonnen. Diese war lang und vielleicht ein wenig zu ehrgeizig, aber sie wollte ihr Bestes geben, bevor die Uhr sechs schlug und sie sich in einen Kürbis verwandelte. Oder genauer gesagt, bevor sich ihre Füße in Miniaturkürbisse verwandelten und sie sie hochlegen musste.

Als die Glocken erneut läuteten, rief sie: „Das ging aber schnell.“

„Hast du mich so vermisst?“, ertönte eine Männerstimme.

Henrietta blickte in die schokoladenbraunen Augen von Ralph Gershwin. Er wackelte mit seinen buschigen Augenbrauen und grinste.

„Ralph? Was machst du so früh hier?“

„Ich wollte dich besuchen“, erklärte er, lehnte sich an den Tresen und schielte auf ihre Liste. Er war Ende fünfzig und sah für sein Alter erstaunlich gut aus, was Henrietta lieber ignorierte.

„Und?“, fragte sie, um ihm den wahren Grund seines Besuchs zu entlocken.

„Und …“ Er sah sie von unten an. „Ich habe einen Vermisstenfall.“

Henrietta verdrehte übertrieben die Augen. „Sepia, hast du das gehört? Ralph hat einen neuen Fall! Womit hat er das verdient?“, fragte sie.

„Kein Grund, schnippisch zu sein“, erwiderte er und lachte leise.

„Jaja, es ist nur …“ Sie schnaubte und stemmte die Hände in die Hüften. Sie konnte einfach nicht anders. „Du kommst her, weil du eine andere Antwort erwartest, aber die kann ich dir nicht geben, Ralph.“

„Das tut weh“, sagte er und legte sich seine Hand auf die Brust.

„Wenn du willst, lese ich dir mein letztes Kapitel vor. Aber abgesehen davon – und von deinen starken Männerarmen zum Tragen schwerer Sachen – glaube ich nicht, dass wir zusammenarbeiten sollten.“

„Du tust gerade so, als wäre das ein Fehler – aber das finde ich nicht.“

„Ralph …“ Sie sah ihn an und setzte all ihre weibliche Überredungskunst ein, um ihn zu überzeugen. „Ich werde nicht als Privatermittlerin für dich arbeiten.“

„Noch nicht.“

„Was?“ Sie hatte sich schon abgewandt, um die Punkte auf ihrer Liste durchzunummerieren.

„Du hast vergessen, ‚noch nicht‘ hinzuzufügen.“ Er streckte die Hand aus und setzte eine nasale, fast weibliche Stimme ein. „Ralph, ich werde nicht mit dir ermitteln – noch nicht.“

„Ich …“

„Äh äh“, sagte er und hob den Finger. „Ich möchte dir mehr über den Fall erzählen.“

Gerade als sie widersprechen wollte, klingelte es abermals – in letzter Sekunde gerettet, hatte nie besser gepasst.

„Olivia und ich haben viel zu tun. Tschüss, Ralph.“

Er verzog beleidigt das Gesicht, aber sie war sich sicher, dass es nur gespielt war. Auch wenn er sie immer wieder drängte, bei seinem Vater-Sohn-Unternehmen mitzuarbeiten, konnte sie auf ihn als Freund zählen und ihre Ablehnung würde ihn ohnehin nicht davon abhalten, weiterzubohren.

„Vielleicht ein anderes Mal“, sagte er, zwinkerte Olivia zu und schenkte ihr einen vielsagenden Blick.

Sie kicherte und nickte übertrieben.

Unerträglich – beide. „Schönen Tag noch“, sagte Henrietta.

„Tschüss, Henri“, rief er lachend, drehte sich um und ging.

„Was wollte Ralph?“, fragte Olivia, stellte ihren Kaffee auf den Tresen und strich sich über den zerzausten Bob.

„Das Übliche.“

„Du wolltest ihm wieder vorlesen, oder?“

„Na und?“, erwiderte Henrietta, ohne von ihrer Liste aufzusehen.

„Kein Wunder, dass er so schnell weg war.“

***

In wenigen Tagen begann das Blackberry-Festival und Henrietta war zuversichtlich, dass es dieses Jahr besser laufen würde als sonst. Aber das dachte jeder in der Stadt. Vielleicht lag es an der Festivalsaison, dem schönen warmen Wetter oder einfach an der malerischen Kleinstadt im Herzen Washingtons, dass Henrietta jedes Jahr glaubte, besser abzuschneiden als je zuvor.

„Sie haben es doch im Griff, oder?“, fragte Bürgermeister Ricky Lawrence und rang nervös mit seinen schmalen Händen.

„Selbstverständlich, Ricky.“ Henrietta ging langsam auf das Fenster des Bürgermeisterbüros zu. Im vierten Stock eines der höchsten Gebäude in Heart’s Grove gelegen, bot es einen herrlichen Blick auf das Meer. „Habe ich Sie jemals enttäuscht?“

„Was? O nein, nein, nein“, antwortete er in seinem typischen Singsang. „Das ist es nicht, es ist der Stress. Oh, dieser Druck.“ Obwohl Ricky ein Visionär war, zerbrach er sich über alles den Kopf. Zwei Monate vor dem Festival meldete er sich mindestens einmal pro Woche bei Henrietta, um sicherzugehen, dass sie ihr übliches Objekt für die stille Auktion beisteuerte.

„Keine Sorge“, sagte sie und drehte sich zu ihm um. „Es wird etwas Besonderes sein. Tatsächlich habe ich einige außergewöhnliche Objekte im Sinn.“

„Geben Sie mir einen Tipp?“, fragte er und stellte sich neben sie ans Fenster. Irgendwie schien er sich von der herrlichen Aussicht nicht so ablenken zu lassen wie sie.

„Jetzt nicht, aber bald.“ Sie lächelte ihn an und nahm ihre Handtasche von einem Stuhl. „Ich muss mich jetzt auf den Weg machen. Ich melde mich in Kürze deswegen.“

„Sollten Sie das Objekt nicht schon haben?“, rief er ihr hinterher. Sie hob nur die Hand und winkte.

Diesen Tanz führten sie jedes Jahr auf: Ricky sorgte sich um jedes Detail, Henrietta beruhigte ihn, und er stellte ihr tausend Fragen, denen sie geschickt auswich, bis sie bereit war, sie zu beantworten.

Die Geheimnisse einer Frau sollten nie unterschätzt werden, erinnerte sich Henrietta an die Worte ihrer Mutter. Wie in vielen anderen Bereichen des Lebens schien deren Weisheit auch in dieser Situation zu gelten.

Sie erreichte ihren Mini Cooper, stieg ein und warf ihre Handtasche auf den Beifahrersitz. Sie musste pünktlich zu einer Auktion, und wenn sie sich nicht beeilte, verpasste sie sie womöglich.

Das Hämmern am Beifahrerfenster ließ sie zusammenzucken und kurz aufschreien. Aber als sie Ralph grinsen sah, wurde aus dem Schrei ein Knurren. Sie ließ das Fenster herunter.

„Man erschreckt niemanden, der den Fuß auf dem Gaspedal hat“, stieß sie hervor.

„Jaja, ist mir klar. Aber der Motor läuft nicht.“

Sie seufzte. „Aber gleich. Gib mir ’ne Sekunde.“

Er lachte. „Kann ich mitkommen?“

„Wohin denn?“

„Zur Auktion.“

Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Woher wusste er …? „Du hast heute Morgen die Zeitung auf meinem Schreibtisch gesehen.“

„Bingo.“ Er öffnete die Tür und schlüpfte in den Wagen, hätte sich um ein Haar auf ihre Tasche gesetzt, aber sie zog sie schnell zurück. „Dir entgeht auch nichts, Henri.“

„Ich wünschte, du würdest mich nicht so nennen.“

Er stieß mit den Knien gegen das Armaturenbrett. „Wirklich? Warum musst du ein Clownsauto fahren?“

Die Enge war ihm Strafe genug, also vergab sie ihm seine Unhöflichkeit.

„Wie läuft dein Vermisstenfall?“, fragte sie, während sie sich in den Verkehr einfädelte.

„Ich dachte, er interessiert dich nicht.“

„Das habe ich nie behauptet.“ Sie wich einem Auto aus, dessen Fahrer gerade abbiegen wollte, woraufhin Ralph keuchte und zusammenzuckte und sie ihm einen strafenden Blick zuwarf. „Ich habe nur gesagt, dass ich nicht mit dir arbeite.“

„Das ist doch Jacke wie Hose.“

„Glaub mir, das ist ein großer Unterschied.“

Während er vergeblich versuchte, eine bequeme Position zu finden, bog sie auf einen zweispurigen Highway ab. Wenn sie weiter nach Westen fuhren, würden sie in Port Angeles landen, aber das war nicht ihr Ziel.

„Die Vermisste heißt Cybil Markham. Anfang zwanzig, dunkle Haare, grünbraune Augen. Offenbar ist sie von zu Hause weggelaufen.“

„Das klingt nach einem Fall für die Polizei“, stellte Henrietta fest.

„Ja, natürlich.“ Er nickte, denn sie hatte recht. Ralph war den größten Teil seines Lebens Polizist gewesen und hatte, nachdem er vorzeitig aus dem Dienst ausgeschieden war, zusammen mit seinem Sohn Scott, einem sympathischen Junggesellen Anfang dreißig, eine Privatdetektei gegründet. „Die Eltern kommen aus New York …“

„Glauben sie, dass sie hier ist?“

„Soll ich es dir sagen oder willst du raten, Agatha Christie?“

Sie verzog das Gesicht und schwieg, was Ralph als Antwort genügte.

„Jedenfalls waren ihre Eltern in New York bei der Polizei. Bei der Durchsuchung ihres Zimmers haben sie einen Zettel gefunden, auf dem stand, dass sie fortgeht. Sie haben nichts in der Hand, weil es eine Nachricht gibt und sie volljährig ist.“

„Also haben sie dich engagiert, um sie zu finden. Aber noch mal, warum hier?“

„Anscheinend …“, sagte er und zog das Wort verärgert in die Länge, „… hat sie ein Busticket über Seattle hierher gekauft. Und da endet ihre Spur. Sie haben mich im Internet gefunden und mir gemailt, den Rest kennst du ja.“

Henrietta musste grinsen. Als sein Sohn Scott die Website der Agentur erstellt hatte, hatte Ralph mit dessen erstaunlicher Leistung geprahlt. Sie musste zugeben, dass es eine schöne Homepage war, aber Ralphs Stolz auf seine „Internetpräsenz“ war mehr als ein bisschen übertrieben.

„Irgendwelche Hinweise?“

„Nicht wirklich.“ Ächzend verlagerte er sein Gewicht. „Ich bin an ein paar Sachen dran, aber …“

„Vergiss es“, sagte sie und folgte einer gewundenen gepflasterten Auffahrt, die zu einem Herrenhaus auf der Klippe führte.

„Aber …“

„Nein.“ Sie warf ihm einen Seitenblick zu und er kniff die Lippen zusammen. „Aber du kannst mir helfen, das perfekte Objekt für die Auktion auf dem Blackberry-Festival zu finden.“

„Solltest du es nicht längst haben?“

„Nicht du auch noch“, stöhnte sie leicht genervt.

Sie fuhren so nah wie möglich heran und parkten auf einer Wiese, auf die ein Einweiser zeigte. Als Ralph ausstieg, stieß er ein lautes Knurren aus, das wie „Freiheit“ klang, während Henrietta das riesige Haus betrachtete. Es hatte drei Stockwerke, war im viktorianischen Stil erbaut und offenbar erst kürzlich gestrichen worden. Wahrscheinlich war es nach dem Tod des Besitzers renoviert worden, um es zu verkaufen. In diesem historischen Gemäuer gab es sicher viel zu entdecken.

„Auf geht’s!“, rief sie fröhlich.

Ralph schien etwas sagen zu wollen, wahrscheinlich über ihre Beteiligung an seinem Fall, doch er schloss den Mund und bedeutete ihr, vorauszugehen.

Mal sehen, wie lange sein Schweigen anhielt.

2

Als Henrietta die Vordertreppe hinaufging, stellte sie sich vor, wie das Haus vor der Modernisierung ausgesehen hatte. Gebürstetes Kupfer hatte zweifellos die ursprünglichen schmiedeeisernen Gaslampen ersetzt. Eine handgearbeitete Tür mit kunstvollen Intarsien und einer alten Glocke ersetzt, die beim Drehen des Knaufs bezaubernd läutete, war einer modernen kastenförmigen Eingangstür gewichen. Auch die alten schmalen Dielenbretter waren durch dickere ausgetauscht und gestrichen worden.

Obwohl Henrietta das Haus nie aus der Nähe gesehen hatte, konnte sie sich all das lebhaft vorstellen. Solche Dielen waren in den meisten viktorianischen Häusern der Gegend Standard, und sie empfand eine gewisse Wehmut, dass diese Dinge dem modernen Baustil zum Opfer gefallen waren.

„Du siehst traurig aus“, bemerkte Ralph.

„Weniger traurig als enttäuscht.“

„Warum?“ Er hielt ihr die Tür auf.

„Sie haben das ganze Gebäude modernisiert.“

„Wahrscheinlich renoviert für den Verkauf.“

„Ja“, sie stimmte beim Betreten des renovierten Foyers zu, „aber man kann trotzdem so umgestalten, dass das Historische und eine gewisse Authentizität erhalten bleiben. Dazu braucht man nur etwas Kreativität und die hatte der Architekt offensichtlich nicht.“ Sie berührte die Spitze einer modernen Metallskulptur in der Ecke der Eingangshalle. Viel zu wuchtig und aufdringlich, ohne jede künstlerische Struktur, fand sie. Kein Vergleich zum viktorianischen Zeitalter.

„Kauf die Hütte und restauriere sie“, sagte Ralph und lachte. Er reckte den Hals, um die Decke zu betrachten, und so entging ihm Henriettas Gesichtsausdruck, wofür sie dankbar war. Er musste nicht wissen, dass ihr vor wenigen Minuten der gleiche Gedanke gekommen war.

„Willkommen im Patton House. Schön, dass Sie heute hier sind. Brauchen Sie ein Auktionsheft?“

„Ich habe eins mitgebracht“, erwiderte Henrietta lächelnd.

„Wunderbar“, sagte der große Mann mit dem schütteren grauen Haar und dem Lächeln, das verriet, dass er für seine Höflichkeit bezahlt wurde. „Die Auktion beginnt in zwanzig Minuten in der Bibliothek. Hier entlang, bitte.“ Er deutete auf einen riesigen Flur, der zum Nordflügel des Hauses führte.

Als ein weiteres Paar eintrat, drehte er sich um und begrüßte es auf die gleiche Weise.

„Wie läuft so eine Auktion eigentlich ab?“, fragte Ralph, der in seinen khakifarbenen Cargoshorts und dem Hawaiihemd völlig fehl am Platz wirkte. Mit einem Fischerhut hätte er perfekt auf einen Fischkutter gepasst.

„Wir beobachten“, erklärte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Ach so, das sollte ich hinkriegen.“

Sie verkniff sich die spitze Bemerkung, die ihr fast reflexartig entfahren wäre, und stieg die breite Wendeltreppe hinauf. Sie schlängelte sich durch alle Etagen, aber ihr Ziel lag im ersten Stock. Zum Glück hatte man das Geländer in seiner ursprünglichen Form belassen, sodass sie die verschnörkelten Verzierungen und das satte Mahagonirot des Holzes bewundern konnte.

„Wie wär’s damit?“, fragte Ralph und hob den Deckel einer großen japanischen Vase an.

„Leg das sofort wieder hin!“, rief sie und stürzte mit ausgestreckten Händen auf ihn zu.

Mit großen Augen legte Ralph den verzierten Deckel vorsichtig auf die Vase.

„Das ist eine Achatvase aus dem 18. Jahrhundert, die ist teuer.“

Ralphs Augen wurden noch größer. „Am besten schaue ich nur und fasse nichts an.“

„Ja, tu mir den Gefallen.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging ins Spielzimmer, wie es auf der Liste stand. Dort gab es ein paar altmodische Kinderspielzeuge, die sie für den Laden kaufen wollte. Eines davon könnte für die stille Auktion infrage kommen, aber sie musste es persönlich in Augenschein nehmen, bevor sie sich entscheiden konnte.

„Was ist das?“ Ralph deutete auf ein buntes Kästchen auf dem Tisch.

Sie grinste. „Ein Schachtelteufel. Probier ihn aus.“

„Ich passe, lieber nicht.“ Er grinste zurück und sie lachte. Sie hätte dasselbe gesagt.

Henrietta durchquerte das große Zimmer. Wahrscheinlich war es einmal vom Boden bis zur Decke tapeziert gewesen. Die Tapeten waren verschwunden und einem meerschaumgrünen Anstrich gewichen. Die Fußleisten waren weiß, was dem Raum eine luftige, strandähnliche Atmosphäre verlieh. Es gefiel ihr, auch wenn die Vergangenheit dafür auf der Strecke geblieben war.

Überall standen große Klapptische mit verschiedenen Kunst- und Auktionsgegenständen. Henrietta ging um die Tische herum und prüfte mit geübtem Blick, was sich für ihren Onlineshop und für die Touristen eignete, die in den nächsten Monaten ihren Laden besuchen würden. Weihnachten stand vor der Tür – zumindest kam es ihr als Geschäftsfrau so vor – und sie musste vorausschauend denken.

„Wie wäre es damit?“, fragte Ralph und zeigte auf eine kleine Schachtel. „Die ist hübsch.“

Sie wollte gerade die Augen verdrehen und sich über Ralphs Laienwissen lustig machen, doch dann erregten Form und Beschaffenheit der Schachtel ihre Aufmerksamkeit.

„Hmm“, sagte sie, was Ralph ein Schmunzeln entlockte.

„Sag bloß, ich habe etwas gefunden, das dich wirklich interessiert. Halleluja! Ich glaube, mein Schwein pfeift.“

„Nicht so voreilig.“ Sie ging an ihm vorbei, beugte sich über den Tisch und hielt ihre lange Perlenkette fest, damit sie mit dieser nichts herunterriss.

Das Kästchen schien aus verschiedenen Hölzern gebaut worden zu sein, sogar mit Maserung, wodurch es an Wert gewann. Am liebsten hätte sie es in die Hand genommen, aber sie hielt sich zurück. Ein falscher Handgriff und sie könnte Tausende, wenn nicht sogar Hunderttausende hinblättern müssen.

„Was ist los?“, fragte Ralph, beugte sich vor und spähte über ihre Schulter.

„Ich bin mir nicht sicher, aber das Kästchen scheint sehr alt zu sein. Es könnte eine Rarität sein, aber das weiß ich erst, wenn ich es untersucht habe. Schade, dass Olivia nicht hier ist.“ Sie sah ihn kurz an.

„Tut mir leid, dass ich nicht so nützlich bin wie deine Assistentin.“

Sie lächelten sich an, gerade als unten ein Gong ertönte. „Es geht gleich los. Komm, wir gehen runter und Ralph“, sagte sie und blieb in der Tür stehen, um ihn anzusehen, „heb das Paddel nur hoch, wenn du es ernst meinst, und nicht, weil du dir damit Luft zufächeln möchtest. Es sei denn, du willst eintausend Dollar ausgeben.“

Er nickte. „Okay.“

***

Glücklicherweise gehörte das Inventar des Spielzimmers, wie es genannt wurde, zu den ersten Exponaten der Auktion. Es dauerte nicht lange, bis die kleineren Gegenstände aufgerufen wurden.

Henrietta bot auf ein Aufziehspielzeug aus Metall und erhielt bei fünfzig Dollar den Zuschlag vor einem arrogant wirkenden älteren Herrn, den Ralph prompt Mr. Hochnäsig taufte. Als die Schachtel aufgerufen wurde, durchlief sie ein Kribbeln.

„Da ist sie“, flüsterte Ralph viel zu laut. Leise war wohl einfach nicht sein Ding.

„Das sehe ich auch“, raunte sie, ihre Stimme kaum lauter als ein Windhauch. „Sei einfach still, okay?“

„Oh, natürlich.“

Sie wartete ungeduldig, während die Schachtel als handgeschnitzte Schmuckschatulle aus den frühen Achtzigern beschrieben wurde. Sie war sich nicht sicher, ob das angegebene Datum und die Beschreibung stimmten, denn wenn ja, müsste der Preis deutlich niedriger ausfallen. Zumindest hoffte sie das.

Die Auktion begann mit einem kleinen Betrag. Es gab einige Interessenten, aber als der Preis auf fünfhundert Dollar stieg, zogen sich die meisten zurück. Umso besser.

„Du hast es fast“, sagte Ralph.

Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. Er lenkte sie nur ab, darauf konnte sie im Moment verzichten.

Als sie das letzte Gebot abgeben wollte, hob sich eine Hand im hinteren Bereich. Henrietta erhöhte das Gebot, ihr Konkurrent folgte. Es war schwer zu erkennen, wer gegen sie bot. Die Hand sah weiblich aus, aber die schwarzen Handschuhe machten es unmöglich, es genau zu sagen. Und warum überhaupt Handschuhe? Dafür war es viel zu warm.

Andererseits kochten die Leute, die zu solchen Auktionen kamen, gern ihr eigenes Süppchen, wie ihre Mutter zu sagen pflegte.

„Wie weit willst du gehen?“, fragte Ralph, kaum leiser als der Auktionator.

„Psst“, zischte sie und sah ihn aus den Augenwinkeln an. Er zuckte leicht zurück und ließ sie weitermachen.

Sie und ihr Gegner überboten sich abwechselnd, bis Henrietta fast an ihre Schmerzgrenze kam. Sie konnte es sich leisten, weiterzumachen, aber wollte sie es auch? Andererseits war sie neugierig, wer außer ihr noch bereit war, über tausend Dollar für eine Schmuckschatulle auszugeben – handgeschnitzt oder nicht.

Als der Hammer fiel und Henrietta gewann, jubelte Ralph – natürlich viel zu laut. Henrietta dagegen begnügte sich mit einem zufriedenen Lächeln. Sie hatte gewonnen, wenn auch zu einem hohen Preis. Nicht, dass sie es sich nicht hätte leisten können, aber trotzdem.

Schnell erhob sie sich und versuchte, einen Blick auf ihren Konkurrenten zu erhaschen. Doch alles, was sie sah, war ein breitkrempiger Hut, der aus dem Raum verschwand. Seltsam.

„Holen wir jetzt die Schachtel?“, fragte Ralph mit einem Gesichtsausdruck, der sie an einen Welpen erinnerte, der sein neues Spielzeug ausprobieren will.

„Erst bezahlen, dann holen.“

„Mir egal, solange es auf dich geht. Wer hätte gedacht, dass eine Versteigerung so aufregend sein kann?“

Sie lachte und bedeutete ihm, ihr zum Tisch zu folgen, wo sie ihre Einkäufe bezahlen und abholen würde. Nachdem sie die Rechnung mit ihrer Kreditkarte beglichen hatte, nahm sie die verpackten Gegenstände und machte sich auf den Weg. Ralph folgte ihr.

„Wohin jetzt?“, fragte er, als sie wieder in ihrem Mini saßen.

„Zu mir. Olivia soll gleich überprüfen, was ich gekauft habe. Vergiss alles andere, das hat Vorrang.“

„Können wir unterwegs anhalten?“

„Wo denn?“, fragte sie, startete den Motor und schoss rückwärts aus der Parklücke.

Ralph schnallte sich hektisch an und umklammerte den Türgriff. „Äh“, sagte er und schluckte laut, „bei Frank’s Shrimp Shack.“

„Hast du jetzt schon Hunger?“

„Es ist fast Mittag.“

„Eher halb zwölf.“

„Ich bin früh aufgestanden.“

Sie warf ihm einen Seitenblick zu, und mit einem Schmunzeln überredete er sie, einen Zwischenstopp einzulegen, um sich Popcorn-Shrimps zu holen. Das Restaurant lag ohnehin auf dem Weg, dachte sie, als bräuchte sie einen Grund, um anzuhalten.

„Also gut, dann wollen wir mal.“

Auf der Hauptstraße gab sie Gas und kurz darauf bogen sie zu einer adretten korallenfarbigen Hütte am Meer ab. Sie hatte viel von Frank’s gehört, aber noch nie dort gegessen – wahrscheinlich, weil sie im Gegensatz zu den meisten Küstenbewohnern selten Meeresfrüchte aß.

„Willst du auch was?“, fragte er, als sie aus dem Auto stiegen.

„Vielleicht“, antwortete sie und sah ihn an.

„Was denn?“

„Ich weiß nicht. Ich war noch nie hier.“

„Wirklich?“

„Ja, wirklich.“

Er zuckte mit den Schultern und betrachtete die Hütte. „Marjory mochte Garnelen nicht besonders.“

Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, und der hatte nichts mit der Meeresbrise zu tun. Trotz aller Neckereien und Sticheleien hatten Henrietta und Ralph eine gemeinsame Vergangenheit, die sich in Momenten wie diesem in bedrückendem Schweigen und Schuldgefühlen zeigte. Zumindest auf Henriettas Seite.

Sie war eine enge Freundin von Ralphs verstorbener Frau Marjory gewesen. Sie waren miteinander aufgewachsen, hatten ihre Nachmittage zusammen verbracht, mit Puppen gespielt und während der Schulzeit ihre heimlichen Schwärmereien geteilt. Als Marjory mit ihrer Familie weggezogen war, hatten sie sich Briefe geschrieben und so den Kontakt aufrechterhalten.

Während der Highschool besuchten sie sich in den Sommerferien, aber mit dem Beginn des Studiums brach der Kontakt schließlich ab. Erst als sie Jahre später in ihre Heimatstadt Heart’s Grove zurückkehrten, nahmen sie ihre Freundschaft erneut auf. Damals war Marjory bereits mit Ralph verheiratet und er war ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens geworden.

Drei Jahre waren seit Marjorys Tod vergangen, aber Henrietta fühlte sich immer noch schuldig, wenn sie Zeit mit dem Ehemann ihrer besten Freundin verbrachte. Manchmal fragte sie sich, ob er mehr für sie empfand, aber sie wollte diesen Gedanken nicht weiterverfolgen. Stattdessen sorgte sie mit einer gehörigen Portion Sarkasmus und emotionaler Distanz dafür, dass alles harmlos blieb. Meistens funktionierte es.

„Das habe ich vergessen.“

Er sagte nichts, nickte nur und hielt ihr die Tür auf.

Garnelenduft wehte ihnen entgegen, als sie das kühle Gebäude betraten und von einem freundlichen jungen Mann mit Zahnspange und roten Haaren begrüßt wurden.

„Hallo, willkommen bei Frank’s. Was darf’s sein?“

„Ich würde gern mit dem Besitzer sprechen“, sagte Ralph.

Henrietta erstarrte, sie warf ihm einen Blick zu, aber er schien es nicht zu bemerken oder ignorierte es.

„Ich hole ihn. Einen Moment, bitte.“

„Was soll das?“, fragte sie, bekam aber keine Antwort, denn ein rundlicher Mann mit schmutziger Schürze und Haarnetz erschien.

„Ich bin Frank. Mein Typ wird verlangt?“, fragte er mit einem Akzent, den Henrietta nicht zuordnen konnte.

„Genau. Ich bin Ralph Gershwin von Gershwin Private Investigators. Das ist meine Partnerin, Henrietta.“

Sie sah Ralph finster an, schenkte dem Mann dagegen ein charmantes Lächeln.

„Was gibt’s denn?“

„Wir würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Unter vier Augen.“

„Sicher“, sagte er und schaute kurz zu seinem jungen Angestellten. „Du übernimmst.“

Henrietta folgte den beiden nach draußen, wo sie auf einen Tisch an der Seitenwand des Gebäudes zusteuerten.

Worauf hatte sie sich nur eingelassen?