Prolog
Es gibt Momente, in denen einem der Tod verführerischer erscheint als das Leben.
Sie versuchte vergeblich, die Geräusche auszublenden, die durch die dünne Wand aus dem Nebenzimmer zu ihr herüberdrangen. Doch die fest an die Ohren gepressten Hände nutzten nichts. Sie kauerte auf dem Boden, wiegte sich vor und zurück und begann, fast lautlos eine Melodie zu summen. Ein Lied aus der Kindheit, das ihr nur kurz eine scheinbare Sicherheit vermittelte. Solange, bis die Holzdielen unter ihren Füßen erzitterten.
Die junge Frau sprang auf und rannte quer durch den Raum auf das winzige Dachfenster zu. Es war die einzige Lichtquelle, unerreichbar hoch. Es gab nichts in dem Zimmer, auf das sie sich hätte stellen können. In ihrer Verzweiflung hüpfte sie auf und ab. Ihre Fingerspitzen glitten über das Metall, ohne Chance, an den Griff zu gelangen. Der im Übrigen mit einem Schloss gesichert war.
Sie spürte am kalten Luftzug, dass die Tür geöffnet wurde, noch bevor sie es hörte. Außer Atem drehte sie sich um. Ihr Hirn weigerte sich zu erfassen, was ihre Augen sahen, sie presste unwillkürlich beide Hände vor den Mund.
Kapitel 1
Lena Borowskis Arm schnellte nach vorn. Ihre Faust traf das Ziel mit einem satten Knall. Sie schwitzte vor Anstrengung, Rinnsale von Schweiß liefen zwischen ihren Brüsten und den Schulterblättern hinunter und durchnässten ihr dünnes Shirt. Sie stellte sich das Gesicht eines Mannes vor, dessen Ausdruck beim letzten Schlag von grenzenloser Arroganz zu schmerzhafter Verblüffung wechselte. Das reichte, um sämtliche noch schlafende Energien in ihr zu mobilisieren. Obwohl sie ihn nicht persönlich kannte, hatte sie eine Rechnung mit ihm offen. Die konnte sie zurzeit nur in der Fantasie begleichen.
»Drecksack«, murmelte sie, tänzelte zurück und schlug noch drei Mal zu. Rechts, links, rechts. Dann eine leichte Drehung des Körpers, ein wuchtiger Tritt mit dem Fuß von der Seite. Sie hatte all ihre Kraft hineingelegt. Das Gesicht verschwand vor ihren Augen. So, wie der Mann verschwunden war, nachdem er ihr Leben und das Leben ihr nahestehender Menschen schmerzhaft berührt hatte.
»Lena, pass auf deinen festen Stand auf«, rief jemand schräg hinter ihr. »Würdest du auf einen lebendigen Widersacher eindreschen statt auf einen Sandsack, lägst du jetzt am Boden.«
»Nur, wenn er so gut wäre wie du«, knurrte sie. Sie schlug noch ein paar Mal völlig unkontrolliert zu, um ihren Körper komplett auszupowern, bevor sie sich mit einem lauten Ächzen mit dem Rücken gegen die Wand fallen ließ. Der Schweiß lief ihr brennend in die Augen. Das Gesicht aus ihrer Vorstellung verschwamm. Leider nicht die Wut, die sie erfasste, sobald sie an den Kerl dachte.
Jochen, ihr Coach im Fitnessstudio, kam mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck näher.
»Alles okay bei dir?«
»Klar, warum nicht?« Sie wischte sich mit dem Handtuch über Stirn und Nacken.
»Du wirkst so … aggressiv in den letzten Wochen.«
»Ist einiges passiert«, murmelte sie. »Aber keine Angst, ich werde niemandem an den Karren fahren, ich baue nur Stress ab.«
»Okay. Dienstag Selbstverteidigung?« Jochen hob das Klemmbrett mit ihrem Trainingsplan und blickte sie fragend an.
»Wie gehabt. Um fünf.« Sie stieß sich von der Wand ab, um zu den Waschräumen hinüberzutrotten.
***
Das Leben der Sozialarbeiterin Lena Borowski war einige Monate zuvor aus dem Takt geraten. Genauer an dem Tag, an dem sie sich einer Jugendfreundin zuliebe auf die Suche nach einer verschwundenen Frau gemacht hatte. Niemals hätte sie gedacht, dass dieser Gefallen sie schmerzhaft mit der eigenen Vergangenheit konfrontieren würde. Noch weniger vorhersehbar waren die Auswirkungen auf die Gegenwart.
Als Lena ihre Wohnung im unteren Teil des Buchrainwegs in Offenbach betrat, fiel ihr als Erstes die Stille auf, die an diesem Abend herrschte. Das Haus schien wie ausgestorben. Auf einen Schlag fühlte sie sich einsam. Das Adrenalin, das kurze Zeit nach dem Training durch ihre Adern gerauscht war, war verflogen. Sie verspürte eine merkwürdig unkörperliche Müdigkeit.
Ein Blick zum Telefon zeigte, dass keine Nachricht für sie vorlag. Ihr Handy blieb ebenfalls stumm. Lena warf sich in einen Sessel, durch ihren Kopf zogen Bilder der jüngsten Vergangenheit. Ihre Beziehung zu einer Reihe von Personen hatte sich durch die Geschehnisse nachhaltig verändert.
Tamae, ihre japanische Geliebte. Sie war kürzlich in ihre Heimat zurückgekehrt. »Für ein Projekt, das über mehrere Monate läuft«, lautete ihre Erklärung. Lena und sie wussten beide, dass das eine Umschreibung dafür war, Zeit zu gewinnen. Zeit, um darüber nachzudenken, ob und wie ihre Beziehung noch eine Zukunft hatte.
Karin, ihre zweite Geliebte. Die Frau, die sie in den letzten Wochen und Monaten mit ihrer so fürsorglichen wie selbstlosen Liebe ummantelt hatte. Die nie ein Wort des Zweifels ausgesprochen hatte. Dennoch spürte Lena inzwischen auch bei ihr eine Tendenz, sich zurückzuziehen. Vielleicht, weil auch Karins Kräfte begrenzt waren und sie auftanken musste. Oder weil auch sie Lena die Möglichkeit geben wollte, eine wichtige Entscheidung zu treffen.
Gerd Rohloff. Der Mann, dem verschiedene Etablissements im Frankfurter Rotlichtviertel gehörten. Er hatte Lena aus dem Gleichgewicht gebracht, bereits bei ihrer ersten Begegnung. Sie war lesbisch, hatte bisher nie Interesse für einen Mann gezeigt. Bis sie Gerd Rohloff traf.
Diesen Gefühlen musste sie sich früher oder später stellen. Gleichzeitig bedeuteten genau diese Gefühle Gefahr.
Lieber später, signalisierte ihr Unterbewusstsein.
***
Sunita wusste nicht, wo sie war. Nach ihrer Ankunft am Flughafen hatte man sie in einem abgedunkelten, nach Zigarettenqualm stinkenden Lieferwagen scheinbar endlos herumgefahren und sie dann in dieses Haus gebracht. In der Diele stand eine Frau, die sich Mammy nannte. Sie musterte sie kalt. Ihre Blicke wanderten an Sunitas Körper auf und ab, bevor sie sie in einen kleinen, kühlen Raum zog. Dort tat sie einige Dinge, die Sunita bis ins Mark erschreckten, und sagte ihr eindringlich, was passieren würde, sollte sie nicht ab sofort aufs Wort gehorchen.
Man brachte sie in eine Dachkammer, wo sie auf einer Matratze hockte und über das nachdachte, was Mammy ihr gesagt hatte. Das Herz schlug ihr aus Angst bis zum Hals.
Die massige Frau war aus demselben Land wie sie, was sie nur kurz gefreut hatte. Schnell war diese Freude in Unbehagen umgeschlagen, dann in Furcht. Die Ältere hatte nichts Mütterliches. Sie würde keine der Fragen beantworten, die Sunita auf der Seele brannten. Genauso wenig wie die Fremde, die sie aus der Heimat hierher begleitet hatte. Den Flug über wechselten sie kaum ein Wort. Am Flughafen verschwand die andere, nachdem sie sie den Männern mit dem Lieferwagen übergeben hatte. Als wäre sie ein Paket.
Das Arrangement war erprobt und ging routiniert ab. Das spürte die junge Frau. Sie rollte sich zusammen, um die Wärme ihres eigenen Körpers zu fühlen.
Wo war sie? Was war es, was man von ihr wollte? Nichts von dem, was man ihren Eltern erzählt hatte, schien zu stimmen. Sunita dachte an ihr Heimatdorf, die fröhlich plappernden Stimmen ihrer Schwestern, das Mahnen ihrer Mutter, wenn sie alle mal wieder zu übermütig waren. Die harte Arbeit im Haus und auf dem Feld, die sie oft so gehasst hatte. Jetzt hätte sie wer weiß was gegeben, um wieder dort sein zu können. Sie presste die Lider fest zusammen. Redete sich ein, alles sei nur ein schlechter Traum. Als sie ihre Augen wieder öffnete, hatte sich nichts verändert. Es war Realität. Die Erkenntnis dröhnte in ihrem Kopf, als habe jemand einen Gong geschlagen.
Um sie herum war es absolut still. Sie ahnte, dass das nicht immer so war.
Sie starrte in das Halbdunkel um sie herum, bis sie endlich einschlief.
***
Gerd Rohloff unterbrach die Verbindung, als Lenas Mobilbox ansprang. Seit Wochen ging das so. Als ob sie sich von ihm entfernen würde. Er sah nachdenklich auf das Display. Entschied, keine SMS zu senden.
Lena beschäftigte ihn, seit sie sich das erste Mal begegnet waren. Wie eingebrannt in sein Gedächtnis war dieser Moment, als ihm die schlanke Frau mit den kurzen, fast schwarzen Haaren in einem seiner Läden, dem »Kinky-Klub«, gegenüberstand. Der intensive Blick ihrer grünen Augen. Als sich ihre Hände berührten und sie beide spürten, dass etwas zwischen ihnen vorging. Wie er ihr hinterherblickte, sich dabei ertappte, ihr auf den festen Hintern zu sehen, obwohl das nebensächlich war. Sie zog ihn an, auch erotisch, obwohl sie überhaupt nicht sein Typ war. Und er nicht ihrer. Lena war lesbisch und nicht darauf aus, mit ihm ins Bett zu gehen. Vielmehr fühlte er den Wunsch, ihr nahe zu sein, sie zu beschützen. Doch noch nicht einmal das würde sie annehmen wollen. Sie konnte gut auf sich selbst aufpassen, hatte sie ihm bereits vermittelt.
Er wusste, welch eine schwierige Zeit hinter ihr lag. Dass sie seinen Rat gesucht und seine Nähe angenommen hatte, hatte ihn glücklich gemacht. Es war diese Art von Glück, die Menschen nicht oft vergönnt war, weil sie an die Gegenwart von besonderen Menschen gebunden war, denen man im Leben nicht häufig begegnete. Weil er nach dem Tod seiner Frau nicht mehr geglaubt hatte, jemals wieder eine so starke Empfindung für jemand anderen haben zu können, hatte ihn Lena so umgehauen.
Wie es ihr wohl ging? Sie musste mit so vielem fertigwerden.
Sie würde nicht antworten. Nicht heute, nicht morgen. Aber irgendwann. Er hatte sie berührt, das wusste er, sie konnte nur noch nichts damit anfangen.
***
Dem Mann hing der Bauch über die schlechtsitzende Hose, er roch nach Bier und Schnaps.
»Komm her«, bedeutete er ihr.
Sunita schauderte bei der Vorstellung von körperlicher Nähe zu dem Fremden. Sie blieb an der Türschwelle stehen.
Ein Stoß zwischen die Schultern beförderte sie vorwärts, zu Boden, direkt vor die Beine des auf dem Bett sitzenden Dicken.
Er sagte etwas. Sie ahnte nur, was es bedeutete. Seine Stimme knarzte und das dreckige Lachen, das folgte, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.
»Los jetzt. Du bist nicht zum Faulenzen hier. Mach, wie ich es dir gezeigt habe!«
Mammy stand hinter ihr. Gnadenlos. Sunita drehte sich zu der Frau um. Ihre Augen flehten, ihr das zu ersparen, was sie verlangte.
»Bitte«, sagte sie leise. In der Sprache, die nur sie beide verstanden.
Als Antwort fiel die Tür krachend ins Schloss. Sie war allein mit dem Fremden.
Die Zunge des Mannes glitt über seine Lippen. Sunita fand den Anblick der nassen roten Haut ekelhaft. Mit einer Geste gab er ihr zu verstehen, was er von ihr erwartete. Sie dachte an das, was Mammy ihr beigebracht hatte, und griff nach dem Reißverschluss seiner Hose. Versuchte, ihn zu öffnen. Ihre Finger zitterten so sehr, dass sie es nicht schaffte. Der Mann schlug ihr auf den Kopf und fuhr sie an. Er hatte es eilig, daher öffnete er die Hose selbst.
Er stank.
Angewidert drehte sie den Kopf zur Seite. Sie musste schlucken, krampfhaft, immer und immer wieder. Ihr Mund hatte sich mit Speichel gefüllt, der nach Kotze schmeckte. Seine Hand krallte sich unnachgiebig in ihr Haar, er zog sie heran, drückte ihr Gesicht in den schmutzigen Schritt. Sunita würgte, sie wusste, sie würde nicht tun können, was man ihr befohlen hatte. Aus dem Würgen wurde ein hysterischer Schluckauf. Speichel lief ihr über die Unterlippe. Dann sperrte ihr Kiefer, als wäre er mit einem Schraubstock verschlossen. Sie hörte das Knirschen ihrer eigenen Zähne und spürte den Schmerz unter den Ohren.
Der Mann schlug sie ins Gesicht, ein harter Schlag traf ihr linkes Ohr, ein weiterer ihre Schläfe. Jetzt schrie er, mit hässlich verzerrtem Mund. Seine Augen glitzerten bösartig. Sunita robbte nach hinten weg, ein Fußtritt gegen die Rippen war die Antwort. Er stand auf und schaute auf sie herab. Zornerfüllt. Er glaubte, ein Recht auf das zu haben, was sie ihm nicht geben konnte und wollte. Ekel erfasste sie bei seinem Anblick.
Wütend zog er den Gürtel aus der Hose, ohne den Blick von ihr zu lassen. Sie kam mühsam auf die Beine, aber er hielt sie am Nacken gepackt, als wäre sie eine Katze, die er gleich ersäufen wollte. Sunita schrie, obwohl sie wusste, dass niemand kommen würde. Zu oft schon hatte sie das Schreien der anderen Mädchen mithören müssen. Würde auch ihr passieren, was ihnen passiert war?
Der Dicke holte aus, das harte Leder traf Sunita wie eine Peitsche. Knallte schmerzhaft auf ihre Arme, ihre Beine. Sunita weinte, sie hielt schützend die Hände vors Gesicht und wandte sich ab. Der Gürtel traf ihren Rücken. Die Schnalle riss ihr die Haut unter dem dünnen Hemd auf. Noch einmal traf sie das Metall, dieses Mal im Nacken. Sie heulte auf und stolperte, im Versuch, den Schlägen zu entkommen.
Die Tür flog auf. Ein Mann kam ins Zimmer, groß und schwarz. Der Dicke hörte auf zu traktieren, keuchend wandte er sich dem Neuankömmling zu.
»Genug!«, sagte der und fuhr mit schnell gesprochenen Worten fort, die Sunita nicht verstand. Seine Kopfbewegung hingegen konnte sie deuten, und sie huschte mit tränennassem Gesicht nach draußen. Vor der Tür wartete Mammy. Sie machte klackernde Geräusche mit der Zunge und schüttelte langsam den Kopf.
»Du hast uns enttäuscht«, sagte sie. Ihre Augen blickten mitleidslos auf die noch immer weinende Jüngere.
»Wir werden dich lehren, unsere Befehle zu befolgen.«
Damit griff sie Sunita am Arm und zog sie mit sich. Nicht dorthin, wo sie normalerweise schlief. Sondern in die andere Richtung. Nach unten. In den Keller. Sunita wollte schreien, aber ihr Unterkiefer war erneut so verkrampft, dass kein Ton über ihre Lippen kam.
Kapitel 2
Lena stand im ersten Stock am Fenster eines dreistöckigen, schmucklosen Bürogebäudes in der Pittlerstraße im Industriegebiet von Langen und sah in den grauen, diesigen Februarhimmel hinauf. Danach hinunter auf die Gruppe von Menschen, die das Haus verließen. Einzelne gingen eilig davon, während andere noch in Grüppchen stehen blieben, in Gespräche vertieft. Zigaretten wurden angezündet, jemand lachte so laut, dass es bis zu ihr nach oben schallte.
»Wie lief es?« Adelheid Wormser, die stellvertretende Geschäftsführerin der »Gemeinnützigen Gesellschaft für Ausbildung und Beschäftigung«, kurz gGAB, betrat den Raum.
»Ganz okay«, murmelte Lena. Von den eingeladenen Hartz-IV-Empfängern waren nicht alle zum Bewerbungskurs erschienen. Lena hatte im Querschnittsteam, das inzwischen offiziell »Team für ämterübergreifende soziale Arbeit« hieß, die Aufgabe übernommen, die zentrale Ansprechpartnerin für alle Fragen bezüglich dieser Kurse zu sein. Normalerweise nahm sie daher seit Kurzem an den Einführungsveranstaltungen teil, die Emilia Hornauer hielt. Doch die war an diesem Morgen weder zur Arbeit erschienen, noch hatte sie sich gemeldet.
Lena und Emilia waren am Vortag gemeinsam im Kreishaus in Dietzenbach in einer Besprechung gewesen, die sich schier endlos hinzog. Zwei Teilnehmer der Arbeitsgruppe verspäteten sich, einer der beiden über zwanzig Minuten. Obwohl die Agenda wie üblich ziemlich vollgestopft war, ging es nur im Schneckentempo voran. Einer der Tagesordnungspunkte war die Zusammenarbeit einzelner Abteilungen. Konkret ging es an diesem Tag um die Abstimmung zwischen den Fallmanagern und Emilia. Erstere waren bei der »Komm-Job«, dem bei der Kreisverwaltung angesiedelten kommunalen Arbeitscenter, ständige Ansprechpartner der Bezieher von Hartz IV und schlugen arbeitslose Klienten für die Kurse bei der gGAB vor. Die bot auch Ausbildungs- und Arbeitsplätze für schwer vermittelbare Jugendliche und Erwachsene an, mit entsprechender fachlicher und sozialpädagogischer Begleitung. Emilia, die ebenfalls beim »Komm-Job« arbeitete, kümmerte sich als Sozialarbeiterin vor Ort in Langen um den Ablauf. Lena vertrat in der Runde das ämterübergreifende Querschnittsteam, in dem sie seit einigen Monaten eingesetzt war.
Neben Lena rutschte Emilia nervös auf ihrem Stuhl herum.
Sie schien unter Termindruck zu sein. Lena konnte das nachvollziehen, die angesetzte Zeit war bereits um, und sie hatten bisher nur zwei Drittel der Tagesordnung abgearbeitet.
Als sie endlich mit allem durch waren, summte Emilias Handy, nicht zum ersten Mal an diesem Nachmittag. Sie sprang eilig auf. »Sorry, ich muss da mal drangehen«, murmelte sie und verließ den Besprechungsraum. Als sie zurückkehrte, waren die anderen bereits dabei, ihre Sachen zusammenzupacken.
»Ich mach mich vom Acker, tschüss!«, rief Emilia in die Runde, schnappte sich Handtasche und Jacke. Sie ging so hastig davon, dass sie dabei fast jemanden umrannte.
»Was ist denn mit der los?«, murmelte Renate Kloß, eine Abteilungsleiterin der »Komm-Job«.
Lena zuckte die Schultern. Sie wollte ebenfalls gehen, wurde aber noch in ein Gespräch verwickelt. Als sie danach nach ihrem Parka griff, fiel ihr die Aktentasche auf, die am Boden stand. Am Schloss waren die Initialen E.H. eingraviert. Sie gehörte Emilia, die sie in der Eile vergessen hatte.
Lena kannte die Kollegin privat und wusste, wo sie wohnte. Sie beschloss, Emilia anzurufen und ihr die Tasche später vorbeizubringen.
Doch daraus war nichts geworden, sie hatte Emilia am Vorabend nicht erreicht, und nun war sie auch nicht zur Arbeit erschienen.
Seufzend folgte Lena der großen, dünnen Gestalt von Adelheid Wormser, die sie zu Emilias Büro führte.
»Du bist ja heute ihre Vertretung. Wenn du willst, kannst du das Protokoll hier schreiben.«
Lena nickte. Emilias Einzelbüro war wesentlich ruhiger als ihr Arbeitsplatz in dem Container in Dietzenbach, in den man Lena und ihre Teamkollegen vor einiger Zeit verfrachtet hatte. Nein, sie hatte ganz und gar nichts dagegen, konzentriert arbeiten zu können.
Nur Emilias Abwesenheit gab ihr zu denken. Es passte überhaupt nicht zu der so akkuraten Person, sich nicht zu melden.
***
Henry Thompson spürte das Brennen in den Schenkeln. Noch ein paar Minuten, dann ging es querfeldein.
Er hatte sich Anfang des Jahres ein striktes Fitnessprogramm auferlegt und joggte bereits seit einer halben Stunde durch den Wald rund um den Buchrainweiher herum. Nach der dritten Runde lief er unter der Unterführung der A661 durch zurück in Richtung der Schrebergärten, bog jedoch vorher gleich wieder nach rechts ab. Entlang eines ziemlich vermüllten Wegs und vorbei an einigen verwahrlost aussehenden Grundstücken machte er ein paar Schritte quer durchs Unterholz. Dabei sprang er leichtfüßig über Äste und kleinere Büsche, machte zwischendrin ein paar Klimmzüge an einem tiefhängenden Ast. Der vom Regen der vergangenen Nacht feuchte Boden schmatzte unter seinen Füßen. Dort, wo er normalerweise den Haken schlug, um zu seinem am Rand des Kleingartengeländes geparkten Wagen zurückzulaufen, erhaschte er aus den Augenwinkeln heraus etwas, das nicht hierhergehörte. Henry blieb stehen, sein Atem ging schnell. Er beugte sich kurz nach vorne, stützte sich auf den Oberschenkeln ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er blickte auf und erfasste, was er da sah.
»Shit«, schrie er. Mit schnellen Schritten war er zu der Stelle gerannt, wo etwas an einem Baum hin. Etwas Großes, eindeutig Menschliches.
»Oh no«, stöhnte er. Fassungslos starrte er auf das Szenario. Ein schwarzer Klappstuhl aus Kunststoff lag umgekippt zwischen dem Grün und Braun des Waldbodens. Die Frau musste dort hinaufgestiegen sein, um sich den Strick um den Hals zu legen. Hatte sie gezögert oder ging es schnell? Niemand würde es je erfahren.
Der Schweiß auf seinem Körper wurde mit einem Schlag eiskalt.
»Lady, leben Sie noch?«, fragte er. Völlig irrational, so wie die Geste, mit der er an ihr Bein fasste. Er taumelte zurück, als die Leiche dadurch in Bewegung geriet. Alles, was er sah, sprach eine deutliche Sprache. Diese Frau war tot. Weswegen auch immer sie sich das Leben genommen hatte, sie hatte es gründlich getan.
Henry wurde übel, er musste ein paar Schritte weggehen von dem, was er sah und roch. Gallenbitter stieg ihm der Magensaft in die Kehle, er übergab sich in ein Gebüsch, bevor er nach seinem Mobiltelefon tastete und die 110 anrief.