Kapitel 3
Es schien so, als wäre Detective Constable Mike Bowen als Erster im Büro eingetroffen, was ungewöhnlich war. Seine Jacke hing über der Stuhllehne und sein Computer war eingeschaltet. Aggie, ihre neue Verwaltungsangestellte, startete gerade ihren Computer und sah auf, als Sara hereinkam.
„Mike ist los, um die Brötchen zu holen“, sagte sie und zog ihre Strickjacke enger um ihren Bauch, um sich warm zu halten.
Aufgrund von Sparmaßnahmen hatten sie die Heizung in diesem Winter im Großraumbüro, sowie auch im Rest des Gebäudes, heruntergedrosselt. Bisher ließ es sich aushalten, allerdings war es draußen noch nicht besonders kalt. Windig und regnerisch, ja, aber immer noch mild für Dezember. Sara hatte sich ein paar schicke Schals gekauft, um den Luftzug von ihrem Nacken fernzuhalten.
Seit dem Sommer hatte sich das Team der Abteilung für Schwerverbrechen verändert. Es gab einen neuen jungen Detective Constable namens Ian Noble. Er war groß, blond und schlaksig, enthusiastisch und noch unerfahren. Er erinnerte Sara an ihre Lieblingszeichentrickfigur aus der Kindheit, Inspector Gadget. Und dann war da noch die Verwaltungsangestellte Aggie Hewett, die sich wie eine Glucke um sie alle kümmerte. Sie war Mitte fünfzig, klein und unscheinbar und überraschend gut am Computer. Sie hatte sich schnell mit den Datenbanksystemen der Polizei vertraut gemacht und tippte so schnell, dass Sara ihren Fingern nicht folgen konnte.
„Ich habe eine Kleinigkeit für später mitgebracht.“ Aggie deutete auf eine Kuchenform auf dem Regal neben der Kaffeemaschine. Aggies Backkünste wurden langsam legendär. Besucher von der Sitte und der Drogenabteilung kamen immer wieder auf einen Plausch vorbei, nur für den Fall, dass es etwas Selbstgemachtes gab. Sogar der stellvertretende Polizeipräsident Miller kam gelegentlich vorbei und nahm dankbar ein Stück Kuchen an.
Sara öffnete ihre Akten und bereitete sich auf den Morgen vor. Sie und Bowen wollten den Wirt eines Pubs in Cromer wegen einer Straßenschlägerei befragen und dann mit ein paar Verdächtigen aus dem Ort sprechen. Das war keine spannende Arbeit, aber Sara konnte dafür ihren Schreibtisch verlassen. DI Edwards hatte Noble unter seine Fittiche genommen, und die beiden hatten vor, heute früh zur Grenze von Suffolk zu fahren, um eine Reihe von Einbrüchen zu untersuchen.
Sara nahm sich einen Kaffee.
„Es hat keinen Sinn, zu früh dorthin zu fahren.“ Bowen tauchte neben ihr auf und warf ein Schinkenbrötchen auf ihre Arbeitsunterlagen. „Pub-Besitzer sind normalerweise keine Frühaufsteher. Es sei denn, sie müssen raus.“
„Bei der langen Anfahrt macht der Pub auf, wenn wir ankommen“, erwiderte Sara, während sie Ketchup auf den gebratenen Schinken auf ihrem Brötchen schmierte. „Wir gehen, sobald wir gegessen haben.“
Bowen widersprach nicht. Als er die Kuchenform entdeckte, zwinkerte er Aggie zu. „Was gibt es heute?“
„Zitronenkuchen. Das ist Ihr Lieblingskuchen, oder?“ Aggie lächelte ihn an.
Er nickte begeistert. Sara wusste, dass er mit der Frau flirtete, und warum auch nicht? Sie waren etwa gleich alt. Das war passender als die Schwärmerei, die er im Sommer für Detective Constable Ellie James gehegt hatte. Im August hatte Saras Ankunft in ihrem Team Bowen gehörig aus der Fassung gebracht. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Ellie die Beförderung bekommen. Das hatte Bowen Sara auf nicht gerade subtile Weise wissen lassen.
Ellie hatte jedoch wenige Zeit später ebenfalls ihre Beförderung zum Detective Sergeant erhalten. Vor einigen Wochen war sie in die Abteilung für Drogenkriminalität versetzt worden. Bowen hatte sich schließlich damit abgefunden, dass Sara seine unmittelbare Vorgesetzte war. Seine langjährige Betriebszugehörigkeit und seine scharfe Beobachtungsgabe machten ihn zu einer Bereicherung des Teams, auch wenn er nicht mit Sara mithalten konnte, wenn sie losrannte. Seit dem Sommer waren Sara und Ellie Freundinnen geworden. Sie trafen sich gelegentlich zu Mädelsabenden, tranken Cocktails in einigen der angesagten Bars im Stadtzentrum von Norwich und taten für ein paar Stunden so, als wären sie keine Polizistinnen.
„Es geht um den Duke, oder?“ Bowen wischte sich Ketchup von den Fingern. „Ich kenne den Wirt.“
Sara spülte ihr Brötchen mit Kaffee hinunter. „Natürlich. Gibt es einen Wirt in Norfolk, den Sie nicht kennen?“
„Einen oder zwei.“ Bowen grinste. „So viel trinke ich nun auch wieder nicht.“
Sara sah vielsagend auf seinen Bierbauch.
„Hey! Das ist mein Winterpolster.“
Aggie kicherte aus der Ecke. Sara verdrehte die Augen. „Lassen Sie uns losfahren, ja?“
***
Sie parkten in Cromer. Als sie nach Norwich zog, hatten die großen Entfernungen zwischen den Orten Sara zunächst überrascht. Die Grafschaft war groß und das Straßennetz schlecht. Irgendwohin zu fahren dauerte immer lange. Der Badeort Cromer lag fast eine Stunde von Norwich entfernt. Sara war überrascht, wie viele Menschen hier durch die Straßen bummelten. Cafés mit fröhlicher Weihnachtsdekoration verkauften Kaffee und Kuchen an Kunden und Kundinnen, die sich mit Schals und Mützen vermummt hatten.
„Viel los hier“, sagte Sara.
„Liegt an der Weihnachtsshow“, sagte Bowen. Sara sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. „Sie haben unten am Pier einen hübschen kleinen Theaterpavillon. Früher habe ich meine Mutter immer dorthin mitgebracht. Die Show ist sehr beliebt.“
Der Nordseewind wehte erfrischend durch die engen Gassen. Der Himmel war grau, aber ausnahmsweise regnete es nicht. Der Pub mit dem Namen The Duke stand an einer Straßenecke, nur einen Katzensprung entfernt von dem Serpentinenweg, der an den Klippen hinunter zur Promenade und zum Pier führte. Als sie näherkamen, schloss ein junger Mann die Türen des Pubs auf, um eine kleine Gruppe älterer Männer hereinzulassen, einige von ihnen mit angeleinten Hunden. Sie mussten Stammgäste sein, denn der Barmann begann, Bier zu zapfen, ohne nach Bestellungen zu fragen. Er steckte ihr Geld in die Kasse und wartete, bis jeder Kunde sich auf seinen Lieblingsplatz gesetzt hatte, bevor er sich an Sara und Bowen wandte.
„Wir müssen mit Arnie sprechen.“ Bowen zeigte seinen Dienstausweis vor.
„Wegen der Schlägerei? Er ist oben in der Wohnung.“ Der Barmann zeigte zur Decke. „Ich rufe ihn.“
Sara nahm an, dass er zum Handy greifen würde, aber er meinte das wohl wörtlich. Er öffnete eine Tür an einem Ende der Bar, hinter der sich eine Treppe befand, und schrie: „Arnie, die Polizei ist da.“
„Schick sie rauf“, antwortete eine Stimme. Der Barmann hob die Klappe an der Bar hoch und ließ sie nach oben gehen.
Arnie führte sie in sein Wohnzimmer und bot ihnen Sitzplätze und Getränke an, bevor er sich niederließ. „Mike Bowen, lange nicht gesehen.“
„Ich komme nicht mehr so oft in die Gegend“, stimmte Bowen zu. „Also, erzähl mir von diesem Vorfall.“
„Hast du das Video von der Überwachungskamera gesehen? Ich habe es den Polizisten gegeben.“
„Ja, vielleicht können wir die Beteiligten anhand des Videos identifizieren. Kanntest du sie?“
„Das waren ein paar kleine Unruhestifter aus Runton, glaube ich. Ich kenne ihre Namen nicht.“
Saras Handy brummte in ihrer Handtasche. Sie sah auf den Bildschirm. Mit einer Entschuldigung ging sie hinaus auf den Treppenabsatz und zog die Tür hinter sich zu.
„Sara, wo sind Sie?“, fragte DI Edwards, sobald sie den Anruf annahm.
„Cromer, Sir. Wegen der Straßenschlägerei.“
„Sie schnallen besser die Raketenrollschuhe an“, sagte ihr Chef. Sein Ton war grimmig. „Wir haben einen Code Eins. Ein Hundehalter hat eine Leiche gefunden, eingewickelt und in Stiffkey Woods bei Fakenham entsorgt. Ich bin so weit weg, wie es nur geht. Ich möchte, dass Sie dorthin fahren. Ich komme nach, sobald ich kann.“
Kapitel 4
Der Stahl des Messers glitzerte an der braunen Haut ihres Freundes, als die scharfe Klinge gnadenlos an seiner Kehle ruhte. Der Mann, der es hielt, strahlte eine wilde Entschlossenheit aus.
Danni erkannte den muskulösen weißen Mann. Sein Spitzname war Striker. Sie kannte seinen richtigen Namen nicht, noch hatte sie gewusst, dass er für die Frau arbeitete, die in der Wohnzimmertür stand. Lisa London, die gefürchtetste Dealerin des Hayridge Estate, der berüchtigtsten Wohnsiedlung der ganzen Hauptstadt. London lehnte sich im Türrahmen zurück und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Langes, glänzendes, braunes Haar fiel ihr über die Schultern. Sie war schlank und groß, ihr Make-up makellos. Das ergab Sinn, denn sie musste wohl nie ins Schwitzen kommen, wenn Striker die ganze Drecksarbeit für sie erledigte.
„Dein Freund sollte seine Rechnungen bezahlen“, sagte London. „Stimmt doch, oder, Johnny-Boy?“ Johnny gab ein Röcheln von sich und griff mit seiner freien Hand nach der Klinge. Striker nahm ihn noch fester in den Schwitzkasten und ritzte mit dem Messer in die Haut an Johnnys Hals. Unter der Messerspitze quoll ein Tropfen Blut hervor, der wie ein Rubin glänzte. Er lief an der Klinge hinab und tropfte schließlich von Strikers Fingern. Johnny ließ seine Hand wieder sinken.
„Danni, nicht wahr?“, fragte London. Danni nickte. Ihr Mund war zu trocken, um zu sprechen. „Nun, Danni, es sieht so aus. Dein Johnny-Boy hätte damit zufrieden sein sollen, für mich zu arbeiten. Du hast genug verdient, oder, Kleiner?“
London richtete sich auf und ging um den jungen Mann herum. Mit den hohen Absätzen ihrer roten Stiefel blickte sie auf Johnny herab, obwohl er selbst fast einen Meter achtzig groß war. Sein Atem ging schneller, als London ihr Gesicht dicht an seines brachte. Striker drehte die Messerspitze langsam in seiner Haut. Mehr Blut rann aus der Wunde. Johnny stöhnte, sah London aber in die Augen.
„Antworte der Dame.“ Striker trat gegen Johnnys Knöchel. „Sei höflich.“
Johnny öffnete die Lippen und Speichel tropfte aus seinem Mundwinkel. „Ja. Jede Menge Geld.“
„Genau.“ London beugte sich so nah heran, dass Johnnys Spucke ihr Gesicht bespritzte. Sie ignorierte es. „Aber du hast beschlossen, dich selbstständig zu machen, nicht wahr?“
„Nein, nein, nein“, stammelte Johnny entsetzt. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“
„Da hab ich aber was anderes gehört, und ich weiß alles, was in meinem Revier vorgeht. Wo ist mein Geld?“
Danni wusste, dass ihr Freund in kleinem Umfang dealte. Er hatte einen stetigen Zustrom von Kunden, die er auf dem Marktplatz in der Nähe der Einkaufsläden traf. Das war ihre einzige Einnahmequelle. Soweit sie wusste, bezahlte Johnny die Ware, wenn er sie abholte, und verkaufte sie mit einem Gewinn weiter, den er behalten durfte. Also, was in aller Welt redete London da? Es stimmte, dass Johnny in letzter Zeit mit Geld geprahlt und sie mit neuen Kleidern verwöhnt hatte. Er sagte, er hätte einen guten Lauf gehabt und sie könnten es sich leisten, in den Westen von London zu fahren, um in Chinatown zu essen.
Die große Frau drehte sich zu Danni um und wischte sich den Speichel aus dem Gesicht. „Das läuft jetzt so, kleines Mädchen. Du wirst uns helfen, die Schulden deines Freundes zurückzuzahlen.“ Danni zuckte zusammen, als London eine Hand hob und ihre Wange berührte. „Die ist ziemlich hübsch, nicht wahr, Striker?“
Der große Mann brummte. Das hätte alles Mögliche bedeuten können. Johnny wand sich, riss die Wunde an seinem Hals aber nur noch weiter auf als zuvor. Striker schnaubte belustigt.
„Oh, mach dir keine Sorgen“, sagte London mit einem anzüglichen Lächeln in Johnnys Richtung. „Wir schicken sie nicht ins Bordell. Sie macht einen kleinen Ausflug für mich. Wenn sie sich gut anstellt, werde ich vielleicht beschließen, dass ein kleiner Teil deiner Schulden beglichen ist. In der Zwischenzeit geht es für dich wie gewohnt weiter, Johnny-Boy.“
Striker stieß Johnny so heftig von sich, dass er zur Seite stürzte. Sein Kopf knallte gegen die Wand und hinterließ eine Blutspur, als er zusammenbrach. Der große Mann drehte sich um und landete ein paar Tritte gegen Johnnys Kopf, dessen Augenlider flatterten, bevor er bewusstlos wurde.
„Diesen Striker muss man einfach lieben“, sagte London zu Danni. Sie sah den großen Mann an und lachte. „Nicht zu viel Fußballtraining dieses Mal. Ich will, dass er heute Abend wieder Geld verdient.“
Danni schnappte nach Luft und wich so schnell vor London zurück, dass sie hart gegen die schmutzige Glasscheibe prallte.
„Du wolltest Profi werden, nicht wahr, Striker? Bei welchem Verein hast du nochmal Probe gespielt?“
„Bei den Gunners.“
„Deshalb heißt er Striker. Komisch, wie sich die Dinge manchmal entwickeln, nicht wahr?“ London trat auf Danni zu. „Hast du einen Mantel?“
Danni nickte mit Tränen in den Augen. Angst ließ ihr bleiches Gesicht eher grau als weiß werden.
„Hol ihn. Ich gebe dir dreißig Sekunden, um eine Tasche mit ein paar Klamotten zu packen. Dann fahren wir los.“
Striker klappte sein Springmesser zu. Drei Schritte brachten ihn zu Danni, die sich gegen das Fenster drückte. Er streckte die Hand aus und drehte Dannis langes matt braunes Haar in seiner Faust. Sie schrie vor Schmerz auf, als er sie in den Flur zerrte und auf die Türen zeigte.
„Welche?“
Sie zeigte auf das Schlafzimmer. Er trat die Tür auf und stieß sie hinein. Sie fiel auf die Knie. Sein massiger Körper nahm den Türrahmen ein, die Arme verschränkt, das Gesicht ausdruckslos, sein Springmesser noch sichtbar in einer Hand.
„Beeil dich.“
Danni schüttelte den Kopf, um das Brennen ihrer Kopfhaut zu lindern. Sie lehnte sich auf das ungemachte Bett, stemmte sich hoch und schnappte sich eine Sporttasche. Ihre Kleidung lag verstreut auf dem Boden. Sie hatte nur ein paar Sekunden Zeit, um zu entscheiden, was sie in die Tasche stopfen sollte. Im Wohnzimmer stöhnte Johnny und Danni hörte einen dumpfen Schlag. Sie packte schneller und zog hastig den Reißverschluss der Tasche zu. Striker packte Dannis Arm mit brutalen Fingern und zerrte sie in den Flur.
„Schau dir das an“, sagte London, als sie zu ihnen kam. „Da ist Blut an meinem Stiefel. – Ist das deiner?“ London ließ einen schmuddeligen rosafarbenen Parka mit pelzgefütterter Kapuze an zwei Fingern baumeln. Danni starrte auf die Stiefelspitze, wo ein Blutfleck kaum auf dem roten Leder zu sehen war. London warf den Mantel nach Danni, die ihn unbeholfen mit ihrer freien Hand auffing, dann beugte sie sich nach unten, um den Fleck mit einem Taschentuch wegzuwischen. Sie steckte das Tuch in die Tasche ihrer hautengen schwarzen Lederjeans und knöpfte ihren schicken beigen Mantel zu.
„Dann zieh ihn am besten an.“ London gab Striker ein Signal, damit er Danni losließ. „Also, Folgendes wird passieren. Du und ich gehen jetzt wie beste Freundinnen die Treppe hinunter. Wenn uns jemand sieht, lächelst du. Verstanden?“
Danni ließ ihre Tasche fallen, um den Parka anzuziehen, und nickte. Der große Mann hob ihr Gepäck auf.
„Ein echter Gentleman.“ London lächelte ihn an. „Nicht wahr, Mädchen?“
Danni starrte Striker mit großen Augen an. Er richtete das Messer auf sie und ließ die Klinge herausschnellen.
„Kein Gentleman.“ London lachte. Sie öffnete die Wohnungstür. „Steig unten ins Auto, dann passiert dir nichts. Denk nicht mal dran wegzurennen. Striker hier ist so schnell wie ein Windhund, und sein Biss ist viel schlimmer als sein Bellen.“
Danni folgte der großen Frau hinaus auf den freiliegenden Gang vor der Wohnung. Die Tür schlug hinter ihnen zu. London marschierte voran zur Treppe am Ende des Wohnungstrakts und ging trotz ihrer hohen Absätze schnell ins Erdgeschoss hinunter, wo eine glänzende schwarze Limousine mit laufendem Motor wartete. Der Fahrer sprang heraus, um die hintere Tür zu öffnen. Danni und ihre Tasche wurden auf den Rücksitz geschoben. London folgte mit einer eleganten Bewegung. Die beiden Männer kletterten auf die Vordersitze, und das Türsystem wurde verriegelt. Die Limousine rollte sanft aus dem Parkplatz auf die Straße.
Das Auto beschleunigte. Danni hatte keine Ahnung, wohin sie fuhren. Im Stillen richtete sie ein Gebet an einen Gott, an den sie nicht glaubte. Es war ihre einzige Hoffnung, lebend hier rauszukommen.
Kapitel 5
Während Bowen ihr Auto den Hügel hinauf aus Cromer herausfuhr, rief Sara Aggie an, um nach mehr Informationen zu fragen.
„Der Wald liegt in der Nähe von Little Kettleford. An der Straße nach Fakenham“, sagte Aggie. „Die Teams der Spurensicherung sind bereits unterwegs, ebenso wie Dr. Taylor.“
Dr. Taylor war der Pathologe der Polizei. Wie DI Edwards war auch er nach dem Tod ihres Vaters sehr freundlich zu Sara gewesen. Dafür war sie dankbar. Doch auch unabhängig davon mochte sie den Pathologen, denn er behandelte die Opfer mit Respekt und die Angehörigen voller Mitgefühl.
Bowen brauste die A148 entlang, um die georgianische Stadt Holt herum und weiter auf die Straße nach Fakenham. Little Kettleford war ein winziger Ort mit einem Pub auf der einen Seite der Hauptstraße und einem Café auf der anderen. Ein Parkplatz diente sowohl Besuchern des Waldes als auch des Cafés. Mehrere Fahrzeuge der Spurensicherung waren bereits vor Ort, ebenso wie ein Streifenwagen und Dr. Taylors Auto. Die weiß gewandeten Kollegen der Spurensicherung luden ihre Ausrüstung aus, während die Gäste des Cafés mit unverhohlener Neugier durch die beschlagenen Fenster zusahen. Bowen parkte neben den Transportern der Spurensicherung und sie stiegen aus.
„Sieht aus, als geht es dort lang“, sagte er. Sara zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch und folgte ihm quer über den Parkplatz.
Der Wald war ein öffentliches Naherholungsgebiet. Ein großes Schild am Eingang zeigte mehrere markierte Wanderwege unterschiedlicher Länge. Sara und Bowen folgten zwei Kollegen der Spurensicherung in den Wald. Nach wenigen Metern bogen sie vom Hauptweg auf einen viel weniger genutzten Pfad ab. Dieser führte sie aus den Bäumen heraus auf einen Streifen Heideland mit struppigem Gras und vereinzelten Heide- und Farnbüscheln. Die Pfade, die die Heide kreuzten, waren weniger deutlich erkennbar und führten um einen Kaninchenbau und ein paar Wasserlöcher herum. Circa zwanzig Meter weiter entfernt hatte das Team der Spurensicherung sein weißes Zelt aufgebaut. Der Bereich war bereits mit blau-weißem Absperrband abgeriegelt. Ein uniformierter Beamter stand mit seinem Klemmbrett am Eingang und registrierte die Personen, die den Tatort betraten und verließen. Sie zeigten ihre Dienstausweise vor und gesellten sich zu Dr. Taylor, der bereits in seinem Schutzanzug auf sie wartete.
„Habe mir schon gedacht, dass Sie nicht lange brauchen“, sagte er. Nachdem Sara und DC Bowen ihre Schutzanzüge angezogen hatten, hob der Pathologe die Zeltklappe für sie an. „Nichts anfassen.“
„Schon klar.“ Bowen duckte sich hinein. Sara folgte ihm mit einem Achselzucken. Das Zelt verbarg eine flache Grube, die mit abgestorbenem Farn gefüllt war. Die Sommerwedel waren mit Einbruch des Herbstes vertrocknet und hatten ein dichtes Gestrüpp am Boden der Mulde hinterlassen.
„DI Edwards?“ Taylor ließ die Zeltklappe herunter.
„Ist heute in der Nähe von Bungay“, sagte Sara. „Er kommt her, sobald er kann. Was haben wir?“
„Mark hat die erste Runde Fotos gemacht.“ Taylor deutete auf einen anderen Mann im weißen Anzug, der eine teure Kamera in der Hand hielt. „Wenn wir alle soweit sind, schaue ich kurz nach.“
Der Pathologe trat neben etwas, das wie ein festgewickeltes Leichentuch aus Plastik aussah und mitten in der Senke lag. Das vertrocknete Gestrüpp verbarg die Leiche nicht sonderlich, aber die Plane hatte eine dunkelbraune Farbe, weshalb sie bis zum Tagesanbruch wahrscheinlich schwer zu erkennen gewesen war.
„Unser Spaziergänger, ein gewisser Mr. Laurence Brown, und seine süße Golden Retriever Dame Goldy haben unser Paket bei ihrer Morgenrunde gefunden.“
„Wo ist er jetzt?“, fragte Bowen.
„Er steht ziemlich unter Schock. Denny hat ihn ins Café gebracht, damit er sich aufwärmt und eine Tasse Tee trinkt. Mr. Brown sagte, es sei ruhig gewesen, als er ankam. Das Café habe gerade erst geöffnet. Er und seine Hündin kamen wie jeden Morgen hierher, aber die Hündin sprang schnell davon und kam nicht, als Mr. Brown nach ihr rief. Als er sah, was seine Hündin gefunden hatte, rief er den Notruf an.“
Taylor bückte sich und schnitt vorsichtig das Kopfende des Pakets auf, wodurch das Gesicht eines jungen Mannes zum Vorschein kam. Die Leiche lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen, das hellbraune Haar feucht verklebt. Während Taylor sich vorsichtig vorarbeitete, folgte ihm der Fotograf und schoss Bilder von den neuen Beweisen. Mit einem Skalpell zerschnitt Taylor das Klebeband, das das Paket zusammenhielt.
„Sieht aus wie eine Art Bodenplane“, befand er. Als er das Fußende erreichte, stand er auf. Sie alle musterten den jungen Mann. Er war fast nackt, bis auf ein Paar fleckige und schmuddelige blaue Boxershorts. Die Beine waren an den Knien angewinkelt und lagen auf einer Seite, sein Hals war in die gleiche Richtung verdreht. Sein Haar war von einer Schädelverletzung blutverschmiert. Taylor trat zurück, damit der Fotograf die Positionierung der Leiche ablichten konnte. „Seine Hände und Knöchel sind mit Klebeband umwickelt, als ob jemand versucht hätte, ihn richtig hinzulegen. Dann wurde er aus irgendeinem Grund zusammengequetscht.“
„Während des Transports?“, mutmaßte Sara.
„Vielleicht“, sagte Taylor.
„Todeszeitpunkt?“
„Irgendwann letzte Nacht, wahrscheinlich vor Mitternacht. Die Totenstarre hat vollständig eingesetzt, also mindestens zwölf Stunden.“
„Alter?“
„Teenager. Schwer zu sagen, bis ich ihn ins Labor gebracht habe.“
„Warum hat man ihn so hingelegt?“, fragte Bowen. „Kannte oder mochte ihn der Mörder?“
„Moment, Moment, wir wissen noch nicht, was mit ihm passiert ist.“ Taylor runzelte die Stirn. „Lassen Sie uns keine voreiligen Schlüsse ziehen.“
Bowen sah Taylor an und grinste dann. „Denken Sie an einen Mord aus Leidenschaft?“
„Er ist sehr jung.“ Taylor betrachtete die Leiche mit einem mitfühlenden Kopfschütteln. „Wenn er derart gekleidet hier draußen war … wer weiß.“
Bowen zuckte die Achseln und sah dann Sara an. „Ich erkläre es Ihnen, wenn wir zurückgehen.“
„Ich denke, eine Tasse Tee und ein Gespräch mit unserem tapferen Spaziergänger steht als Nächstes auf der To-do-Liste“, sagte Sara. „Ich halte DI Edwards auf dem Laufenden. Bitte sagen Sie uns Bescheid, sobald es weitere Erkenntnisse gibt.“
„Selbstverständlich.“ Taylor beugte sich über den Körper des jungen Mannes, um mit seiner Untersuchung zu beginnen. Sara fasste dies als Abschied auf und signalisierte Bowen, mit ihr zu gehen. Vor dem Zelt zogen sie ihre Schutzanzüge aus und warfen sie in die bereitgestellte Plastiktüte.
„Was ist denn an dem Ort hier so besonders?“, fragte Sara, als sie zurück zum Parkplatz gingen. „Ist doch meilenweit von allem entfernt.“
„Ganz genau.“ Bowen deutete auf die Hauptstraße. „Schöne, ruhige Landstraße, nicht viel Verkehr. Einfacher Zugang zum Parkplatz, den man schnell wieder verlassen kann. Fakenham liegt etwa sechs Kilometer in dieser Richtung. Norwich liegt in der anderen in einer Entfernung von ungefähr vierzig Kilometern. Dazwischen gibt es nicht viel außer Holt, und Sie haben gesehen, wie weit das entfernt war. Tagsüber ist es ein beliebter Ort zum Spazierengehen. Das Café ist bei Lieferfahrern und Rentnern auf Ausflug beliebt. Und nachts kann man hier leicht seine Kunden hinbringen.“
„Was für Kunden?“
„Die Art, an der die Sitte interessiert wäre.“ Der Wind pfiff über die öde Heide. Bowen vergrub die Hände in den Taschen, um sie warm zu halten. Sara schlug den Kragen hoch. „Nachts gibt es hier keine Beleuchtung.“
„Also bringen Prostituierte ihre Freier hierher?“
„Ja, und zwar weibliche und männliche Prostituierte.“ Sie hatten den Parkplatz erreicht, und plötzlich erschien Sara der Ort noch unheimlicher. Bowen fuhr fort. „Es ist auch ein praktischer Umschlagplatz für die Dealer. Die Straßen von hier nach King’s Lynn und zur Autobahn bei Cambridge sind abgelegen. Die Drogenfahnder schicken ab und zu Teams her, aber sie haben noch niemanden erwischt. Heutzutage ist es zu einfach, eine Warnung rauszusenden. Dann ist der Treffpunkt in null Komma nichts wie leergefegt.“
„Also ist das hier ein beliebter Ort für Prostituierte und Drogendealer. Reden wir von lokalen Organisationen?“
Ein Auto bog hastig in die Einfahrt ein und hielt neben ihrem. DI Edwards und ein ziemlich grau aussehender DC Noble stiegen aus. Sara lächelte innerlich, da sie wusste, dass es eine Weile dauerte, bis man sich an Edwards Fahrweise gewöhnte. Der DI marschierte auf sie zu.
„Möglich“, sagte Bowen. „Ich vermute, wir haben es entweder mit einem männlichen Prostituierten oder einem Mord im Grenzgebiet zwischen den Grafschaften zu tun.“