1
Paris 1999
Das Schrillen des Telefons riss Jennifer Demesy aus dem Schlaf. Mit gequältem Stöhnen tastete sie nach dem Hörer auf dem Nachttisch und meldete sich kaum hörbar.
„Bonjour, Jenni, tut mir leid, dass ich dich wecke“, vernahm sie die Stimme ihres Kollegen Christophe von der Pariser Kriminalpolizei. „In der Seine wurde heute früh eine Leiche gefunden. Sie holen sie gerade raus. Bitte komm so schnell du kannst. Spurensicherung und Rechtsmediziner sind bereits unterwegs.“
„Okay“, murmelte Jennifer. „Wo?“
„Quai Voltaire. Zwischen Pont du Carrousel und Pont Royal.“
„Alles klar.“ Sie hängte ein, strich sich eine ihrer halblangen braunen Haarsträhnen aus den Augen und blinzelte ins erste Tageslicht, das durch die locker heruntergelassene Jalousie fiel. Der Wecker zeigte halb sechs, sie hätte ohnehin in einer Stunde aufstehen müssen.
„Ist schon wieder jemand ermordet worden?“, brummelte ihr Lebensgefährte Kilian schlaftrunken von der anderen Seite des Bettes.
„Mal sehen, ob es ein Tötungsdelikt war oder ein Unfall. Guten Morgen.“ Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn zärtlich. Als Geschäftsführer eines Irish Pubs hatte er wie immer bis in die Nacht hinein gearbeitet und war noch später ins Bett gekommen als sie. „Schlaf weiter, chéri.“
Jennifer schwang die Beine aus dem Bett, lief ins Bad, erledigte hastig ihre Morgentoilette und schlüpfte dann in Jeans und einen leichten sportlichen Blazer. Das Frühstück würde sie auf später verschieben – wenn ihr bei Betrachtung der Leiche nicht sowieso der Appetit verging. So langsam sollte sie sich mal daran gewöhnen, denn ein Anruf, der sie am frühen Morgen oder auch mitten in der Nacht aus dem Bett holte, um eine schlimm zugerichtete und übelriechende Leiche anzusehen, wurde zur Routine, seit sie vor anderthalb Jahren bei der Kriminalpolizei angefangen hatte.
Kurz darauf verließ sie die kleine Wohnung im 13. Arrondissement, in der sie mit Kilian lebte, seit sie von der Polizeiakademie in der Provinz nach Paris zurückgekehrt war. Auf dem Weg zum Auto kaufte sie in einer Boulangerie ein appetitlich duftendes Croissant und verschlang es sogleich. Auf nüchternen Magen würde ihr mit Sicherheit schlecht werden, und Hauptkommissar Philippe Maillot würde sie verächtlich ansehen oder gar eine herablassende Bemerkung machen, die sie vor den Kollegen bloßstellte.
Der Himmel über Paris war zartblau, die Luft mild, und es versprach, ein warmer Frühsommertag zu werden. Die Uferstraße der Seine war zu dieser frühen Stunde noch nicht so stark befahren wie sonst, die Terrassen der Bistros noch leer. Straßenreiniger fegten Staub und Müll aus den Rinnsteinen, und die ehrwürdigen alten Gebäude, die den Fluss säumten, erstrahlten im ersten hellen Tageslicht. Jennifer fuhr an der dicht bebauten Seine-Insel Ile Saint-Louis vorbei, wo ihr Vater Dominique wohnte, und fragte sich, ob er schon wach war. Sie musste ihn und seine Familie unbedingt bald wieder besuchen. Obwohl das letzte Mal kaum eine Woche zurücklag. Nach all den Jahren verspürte sie noch immer eine starke Verbundenheit mit ihrem Vater, und ihr kleiner Halbbruder war ihr sehr ans Herz gewachsen.
Während sie an einer roten Ampel wartete, wickelte sie die breite Armbinde mit der Aufschrift Police um ihren Oberarm und befestigte sie mit dem Klettverschluss.
Als sie kurz darauf am Pont du Carrousel vorbeikam, erblickte sie etwa hundert Meter weiter leuchtend rote Absperrbanderolen und zahlreiche Gaffer, die sich dahinter eingefunden hatten. Sie hielt mit ihrem weißen Renault im Parkverbot und stellte das Ausweisschild der Kriminalpolizei in die Windschutzscheibe. Dann überquerte sie die Straße, nickte dem Polizisten zu, der für sie das Absperrband lüftete und trat mit kurzem Gruß zu ihren Kollegen.
Hauptkommissar Maillot, der zusammen mit dem Rechtsmediziner neben der Leiche hockte, blickte kurz auf und winkte sie heran. „Bonjour, Demesy. Kommen Sie ruhig her.“
Jennifer schlüpfte in die dünnen Plastikhandschuhe, die ein Kollege ihr reichte, atmete tief durch und trat näher. Ruhig und sachlich betrachtete sie die Leiche, eine grazile Frau in mittleren Jahren, deren elfenbeinfarbenes Kleid aus golddurchwirktem Brokatstoff elegant gewesen sein musste, bevor die Algen vom Grund der Seine es verunziert und verschmiert hatten. Blonde Haare umrahmten ein schmales bleiches Gesicht, unter dem die Goldkette unnatürlich satt in der Morgensonne leuchtete. Auch an den Handgelenken und Fingern trug die Frau kostbar wirkenden Schmuck. Am Ringfinger funkelte ein Brillantring, in dem sich eine dünne Alge verfangen hatte. Die Zehennägel ihrer nackten Füße waren dunkelrot lackiert, genau wie ihre Fingernägel.
„Können Sie schon was sagen, docteur?“, fragte Capitaine Maillot und rieb sich die grauen Bartstoppeln an seinem kräftigen Kiefer.
„Sie hat eine Schädelverletzung, die möglicherweise die Todesursache war.“ Der Rechtsmediziner wies auf eine klaffende Wunde, die vom Haaransatz über der Schläfe verdeckt wurde. „Es gibt aber auf den ersten Blick keine Anzeichen eines Kampfes.“
„Sie könnte also auch gefallen oder gesprungen sein?“
„Wir werden sehen, wie es unter dem Kleid aussieht. Genaueres kann ich Ihnen erst nach der Obduktion sagen, das wissen Sie ja.“
„Natürlich. Und der ungefähre Todeszeitpunkt?“
„Ihre Armbanduhr ist um halb drei stehengeblieben. Ich vermute, dass es durch das Wasser geschah und in etwa mit dem Todeszeitpunkt übereinstimmt. Das muss heute Nacht um halb drei gewesen sein – sie hat nicht lange im Wasser gelegen.“
„Wer hat die Leiche entdeckt?“, wollte Jennifer wissen.
„Einer der Hausbootbewohner vom Ufer da hinten hat sie im ersten Tageslicht im Wasser treiben sehen.“
„Da bekommt das Wort Morgengrauen gleich eine völlig andere Bedeutung“, murmelte Jennifer, und ihr Kollege, Kommissar Thibault Verneuil, gluckste amüsiert.
„Pardon“, sagte sie schuldbewusst, als der ungehaltene Blick des Hauptkommissars sie traf. Es war sicher pietätlos der Verstorbenen gegenüber, darüber zu witzeln, aber es half ihr über die beklemmende Situation hinweg. Diese gut gekleidete, gepflegte Frau, die sehr attraktiv gewesen sein musste, war von einem Moment auf den anderen aus dem Leben gerissen worden. Oder hatte es vielleicht freiwillig beendet. Was mochte geschehen sein? Die menschlichen Tragödien im Hintergrund faszinierten Jennifer am meisten an ihrem Beruf, erschreckten sie aber auch. Die Tote besaß mit Sicherheit Angehörige, denen sie in Kürze beibringen mussten, dass ihre Mutter, Ehefrau oder Tochter aus dem Leben geschieden war. Das brachte sie zur nächsten Frage.
„Wissen wir schon, wer sie ist?“
„Nein. Sie war nicht so hilfsbereit, mit ihren Ausweispapieren ins Wasser zu gehen.“
Jennifer und Thibault tauschten einen Blick. Der Chef war offenbar mit dem falschen Fuß aufgestanden. Oder einfach gestresst. Für die Pariser Kriminalpolizei gab es gerade viel zu tun; sie waren alle ein wenig überarbeitet in diesen letzten Wochen vor dem Sommerurlaub.
Christine Collet von der Spurensicherung näherte sich vom benachbarten Quai Malaquais her und streckte ihnen einen großen durchsichtigen Beweismittelbeutel entgegen, der ein Paar modische High Heels enthielt. „Es hat sich gelohnt, das Suchgebiet auszudehnen. Schaut mal, was wir gefunden haben. Die standen oben am Pont des Arts neben dem Geländer. Vielleicht gehörten sie der Toten.“
Jennifer betrachtete die elfenbeinfarbenen Lederpumps mit Goldverzierung. „Auf jeden Fall passen sie perfekt zu ihrem Outfit. Darf ich?“ Sie streckte die Hand nach der Tüte aus und sah den Hauptkommissar fragend an. Als er gnädig nickte, nahm sie einen der Schuhe und setzte ihn der Toten vorsichtig auf den nackten Fuß. Er passte. Jennifer zog ihn wieder ab und warf einen Blick auf das in die Innensohle gestanzte Label. „Manolo Blahnik – schick. Und teuer, soweit ich weiß. Die Schuhe sehen ziemlich neu aus. Vielleicht kann ich darüber herausfinden, wer sie ist“, bot sie eifrig an. „Ich werde recherchieren, welche Geschäfte in Paris diese Marke vertreiben, dort hinfahren und die Pumps vorzeigen. Sicher hat sie mit Kreditkarte oder Scheck bezahlt.“
Maillot erhob sich aus seiner hockenden Position und streckte mit schmerzverzerrtem Gesicht die Beine. „Gute Idee, Demesy, aber viel zu aufwändig. Bestimmt geht in Kürze eine Vermisstenanzeige ein. Wenn nicht, können wir das mit den Schuhen immer noch machen, aber delegieren Sie es an Duval oder Meunier. Sie brauche ich für Wichtigeres.“
Jennifer frohlockte über die Bemerkung, die beinahe nach einem Lob klang.
Da sie frisch von der Polizeiakademie zur Kriminalpolizei gekommen war, wurde sie vom Hauptkommissar noch immer mehr oder weniger als Praktikantin betrachtet, die man am besten zum Kaffeekochen und als Laufmädchen einsetzte, obwohl sie an der ENSP, der École Nationale Supérieure de la Police zur Kommissarin ausgebildet worden war. Es wurde Zeit, dass er begann, sie als Ermittlerin ernst zu nehmen. Mit siebenundzwanzig war sie schließlich kein Grünschnabel mehr. Sie besaß den Rang eines Lieutenants de police und hatte früher bereits als Privatdetektivin gearbeitet. Zusammen mit ihrem Vater, als sie noch in New Delhi gelebt und quer durch Indien und Asien für die renommierte Detektivagentur Stacy & Langmaster ermittelt hatten. Nun ja, genauer gesagt hatte Dominique ermittelt und Jennifer, die offiziell als Sekretärin in der Agentur angestellt gewesen war, hatte sich ungebeten in seine Fälle eingemischt oder war unfreiwillig hineingezogen worden. Bei diesem Gedanken huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.
„Habt ihr keine Handtasche gefunden?“, fragte Maillot die beiden Beamten, die vor ihm standen, während zwei ihrer Kollegen weiter die unmittelbare Umgebung durchkämmten.
Die Kriminaltechnikerin Christine zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hat sie ihre Tasche neben die Schuhe gestellt, bevor sie gesprungen ist, aber die hat natürlich inzwischen jemand geklaut.“
„Wir können noch von Glück sagen, dass keine Fashionista vorbeigekommen ist, die die Manolos mitgenommen hat“, ergänzte Jennifer.
„Ich hätte sie genommen“, erwiderte Christine trocken, und diesmal galt der missbilligende Blick des Hauptkommissars ihr.
Maillot betrachtete skeptisch die Brücke, die sich zwischen dem Palais du Louvre und dem Institut de France spann. „Dann ist sie wohl mit der Strömung von dort hinten bis hierher abgetrieben. Also möglicherweise ein Suizid. Aber eigentlich ist die Brücke doch gar nicht hoch genug, als dass ein Sprung oder Fall tödlich sein kann. Oder?“ Fragend blickte er den Rechtsmediziner an.
„In den meisten Fällen nicht“, bestätigte dieser. „Aber das wissen viele Leute nicht, weil Brücken im Film so gern für Suizidversuche genommen werden. Bei bestimmten Vorerkrankungen könnte diese Fallhöhe durchaus tödlich sein. Außerdem kann es zum sogenannten Reflextod durch tödlichen Kreislaufstillstand beim Auftreffen mit Brust oder Rücken auf die Wasseroberfläche kommen. Insbesondere, wenn das Opfer alkoholisiert war, wie in diesem Fall. Bevor Sie gekommen sind, habe ich gerade einen Alkoholschnelltest durchgeführt, und er war positiv.“
„Und Drogen?“, hakte der Hauptkommissar nach.
„Negativ. Ich lasse mir das natürlich noch vom Labor bestätigen. Wodurch die Kopfwunde entstanden ist, muss ich mir bei der Autopsie genauer ansehen. Vielleicht ist sie durch einen Schlag auf den Kopf getötet oder schwer verletzt und dann in der Seine entsorgt worden. Falls sie jedoch freiwillig gesprungen oder versehentlich gefallen ist, könnte sie sich den Kopf an einem der steinernen Stützpfeiler angeschlagen haben, die unter dem Pont des Arts und einigen anderen Brücken hervorragen.“
Jennifer krauste zweifelnd die Stirn. „Wenn man sich umbringen will, indem man von einer Pariser Brücke springt, weil man denkt, die Fallhöhe würde genügen, wirft man sich dann ausgerechnet an einer Stelle über einem Brückenpfeiler ins Wasser?“
„Vermutlich nicht. Dann kann man sich ja gleich aus einem Gebäude auf die Straße stürzen, das ist sicherer“, grummelte Maillot und gab seinem Team ein Zeichen. „Sehen wir uns mal den Pont des Arts an. Collet, organisieren Sie ein Motorboot mit Hebevorrichtung, damit die Brückenpfeiler auf die DNA des Opfers untersucht werden können. Hier sind wir erst einmal fertig.“
2
Jennifer betrat die Lobby des einfachen Stadthotels an der Rue de Rivoli im 1. Arrondissement und blickte sich suchend um. Als sie den gutaussehenden dunkelhaarigen Mann in mittleren Jahren entdeckte, der in einer Ecke der Sitzgruppe saß und Le Parisien las, steuerte sie rasch auf ihn zu. Daraus, dass er seine Brille nicht trug, schloss sie, dass er nur vorgab zu lesen, während er in Wirklichkeit über den Rand der Zeitung hinweg aufmerksam den Hoteleingang im Auge behielt.
„Hallo, Dominique“, sagte sie lächelnd, als er ihr erstaunt entgegenblickte. Schon lange nannte sie ihren Vater meistens beim Vornamen. Als sie in Indien miteinander gearbeitet hatten und privat eher Freunde als Vater und Tochter gewesen waren, war es ihnen passend erschienen und sie hatten es beibehalten.
Dominique ließ seine Lektüre sinken. „Jenni. Waren wir nicht erst in anderthalb Stunden verabredet?“
„Bei mir hat sich was verschoben. Du hast mir ja gesagt, wo ich dich finden würde. Oder gefährde ich deine Tarnung, wenn ich mich kurz zu dir setze?“ Sie zwinkerte ihm zu, obwohl sie wusste, dass er tatsächlich oft undercover arbeitete.
„Nein, gerade warte ich einfach, aber es kann jeden Moment losgehen, ich habe also wenig Zeit. Können wir nicht später reden?“
„Es ist dringend. Den Rest des Tages habe ich keine Zeit und morgen sind die Spuren schon etwas mehr erkaltet.“
In seinen blaugrünen Augen blitzte es interessiert auf, und sie wusste, dass sie nun seine volle Aufmerksamkeit hatte. „Was denn für Spuren?“
Jennifer stellte sich vor ihn hin und steckte die Finger in die Taschen ihrer Jeans. „Ich habe einen neuen Fall für dich. Vor drei Tagen wurde eine Tote aus der Seine geborgen. Für unseren Hauptkommissar sieht alles nach einem Suizid aus, aber mir sind Zweifel gekommen.“
Er runzelte die Stirn. „Jenni, ich tue dir gerne einen Gefallen, das weißt du, aber ich kann nicht gratis einen kompletten Mordfall aufklären.“
„Sollst du ja auch nicht. Nicht ich will dich beauftragen, sondern der Verlobte der Toten. Er war heute Vormittag bei mir und ist absolut sicher, dass es kein Suizid gewesen sein kann. Da mein Chef sich davon nicht beeindrucken ließ, sondern den Fall möglichst schnell abschließen wollte, habe ich ihn an dich verwiesen. Er wird –“
„Da kommt Giuliana“, unterbrach sie Dominique. „Sie spielt den Lockvogel.“
Sein Blick folgte mit einer gewissen Zärtlichkeit seiner Ehefrau, einer attraktiven Brünetten, die die Hotelhalle durchquerte und an der Rezeption eine Keycard holte.
Jennifer warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Lohnt es sich, hier auf dich zu warten? Ich habe um fünfzehn Uhr einen Termin, ich bin nur in meiner Mittagspause schnell vorbeigekommen.“
„Wenn du schon mal da bist, bleib bei mir. Je mehr Zeugen es gibt, umso besser. Es wird nicht lange dauern, danach können wir einen Happen essen gehen und reden.“
„Worum geht es bei deinem Fall?“
„Meine Auftraggeberin hat eine ehemalige Angestellte, die vor kurzem durch eine chronische Erkrankung arbeitsunfähig geworden ist und nun mit ihren Kindern von der Sozialhilfe lebt“, erklärte Dominique mit gesenkter Stimme. „Ihr Ex-Mann zahlt keinen Unterhalt, da er arbeitslos gemeldet ist. Sie hat jedoch vor kurzem gesehen, wie er sehr elegant gekleidet ans Steuer eines teuren Sportwagens gestiegen ist. Sie hat das ihrer früheren Chefin erzählt und diese hat mich gebeten, da mal nachzuforschen. Ich habe ihn beschattet und festgestellt, dass er als Callboy arbeitet. Nur fehlt uns noch ein Beweis – und deswegen sind wir hier. Der Sportwagen ist nicht auf seinen Namen zugelassen, das ist also leider kein Nachweis für seine komfortable finanzielle Situation.“
„Das ist ja eine tolle Arbeitgeberin, die einen Privatdetektiv engagiert, um einer ehemaligen Mitarbeiterin zu helfen“, sagte Jennifer beeindruckt.
Dominique grinste. „Es ist deine Mutter. Die Angestellte war eine ihrer Friseurinnen.“
„Ach!“ Sie verzog den Mund zu einem amüsierten Lächeln. „Das heißt, du arbeitest gerade gratis.“
„Das stimmt. Aber Cathérine hat schließlich auch einiges für mich getan. Ich bin froh über jede Gelegenheit, ihr etwas zurückgeben zu können. Wobei sie in diesem Fall natürlich selbst gar nichts davon hat. Sie will einfach nur Jocelyne helfen.“
Dominique und Cathérine waren seit fast fünfundzwanzig Jahren geschieden und hatten im Laufe der letzten Jahre ein freundschaftliches Verhältnis zueinander entwickelt, was Jennifer freute. Die Kindheit getrennt von ihrem Vater zu verbringen und zu merken, dass sich ihre Eltern nicht mehr verstanden und einander mieden, war schwierig genug gewesen.
„Also warten wir jetzt, bis der Typ eintrifft?“
„Genau.“
„Ah, gut. Also, hör zu: Der Verlobte der Toten aus meinem Fall heißt Bernard Mondy. Er ist Vorstandsvorsitzender einer großen Versicherung, der SECURA, dürfte dein Honorar also aus der Portokasse bezahlen. Außerdem ist das eine tolle Gelegenheit für dich, neue Kunden zu akquirieren. Du weißt ja, dass Versicherungen gern mal auf die Dienste von Detektiven zurückgreifen.“
„Das wäre super. Oh, ich glaube, da kommt er.“ Dominique wies mit dem Kinn zum Eingang, wo hinter den Glastüren ein schnittiger Sportwagen auf den Parkplatz des Hotels kurvte. Ihm entstieg ein schlanker Mann Mitte dreißig, der auffallend gut gekleidet und sehr gepflegt war. Er stolzierte schwungvoll zur Rezeption und kurz darauf in Richtung der Aufzüge.
Dominique rief Giuliana auf dem Handy an. „Er ist unterwegs. Bist du bereit?“
„Ja – die Kamera läuft. Bis gleich.“ Wie vereinbart unterbrachen sie beide die Verbindung nicht, damit Dominique mithören konnte, was im Zimmer gesprochen werden würde.
Er erhob sich und nickte Jennifer zu. „Komm, damit wir im richtigen Moment bereitstehen. Nicht, dass der Kerl eine Gelegenheit bekommt, Giuliana zu begrapschen.“
Als es an der Tür des modern eingerichteten Hotelzimmers klopfte, ließ Giuliana ihr Handy in der Seitentasche ihres Kleides verschwinden, bevor sie öffnen ging.
Der Mann, der vor ihr stand, lächelte sie selbstsicher an. „Hallo. Ich bin René Gaillard.“
„Freut mich. Bitte kommen Sie herein.“ Sie trat einen langen Schritt zurück, um ihm den Weg freizugeben und es zu vermeiden, sich zur Begrüßung von ihm die Wangen küssen zu lassen.
„Vous allez bien?“, fragte er höflich, als sie die Tür schloss und sich zu ihm umdrehte, genau darauf bedacht, ihn nicht mit ihrem Körper von der winzigen Videokamera abzuschirmen, die in einem Kunstblumengesteck verborgen war, das sie zuvor auf dem Fernseher befestigt hatte.
„Es geht mir gut, und Ihnen?“ Sie presste die Lippen aufeinander.
„Sie wirken ein bisschen nervös – darf ich uns Champagner bestellen?“ René legte sein Jackett ab.
„Nein, danke. Ich mache das zum ersten Mal und bin ein wenig aufgeregt, da haben Sie recht.“
„Das müssen Sie nicht. Sie werden sehen, wir werden uns gut verstehen.“ Er blinzelte ihr zu.
„Trotzdem – Sie sind schließlich ein Fremder, das kostet mich etwas Überwindung“, gestand sie. Seine zu glatte Art und die leicht mandelförmigen braunen Augen erinnerten sie an jemanden aus ihrer Vergangenheit, und sie hatte Mühe, sich ihren Ekel und ihre Verachtung nicht anmerken zu lassen.
„Verstehe ich. Aber warum tun Sie es dann? Eine schöne Frau wie Sie ist sicher nicht auf jemanden wie mich angewiesen. Sie könnten doch an jedem Finger zehn haben.“ Er ließ seinen Blick bewundernd an ihr hinuntergleiten.
„Angewiesen bin ich darauf vielleicht nicht, es ist aber praktischer. Wann ich will und was ich will, und keine Komplikationen. Ich finde, es ist es wert, dafür zu zahlen.“ Sie nickte bekräftigend, damit glaubwürdiger wirkte, was nicht ihrem Naturell entsprach. Es wäre ihr im Traum nicht eingefallen, für geheuchelte Leidenschaft zu zahlen.
„Entspann dich erst mal, wir haben Zeit.“ Er zog ihr behutsam den Blazer aus, den sie über ihrem ärmellosen pfirsichfarbenen Kleid trug, und massierte sanft ihre Schultern.
Doch Giuliana wollte es hinter sich bringen. Sie entspannte sich lieber mit einem Buch auf dem Sofa oder natürlich mit Dominique, als sich von einem Callboy anfassen zu lassen.
„Mir wäre es am liebsten, wir regeln erst einmal den geschäftlichen Teil, dann kann ich das vergessen und relaxen. Was machst du so alles und was kostet es?“
„Na gut. Dein Wunsch ist mir Befehl …“ Er begann Preise und Dienstleistungen zu beschreiben, die ihr das Blut in die Wangen trieben, obwohl sie keineswegs prüde war.
Sie ging zum Sideboard, auf dem sie ihre Handtasche abgelegt hatte, öffnete sie und zog einige große Scheine heraus.
René trat hinter sie, schob behutsam ihre dichten mokkabraunen Haare zur Seite und öffnete langsam den Reißverschluss ihres Kleides.
Eine Spur zu heftig wandte sie sich um und hielt ihm die Scheine unter die Nase. „Hier, dein Geld für den Sex“, sagte sie so laut und deutlich, dass sowohl ihr Handy als auch das Mikrofon der Kamera es auffangen mussten.
Verdammt, wo blieb Dominique nur?
Eine Sekunde später hörte sie erleichtert einen Summton von der Tür her, ein Klicken, und dann stürmte Dominique in den Raum, gefolgt von Jennifer.
„Hey, was soll das bedeuten?“, rief René und ließ hastig das Geld in seiner Hosentasche verschwinden.
Giuliana blickte ihn böse an. „Das soll bedeuten, dass du mieses Schwein zwei Kinder hast, denen es an Kleidung und Spielzeug fehlt, weil du dich vor der Unterhaltszahlung drückst.“
„Während Sie Stundensätze kassieren, bei denen jeder Manager vor Neid erblassen würde“, ergänzte Dominique. „Arbeitsagentur, Jugend- und Finanzamt würden sich dafür sicher interessieren.“
René griff eilig nach seinem Jackett.
Dominique stellte sich ihm in den Weg. „Moment noch!“
„Sind Sie von der Polizei oder wollen Sie mich erpressen?“, fragte René nervös. Er sah aus, als wolle er sich an Dominique vorbeidrängeln, doch Jennifer schob sich neben ihn und hielt ihm ihre Polizeimarke entgegen.
„Wir wollen Sie nicht erpressen, und ich bin nicht von der Polizei. Wir finden es bloß widerlich, dass Sie für viel Geld Ihren Spaß haben, während es Ihren Kindern nicht gut geht.“ Dominique zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Brusttasche seines Jacketts. „Wenn Sie uns das hier unterschreiben und sich daran halten, werden wir davon absehen, den Ämtern einen Tipp zu geben.“
„Was ist das?“ René griff widerstrebend nach dem Dokument und überflog es.
„Eine Verpflichtungserklärung zur Unterhaltszahlung.“ Dominique nahm die Kamera vom Fernseher und hielt sie ihm vielsagend hin.
René starrte einige Sekunden verständnislos auf die Kunstblumen, bevor er das winzige Kameraauge zwischen den Blüten entdeckte und begriff.
„Verdammt, Jocelyne hat mich betrogen und rausgeschmissen! Woher soll ich wissen, ob sich die Schlampe nicht mit meinem Geld einen schönen Tag macht, ohne dass die Blagen davon was haben?!“
„Das mit dem Betrügen habe ich andersherum gehört“, erwiderte Dominique. „Und rausgeschmissen hat sie Sie, weil Sie sie geschlagen haben, richtig?“
„Nur ein Mal“, brummelte er. „Sie ist hysterisch geworden, ich wollte sie zur Vernunft bringen.“
„Allein das wäre eine Anzeige wert.“ Dominique funkelte ihn wütend an und reichte ihm einen Stift.
„Ich bin eigentlich eher privat hier, aber wenn Sie nicht unterschreiben, könnte ich mal meinen Kollegen von der Sitte einen Tipp geben“, sagte Jennifer und fixierte ihn durchdringend aus ihren grünbraunen Augen.
Zähneknirschend beugte sich René über das Sideboard und unterzeichnete die Vereinbarung.
„War’s das?“ Er warf den Stift wütend zur Seite und wollte sich zwischen Dominique und Jennifer hindurchschlängeln.
„Nein!“ Giuliana packte seine Schulter und hielt ihn zurück. „Mein Geld!“
Mit einer Grimasse langte er in seine Hosentasche und gab ihr die Scheine zurück. „Schade. Es wäre ein Vergnügen gewesen, schöne Lady.“
„Nicht für mich“, erwiderte sie kalt und starrte angeekelt auf seinen Rücken, bis die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. „Puh, was für ein verlogener Schleimer. Hat mich optisch irgendwie an Pedro erinnert“, sagte sie dann und drehte Dominique den Rücken zu. „Machst du mir bitte das Kleid zu?“
Er küsste ihren Nacken, bevor er behutsam den Reißverschluss schloss. „Danke, dass du dich als Köder zur Verfügung gestellt hast.“
Sie drehte sich zu ihm um und küsste seine Lippen. „Es war mir ein Fest, so einen Dreckskerl zur Strecke zu bringen. Fragt sich nur, ob seine Ex wirklich ihre Kinder von Geld ernähren will, das auf diese Weise verdient wird, aber das soll nicht unsere Sorge sein.“
Jennifer lachte auf. „Das sagt mir ja die Richtige.“
Giuliana wusste sofort, dass sie auf ihre Vergangenheit als Meisterdiebin anspielte, die sich mit raffinierten Kunstdiebstählen eine Luxusexistenz finanziert hatte und die, bevor sie mit Dominique zusammengekommen war, ein Jahr lang die Lebensgefährtin des kolumbianischen Drogenbarons Pedro Ibanez gewesen war. Sie ließ sich ihren Anflug von Ärger, weil Jennifer nach all den Jahren noch immer darauf herumhackte, nicht anmerken und zuckte nur mit den Schultern.
„Du kennst meine Meinung, wenn es um Kinder geht. Ich habe immer gesagt, ich mache nichts Illegales mehr, sobald ich Kinder habe, und daran habe ich mich seit der Geburt von Fabrice auch gehalten. Das ist jetzt über vier Jahre her.“
„Ich habe es nicht böse gemeint. Du hast recht, das kann man nicht vergleichen.“ Jennifer küsste der Frau ihres Vaters rasch die Wange. „Können wir dann, Dominique?“
„Können wir was?“, fragte Giuliana erstaunt.
„Jenni hat einen Mordfall für uns“, erklärte Dominique. In diesem Moment klingelte sein Handy und eine ihm unbekannte Rufnummer erschien auf dem Display. Er meldete sich und hörte kurz zu. „Bonjour, Monsieur Mondy. Meine Tochter hat mir gerade Bescheid gesagt, dass Sie mich beauftragen möchten. – Kein Problem, ich kann auch zu Ihnen kommen. – Ja, siebzehn Uhr passt. – Ist notiert.“ Er unterbrach die Verbindung.
3
Dominique hatte eigentlich mit Giuliana in einem der kleinen feinen Restaurants in den Arkaden des nahegelegenen Jardin du Palais Royal Mittag essen und hinterher noch eine Runde mit ihr durch die gepflegte Anlage drehen wollen. Er liebte diesen versteckt liegenden Garten hinter dem Palais, der sehr viel privater und anheimelnder auf ihn wirkte als die größeren und oft überlaufenen Pariser Parks. Doch da Jennifer, die nicht viel Zeit hatte, nun dabei war, kauften sie nur belegte Baguettebrote und Getränke an der Rue de Rivoli und schlenderten damit in den weitläufigen Jardin des Tuileries, der auf der anderen Straßenseite lag.
An diesem warmen Frühsommertag waren die Tuilerien voll von Einheimischen und Touristen, die zwischen den Wiesen, Blumenrabatten, Statuen und den in strenge Formen getrimmten Büschen spazieren gingen. Die schnurgeraden staubigen Wege reflektierten grell das Sonnenlicht. Dominique kniff geblendet die Augen zusammen, während Giuliana hastig eine Sonnenbrille aus ihrer Tasche hervorkramte und Jennifer versuchte, ihre Augen mit der Handfläche abzuschirmen.
Nahe der Orangerie fanden sie im Schatten der Kastanienbäume drei freie Metallstühle.
„Dann erzähl mal, Jenni.“ Dominique biss in sein Käse-Schinken-Baguette.
Sie berichtete ihm von dem Morgen, an dem die Leiche einer unbekannten Toten aus der Seine geborgen worden war.
„Es wurden Spuren ihrer DNA an einem der Brückenpfeiler des Pont des Arts gefunden. Laut Autopsie hat sie durch diese heftige Kollision ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten und das Bewusstsein verloren und ist dann ertrunken. Da ihre Schuhe oben auf der Brücke standen und wir einen Abschiedsbrief gefunden haben, gehen meine Kollegen von einem Suizid aus, und Capitaine Maillot hat die Ermittlungen gestern Nachmittag für beendet erklärt.“ Jennifer hob bedauernd die Schultern.
Er schluckte hastig seinen Bissen hinunter. „Wo wurde der Brief gefunden?“
„In ihrem Wagen, der in der Nähe des Pont des Arts geparkt war. Inzwischen wissen wir, dass sie Yvonne Bellancourt hieß. Heute Morgen hat mich ihr Verlobter aufgesucht. Er will sich mit der Schlussfolgerung Suizid nicht zufriedengeben. Seiner Meinung nach war Yvonne total lebensfreudig.“
„Und der Abschiedsbrief? Ist der eindeutig in der Handschrift der Toten verfasst?“, vergewisserte sich Dominique zweifelnd.
„Ja. Auf einer Seite ihres Notizbuchs, das voll von Notizen in ihrer Schrift war, also war der Abgleich nicht schwer. Ein Graphologe hat es bestätigt.“ Jennifer nickte bekräftigend. „Es gibt lediglich minimale Abweichungen, was damit erklärt wurde, dass der Brief in einem Zustand großer innerer Erregung geschrieben worden sein muss. Die Schrift wirkt ein wenig fahriger als sonst.“
„Verständlich, wenn man kurz davorsteht, seinem Leben ein Ende zu bereiten“, meinte Giuliana.
„Oder wenn einem jemand eine Waffe an den Kopf hält, damit man ihn schreibt“, überlegte Dominique. „Wollte dein Chef nicht nachprüfen, ob sie jemand gezwungen hat?“
„Die Anweisung, die Ermittlungen einzustellen, kam vom Polizeirat. Wir unterstützen zurzeit die Einheit organisierte Kriminalität und helfen, die Morde im Clan-Milieu aufzuklären, da brauchen wir jeden verfügbaren Beamten“, erklärte Jennifer. „Wir haben bereits das Wochenende durchgearbeitet – vier Tage müssen für so ein simples Tötungsdelikt einfach reichen. Außerdem haben wir den Ex-Mann der Toten befragt, der ein renommierter plastischer Chirurg ist. Er sagte, sie hätte manisch-depressive Tendenzen und er würde ihr einen Suizidversuch durchaus zutrauen. Sie habe das wohl bereits als Teenager versucht.“ Sie schluckte, und Dominique wusste, dass dieses Thema einen wunden Punkt in ihrer Vergangenheit berührte.
„Gibt es dafür Beweise oder medizinische Befunde?“, fragte er sachlich.
„Nicht direkt. Sie war im Januar 1977 mal einen Monat in einer psychosomatischen Klinik in Val-de-Marne. Schwerer Fall von Wochenbettdepression, sie hatte kurz zuvor von ihrer Tochter entbunden. Wir sind hingefahren, und ihren Namen gibt es auch noch in der Patientenkartei, aber die Patientenakten werden nach zehn Jahren vernichtet. Und selbst wenn nicht, hätten wir einen richterlichen Beschluss benötigt, und das hätte eine Weile gedauert.“
Dominique machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wäre nach zweiundzwanzig Jahren ja auch nicht mehr sehr aussagekräftig.“
„Sie hat danach einige Zeit eine ambulante Psychotherapie gemacht, doch die Therapeutin ist inzwischen verstorben.“
„Wie alt war die Tote?“
„Sechsundvierzig.“
„Hat sie Familie, die sagen kann, wie es ihr in letzter Zeit ging?“, forschte Giuliana und ließ den Blick durch die Tuilerien schweifen, als würde sie dort ihre Familie in Italien suchen, zu der sie jahrelang keinen Kontakt gehabt hatte.
„Nein, sie war Einzelkind und ihre Eltern und Tante und Onkel leben nicht mehr. Es gibt noch eine Cousine, doch die wohnt in Kanada und sie hatten laut ihrem Ex-Mann schon ewig keinen Kontakt mehr. Als einzige Blutsverwandte hat sie zwei Kinder, zweiundzwanzig und vierundzwanzig, die studieren in Paris und leben jeder in einer Wohnung in einem Mietshaus, das den Eltern gemeinsam gehört hat. Die waren am Boden zerstört, als wir ihnen die Nachricht überbracht haben und können sich nicht vorstellen, dass jemand ihrer Mutter etwas Böses wollte. Bernard Mondy, also der Verlobte, denkt, dass es Leute gibt, die möglicherweise ein Motiv hätten, Yvonne umzubringen. Aber Capitaine Maillot hat sich das kurz angehört und findet, es sei an den Haaren herbeigezogen.“
„Wen verdächtigt der Verlobte denn?“ Giuliana schlug die Beine übereinander.
„Einen wirklich konkreten Verdacht hat er eigentlich nicht.“ Jennifer wiegte den Kopf hin und her. „Lass dir das am besten aus erster Hand von Monsieur Mondy selbst erzählen. Ich fand die Motive ehrlich gesagt auch etwas schwach. Er selbst erschien mir jedoch glaubwürdig.“
Dominique zog grüblerisch die Augenbrauen zusammen. „Was ist mit dem Ex-Mann – hat der ein Motiv?“
„Ein kleines. Er muss ihr Unterhalt zahlen. Allerdings nicht mehr, wenn sie erneut heiratet, und dass sie diese Absicht hatte, hat er von seinen Kindern gehört. Andererseits gibt es Vermögen, das bei der Scheidung aufgeteilt wurde und von dem ihr Anteil nun an die Kinder geht, und somit hat er indirekt auch wieder Zugriff darauf. Aber wenn sie wieder geheiratet hätte, würde im Fall ihres Todes normalerweise zunächst der Ehemann erben“, sagte Jennifer bedeutungsvoll. „Allerdings hat Dr. Bellancourt – also, der Ex-Mann – ein Alibi durch seine neue Partnerin. Sie haben zur Tatzeit geschlafen.“
„Und wo war der Verlobte in jener Nacht?“, warf Giuliana ein.
„Auf Dienstreise in Lyon, bei einem Seminar. Er musste dort übernachten. Haben wir nachgeprüft, es stimmt. Mal abgesehen davon, dass er sicher nicht bei der Polizei wegen der Ermittlungen insistieren würde, wenn er etwas mit ihrem Tod zu tun hätte.“
Dominique streckte sich und versuchte, auf dem eisernen Stuhl eine bequemere Sitzposition zu finden. „Darfst du mir eine Kopie eurer Ermittlungsakte geben?“
„Nein.“ Jennifer schüttelte den Kopf. „Außenstehende dürfen keinen Zugang zu vertraulichen Ermittlungsakten bekommen. Aber ich kann dir auch so sagen, was du wissen musst – das weiß ich auswendig.“
„Wenn dir die Motive für Mord schwach erscheinen, warum bist du nicht mehr sicher, dass es Selbstmord gewesen ist, Jenni?“, erkundigte sich Giuliana.
„Man sagt Suizid oder Selbsttötung“, korrigierte Jennifer. „Selbstmord gibt es juristisch nicht – Objekt eines Mordes ist immer ein anderer Mensch.“
Giuliana verdrehte die Augen. „Ihr Kriminalkommissare seid schon Krümelkacker. Und warum glaubst du es nun nicht? Nur weil der Verlobte gesagt hat, sie sei so lebensfroh?“
„Nein, darauf würde ich nicht viel geben. Er kennt sie erst seit etwa vier Monaten, und falls sie wirklich depressive Episoden hatte, hat er das vielleicht noch nicht mitbekommen …“ Jennifer hob die Schultern. „Nur irgendwie passt das Szenario für mich nicht. Sie war vorher auf einer kleinen Party in einem Nachtclub, hat ein bisschen getrunken. Das hat die Laboranalyse ergeben. Ihr Wagen steht in der Nähe des Pont. Sie schreibt einen kurzen Abschiedsbrief, den sie im Auto liegen lässt, geht auf die Brücke und stürzt sich kopfüber in die Seine …“
Dominique zuckte mit den Schultern. „Was stört dich daran? Vielleicht ist irgendwas Schlimmes im Nachtclub vorgefallen, das einen depressiven Schub ausgelöst hat. Vielleicht ging es ihr nicht so gut, wie der Verlobte das geglaubt hat. Viele können ihre Gefühle gut verbergen, selbst vor dem Partner. Und manche Verliebten sehen auch nur das, was sie sehen wollen.“
Sie blickte ihn vorwurfsvoll an. „Du scheinst nicht sehr interessiert zu sein, dir diesen Auftrag an Land zu ziehen!“
„Doch, natürlich bin ich das. Auch wenn Mordermittlungen nicht gerade mein Fachgebiet sind, das weißt du.“
„Ich kann dir sicher den ein oder anderen Tipp geben.“
„Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar, Madame le Commissaire.“ Ein kleines Lächeln voll väterlichem Stolz huschte über Dominiques Gesicht. „Stand denn eine Begründung in dem Brief?“
„Nein.“
„Vielleicht ist es nur ein Hilferuf gewesen“, meinte Giuliana nachdenklich. „Vielleicht wusste sie, dass der Sprung aus dieser Höhe eigentlich nicht tödlich ist und hat im Schummerlicht den hervorragenden Brückenpfeiler nicht gesehen. Sie war verzweifelt wegen irgendwas, wollte Aufmerksamkeit und inszenierte einen Suizidversuch.“
Dominiques Lächeln erlosch, und er blickte seine Tochter vielsagend an. Genau das hatte diese vor vielen Jahren getan – einen Suizidversuch inszeniert. Allerdings nicht durch einen Sprung von einer Brücke, sondern mit Schlaftabletten – eine Kurzschlussreaktion. Es waren besondere Umstände in einer sehr belastenden Situation gewesen. Aber wussten sie, wie es wirklich in Yvonnes Leben aussah, das von außen betrachtet so leicht und angenehm erschien?
Jennifer wich seinem Blick aus und biss sich auf die Lippen.
„Das wäre möglich“, erwiderte sie leise. „Wenn es stimmt, was der Ex-Mann sagt.“
„Erschien er dir glaubwürdig?“
„Ich fand ihn ziemlich undurchschaubar. Ein Alibi durch seine Partnerin erscheint mir nicht bombensicher, aber sein Motiv ist doch eher schwach.“
„Habt ihr die Kinder gefragt, ob sie die These ihres Vaters stützen?“
„Dominique, es war schlimm genug, den beiden jungen Leuten zu sagen, dass ihre Mutter gestorben ist, da werden wir nicht sofort fragen, ob sie glauben, dass ihr Vater sie getötet und vorher gezwungen haben könnte, einen Abschiedsbrief zu schreiben. Und auch nicht, ob sie wissen, ob ihre Mutter starke Stimmungsschwankungen hatte, die sie zu so einer Tat befähigen würden. Die beiden waren völlig aufgelöst.“
„Natürlich, ich verstehe. Aber ich werde das wohl tun müssen, wenn ich etwas herausfinden will. Wo waren die Kinder in jener Nacht?“
„Allein in ihrer jeweiligen Wohnung, im Bett, sie haben geschlafen. Was die meisten Leute nachts um zwei oder drei mitten in der Woche eben so tun.“
„Also kein Alibi.“
„Wir haben sie nicht verdächtigt. Sicher, es scheint viel Geld im Spiel zu sein, aber ihre Mutter hat sie extrem verwöhnt, ihnen überaus großzügig Studium, Urlaub und Wohnung finanziert – sie schickte ihnen sogar ihre eigene Putzfrau regelmäßig zum Saubermachen vorbei. Um es mal ganz zynisch auszudrücken: Man tötet kein Huhn, das goldene Eier legt.“
„Da hast du recht. Ich wollte es auch nur der Vollständigkeit halber wissen, damit ich die beiden nicht direkt nach ihrem Alibi fragen muss. Würde das Gesprächsklima sicher trüben.“
Jennifer lachte auf. „Davon kannst du ausgehen, da geht bei den meisten Befragten sofort die Jalousie runter.“
Giuliana tupfte sich mit einer kleinen weißen Serviette Mayonnaise von den Lippen. „Habt ihr die Verbindungsdaten von ihrem Festnetztelefon geprüft?“
„Natürlich. Aber sie hat an jenem Tag überhaupt nicht vom Festnetz aus telefoniert und in den Tagen zuvor nur mit Mondy, ihren Kindern und einer Dame in Angoulême, die sich als langjährige Freundin herausgestellt hat. Es gab nichts Auffälliges.“ Jennifer fing eine Tomatenscheibe auf, die aus ihrem Baguette zu gleiten drohte und steckte sie in den Mund.
„Habt ihr diese Freundin befragt?“
„Nein. Wie gesagt, für uns sah alles tatsächlich nach einem Suizid aus, und dann kam die Anweisung vom Polizeirat, die Ermittlungen einzustellen. Aber falls du etwas herausfindest, das einen Beweis für ein Tötungsdelikt darstellt, könnten wir die Ermittlungen wieder aufnehmen.“
„Und dein Chef heimst dann die Lorbeeren für meine Arbeit ein? Kommt nicht in Frage. Wenn ich einen Beweis finde, stelle ich den Täter auch selbst.“ Entschlossen zerknüllte Dominique die Papiertüte, in der sein Baguette gesteckt hatte, und warf sie in hohem Bogen in den Abfalleimer.
Jennifer trank einen Schluck Wasser aus der Plastikflasche. „Wie erklärst du dir die Existenz des Abschiedsbriefs bei einem Tötungsdelikt?“
Er zuckte mit den Schultern. „Der Mörder hält ihr eine Knarre an den Kopf oder droht vielleicht damit, ihre Kinder zu töten, wenn sie nicht schreibt. Sie tut es, weil sie auch hofft, sich noch rauswinden zu können. Dann schleppt er sie auf die Brücke und wirft sie dort hinunter, wo ein Steinpfeiler ist.“
„Und befiehlt ihr vorher, die Schuhe auszuziehen?“ Sie blickte ihn zweifelnd an. „Und wirft sie so, dass sie mit dem Kopf auf den Pfeiler schlagen muss? Das würde bedeuten, er wusste, dass die Brücke nicht hoch genug ist. Aber kann man genau berechnen, wie sie sich im Fallen drehen wird? Und das Risiko, von nächtlichen Spaziergängern beobachtet zu werden, ist nicht gerade gering. Dummerweise haben wir dennoch keinen Zeugen für die Szene gefunden. Wenn der Täter eine Waffe hatte, warum hat er die Frau nicht im Auto erschossen und ihr danach die Pistole in die Hand gedrückt? Wäre sicherer gewesen.“
„Dann hätte sie aber keine Schmauchspuren an den Händen, das wäre deinen Kollegen sicher nicht entgangen.“
„Stimmt.“ Sie runzelte die Stirn. „Aber das hätte er ja arrangieren können. Außerdem gibt es noch andere Möglichkeiten, jemanden um die Ecke zu bringen, die sicherer sind als diese Brückengeschichte.“
„Du hast recht, das passt alles nicht zusammen – weder bei der Suizid- noch bei der Mordtheorie.“ Dominiques Stirnfalten vertieften sich, dann zuckte ein jungenhaftes Grinsen über sein Gesicht. Er liebte knifflige Herausforderungen und würde hier anscheinend voll auf seine Kosten kommen. „Ein ausgesprochen reizvoller Fall.“