1
Noch war Leben in ihr. Still lag sie da, ihre Augen geschlossen, ihr Körper regungslos, nur der Brustkorb senkte und hob sich mechanisch.
Doch sie schlief nicht.
Erik Lindberg beugte sich über sie, ging ganz nah an ihre Lippen heran, aber er spürte ihren Atem nicht.
Mechanisches Surren erfüllte den Raum. Lindberg hasste dieses Geräusch. Obwohl die Ärzte sagten, dass die Apparate, die es verursachten, lebensnotwendig waren. Dabei konservierten sie das Leben nur, bis es gleich dem Sterben war.
Im Karton, den er mitgebracht hatte, maunzte es. Lindberg sprach ein paar beruhigende Worte und schob ein Leckerli hinein.
Paula hatte ihm immer gesagt, dass sie lieber tot wäre, als an einer Maschine angeschlossen.
Doch das sagte sich leicht, wenn man jung und gesund war. Moralisieren war immer einfach, wenn es um Fragen ging, die einen gar nicht betrafen.
Er hatte Paula sogar versprechen müssen, nie zuzulassen, dass ihr Leben an Geräten hing. Auch für ihn war das damals nur eine hypothetische Frage gewesen.
Bis es wirklich geschehen war. Bis der Arzt ihm nur mit seinem Blick mehr über die Diagnose gesagt hatte, als mit allen Worten, die folgten.
Dieser verzweifelte Blick, den kannte Lindberg gut genug. Wenn er vor den Angehörigen stehen und ihnen die bittere Nachricht überbringen musste. Er hatte geglaubt, er wüsste, wie es sich auf der anderen Seite anfühlte.
Erik Lindberg strich sich durch das schwarze Haar. Er musste eine Entscheidung treffen. Hätte Paula eine Patientenverfügung gemacht, wäre ihm diese Last abgenommen worden. Doch sie hatte sich auf ihn verlassen wollen, nicht auf den Staat oder die Ärzte. Vielleicht hatte Paula aber auch der eigenen Entscheidung nicht getraut und sie daher ihm in die Hand gelegt.
Zärtlich streichelte er Paulas Gesicht, jedenfalls soweit es diese verdammte Beatmungsmaske zuließ. Manchmal kam es ihm vor, als sauge dieses hässliche Ding aus Plastik alle Kraft aus ihr, so ausgemergelt wie Paula inzwischen dalag. Wie ein Parasit hatte die Maske sich ausgebreitet, bedeckte Nase wie Mund und hielt Wache, sodass er ihr nicht mal einen Kuss geben konnte.
Nichts von dem war geblieben, was das Leben für sie lebenswert gemacht hatte.
Alle Versuche, sie zurückzuholen, waren gescheitert. Die Blicke der Ärzte waren zwar routinierter geworden, aber nicht zuversichtlicher.
In der Charité in Berlin hatte man ihr das Etikett austherapiert verpasst – nach nur vier Monaten.
Also hatte er Paula in ihre alte Heimat nach Basel verlegen lassen, in der Hoffnung, dass es dort besser wurde.
Doch es hatte sich nur die Klinik geändert und der Dialekt der Pflegerinnen.
Die Ärzte hatten alles versucht. Und er ebenso. Jeden Tag eine andere Idee. Begonnen hatte er damals mit ihrem Lieblingssong, Enjoy the Silence von Depeche Mode, den er ihr mittels iPod auf Ohrhörern vorgespielt hatte, verschiedene Filme waren gefolgt, er hatte die Straße vor ihrem Haus aufgenommen, die Durchsage in dem Zug, mit dem sie immer gependelt war, vor einer Woche hatte er sogar einen Meister für chinesische Akupunktur ins Krankenhaus gebracht, doch Paula hatte jedes Mal dagelegen wie schon gestorben.
Einmal hatte er in Berlin trotz des ausdrücklichen Verbots sogar versucht, Dr. Watson, Paulas Kater, in einer mit Löchern versehenen Kartonbox ins Krankenhaus zu schmuggeln.
Natürlich war er erwischt worden, bevor er Paulas Zimmer überhaupt erreicht hatte.
In der Basler Klinik waren Tiere auch verboten, doch er hatte dazugelernt und die Kartonbox mit dünner Seide umwickelt, als sei es ein Geschenk. Außerdem hatte es einige Übungseinheiten und noch mehr Leckerli gebraucht, bis Dr. Watson sich im Karton endlich still verhielt.
Die Schwester sollte erst in einer halben Stunde wieder auf Visite in Paulas Zimmer kommen, also löste Lindberg das Seidentuch und lupfte den Kartondeckel, begleitet vom leisen Scharren Dr. Watsons.
Der Kater steckte neugierig sein schwarzes Köpfchen aus dem Karton, sprang heraus, ignorierte das Leckerli in Lindbergs Hand, lief über die Bettdecke auf sein Frauchen zu und schleckte ihr die Backen ab.
Paula reagierte nicht.
Dr. Watson stupste sie am Ohr, blickte zu Lindberg, rieb sich an ihrem Kinn und stieg dann über Paula, um sich in ihre Armbeuge zu legen.
Lindberg packte Paulas Hand und streichelte sie, eine Träne fiel auf ihren Oberarm. Er hatte Paula von Anfang an geliebt, abgöttisch, sie waren erst zwei Jahre zusammen gewesen, doch er hatte nie daran gezweifelt, dass sie heiraten würden, Kinder bekommen und irgendwann Enkel.
Er war sich so sicher gewesen.
Doch das Leben hielt sich nicht an Pläne. Jedenfalls nicht, wenn man Kriminalkommissar war. Der Mann, der ihr das angetan hatte, saß im Gefängnis, das wenigstens hatte Lindberg erreicht. Doch das klärte nicht die Schuldfrage, klärte nicht, wie es soweit hatte kommen können.
Musste er seiner Freundin daher nicht wenigstens ihren letzten Wunsch erfüllen?
Erik Lindberg hatte die Entscheidung immer weggedrückt, doch jetzt, während Dr. Watson neben seinem Frauchen lag, spürte Lindberg, dass er nicht länger warten durfte.
Welches Recht nahm er sich heraus, ihren Willen zu ignorieren?
Lindberg hörte vom Flur Schritte. Er flüsterte dem Kater zu, er solle zu ihm kommen, winkte mit dem Leckerli, doch der blieb einfach neben Paula liegen und schien sich mal wieder zu wundern, wie kompliziert die Menschen waren.
Lindberg packte ihn, legte ihn in den Karton, das Leckerli dazu, doch Dr. Watson maunzte trotzdem.
Die Schritte stoppten und schienen sich wieder zu entfernen.
Lindberg kraulte den Kater noch ein wenig, dann schloss er den Karton und wickelte das Seidentuch darum.
Vor Enttäuschung zitternd, strich er mit den Fingern über Paulas Maske und auf einmal wusste er, was sie wollte.
Er schob seine Finger unter die Gummi-Arretierung der Atemmaske und hob sie leicht an.
Das mechanische Atemgeräusch wurde lauter, jetzt, da das Plastik nicht mehr auf das Gesicht drückte. Paula rührte sich nicht und Lindberg hob die Maske stärker an.
Er schob das verhasste Plastikteil nach oben, Zentimeter für Zentimeter.
Und dann sah er mit seinen von Tränen gefüllten Augen, dass die Maske auf dem Kopfkissen lag, doch er fühlte sich, als habe er nichts getan.
Er hörte ein Piepsen, irgendeinen Alarm, doch in seiner Welt war das nur ein Hintergrundgeräusch.
Paula zuckte wie eine Ertrinkende, die keine Luft mehr bekam.
Lindberg wusste, es war nur ein Reflex.
Er strich Paula zur Beruhigung über die Stirn, nahm ihre Hand in die seine, beugte sich über sie und gab ihr einen langen, endlosen Kuss.
2
Nadja Trokovski stand in der Tür und lächelte ein falsches Lächeln, weil es für ihr echtes nicht mehr reichte. Drei fettbäuchige Männer kamen die Treppe hoch, zwei mit Glatze, dafür der dritte mit ungewaschenem Haar. Einer mindestens fünfzig, die anderen nahe dran. Zehn, fünfzehn Jahre älter als sie, einer roch nach Schweiß.
Nadja lächelte trotzdem.
Die jüngeren Freier, die Gepflegten, die Gutaussehenden, die mit Manieren, die Nüchternen, das war alles nicht mehr ihre Klientel. Dabei war sie erst siebenunddreißig, bestes Heiratsalter heutzutage. Doch das Leben hatte seine Spuren hinterlassen.
Die drei Männer scannten mit ihren glubschigen Augen jede Frau, doch ihr schenkten sie nicht mal eine Sekunde.
„Alle viel zu alt“, sagte einer noch, dann gingen sie in die nächste Etage.
Irgendeine Kollegin fluchte auf Rumänisch, die anderen tuschelten miteinander, doch Nadja Trokovski lief schweigend zurück in ihr Zimmer.
Sie öffnete das Fenster und atmete die kalte Luft des Winters. Der Rauch ihrer Zigarette kräuselte sich im Wind und verschwand nach ein paar Umdrehungen in der Dunkelheit. Der Nachthimmel hing voller Wolken und so sehr Nadja auch suchte, sie fand nicht einen Stern.
Früher hatten die Sterne immer für sie geleuchtet. Oder war es ihr nur so vorgekommen, wegen dem Zeug, das sie sich damals durch die Adern geschossen hatte? Wenigstens diese Zeiten waren vorbei. Endgültig.
Sie blickte auf die Gasse vor dem Magico. Der schmutzige Schnee der Stadt lag vor der Tür wie nicht abgeholter Müll. Reste bunten Konfettis erinnerten an die gerade zu Ende gegangene Fasnacht. Nadja atmete tief aus, schnippte die Kippe auf die Gasse und schloss das Fenster.
Fröstelnd zog sie ein Wolljäckchen über ihre Berufsbekleidung, die aus nicht viel mehr als einem schwarzen Tanga, halterlosen Strümpfen und einem BH bestand. Ihre roten High Heels lagen einsam auf dem Parkettboden. Nadja war um jeden Moment froh, in dem sie diese Folterwerkzeuge nicht tragen musste.
Falsche Freunde, abgebrochene Schule, das schnelle Geld, ein Leben ohne Grenzen. Wie hatte sie nur glauben können, es würde immer so weitergehen? Wenn man jung war, wollte man nicht auf das hören, was die Alten sagen, und wenn man alt war, nützte es einem nichts mehr.
Im letzten Monat hatte ihr Geld nicht mal gereicht, um das Zimmer zu zahlen, von der Wohnung ganz zu schweigen. Je verzweifelter sie wurde, desto mehr wandten sich die Freier ab. Klar, die wollten ja auch ihr eigenes Leben für einen Moment vergessen, was sollten sie dann mit den Problemen der anderen?
Also hatte Nadja Trokovski sich selbst um ihre Probleme gekümmert. Obwohl sie aus dieser Zeit nur noch einen Namen kannte, von ihr im Delirium hingekritzelt auf ein Stück Papier.
Aber sie wusste, was geschehen war.
Und mit diesem Wissen würde sie das alles hinter sich lassen.
Sie wollte nichts anderes, als ein stinknormales, stinklangweiliges Leben führen.
Mit ein wenig Luxus.
Nadja Trokovski schob eine rote Haarsträhne aus ihrem Gesicht und schaute auf die Uhr. Zwei Uhr nachts. Die Konkurrenz lichtete sich, also gab sie sich noch eine Stunde, schminkte sich nach, tauschte das Wolljäckchen mit einem durchsichtigen Negligé und zog die High Heels an.
Sie hörte Schritte von unten, ein Mann kam die Treppe hoch, offener Wintermantel, seidig glänzender Anzug, viel zu attraktiv, nicht nur für sie, sondern für den ganzen Laden hier. Und doch ging er mit schnellen Schritten auf sie zu.
Nadja atmete tief ein. „Hallo, Darling“, hauchte sie. „Ficken, Blasen achtzig, von hinten hundert.“
Er reichte ihr zwei Hunderter. „Eine Stunde.“ Er schien es eilig zu haben in ihr Zimmer zu kommen, ging direkt an ihr vorbei. Ihr Blick streifte sein Gesicht. Er kam ihr irgendwie bekannt vor. Hatte sie ihn schon einmal gesehen?
Ein Blick in seine Augen ließ sie den Gedanken vergessen. An diesem Ort war er sicher noch nie gewesen. Sie nahm seine Hand. Es war nicht die Hand eines Arbeiters. Seine Fingernägel waren so akkurat gerundet, als seien sie gefeilt und seine Haut war weich wie nach einem Peeling.
„Hast du Champagner?“, fragte er.
Sie nickte. „Kostet fünfzig.“
Er steckte ihr den Schein zu.
Sie öffnete den Kühlschrank, holte eine Flasche Prosecco heraus, schloss die Tür hinter sich ab, zog den Vorhang zu und startete eine CD mit Chill-out. „Mach ruhig lauter“, sagte er.
Und sie tat es, weil fast alle Frauen schon in den eigenen Betten schliefen. Sie öffnete die Flasche und füllte zwei Gläser. Er nippte nur an dem seinen.
Sie stellte sich vor ihn und er zog sich langsam das Jackett aus. „Tanz!“, befahl er.
Der Unbekannte setzte sich auf das Bett und betrachtete sie; er regte sich kaum, sprach kein weiteres Wort, bis alle Hüllen gefallen waren.
Sie setzte sich neben ihn. „Ich möchte, dass du dir die Augen verbindest und dich auf das Bett setzt“, flüsterte er und ging zum Waschbecken in der anderen Ecke des Zimmers.
„Gerne, mein Darling“, hauchte sie. Nadja band sich einen schwarzen Seidenschal über die Augen und wartete auf das, was kommen würde. So hatte sie sich diesen Beruf früher vorgestellt, hübsch und naiv wie sie gewesen war. Damals, vor zwanzig Jahren.
Doch in Wirklichkeit ging es nur um das alte Rein-Raus-Spiel. Und darum, dass die Männer sich potent und attraktiv fühlen konnten, egal wie beschissen sie aussahen.
Sie hörte seine nahenden Schritte und spürte seine warme Hand in ihrem Nacken. Er streichelte ihren Oberkörper, ihr Gesicht und zog sanft die Binde fester. Nadja legte ihren Kopf zurück und seufzte gespielt lasziv. Etwas Kaltes berührte ihre Lippen. „Trink!“, sagte er.
Der Prosecco prickelte in ihrem Mund, auch wenn er ein wenig bitter schmeckte. Wahrscheinlich hatte die Flasche schon ewig im Kühlschrank gestanden. Der Unbekannte drehte die Musik noch ein wenig lauter, fuhr mit seinen Händen langsam um ihren Hals. Er schien sich Zeit zu lassen. Immerhin besser als die Jungs, die eine Stunde buchten, aber schon nach fünf Minuten fertig waren. Und sie durfte sich dann fünfundfünfzig endlose Minuten abmühen, bis das Ding endlich wieder stand und der Typ kam, oder bis er aufstand und ging.
Sie schob ihren Kopf zur Seite, fast schien es, als würde das Bett sich bewegen, Schwindel überkam sie.
Um sich abzulenken, stellte sie sich vor, sie läge an einem endlosen Strand. Ja, sah sie nicht sogar das blaue Meer in der Sonne glitzern?
Doch es war nicht das Meer, das durch den Stoff des Schals funkelte, sondern scharfes, kaltes hartes Metall.
Brennender Schmerz erfasst sie. Sie versuchte dagegen anzukämpfen, wollte schreien, doch es gelang ihr nicht. Es war, als gleite sie davon, als wäre ein Teil ihres Körpers betäubt. Etwas Warmes, Flüssiges lief ihre nackte Brust entlang. Sie versucht sich damit zu beruhigen, dass es Angstschweiß war.
Doch warum war ihr dann auf einmal so kalt?
Sie konnte nicht einmal ihren Kopf bewegen. Oder die Binde vor ihren Augen. Ihre Hände gehorchten ihr nicht mehr. Obwohl sie nichts sehen konnte, schien sich alles um sie herum zu drehen.
Sollte sie es nicht einfach geschehen lassen?
Nein! Etwas tief in ihr sträubte sich dagegen. Sie wollte sich aufbäumen, um Hilfe rufen, den Unbekannten stoppen! Egal wie!
Doch sie konnte nicht einmal ihren Mund öffnen. Sie hatte die Kontrolle über ihren Körper verloren.
Alles war auf einmal so weit, weit weg.
Ihr Leben. Oder wie immer man das nennen sollte.
Langsam kam die Wärme zurück, erst zögerlich und stockend, doch schließlich durchströmte sie auch die letzte Faser ihres Körpers.
Jetzt sah Nadja auch das glitzernde Meer wieder. Sie stand erneut am Strand, dieses Mal ganz nah am Wasser. Sie blickte in den blauen Horizont, keine Wolke störte die Sonne. Sie spürte, wie die Gischt zwischen ihren Zehen kitzelte und den Sand mitriss. Grelle Lichtpunkte tänzelten auf den Wellen, so hypnotisch, dass sie kaum ihren Blick davon abwenden konnte. Sie ging weiter in das Meer hinein, das warme Wasser umschmeichelte ihre Knöchel.
Der Unbekannte kam aus den Wellen gestiegen, und obwohl er hätte nass sein müssen, strahlte er hell wie die Sonne und trug ein trockenes, weißes Sommergewand. Er strich Nadja durch ihr rotes Haar. „Komm“, flüsterte er.
Erst jetzt erkannte sie ihn. Und auf einmal wusste sie, warum der Prosecco so bitter geschmeckt hatte.
Sie wollte flüchten, drehte sich um, doch sie stand schon zu weit im Meer. Die Wellen, die plötzlich vom Ufer zurückflossen, schlugen ihr ins Gesicht. Die Strömung zerrte an ihr und riss ihre Beine vom Boden. Sie verlor den Halt und fiel nach hinten. In die Arme des Mannes, der inmitten der Brandung stand wie ein Fels. Er lächelte diabolisch und zog sie mit festem Griff näher zu sich.
Nadja bäumte sich noch einmal auf, doch das Wasser schlug an ihr hoch wie loderndes Feuer. Der Mann nahm ihre Hand in die seine und das Meer wurde still. Das Wenige, was in ihr noch lebte, ließ es geschehen.
Dann führte er sie tiefer ins Meer und geleitete sie aus dieser in eine andere Welt.
3
Die Tür zum Zimmer wurde aufgerissen und eine Krankenschwester stürmte an Paulas Bett. „Was soll denn das?!“, rief sie. „Wollen Sie Ihre Freundin umbringen?“
Die Pflegerin schob ihn beiseite, nahm die Maske und setzte sie Paula wieder auf. „Der Chefarzt hat Ihnen doch ausführlich erklärt, dass sie die Maske tragen muss, weil es Probleme mit dem Tubus gab!“
Lindberg blickte sie mit ausdruckslosen Augen an. „Ich wollte sie küssen“, sagte er kraftlos. „Ich dachte, das hilft ihr.“
Die Schwester atmete tief aus. Sie hatte anscheinend jeglichen Sinn für Romantik verloren, jedenfalls wenn es um ihren Beruf ging. „Was Ihrer Freundin hilft, und was nicht, das wissen wir am besten!“
Auch wenn er anderer Meinung war, nickte Lindberg. „Ich muss ohnehin los“, sagte er, blickte noch einmal auf Paula, die so ruhig atmend dalag wie zuvor, dann nahm er den Karton und stand auf.
Die Schwester baute sich vor ihm auf. „Was ist das eigentlich für ein Geschenk?“
Und als habe er die Frage gehört, miaute Dr. Watson.
„Herr Lindberg!“ Die Schwester stemmte ihre Arme in die Hüfte. „Von einem Polizisten kann man doch eigentlich erwarten, dass er die Vorschriften einhält, oder?“
„Es geht um Leben oder Tod, nicht um Vorschriften.“ Er nahm den Karton und ging an ihr vorbei.
„Sie hätten wenigstens mal fragen können.“
„Und was wäre Ihre Antwort gewesen?“
Die Pflegerin kratzte sich an der Nase. „Sie reden nicht viel, oder?“
„In Schweden gelte ich als extrovertiert.“
Sie lächelte. „Also gut, wenn Sie versprechen, dass Sie das nächste Mal fragen, und zwar mich, dann habe ich nichts gesehen.“
Lindberg versprach es, verabschiedete sich, setzte sich in seinen Volvo und fuhr nach Hause.
Er hätte am liebsten mit keiner Menschenseele mehr geredet, sich einfach ins Bett gelegt und auf den Schlaf gewartet.
Doch so lief das nicht. Nicht mehr. Noch bevor Lindberg seine eigene Tür öffnete, ging er zum Nachbarhaus. Wenn er es nicht tat, würde Isabel in fünf Minuten bei ihm klingeln und wissen wollen, wie es gelaufen war. Denn sie kümmerte sich um Dr. Watson, wenn Lindberg im Krankenhaus übernachtete oder auf der Arbeit war.
Isabel war überzeugt gewesen, dass Dr. Watson Paula helfen würde aufzuwachen.
Gerade mal zehn Wochen alt war der Kater gewesen, als Paula ihn aus einem Tierheim geholt hatte. Lindberg wusste es noch genau, es war an ihrem ersten Jahrestag gewesen. „Du, der Kommissar und Watson, der Assistent“, so hatte sie im Scherz begründet, warum der Kater nicht Felix hieß, Blacky oder wenigstens Napoleon. Denn wie der benahm er sich.
Im Grunde kam Dr. Watson nur noch zum Schlafen und Essen nach Hause, die Zärtlichkeiten holte er sich woanders, als wäre er ein Mann in der Midlife-Crisis.
Das Problem war, das sich auch Isabel nach Zärtlichkeiten sehnte, seit ihr Mann vor zwei Jahren bei einem Tauchunfall ums Leben gekommen war. Und nun saß sie allein daheim, mit dem fünfjährigen Leon und der sechsjährigen Nina und wartete darauf, zum zweiten Mal den Mann ihres Lebens zu finden.
Sie war wie Lindberg einunddreißig, attraktiv, fast schon zu attraktiv und wirkte daher ein wenig künstlich auf ihn. Lindberg hatte zu spät gemerkt, was sich da anbahnte. Weil er in Berlin mit all dem Mitleid, den Ratschlägen und der Tuschelei der Kollegen und Freunde nicht mehr klargekommen war, hatte er in der Schweiz niemandem von Paulas Schicksal erzählt.
Bis auf Isabel.
Er hatte gehofft, ihr damit klarzumachen, dass er vergeben war, und sie hatte es wohl auch verstanden. Aber Verstand und Herz waren nun einmal zwei getrennte Dinge.
Und jetzt konnte er ihr Dr. Watson schlecht wieder wegnehmen. Doch da war noch mehr. Er mochte Leon, ihren Sohn, weil er ihn daran erinnerte, wie es Lindberg in dem Alter gegangen war. Weil er ihm helfen wollte. Und weil der Junge ihn auch mochte.
Lindberg klingelte an der Nachbarstür, die wie immer innerhalb von wenigen Sekunden geöffnet wurde. Isabel strahlte ihn an, die brünetten Haare offensichtlich frisch auf Schulterlänge gekürzt, es stand ihr gut. Obwohl es schon zehn Uhr abends war, hatte sie das Make-up noch nicht abgelegt. „Und, wie war es?“, fragte sie, ein Glas Wein in der Hand.
Er schüttelte nur den Kopf.
„Leon liegt schon im Bett.“ Sie deutete nach oben zu den Schlafzimmern der Kinder. „Er war zu müde.“
„Du bist bestimmt auch müde“, antwortete er, anstatt ein Kompliment zu ihrem neuen Haarschnitt zu machen. Doch auch der Anti-Flirt-Modus half nicht mehr, im Gegenteil, er schien sie noch mehr zu befeuern.
„Möchtest du auch noch einen Wein?“ Sie schwenkte ihr Glas. „Ein 98er Shiraz. Wäre schade um die angebrochene Flasche.“
Die letzten drei Einladungen hatte Lindberg schon abgelehnt, sich Dr. Watson geschnappt und war gegangen. Außerdem konnte er jetzt ohnehin noch nicht schlafen. Also nickte er und ließ Dr. Watson aus dem Karton.
„Ich hätte übrigens einen Wunsch“, sagte Isabel, kaum hatte er sich auf den Wohnzimmersesseln gesetzt. „Ich weiß, es ist viel verlangt, aber ich habe Angst vor meinem Geburtstag.“ Sie blickte ihn mit Verzweiflung in den Augen an. „Festtage erinnern mich daran, dass ich allein bin.“
„Das verstehe ich“, sagte er, obwohl er noch keinen Festtag ohne Paula hatte durchstehen müssen. Er wollte gar nicht daran denken. „Wie kann ich dir helfen?“
„Ich würde gerne mit dir essen gehen, in einem speziellen Restaurant. Wo wir hingehen, ist ein Geheimnis.“
Lindberg blickte sie gespannt an.
„Ich verrate nichts, aber es wird ein tolles Erlebnis“, sagte sie. „Es wäre super, wenn du dir den Dienstagabend freihalten könntest.“
Er nickte. „Danke, dass du auch immer für mich da bist.“
Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und nahm einen Schluck Wein. „Es wäre schön gewesen. Wenn wir uns mit unseren Partnern kennengelernt hätten.“
„Ja, es wäre schön gewesen“, sagte er und das meinte er ernst. Er mochte Isabel, aber wenn er nicht bald die Beziehung zwischen ihnen klärte, würde er Paula nicht mehr in die Augen schauen können, wenn sie diese jemals öffnete.
Und darauf wartete er doch so sehr.
Isabel legte ihre Hand auf seine Schulter. „Ich weiß, wie du dich fühlst.“
Nein, das weißt du nicht, dachte er. Dein Mann ist tot, aber Paula lebt noch.
Er nahm das Weinglas, leerte es in gerade noch angemessener Zeit, rief Dr. Watson und verabschiedete sich.
Daheim angekommen, reichte seine Kraft nur noch, sich zu entkleiden, ins Bad zu gehen und dann ins Bett zu fallen.
Dort wartete er auf den Schlaf.
4
Er schlug die Augen auf und sah nichts. Sein Kopf schmerzte, sein Gehirn war in einem Nebel gefangen, und bevor er feststellen konnte, wo er sich befand, nickte er wieder weg.
Nach einer Weile kam sein Bewusstsein wieder, kämpfte sich durch den dichten Nebel, orientierungslos. Schmerz war die einzige Empfindung. Sein Kopf, die Schulter, mehr spürte er nicht.
Er atmete ein, auch das tat weh. Etwas drang in seine Nase. Ein Geruch. Es roch nach Treibstoff. Diesel.
Hastig schnappte er nach Luft, er hustete, alles schien in Diesel getränkt. Es war stockdunkel, er spürte, dass er auf einem gepolsterten Sitz saß, dass seine Kleider an ihm klebten und nass waren.
Alles stank nach Treibstoff.
Hektisch blickte er sich um, doch er konnte immer noch nichts sehen, obwohl seine Augen geöffnet waren, obwohl sie brannten von den stechenden Ausdünstungen des Diesels. Er spürte einen handbreiten Gurt auf seine Brust drücken. Saß er in einem Auto?
Er schob seine Hände nach vorn, befühlte das nasse Leder eines Lenkrads. Er suchte rechts an der Lenksäule nach dem Schlüssel, doch der steckte nicht. Er wollte das Licht anschalten, vorne an der Konsole, drückte ein paar Knöpfe, nichts tat sich.
Er langte an den Dachhimmel, fand den Schalter für das Innenlicht, betätigte ihn, doch die Batterie des Autos schien leer. Alles war tot.
Der Dieselgeruch stach ihm wieder in die Nase. Er musste hier raus. Mit der Linken suchte er nach dem Türgriff, fand ihn, rüttelte daran, doch die Tür blieb geschlossen.
Er spannte den Gurt los, beugte sich nach rechts, um den Türgriff an der Beifahrerseite zu greifen und dann erst bemerkte er, dass jemand neben ihm saß.
5
Daniel C. Meyer jagte, weil er sich auf dieser Weise der Natur nahe fühlte. Die Natur brauchte Führung, brauchte eine ordnende Hand, so wie alles im Leben. Wer wollte schon, dass die ganze Welt nur aus Urwald bestand? Klar, es gab noch das Meer und ein paar Gletscher und Berge, aber dort lebte ja niemand.
Was der Mensch schön fand, war überwiegend Kulturlandschaft: Weinberge, Teeplantagen, Wiesen, Olivenhaine, bewirtete Wälder. Natürlich, manche fanden auch den Urwald schön, aber wie wollten sie ihn sehen, wenn nicht jemand wenigstens einen Pfad hindurch schlug?
Und wie sollte ein Wald überleben, wenn sich das Wild planlos vermehrte und alles an Rinde verspeiste, was in seiner Reichweite lag?
Klar, die Natur kontrollierte sich selbst, manches Mal in ein paar Jahrzehnten, doch oft erst in Hunderten oder Tausenden von Jahren.
Doch der Mensch lebte jetzt und konnte nicht warten, bis die Natur eingriff. Deswegen war er gerne Jäger und hatte nicht den Ansatz eines schlechten Gewissens, wenn er einen Rehbock schoss, einen Hasen oder eine Gämse.
Fachmännisch, ohne unnötige Schmerzen für das Tier.
Trotzdem hatte die Jagd viele Feinde. Feinde, die er auch von seinem Beruf kannte. Bei der Führung eines Pharmaunternehmens lernte man schnell, wer für einen und wer gegen einen war.
Wer seine Argumente verstand, und wer sie nicht verstehen wollte.
Doch sollte er sich deswegen selbst beschränken, weil andere zu beschränkt waren? Nein, es war richtig was er tat, davon war Daniel C. Meyer überzeugt.
Trotz der Anfeindungen in letzter Zeit. Es ging ihm nicht um Geld, er hatte wahrlich genug verdient. Es ging ihm darum, etwas zu verändern. Und das konnte er jetzt noch mehr als zuvor.
Denn er war jetzt nicht mehr CEO eines One-Trick-Pony-Pharmaunternehmens, sondern Forschungschef bei Novartis, einem der größten Pharmakonzerne weltweit.
Wer hätte das gedacht, er, der damals in der siebten Klasse in Biologie mit einem Ungenügend abgespeist worden war. Dann hatte der Lehrer gewechselt und er seine Einstellung und endlich hatte er verstanden, wie das funktionierte mit der Natur und dem Menschen.
Meyer hörte ein Geräusch, legte sich flach auf den Boden, nahm sein Jagdgewehr, schaute durch das Zielfernrohr und scannte den Bereich vor sich. Zentimeter für Zentimeter.
Nichts bewegte sich, selbst die Luft schien stillzustehen.
Plötzlich raschelte es im vom Schnee bedeckten Laub, so als habe jemand einen kleinen Ast geworfen, nur ein paar Meter hinter ihm. Meyer blickte sich um, immer noch auf dem Boden liegend.
Da, vor ihm wieder ein Geräusch.
Er drehte den Kopf, schaute nach vorn; etwas bewegte sich, an mehreren Stellen, jetzt kam es wieder von hinten, er hob den Oberkörper, um besser sehen zu können und dann erst entdeckte er das Gewehr, das auf seine Brust gerichtet war.
Im nächsten Moment fiel ein Schuss.