Leseprobe Tödliches Clifden

Kapitel 1

Eine Limousine fuhr die Auffahrt zu dem Anwesen der Familie Glück hinauf. Marleen saß auf der Rückbank und zählte die Laternen, die sich am Weg entlang reihten. Als sie bei der siebten angelangt war, fuhr der Wagen einen Bogen und blieb schließlich stehen.

Lloyd, ihr Chauffeur, stieg aus und öffnete ihr kurz darauf die Tür. Kühle Nachtluft strömte ihr entgegen und minderte den pochenden Schmerz hinter ihrer Stirn. Trotz ihrer Müdigkeit – und dem leichten Schwips – schwang sie die Beine elegant nach draußen, wie sie es bei Grace Kelly gesehen hatte. Aus einem Reflex heraus kontrollierte sie mit einer raschen Handbewegung ihre Frisur. Dank des großzügig verteilten Haarsprays saß sie weiterhin wie frisch vom Friseur gestylt. Es gab keine Ausrede dafür, unordentlich auszusehen. Nicht einmal um vier Uhr morgens, nachdem man die letzten acht Stunden auf einer Wohltätigkeitsgala verbracht und Spenden für Waisenkinder gesammelt hatte. Okay, sie war nur zwei Stunden auf der Gala gewesen. Dann hatte sie sich mit großen Gesten verabschiedet und war mit Diane, Patricia, Lawrence, Howard und Alan in die Spätvorstellung gegangen. Danach hatten sie im The French Hummer gegessen.

Die ersten Schritte zur Eingangstür legte Marleen schwankend zurück, was sich in den hohen Schuhen kombiniert mit dem Kiesweg als schwieriges Unterfangen entpuppte. Es gelang ihr dennoch, die wenigen Stufen zur Tür hinaufzugehen. Sie hatte bereits den Finger an der Klingel, als sie bemerkte, dass es hinter den meisten Fenstern dunkel war. Lediglich im Waschraum und in der Küche brannte Licht und dort hatten sie bestimmt Besseres zu tun, als ihr die Tür zu öffnen. Ebenso wenig wollte sie jemanden im Haus aufwecken. Sie hasste es selbst, aus dem Schlaf gerissen zu werden.

Also kramte sie in ihrem Handtäschchen nach dem Schlüssel. Sie benötigte mehrere Anläufe, bis sie den Verschluss geöffnet hatte. Währenddessen hörte sie, wie Lloyd die Limousine in der nahe gelegenen Garage parkte, wo eine ansehnliche Sammlung an Sportwagen, Cabrios und Motorrädern aufbewahrt wurde.

Nachdem ihr Lippenstift, Handspiegel und die Kinokarten herausgefallen waren, fand sie endlich den Schlüssel.

»Nie wieder Champagner«, murmelte sie und betrat das Foyer. Es roch nach Möbelpolitur, Zitronen und Jasmin. Schwaches Mondlicht fiel durch die hohen Fenster herein und ließen das Nötigste erkennen. Direkt neben dem Eingang standen zwei große Vasen mit Rosen und Lilien, den Lieblingsblumen ihrer Mutter. Auf einer Kommode stapelten sich Einladungskarten zu den bevorstehenden Veranstaltungen in Manchester. Sie und ihre Mutter musterten die Einladungen stets sorgfältig und entschieden dann gemeinsam, welche davon sie annahmen, ablehnten oder erst gar nicht beantworteten. Marleen nahm einen Stapel der Karten und verstaute sie in ihrer Tasche.

Dann ging sie unsicheren Schrittes die Treppe hinauf. Die Luft und die wenigen Schritte hatten ihr Schwindelgefühl weitestgehend vertrieben, sodass sie sich klarer im Kopf fühlte. Trotzdem hielt sie eine Hand sicherheitshalber über dem Geländer. Sie hatte wahrlich keine Lust, rückwärts nach hinten zu stolpern und sich am Treppenabsatz den Schädel einzuschlagen. Das Blut würde ihr Make-up ruinieren und der Sturz würde ihre Haare in Unordnung bringen. So wollte sie den Menschen keinesfalls in Erinnerung bleiben.

Oben angekommen, wandte sie sich nach links, vorbei an den gemalten Porträts von sich und ihrer Familie im Stile Ludwigs XIV., eine seltsame Leidenschaft ihres Vaters. Also, dass er die Gemälde anfertigen ließ, nicht das Malen selbst. Marleen bevorzugte hingegen die Fotografien, die sie und ihre Eltern samt Belegschaft vor dem Anwesen zeigten oder am Strand von Cornwall. Ihr persönlicher Favorit war allerdings jenes Foto, auf dem sie mit ihrer Familie in Festtagskleidung vor dem Buckingham Palace stand. An diesem Abend waren sie bei König George VI. – er ruhe in Frieden – zum Abendessen eingeladen gewesen.

Der Weg zu ihrem Zimmer kam ihr länger vor als gewöhnlich, was wohl auf ihre Müdigkeit zurückzuführen war. Sie legte eine Hand auf die Klinke und wollte bereits erleichtert ausatmen, als sie plötzlich ein Rascheln hörte. Sie wandte sich ruckartig um, wodurch sich kurzfristig der Flur um sie herum drehte. Sobald die Welt wieder stillstand, lauschte sie mit angehaltenem Atem. Es raschelte erneut. Das Geräusch kam aus dem Ankleidezimmer ihrer Mutter.

Marleen näherte sich der Tür, die wenige Schritte entfernt war, und beugte sich vor. Da bemerkte sie das flackernde Licht unter dem Türspalt. Sie atmete schwer aus. »Nicht schon wieder.« Beinahe lautlos drückte sie die Klinke hinunter.

Der Raum wurde von einem Kerzenhalter erhellt, der in der Mitte auf einem Tischchen stand, möglichst weit weg von den teuren Kleidungsstücken. Vor dem hohen Spiegel erkannte sie die Umrisse einer Frau, die sich ein Kleid vor den Körper hielt und damit sanft hin und her schwang. Sie summte leise Longing for you von Theresa Brewer.

Marleen betätigte den Lichtschalter neben der Tür. Sie musste einige Male blinzeln, bis sie wieder etwas sah.

Olivia hatte die plötzliche Helligkeit offenbar weitaus mehr überrascht, denn sie schnappte hörbar nach Luft und wirbelte herum. Sie presste die dunkelblaue Abendrobe von Abigail Glück fest an sich, als könne sie sich dahinter verstecken. Sobald sie Marleen erkannt hatte, atmete sie erleichtert aus. »Miss Glück«, stieß sie hervor. »Ich äh … wollte nur das Kleid auslüften.« Sorgsam strich sie den Stoff glatt und hängte das Kleid zurück an seinen Platz.

»Und den Lippenstift gleich dazu?« Marleen tippte sich an den Mundwinkel.

Ertappt rieb Olivia die Lippen aneinander, wodurch sie die Farbe über den äußeren Lippenrand verschmierte. Sie sah betreten zu Boden. »Es tut mir leid«, murmelte sie und knetete die Hände. »Ich kann nichts dagegen machen. Die Kleider, das Make-up, der Schmuck …« Olivia hob den Blick.

Marleen erkannte, wie es in ihren Augen zaghaft aufleuchtete.

»Trotzdem hast du in diesem Zimmer nichts verloren. Stell dir vor, was passiert, wenn nicht ich dich erwische, sondern eines der anderen Hausmädchen … oder meine Mutter.« Marleen rieb sich mit den Fingerspitzen über die Stirn. Die Kopfschmerzen kehrten zurück. »Das kostet dich deinen Job. Und zwar mit absoluter Sicherheit.« Sie warnte Olivia nicht zum ersten und vermutlich auch nicht zum letzten Mal, wie sie sich eingestehen musste.

»Es ist ja keine Absicht, sondern …«

»Ich bezweifle, dass die Diagnose ›Kleptomanie‹ eine ausreichende Entschuldigung dafür ist, dass du die Schminke von den Leuten trägst, die dich bezahlen … und wenn wir schon einmal davon sprechen …« Sie machte eine auffordernde Geste.

Olivia wurde blass. »Ich habe nichts eingesteckt«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Wirklich nicht. Ich habe es inzwischen viel besser unter Kontrolle.«

»Wenn du nichts dagegen hast, würde ich die Sache gern abkürzen.« Marleens Augen brannten vor Müdigkeit. Sie wollte endlich ins Bett.

Gehorsam griff Olivia in die Seitentaschen ihres Rockes. Da formten sich ihre Lippen auch schon zu einem stummen »Oh.« Sie zog einen Ring mit eingefasstem Smaragd, Perlenohrringe und eine silberne Halskette hervor. »Mir ist nicht aufgefallen, dass … also, der Arzt sagt, mein Unterbewusstsein …«

»Leg die Sachen einfach zurück, ja?«

Olivia nickte knapp und legte den Schmuck in das dafür vorgesehene Kästchen, das auf einem niedrigen Regal stand.

Sicherheitshalber trat Marleen näher und sah ihr über die Schulter, damit Olivias Unterbewusstsein nichts Neues einsteckte. Dabei fiel ihr Blick auf die silberne Kette, die im Gegensatz zu den anderen Schmuckstücken nicht sonderlich wertvoll aussah. »Was ist das?« Sie nahm die Kette. Angelaufenes Silber und ein beschädigter Verschluss. Seltsam. Für gewöhnlich achtete ihre Mutter sorgsam auf ihre Sachen und ließ jeglichen Makel sofort beheben. »Hast du die Kette aus der Schatulle?«

Für einen Moment wirkte Olivia unschlüssig. Sie sah zur Seite und verschränkte die Hände ineinander. Dann nickte sie.

Marleen musterte das Schmuckstück erneut. Sie hatte ein kleines Herz als Anhänger, der weder mit Steinen noch mit Ornamenten verziert worden war. Auf der Rückseite erkannte sie die dünnen Linien einer Gravur, die sie nicht genauer identifizieren konnte. Dafür hätte man die Kette reinigen müssen. »Danke«, sagte sie schließlich zu Olivia, ohne den Blick von dem silbernen Herz zu heben. »Du kannst gehen. Sie werden dich in der Küche brauchen.«

»Sehr wohl.« Olivia machte einen tollpatschigen Knicks.

Irgendwann musste sie dem Mädchen klarmachen, dass sie keine Adeligen waren und sie sich die Knickserei sparen konnte. Es fehlte bloß, dass sie Marleen mit »Mylady« ansprach. Wobei, an ihrem ersten Tag hatte sie das getan. »Und nimm den Kerzenhalter mit. Wo hast du das alte Ding eigentlich ausgegraben?«

Ohne auf ihre Frage zu antworten, huschte Olivia aus dem Zimmer.

Marleen hörte kaum, wie die Tür ins Schloss fiel. Sie hielt den Anhänger ins Licht und versuchte vergeblich, die Gravur zu entziffern. Die Kette kam ihr vertraut vor. Allerdings wusste sie nicht, woher.

 

Der Wecker hatte um sieben Uhr geklingelt. Eine unmenschliche Uhrzeit, wenn man keine drei Stunden zuvor ins Bett gefallen war. Aber Selbstbeherrschung und Disziplin gehörten nun mal zu den Eigenschaften, die den Menschen vom Tier unterschieden. Zumindest hatte man ihr das beigebracht. Und deswegen saß sie in ihrem Morgenmantel vor ihrer Schminkkommode und trug die Grundierung ihres Make-ups auf. Obwohl sämtliche Modezeitschriften darauf beharrten, sparsam damit umzugehen, verteilte sie an diesem Morgen eine dickere Schicht als gewöhnlich. Ihre Haut wirkte so schrecklich fahl. Diesen Anblick konnte man niemandem zumuten.

Es klopfte an der Tür.

»Herein.« Ihre Stimme klang kratzig. Sie räusperte sich mehrmals, ohne das trockene Gefühl loszuwerden. Auf ihrer Zunge klebte der Nachgeschmack des Champagners. Ihre Haare stanken nach Rauch. Das hatte man davon, wenn man Alan und Patricia die Lokalwahl überließ. Das nächste Mal würde sie das Restaurant aussuchen. Sie griff nach dem Flakon von Chanel N°5 und sprühte sich großzügig damit ein. Später musste sie dringend ein Bad nehmen. Bis dahin hoffte sie, dass ihre beste Freundin Coco die Sache für sie regeln würde.

Über den Spiegel sah sie, wie Olivia zaghaft durch den Türspalt spähte. Als sie Marleen entdeckte, trat sie ein und schubste mit ihrem Fuß die Tür wieder zu. Vor sich balancierte sie ein silbernes Tablett mit einer Teekanne, einem Milchkännchen und einer Tasse. Oliva trug einen knöchellangen Rock aus Baumwolle mit einem breiten Bund, der ihr hervorragend stand. Erst vor Kurzem hatte Marleen die neue Garderobe für das Personal in Auftrag gegeben. Die Angestellten nahmen ihrer Familie viel unliebsame Arbeit ab und sie fand, dass dies gelegentlich in kleinen Geschenken honoriert werden sollte.

Sie lächelte Olivia aufmunternd zu. »Du bist meine Rettung.« Dann konzentrierte sie sich wieder auf ihr Spiegelbild und verzog den Mund. »Ach, du meine Güte.« Marleen beugte sich vor und rieb sich über die dunklen Schatten unter ihren Augen. »Ich sehe aus, als hätte ich die halbe Nacht nicht geschlafen.«

»Na ja, das entspricht auch der Wahrheit«, erwiderte Olivia. Sie stellte das Tablett neben Marleen und goss Tee in die Tasse. Als wäre ihr eben erst bewusst geworden, was sie da gesagt hatte, färbten sich Olivias Wangen rot. Rasch setzte sie die Kanne mit einem leisen Scheppern ab.

»Die Wahrheit lässt sich mit simplen Mitteln manipulieren.« Wie um ihre Worte zu betonen, tupfte sie sich mit den Fingerspitzen eine hellere Grundierung unter die Augen. »Und wir sollten diese Mittel nutzen, wenn sie uns zur Verfügung stehen.«

Olivia neigte den Kopf zur Seite. »Man soll doch nicht lügen.«

»Das kommt auf die Situation an.« Marleen legte das Make-up beiseite und nahm stattdessen die Teetasse. Sie pustete darauf, trank dann vorsichtig und seufzte dankbar. Der herbe Geschmack von Schwarztee war genau das, was sie um diese Uhrzeit benötigte.

Während sie Lidschatten auftrug, schaltete Olivia wie jeden Morgen das Radio ein, das auf einem Tischchen neben einem gemütlichen Ohrensessel stand. Nach kurzem Rauschen war Doris Day mit ihrem neuesten Song A Guy is a Guy zu hören.

Olivia kämmte sorgfältig Marleens Locken durch. Sie war sehr geschickt darin, jeden Frisurentrend umzusetzen. Marleen redete sich ein, dass dies der Grund war, weshalb sie Olivias nächtliche Ausflüge in das Ankleidezimmer ihrer Mutter für sich behielt. In Wahrheit gehörte das junge Hausmädchen zu den wenigen Personen, denen sie tatsächlich vertraute. Ja, sie hatte einen großen Freundeskreis in der gehobenen Manchester Gesellschaft. Und wenn sie einige Tage in London verbrachte, fand sich jederzeit eine Freundin, bei der sie übernachten oder mit der sie sich treffen konnte. Sie war ein gern gesehener Gast auf jeder Soiree, jeder Abendveranstaltung und im Golfclub. Dennoch hatte sie immer den Eindruck, in diesen Kreisen nicht sie selbst zu sein, sondern stets eine Rolle zu spielen. Sie hatte diese Rolle perfektioniert, indem sie keine Unsicherheit, Schwäche oder schlechten Modegeschmack zeigte. Aber war das die Marleen Glück, die sie sein wollte? Diese Frage tauchte gelegentlich in ihrem Kopf auf.

Wie auch immer. Bei Olivia konnte sie sich entspannen. Sie musste nichts vortäuschen oder jemanden beeindrucken. Sie konnte mit Olivia offen reden, ohne zu befürchten, dass diese tratschte.

Ein Ziepen an ihrer Kopfhaut holte sie zurück in die Gegenwart. Olivia frisierte eine Haarpartie zu einer seitlichen Tolle. Eine Haarnadel steckte zwischen ihren Lippen. »Angenommen«, begann sie, nachdem sie die Haare befestigt hatte. »Man kennt die Wahrheit zu … einer bestimmten Sache. Oder man glaubt sie zu kennen … oder besser gesagt: Man ist sich sicher, dass …«

»Komm bitte auf den Punkt.«

»Die Kette …«

Marleens Blick huschte zu der Schublade, in die sie besagtes Schmuckstück gelegt hatte. Sie konnte nicht sagen, weshalb sie die Kette mitgenommen und nicht zurück zu den anderen Sachen ihrer Mutter getan hatte. Sie glaubte zu wissen, worauf diese Unterhaltung hinauslief. Energisch nahm sie die Kappe von einem Lippenstift und zog sich die Lippen nach. »Mach dir keine Sorgen, Olivia. Ich werde nichts verraten.« Sie betrachtete ihr Gesicht von allen Seiten im Spiegel. »Trotzdem musst du dich besser unter Kontrolle halten.« Dann hielt sie wieder still, damit Olivia die letzten Handgriffe an ihrer Frisur vornehmen konnte.

Olivia erwiderte nichts darauf, sondern nahm eine weitere Haarnadel aus der entsprechenden Schachtel und fixierte ihre Haare im Nacken.

»Au.« Marleen fasste sich an den Hinterkopf und wandte sich zu Olivia um. »Es reicht völlig aus, wenn du die Haare befestigst und mir nicht die Nadel in den Schädel jagst.« Was war heute mit dem Mädchen los? Ansonsten stellte sie sich nicht so ungeschickt an.

Olivia weitete erschrocken die Augen und faltete die Hände vor dem Mund. »Oh, das tut mir leid … es ist nur …«

Marleen zog an der Nadel und riss sich dabei ein einzelnes Haar aus. Sie verzog das Gesicht. »Wie gesagt, du musst dir keine Sorgen ma…«

»Das ist es nicht.« Olivias Stimme klang viel zu hoch.

Marleen schürzte die Lippen. Sie war es nicht gewohnt, dass ihr jemand widersprach. Geschweige denn, dass sie unterbrochen wurde. Sie sah Olivia an und wartete darauf, ob das Hausmädchen jemals wieder ein Wort herausbringen würde. Bisher öffnete und schloss Olivia lediglich den Mund mehrmals und starrte auf die Haarnadel in ihren Händen.

Doris Day hatte inzwischen aufgehört zu singen, stattdessen berichtete der Nachrichtensprecher über die neuesten Entwicklungen in Irland. Die Nachbarinsel war seit 1949 unabhängig von Großbritannien, abgesehen von Nordirland, und versank seither in einer wirtschaftlichen Katastrophe.

Als die Wetterprognose verkündet wurde, schluckte Olivia schwer und brachte endlich wieder einen Ton heraus. »Die Kette habe ich im untersten Fach von Mrs. Glück gefunden. Sie ist recht gut unter dem anderen Schmuck versteckt gewesen.«

Marleen hatte mit vielem gerechnet. Mit einer spontanen Kündigung oder einem Mordgeständnis. Aber das? Sie zog die Brauen zusammen und öffnete die Schublade ihrer Kommode. »Du sprichst von dieser Kette?« Marleen betrachtete den Anhänger und wischte darüber, ohne die Gravur lesen zu können. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Womöglich hat Mum sie mal geschenkt bekommen und vergessen. Oder sie mag sie nicht.« Sie wollte die Halskette schon weglegen, doch hielt sie irgendetwas davon ab. Stattdessen wog sie das Schmuckstück in der Hand. »Sie scheint nicht besonders wertvoll zu sein.«

Olivia nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Es ist nicht die Kette von Mrs. Glück.«

»Ich gebe es auf.« Sie rieb sich über die Stirn. »Wem gehört sie denn dann?«

»Ich habe die Kette schon einmal in der Schatulle gesehen«, flüsterte Olivia. »Vor einem Jahr. Damals war die Gravur besser zu erkennen.« Sie senkte die Stimme weiter, sodass sie über Lonely Boy von Ray Charles kaum zu hören war. »Es stand Euer Name darauf, also der Vorname, und Euer Geburtsdatum.«

Marleen lachte trocken auf. »Das ist alles?« Sie ließ die Kette zwischen ihren Fingern gleiten. Erst jetzt fiel ihr auf, dass das Band viel kürzer war als üblich. Probeweise legte sie die Kette um den Hals. Wäre der Verschluss nicht kaputt gewesen, hätte sie sie mit Mühe und Not schließen können. Der Anhänger lag eng an ihrer Kehle, sodass er sich beim Schlucken spürbar bewegte. »Vielleicht habe ich sie als Kind getragen.« Allerdings konnte sie sich nicht daran erinnern.

»Hmmm«, machte Olivia. Sie packte die Haarnadeln zurück in die Schachtel und verschloss den Deckel sorgfältig.

Marleen atmete schwer aus. »Okay. Ist sonst noch etwas auf dem Anhänger eingraviert?«

Olivia murmelte unverständlich vor sich hin.

»Bitte, was?«

»Clifden.«

»Klingt nach einem Ortsnamen … Sagt dir das etwas?«

Olivia verneinte.

Es dauerte einen Moment, bis sie bemerkte, dass sie die Kiefermuskeln anspannte. Ihre Finger waren auf einmal kalt, obwohl die Sonne warm ins Zimmer schien. Um das Hausmädchen nicht länger zu beunruhigen, fügte sie sich in ihre alte Rolle ein. Sie setzte eine neutrale Miene auf und legte die Kette zurück auf die Kommode, ohne sie weiter zu beachten. »Könntest du mir den hellbraunen Bleistiftrock und die weiße Bluse aus dem Ankleidezimmer bringen? Ich komme sonst zu spät zum Frühstück.«

Sofort eilte Olivia in den angrenzenden Raum, sichtlich erleichtert darüber, aus ihrer Nähe verschwinden zu können.

Marleen betrachtete eindringlich den Anhänger. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihr breit. »Das hat bestimmt nichts zu bedeuten«, murmelte sie, als müsse sie sich selbst davon überzeugen.

Kapitel 2

Das Anwesen der Familie Glück war das ehemalige Heim einer Grafenfamilie, deren Linie um die Jahrhundertwende erloschen war. Das Haus aus der Blütezeit des viktorianischen Zeitalters war hingegen erhalten geblieben. Dementsprechend groß war der Speisesaal, in dem es nach gebratenen Eiern, frisch gebackenen Brötchen und Kaffee roch.

Wie jeden Morgen war ein Tisch zur Selbstbedienung gedeckt. In den Alutöpfen befanden sich Bohnen mit Speck und Rührei, daneben standen je ein Korb mit Brot und Gebäck sowie mit Obst. Ihr war bewusst, dass diese großzügige Auswahl keine Selbstverständlichkeit darstellte. Ihre Eltern hatten ihr früh beigebracht, ihren Luxus nicht nur zu genießen, sondern das Geld auch zu nutzen, um sich wohltätig zu engagieren.

Walter Glück saß bereits an dem langen Tisch, wo um die fünfzehn Personen Platz fanden, und blätterte in der Times. Vor ihm stand ein Teller mit Vollkornbrot, Erdbeermarmelade und Rührei. Wie fast jeden Sonntag trug er sein Golfer-Outfit. »Du bist gestern spät nach Hause gekommen«, begrüßte er sie, ohne von der Zeitung aufzusehen. Obwohl er seit über zwanzig Jahren in Manchester lebte, hörte man seinen deutschen Akzent nach wie vor deutlich heraus. Vielleicht war es auch Absicht, damit man ihn sofort mit den preußischen Tugenden in Verbindung brachte. Möglicherweise war das dies einer der Gründe, weshalb er den Posten als stellvertretender Geschäftsführer bei Ford erhalten hatte.

Sie blieb den Bruchteil einer Sekunde im Türrahmen stehen und fasste sich seitlich an ihren Rock. In der Seitentasche verbarg sich die Halskette. Anstelle einer Antwort ging sie zum Buffet und nahm eine Schüssel mit Porridge und eine halbe Grapefruit. Danach setzte sie sich ihrem Vater gegenüber an den Tisch. »Ich habe die Zeit übersehen«, behauptete sie beiläufig und goss sich aus einer silbernen Kanne Earl Grey in eine Tasse und fügte einen Schuss Milch hinzu.

Walter Glück grunzte amüsiert. »Natürlich.« Er nahm seinen Blick von der Zeitung. In seinen Augen blitzte es auf.

»Wo ist Mama?« Aus irgendeinem Grund wollte sie die Angelegenheit nicht mit ihrem Vater besprechen. Davon abgesehen hatte er wohl kaum eine Ahnung, welchen Schmuck Abigail in ihrer Schatulle aufbewahrte.

Ihr Vater war gerade in einen Artikel über die aktuellen Grundstückspreise in London vertieft. Deswegen dauerte es einen Moment, bis sie eine Antwort erhielt. »Trifft sich mit diesen Wichtigtuerinnen aus dem Frauenverein zum Brunch oder so.«

»Papa!« Marleen unterdrückte ein Lachen, wodurch sie sich fast an ihrer Grapefruit verschluckte.

Schließlich faltete ihr Vater seine Zeitung zusammen und bestrich sein Vollkornbrot mit Marmelade. »Ich bin nachher zum Golf verabredet … Was hast du heute vor?«

Augenblicklich schlug ihr Herz schneller. »Ich weiß nicht.« Die Unsicherheit in ihrer Stimme war deutlich herauszuhören. Ihr Vater hielt mitten in der Bewegung inne und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie atmete einmal durch. »Vielleicht treffe ich mich am Nachmittag mit Diane im Bonbonniere Café oder ich mache einen Abstecher nach Clifden. Ich kann mir dafür sicher den Taunus ausleihen, oder?« Dieses Mal gelang es ihr, völlig unbekümmert zu klingen.

Ihrem Vater rutschte das Brot aus den Fingern. Es landete mit der bestrichenen Seite nach unten, halb auf dem Tisch und halb auf dem Teller. Er schenkte dem Malheur keine Beachtung, sondern betrachtete sie eindringlich. »Wie kommst du denn darauf?«

»Na ja, Lloyd musste meinetwegen bis spät in die Nacht wach bleiben, damit er mich nach Hause fahren kann. Ich möchte ihn heute nicht schon wieder in Anspruch nehmen.«

»Ich meine, wie kommst du auf die Idee mit Clifden?« Er klang ungewöhnlich ernst.

»Ist mir so in den Sinn gekommen.« Als wäre dies ein belangloses Gespräch über das Wetter, tauchte sie ihren Löffel in das Porridge und schob ihn in den Mund. Normalerweise schmeckte der Brei nach Honig und Rosinen, aber nun erschien er ihr staubtrocken. Sie bewegte sich auf dünnem Eis.

Ihr Vater mahlte mit dem Unterkiefer, wie er es immer tat, wenn er nachdachte. Schließlich schob er den Teller von sich weg und stand auf. »Ich muss los, sonst komme ich zu spät. Wir sehen uns heute Abend. Und dann sprechen wir über Clifden, ja?«

Die Art, wie er das sagte, hinterließ in ihr ein beklemmendes Gefühl, so als würde sie jeden Augenblick vom Tod eines geliebten Menschen erfahren. »Warum können wir nicht gleich darüber reden?«

»Weil ich deine Mutter gern dabei hätte.« Er verließ den Speisesaal, ohne einen Bissen gegessen zu haben. Sogar seine Kaffeetasse war noch halb voll.

Es schnürte ihr plötzlich die Kehle zu, als hätte sich die Kette fest um ihren Hals geschlungen.

 

Der Vorteil eines ehemaligen Herrenhauses lag definitiv in der weitläufigen Gartenanlage, die Teil des Grundstücks war und in der man die Kieswege auf und ab laufen konnte wie ein unruhiges Pferd. Früher war Marleen auf die Eichen und Buchen geklettert. Sie hatte sich im Geäst versteckt und hinter vorgehaltener Hand gekichert, wenn ihr Kindermädchen an dem Baum vorbeilief und ihren Namen rief.

Sie betastete erneut den Anhänger in ihrer Rocktasche. Ihr Name war in einem alten Schmuckstück eingraviert. Zusammen mit einem Ort, von dem sie zuvor nie etwas gehört hatte. Ein Ort, der ihren Vater veranlasste, auf sein Frühstück zu verzichten.

Zum wiederholten Male erreichte sie den kleinen Saal, ging von dort aus weiter in den großen Saal, ins Billardzimmer, ins Kaminzimmer, ins Foyer und zurück in den kleinen Saal. Ihre Schritte hallten durch die Räume, was vor allem an den Absätzen ihrer Schuhe lag. Sie wollte sie bei der nächsten Spendengala für Waisenkinder tragen und musste sie noch einlaufen. Wenn sie schon ziellos herumlief, konnte sie diese Zeit auch sinnvoll nutzen.

Wo zur Hölle befand sich Clifden? Für einen Moment blieb sie im Foyer neben einer Marmorfigur von Athena stehen, die ebenso groß war wie sie selbst. Sie schien eine Augenbraue hochzuziehen und Marleen zu fragen, weshalb sie nicht endlich ihren Kopf benutzte anstelle ihrer Füße.

Eine Eingebung schoss durch ihre Gedanken. »Du hast absolut recht.« Sie klopfte Athena auf die Schulter und eilte dann die ersten Stufen hinauf.

»Miss Glück, Sie wissen, was Ihr Vater dazu sagt, wenn Sie in Stöckelschuhen über die Treppe laufen.«

Auf halber Strecke hörte sie Mrs. Thompsons Stimme hinter sich. Sie hatte die Aufsicht über die Dienstmädchen und gehörte seit zwanzig Jahren zum Haushalt.

Marleen lächelte entschuldigend »Ja, ja. Ich weiß«, gab sie atemlos zurück. Ihr Puls raste vor Aufregung. Rasch streifte sie sich die Schuhe von den Füßen und lief barfuß weiter.

Mrs. Thompson rief ihr etwas hinterher, aber da hatte sie bereits den Treppenabsatz erreicht und die Tür zur Bibliothek aufgerissen.

Bücherregale, die bis an die Decke reichten, flankierten den Raum von allen Seiten. Die Bibliothek war von den Vorbesitzern eingerichtet worden, weshalb es unzählige verstaubte Werke auf Griechisch, Latein und Altenglisch gab. In den obersten Regalen sammelten sich Aufzeichnungen über die Erträge der ehemaligen Pächter, Grundstücksgrenzen und Rechnungsbücher über die Einkäufe, die die Grafenfamilie getätigt hatte.

Im Laufe der Jahre hatten ihre Eltern den Bestand mit Romanen, wissenschaftlichen Abhandlungen und Reiseberichten ergänzt. Allerdings hatte sich nie jemand die Mühe gemacht, die Bibliothek zu ordnen oder das Verzeichnis ihrer Buchsammlung zu aktualisieren.

Marleen atmete den Geruch von Staub, altem Papier und kalter Holzkohle ein. Diesen Duft verband sie unweigerlich mit ihrer Kindheit. Sie hatte viel Zeit hier verbracht, als sie zu jung gewesen war, um an Bällen und Gala-Abenden teilzunehmen.

Die schweren Vorhänge waren zugezogen, damit das Sonnenlicht den Einbänden nicht schadete. Sie betätigte den Lichtschalter neben der Tür. Unwillkürlich hatte sie das Gefühl, einen alten Freund zu besuchen, den sie viel zu lange vernachlässigt hatte.

Die Bibliothek war ihr Rückzugsort. Sie hatte mit den Fingern über die Buchrücken gestrichen, war mit der auf Schienen befestigten Leiter die Regale entlang gesaust und hatte sich auf dem Lesesessel vor dem Kamin zusammengerollt. Damals blätterte sie besonders gern in Reiseberichten. Die darin enthaltenen Bilder und Zeichnungen entführten sie zum Taj Mahal in Indien oder zu den Pyramiden und Sarkophagen in Ägypten. Und sie lernte Gürteltiere und die Genlisea, eine fleischfressende Pflanze aus Südamerika kennen. Damals hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als selbst die Welt zu bereisen. Eine kühne Vorstellung für ein Mädchen, dessen größtes Abenteuer bislang darin bestanden hatte, in den schottischen Highlands Hirsche zu beobachten.

Der Wunsch nach fernen Reisen geriet jedoch in Vergessenheit, sobald sie in die Gesellschaft eingeführt wurde. Fortan gab es für sie Wichtigeres, als alte Bücher durchzublättern und den muffigen Geruch von vergilbten Seiten einzuatmen. Stattdessen galt es, die Erwartungen und Ansprüche jener Kreise zu erfüllen, in denen sie sich bewegte. Die Ansichten, wie sich eine junge Dame aus gutem Haus zu benehmen hatte, gehörten womöglich für den Rest der Welt der Vergangenheit an, aber die Manchester High Society interessierte es nicht, was die Welt dachte.

Wie früher strich sie mit den Fingern über die Buchrücken, als könnte sie die Bücher so aus einem Schlaf aufwecken, damit sie ihr Dinge verrieten, von denen sie nichts geahnt hatte. Wie zum Beispiel die Tatsache, dass ihre Eltern Geheimnisse vor ihr hatten.

Am gegenüberliegenden Ende des Raumes angekommen, schob sie den Vorhang ein Stück zur Seite, um das letzte Tageslicht hereinzulassen und öffnete das Fenster. Warme Sommerluft strömte ihr entgegen, begleitet von einer Brise, die ihr sanft über die Haut streifte.

Sie lehnte sich gegen das Fensterbrett und ließ den Blick über die Bücher schweifen. Womöglich verriet ihr eines davon, was es mit der Halskette auf sich hatte. Und sie wusste auch, wo sie mit ihrer Suche beginnen musste.

Sie ging zu dem Regal, wo sich die Reiseberichte, Seekarten und Atlanten befanden. Einen Moment lang musterte sie die Titel auf den Buchrücken. Schließlich entschied sie sich für den dicksten Atlas, der auf einem der unteren Bretter stand. Er war schwerer als vermutet, weshalb sie in die Knie gehen musste, um ihn hochhieven zu können. Mit einem Keuchen legte sie den Atlas auf den massiven Tisch in der Mitte des Raumes. Staub wirbelte auf und kitzelte ihr in der Nase.

In ihrem Bauch breitete sich ein aufgeregtes Kribbeln aus und versetzte sie erneut zurück in ihre Kindheit. Es war immer spannend gewesen, ein unbekanntes Buch aufzuschlagen.

Dieses Mal stürzte sie sich jedoch in keine neue Abenteuergeschichte, sondern in das Verzeichnis im hinteren Teil des Atlas. Auf jeder Seite befanden sich vier Spalten mit Ortsnamen und den jeweiligen Seitenzahlen. Die Schrift war so klein, dass sie sich weit vornüberbeugen musste, um sie zu entziffern. Sie fuhr mit dem Finger über das Papier, bis sie schließlich Clifden entdeckte.

Augenblicklich schlug ihr Herz schneller. Mit angehaltenem Atem blätterte sie auf die angegebene Seite … und landete bei einem Kartenabschnitt von Irland. Marleen zog die Augenbrauen zusammen. Die Aufregung in ihr wich der Enttäuschung. Clifden war kein geheimnisvoller Ort in einem weit entfernten Land, sondern ein Dorf in Connemara an der irischen Westküste. Die nächstgrößere Stadt war Galway.

Mit der Nachbarinsel verband sie ausschließlich schlechte Erinnerungen. Als Kind hatte sie mit ihren Eltern ein Wochenende in Belfast auf einem Reiterhof verbracht. Allerdings war ihr erster Ausritt nicht so verlaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Unwillkürlich berührte sie die feine Narbe an ihrer Schulter und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.

Sie blinzelte mehrmals, um die aufsteigenden Bilder loszuwerden, und zwang ihre Gedanken zurück auf den Atlas. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie den Punkt an, der Clifden darstellte, als könnte sie ihm so entlocken, in welcher Verbindung sie zu diesem Ort stand.

Da waren auf einmal Schritte zu hören, die sich allmählich näherten. Erschrocken schlug sie den Atlas zu und fuhr herum, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt. Ihr Herz pochte stark gegen ihre Brust und in ihren Ohren rauschte es.

Olivia hatte soeben eine Hand nach einem der Bücher ausgestreckt. Sie verharrte mitten in der Bewegung und sah Marleen mit großen Augen an, als wäre sie selbst überrascht darüber, in dieser Position ertappt worden zu sein.

Marleens Puls beruhigte sich. Dann fiel ihr die Lücke im Regal neben Olivia auf. Sie atmete seufzend aus. »Stell das Buch zurück.«

»Ich habe nichts …«

»Ich sehe die Umrisse unter deiner Bluse«, erwiderte sie mit einem Seufzen. Offensichtlich war es dem Mädchen gelungen, innerhalb eines Atemzugs die Bluse aus dem Rock zu ziehen und das Buch halb in den Bund zu stecken.

Mit betretenem Gesichtsausdruck zog es Olivia wieder hervor. »Es tut mir leid. Aber der Titel glänzt so schön.« Sie hielt es in die Höhe, damit Marleen die verschlungenen indischen Buchstaben erkennen konnte. »Schimmert beinahe so golden wie der Schmuck von …« Olivias Wangen färbten sich rot. Sie zog den Kopf zwischen den Schultern ein und presste die Lippen aufeinander, als wollte sie verhindern, dass weitere Worte ihren Mund verließen.

»Stell es einfach zurück.« Sie wandte ihr den Rücken zu und klappte den Atlas wieder auf. Sollte Olivia den Haushalt ihrer Eltern jemals verlassen, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sie bei einem Ladendiebstahl ertappt wurde. Am Ende landete sie deswegen noch im Gefängnis. Da war es besser, sie blieb in ihrer Obhut.

»Also ich …«, setzte Olivia zögerlich an. Sie kam zwei, drei Schritte näher, bis sie Marleen über die Schulter spähen konnte.

»Was ist denn?« Ihr fehlte momentan die Geduld, sich mit irgendjemanden zu unterhalten.

»Ihre Eltern sind zurück«, antwortete Olivia so schnell, dass sie nach Luft schnappen musste. »Sie wollen mit Ihnen reden.«

Das genügte, um Marleens Kehle mit einem Schlag trocken werden zu lassen. Sie schluckte mehrmals, wurde aber den Kloß, der sich dort gebildet hatte, nicht los. Anstelle einer Antwort nickte sie Olivia lediglich zu.

 

Früher hatte Marleen so getan, als wäre das Teezimmer ein tropischer Dschungel und sie eine Entdeckerin, die nach jenen exotischen Tieren suchte, die sie in den Büchern gesehen hatte. Dafür war nicht allzu viel Fantasie nötig gewesen. Die Tapete, die Sitzkissenbezüge und selbst die Tischdecke waren nämlich mit Farnen, großen Blättern und bunten Vögeln bedruckt. Sie hatte keine Ahnung, wo ihre Mutter die Teetassen und dazugehörigen Tellerchen mit den Elefanten und Giraffen aufgetrieben hatte. Dennoch wusste sie, dass dieses Zimmer oftmals ein Streitthema zwischen ihren Eltern gewesen war.

Inzwischen verstand sie die Ansicht ihres Vaters besser, dass man von dem Teezimmer optisch erschlagen wurde. Dennoch gehörte es neben der Bibliothek zu ihren Lieblingsräumen.

Nicht nur wegen ihrer Kindheitserinnerungen, sondern auch, weil pünktlich um fünf Uhr der Nachmittagstee aufgetischt wurde. Eine Tradition, auf die ihre Mutter bestand und die ihr Vater aus Liebe zu ihr täglich zelebrierte.

Ihre Eltern saßen bereits an dem Tisch, als sie hereinkam. Ihr Vater stand zur Begrüßung halb auf, während ihre Mutter lediglich ein knappes Nicken zustande brachte. Sie hatte einen Fleck von ihrer Wimperntusche unter dem Auge, was Marleen viel mehr beunruhigte als die Stoffserviette, die sie offensichtlich zu erwürgen versuchte. Abigail hatte ihr stets gelehrt, dass ein einwandfreies Äußeres zugleich die stärkste Waffe als auch die beste Verteidigung einer Frau war. Das verschmierte Make-up ihrer Mutter bestätigte diese Aussage. Abigail Glück hatte noch nie so verletzlich gewirkt wie in diesem Moment.

»Setz dich bitte, Marleen.« Ihr Vater deutete auf den Stuhl, wo sie für gewöhnlich saß. Von dort hatte man den besten Blick auf die Tapete und Linkerhand sah man aus dem Fenster auf den rückläufigen Park.

Marleens Hand krampfte sich um die Kette in ihrer Rocktasche. Die Kanten des Anhängers stachen ihr scharf in die Haut.

Sie setzte sich und platzierte umständlich die Stoffserviette auf den Schoß. Aus den Augenwinkeln musterte sie die beiden Etageren vor sich, auf denen sich Sandwiches mit Vollkorntoast, Gurken, Lachs, Ei und Kresse und Frischkäse sowie Scones mit Clotted Cream und Marmelade türmten. Daneben stand ein Teller mit Victoria-Sponge-Kuchen, der aus zwei Schichten Konfitüre und Sahne bestand und oben mit Erdbeeren belegt war.

Erst jetzt bemerkte Marleen, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Ihr war flau, was vermutlich nichts mit ihrem leeren Magen zu tun hatte.

Es war ungewohnt still. So still, dass sie befürchtete, ihre Eltern würden ihr Herzklopfen hören. Normalerweise plauderten die beiden darüber, was sie tagsüber erlebt hatten. Vor allem, wenn Walter beim Golfen gewesen war und Abigail von einer Sitzung des Frauenvereins zurückkam. Die Diskussionen gingen fließend von der Politik über zur jungen Königin, bis hin zum Automarkt und der Frage, was beim nächsten Empfang als Vorspeise serviert werden sollte.

Nervös rückte sie die silberne Kuchengabel von links nach rechts. Sie unterdrückte den Drang, sich mehrere Küchlein von der Etagere auf ihren Teller zu schaufeln. In Stresssituationen neigte sie dazu, unnötig viel Süßkram zu essen. Eine Schwäche, die es unter Kontrolle zu halten galt, wenn sie weiterhin in ihre Kleider passen wollte. Davon abgesehen wäre es ein Zeichen von mangelnder Selbstdisziplin gewesen. Deshalb nahm sie sich schließlich ein Gurkensandwich anstelle der Scones, rührte es aber nicht an.

Ihre Mutter griff mit zitternden Fingern nach der Teekanne und gleich darauf plätscherte der Tee in die Tassen. Dann stellte Abigail die Kanne mit einem dumpfen Geräusch zurück auf den Tisch.

Sie sah zwischen ihren Eltern hin und her, jedoch schienen sie vollends damit beschäftigt zu sein, sich für ein Sandwich zu entscheiden und ihren Blicken auszuweichen. Nach längerem Warten hielt sie es nicht mehr aus. »Was ist so besonders an Clifden?«

Abigail verschluckte sich an ihrem Tee. Sie hustete und sah hilfesuchend zu Walter. Dieser hob die Schultern, als wüsste er nicht, wovon die Rede war. »Nun, nichts Nennenswertes … Es ist ein Dörfchen an der irischen Westküste.«

»Und was hat es dann damit auf sich?« Sie zog die Kette aus ihrer Tasche und hob sie in die Höhe, sodass der Anhänger matt unter dem elektrischen Licht schimmerte. »Anscheinend steht darauf mein Name und …«

Walter nahm das silberne Herz und wischte mit dem Daumen darüber. »Ich erkenne da gar nichts.« Er streckte Abigail die Kette hin. »Gehört das dir?«

»Also …« Der Blick ihrer Mutter wanderte von der einen Ecke des Zimmers zur anderen, als läge irgendwo dazwischen die Antwort.

»Papa, deine Ohren sind rot.« Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er log. Das letzte Mal war ihm das passiert, als er Marleen weismachen wollte, dass Santa Claus tatsächlich existierte. Damals war sie dreizehn gewesen.

Die Anspannung, die bisher in der Luft gelegen hatte, löste sich mit einem Mal auf. Sie hätte nicht sagen können, woran es lag. Möglicherweise an dem resignierenden Gesichtsausdruck ihres Vaters und dem schiefen Lächeln, das er Abigail zuwarf. »Man kann ihr eben nichts vormachen.« Er hob die Hand, um ihr über den Kopf zu streichen, wie er es früher getan hatte. Aber dieses Mal stockte er mitten in der Bewegung. Womöglich war ihm bewusst geworden, dass sie inzwischen zu alt für so eine Geste war. Oder dass hinter ihrer Frisur viel Arbeit steckte.

»Sie ist eben kein kleines Mädchen mehr«, sagte ihre Mutter mit wehmütigen Tonfall. Sie kniff die Lippen zusammen und blinzelte mehrmals.

»Willst du behaupten, sie sei erwachsen?«

»Könntet ihr bitte damit aufhören?« Nun griff sie doch nach dem Gurkensandwich und nahm einen großen Bissen, sodass die Hälfte mit einem Schlag weg war. »Ich bin hier«, sagte sie kaum verständlich.

»Stopf nicht so, Darling.« Ihre Mutter tätschelte ihr den Unterarm. Bei der Berührung stiegen Abigail Tränen in die Augen, was Marleen verwirrte … und noch nervöser machte. »Du musst wissen, dass wir dich lieben. Vergiss das bitte nicht.«

»Deine Mutter hat recht. Es war ein Segen, dass du zu uns gekommen bist … ist es nach wie vor.«

Die Formulierung erschien ihr seltsam. Sie würgte den Bissen hinunter. Das Sandwich verwandelte sich augenblicklich in einen harten Klumpen, der ihr schwer im Magen lag. »Was soll das bedeuten?« Sie trank einen Schluck Tee, das trockene Gefühl in ihrem Mund blieb jedoch.

»Du bist unsere Tochter.« Abigail rieb sich die Nasenspitze und schniefte undamenhaft. »Daran ändert sich auch nichts.«

»Ich verstehe nicht …« Marleen brach die Stimme weg. Sie bereute es inzwischen, das Sandwich so hastig hinuntergeschlungen zu haben.

Ihre Eltern wechselten einen weiteren Blick, der ihr Sorgen bereitete. Abigail presste die Lippen aufeinander, wodurch der Lippenstift über den Rand verwischte.

Walter griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. »Du bist … wir haben …«, er holte tief Luft, »wir haben dich 1930 adoptiert. Du warst im Waisenhaus der Barmherzigen Schwestern untergebracht.«

»Wir … Wir wissen nicht, weshalb du dorthin gekommen bist. Du bist noch ein Baby gewesen.« Ihre Mutter nahm die Halskette vom Tisch. »Die hattest du um den Hals. Ich schätze, sie ist der einzige Hinweis auf deine Vergangenheit.« Sie legte Marleen die Kette in die freie Hand und schloss ihre Finger darum.

Es dauerte mehrere Sekunden, bis die Worte ihrer Eltern Sinn ergaben. Sie zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Das ist … nicht euer Ernst?« Sie hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. »Wollt ihr mir sagen, dass ich nicht eure Tochter bin?«

Der Druck von Walters Hand verstärkte sich. Es hatte etwas Beruhigendes, so als würde er dadurch ihren Sturz in die Tiefe bremsen. »Nicht unsere leibliche Tochter, aber das macht keinen Unterschied.«

Marleen mahlte mit dem Kiefer. Sie starrte auf die Krümel, die neben ihrem Teller gelandet waren. Ihre Ohren rauschten so laut, dass ihr schwindlig wurde. Es machte sehr wohl einen Unterschied, allerdings wollte sie ihnen diese Auffassung nicht vor die Füße knallen. Ihre Eltern … Adoptiveltern waren auch so schon völlig durch den Wind. Tausend Fragen schossen ihr ohne Zusammenhang durch den Kopf.

»Darling, ist alles in Ordnung mit dir?« Die Stimme ihrer Mutter drang mühsam durch ihre Gedanken.

Ruckartig zuckte ihr Blick hoch. Ihre Eltern sahen sie an, als hätten sie ihr eine Frage gestellt, auf die sie längst hätte reagieren müssen. Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder und nickte, um gleich darauf den Kopf zu schütteln.

»Ich verstehe, dass das sehr verwirrend für dich ist.« Abigail zog sie zu sich heran und drückte sie an ihre Brust, wie sie es getan hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. »Aber denk bitte daran, dass wir dich immer lieben werden. Du bist unsere Tochter.« Den letzten Satz murmelte sie unermüdlich in ihren Haaransatz wie die Beschwörungsformel eines Voodoo-Zauberers.

Aus den Augenwinkeln sah sie ihren Vater, der sichtlich schwer schluckte und sich mit einer fahrigen Bewegung über das Gesicht fuhr. Schließlich stand er hastig auf und ging hinüber zum Fenster. Er wandte ihnen den Rücken zu, die Hände fest ineinander verschränkt.

Sie verharrte in der Umarmung ihrer Mutter, ließ die tröstenden Worte wie Regentropfen über sich fallen. Trotzdem fühlte sie sich, als wäre sie kilometerweit von ihr entfernt. Ihre Gedanken rasten, ohne dass sie einen davon zu fassen bekam.

Es dauerte eine Weile, bis sich eine Idee in ihrem Kopf zusammengesetzt hatte, die sich mit jedem Atemzug zu einem festeren Entschluss entwickelte.