Leseprobe Töpferkurs mit Leiche

Kapitel 3

Es war ein lauer Sommerabend – die Vögel sangen, die Bienen summten. Veronika hatte kein Ohr dafür. Nervös rannte sie zwischen Gartenhaus und Terrasse hin und her. Hatte sie genügend Gläser? Wo waren die Häppchen? Sekt! Sie brauchte Sekt!

Fiete und Dini saßen währenddessen im Strandkorb und sahen ihr grinsend zu.

»Schatz!«

»Keine Zeit!« Veronika flitzte ins Haus und kam ohne etwas wieder zurück. »Was wollte ich noch gleich?« Sie sah sich gehetzt um. Es würde eine Katastrophe werden, ganz bestimmt. Es würde niemand kommen. Oder alle würden sie doof finden. Sie würde sich verhaspeln und blamieren und ihren Schatz gleich mit. Irgendwas fehlte noch, das hatte sie im Gefühl. Nur was?

Fiete stellte sein Bier ab und ging zu ihr. Er fasste sie sanft an den Armen. »Schatz. Es ist alles perfekt. Oder …« Er zupfte an ihren Haaren. »Ist das Ton?« Lachend hielt er ihr ein Stück graue Masse vor die Nase.

Veronika schlug die Hand vor die Stirn. »Umziehen! Ich muss mich umziehen.«

 

Fünf Minuten vor halb acht stand Veronika frisch geduscht und frisiert mit einem Sektglas in der Hand im Garten. Pünktlich um halb acht klingelte es an der Haustür und Fiete brachte eine Dame in grauem Stiftrock und weißer Bluse nach draußen. Die Haare hatte sie zu einem akkuraten Dutt gesteckt, eine Lesebrille saß auf ihrer Nasenspitze. Veronika schätzte sie auf Mitte fünfzig.

»Roni? Das ist Frau Gramberg. Sie wohnt am Ende der Straße.«

Sie reichte der Dame die Hand. »Veronika Schwartau. Freut mich, Sie kennenzulernen. Möchten Sie ein Glas Sekt?«

»Wasser bitte.«

»Wasser, sicher.« Veronika verschwand in der Hütte.

Als sie mit dem Glas zurück in den Garten kam, standen zwei junge Frauen neben Fiete und Frau Gramberg. Sie lachten und Veronika atmete ein wenig auf. Die beiden machten auf Anhieb einen sympathischen Eindruck.

»Hey! Ich bin Marie.« Eine der jungen Frauen hielt Veronika die Hand hin. »Ich wohn da oben.« Sie deutete auf das Grundstück, das hinten an Fietes Garten angrenzte. Sie war so klein und zierlich wie Veronika selbst und hatte die braunen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre braunen Augen blitzten fröhlich.

»Veronika.«

»Und ich bin Luisa von nebenan.« Mit einem Fingerzeig deutete die blonde Frau auf den Ziegelbau links von ihnen. »Zu mir gehören die drei kreischenden Gören.« Sie grinste ein wenig schief.

»Freut mich.« Veronika drückte ihr ein Glas Sekt in die Hand.

Luisa trank das Glas in einem Zug leer. »Auf deinem Zettel stand, man darf den Ton schlagen?«

»Ähm, ja?«

»Gut. Ich muss mich dringend abreagieren.« Luisa kniff die Augen zusammen.

Zu der kleinen Truppe stieß noch eine Frau um die vierzig, die sich als Silke Frerichs vorstellte und in der Parallelstraße wohnte.

»Meine Damen, darf ich alle ins Gartenhaus bitten?« Veronika warf Fiete einen unsicheren Blick zu. Der streckte den Daumen in die Höhe und nickte ihr aufmunternd zu.

Die Frauen gingen schwatzend ins Gartenhäuschen. Während sie sich einen Platz aussuchten, wischte Veronika sich die feuchten Hände an der Hose ab. Sie war nervös. Die anderen kannten sich scheinbar untereinander und würden sie sicher mit Argusaugen beobachten. Was, wenn sie sich unter dem Töpferkurs etwas ganz anderes vorstellten und sie … Schluss! Sie würden einfach nur Spaß zusammen haben. Nicht mehr und nicht weniger. Schnell nahm sie ihren Platz ein, räusperte sich und wollte gerade eine offizielle Begrüßung halten, als Fiete mit einer älteren Dame hereinkam.

»Meine Damen, hier kommt noch eine Nachzüglerin. Gesine, das ist meine Roni«, erklärte er mit Stolz in der Stimme.

»Mooi Wicht, Fiete.« Gesine umarmte Veronika und setzte sich auf den letzten freien Stuhl neben Dini, während Fiete an der Tür stehenblieb.

Mit klopfendem Herzen sah Veronika in die Runde, wippte mit den Füßen. »Ja, also, ich freue mich, dass Sie, also ihr gekommen seid. Ich bin die Veronika …«

Sie wurde von Gesine unterbrochen, die eine braune Flasche aus ihrer Tasche holte und sie mit einem Knall auf den Tisch stellte. »Fiete, Gläser. Unser bayrischer Gast muss schließlich ordentlich begrüßt werden.«

»Jawohl, kommt sofort.« Fiete öffnete ein Schränkchen und holte Schnapsgläser heraus, die er auf den Tisch stellte. »Ich lass euch dann mal allein.«

Nachdem er die Hütte verlassen hatte, griffen sich die Damen jeweils eines und klopften damit auf den Tisch. Nur Frau Gramberg hielt ihr Wasserglas eisern fest.

Gesine drehte die Flasche auf und füllte die Gläser. »Roni, nich lang snakken, Kopp in Nacken.«

»Ähm …« Was hatte sie gesagt? Veronikas Blick huschte Hilfe suchend zu Fiete, doch der war bereits im Garten verschwunden.

Die alte Dame drückte ihr ein Glas Kruiden in die Hand. »Grützi!« Gesine hob das Glas.

Die anderen sahen sie an, Marie lachte auf. »Gesine, bleib lieber bei Platt.« Sie hob das Glas. »Willkommen in Leer, liebe Veronika. Prost!«

 

Veronika erklärte ein paar Grundlagen, bevor die Damen loslegten. Dini und Gesine verstanden sich auf Anhieb. Sie steckten die Köpfe zusammen, kicherten und Dini ließ es sich nicht nehmen, die Geschichte von Klaus und seiner außerordentlichen Entsorgung zum Besten zu geben. Einmal verschwand sie aus der Hütte, nur um kurz darauf mit dem guten Schnaps von Hein zurückzukommen. Ein Gläschen nach dem anderen tranken die beiden – mal den Kruiden, mal den guten –, dass Veronika schon beim Zusehen Kopfschmerzen bekam. Sie grinste. Da haben sich ja zwei gefunden.

Ein lautes Hupen ließ die Truppe zusammenzucken. Kurz darauf rief eine laute Stimme: »Wo ist sie? Dini! Komm sofort her!«

Mit geweiteten Augen blickte Dini zur Tür, verlor jegliche Farbe aus ihrem Gesicht. »Das ist Talea.«

»Wahrscheinlich hat sie dich vermisst.« Veronika nickte ihr mit einem Lächeln zu.

»Wohl eher den Aufsitzmäher. Aber den Schlüssel geb ich nicht her.« Dini stand auf. »Ui, das wackelt n büschen.«

Die Tür wurde aufgerissen und Talea füllte den Rahmen aus. Sie trug ihre Sonntagsausgehkittelschürze und stemmte die Hände in die Hüften, ihre Augen blitzten. Die anwesenden Damen verstummten; mit geduckter Haltung sahen sie zwischen den Schwestern hin und her.

»Gib mir sofort den Schlüssel!«, fauchte Talea und streckte die Hand aus.

»Nö.« Dini schüttelte den Kopf. »Du hast das Haus, ich krieg den Aufsitzmäher.«

Veronika stand eilig auf. »Talea, beruhig dich erst einmal. Möchtest du auch einen Schnaps?«

»Nö. Ich will den Mäher!«

»Nö.« Dini verschränkte die Arme vor der Brust.

»Kinners, was soll das Theater? Wir sind doch nicht im Kindergarten.« Fiete tauchte im Gartenhaus auf und schob sich zwischen die Schwestern. »Wie bist du denn hergekommen?«, fragte er Talea.

»Mit Jan.« Sie funkelte ihre Schwester böse an. »Mit dem Mäher konnte ich ja nicht.«

»Jan hat dich mit seinem Milchlaster mitgenommen?« Veronika schüttelte den Kopf – es wurde immer verrückter. »Könnt ihr euch nicht einfach vertragen? Dini ist dein Becher runtergefallen, ja, und das tut ihr auch leid. Es …«

»Mein Lieblingsbecher war das!«, rief Talea.

»Ja und das tut ihr doppelt leid. Siehst du, was sie da macht?« Veronika nahm den undefinierbaren Klumpen Ton in die Hand, den Dini geformt hatte.

»Einen Stein?« Talea kniff die Augen zusammen. »Könnte auch ein Haufen von den Hühnern sein.«

»Banause!« Dini schnaubte.

»Sie töpfert dir einen ganz eigenen neuen Becher«, rief Veronika dazwischen. »Deshalb ist sie hier.«

»Oh.« Talea rieb sich die Hände an ihrer Sonntagsausgehschürze. »Das ist aber nett.«

»Genau. Willst du dich nicht zu uns setzen?« Veronika deutete Fiete, dass er noch einen Stuhl holen sollte.

»Möchtest du auch n Kruiden?« Gesine hatte ihre Sprache wiedergefunden.

»Danke. Ich muss noch fahren.« Talea hob abwehrend die Hände.

»Nicht mit dem Rasenmäher!« Dini trat mit geballter Faust auf sie zu.

»Doch!« Dini wollte etwas erwidern, aber Talea schnitt ihrer Schwester das Wort ab. »Mit dir drauf natürlich, du dumme Nuss.«

»Ja?« Dinis Augen glänzten feucht.

»Ja!«

***

Nach einem sehr geselligen Abend halfen alle noch schnell beim Aufräumen, dann verabschiedeten sie sich. Dini und Talea waren die Letzten.

»Bringst du mir den, wenn der verbrannt ist?« Dini zeigte auf den windschiefen Becher, den sie gemacht hatte.

»Gebrannt, Dini.« Veronika lachte. »Selbstverständlich bringen wir dir den Becher vorbei. Dauert aber noch ein bisschen.« Sie sah Talea tief in die Augen. »Vertragt ihr euch bis dahin?«

»Jo. So ganz ohne Dini ist doch blöd auf dem Hof. Nur so mit den Hühnern, nee.« Talea schwang sich auf den Aufsitzmäher. »Komm, Dini, ab nach Hause.«

Dini drückte Veronika und Fiete. »Danke.« Sie kletterte hinter Talea auf den Aufsitzmäher und schlang die Arme um sie. »Gib Gas!«

Talea ließ die Finger knacken. »Halt dich fest, Schwesterherz.« Der Motor des frisierten Aufsitzmähers heulte auf, bevor sie davon schossen und um die nächste Ecke verschwunden waren.

»Hach, es war so schön.« Veronika kuschelte sich an Fiete. »Luisa hat den Ton ordentlich verkloppt. Ich dachte, der Tisch bricht zusammen.« Sie kicherte. »Ich bin so froh, dass die Schwestern sich wieder vertragen haben. Aber war das richtig, sie noch fahren zu lassen?«

Fiete brummte. »Denen passiert schon nichts.«

»Gesine ist richtig goldig. Kennst du sie schon lange?« Veronika hakte sich bei Fiete ein und ging mit ihm zurück in den Garten.

»Seit ich hier vor fünfundvierzig Jahren eingezogen bin. Ihr Mann war auch ein feiner Kerl«, erklärte er.

»War?«

»Der Heinz ist vor acht Jahren gestorben. Aber der Timo, ihr Enkel, kommt häufig vorbei.«

»Das ist lieb. Ach, Fiete, Leer gefällt mir immer besser.«

Kapitel 4

Veronikas Reiseführer – Haneburg

Zweiflügeliges Wohnschloss in der Altstadt von Leer. Erbaut 1570 und erweitert 1621 liegt es am Ende einer Kastanienallee. Nach einer wechselvollen Geschichte beheimatet das Gebäude jetzt Teile der Volkshochschule Leer.

Eine Besichtigung ist lediglich von außen möglich.

***

Veronika stand im Gartenhaus und packte sorgfältig die getöpferten Sachen in eine Kiste. Viermal hatten sie sich in den letzten Tagen getroffen, wobei einige schöne Becher und Schalen entstanden waren. Unter jedes Gefäß ritzte sie den Anfangsbuchstaben derjenigen, die es gemacht hatte, und notierte alles auf einer Liste. Nur bei dem windschiefen Becher von Dini war das nicht nötig. Nachdenklich drehte Veronika den Becher in ihrer Hand. Ihre Zweifel, ihre Sorgen – all das war unbegründet gewesen. Die Töpferabende waren ein voller Erfolg. Die Nachbarsfrauen hatten sie herzlich in ihre Runde aufgenommen und sie war froh, dass sie Anschluss gefunden hatte. Sicher, sie vermisste auch ihre Freundinnen zu Hause in München. Doch mit Fiete, dem besonderen Flair der Stadt, mit den netten neuen Bekanntschaften – Leer fühlte sich immer mehr wie ihr neues Zuhause an.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie aufblicken. »Anja!« Veronika stellte Dinis Becher in die Kiste und umarmte Fietes Schwiegertochter.

»Na, ihr seid ja richtig fleißig gewesen.« Anja nickte anerkennend.

»Es macht auch richtig Spaß. Luisa nutzt die Abende, um sich abzureagieren. Ihre Drillinge sind gerade in der Trotzphase. Die verkloppt den Ton richtig mit Inbrunst.«

»Dafür ist der natürlich perfekt. Oh, der ist ja toll!« Anja nahm eine Figur in die Hand. »Der sieht ja fast aus wie Fiete.«

»Den hat Marie gemacht. Sie ist sehr begabt. Du, ich bin dir wirklich dankbar, dass du mir das mit der Volkshochschule möglich gemacht hast. Bei all der Aufregung hatte ich gar nicht daran gedacht, dass die Sachen ja auch gebrannt werden müssen.«

»Gerne. Meine Freundin Marga lässt dort auch brennen, insofern hatte ich beste Kontakte. Soll ich die Kiste schon ins Auto bringen?« Sie deutete auf eine der drei Kisten, die auf den Stühlen standen.

Veronika warf einen Blick hinein. »Da fehlen noch die beiden Becher da. Magst du die dazustellen?« Sie zeigte auf den Tisch und wandte sich wieder ihrer Liste zu.

Anja räumte die Brennstücke eins nach dem anderen ein.

»Hat Klaas gerade viel zu tun?«, fragte Veronika.

Fietes Sohn war bei der Polizei in Leer und zu seinem Leidwesen mischten sich Veronika und Fiete gerne in seine Ermittlungen ein. Wobei Veronika das nicht einmischen nennen würde: Sie arbeiteten der Polizei zu.

»Es geht. Also nichts, wo ihr miträtseln könntet.« Anja schmunzelte. »Wann geht es auf Kreuzfahrt?«

»In zwei Wochen. Ich freu mich schon darauf. Fiete ist noch ein wenig skeptisch.«

»Oh, das kann ich mir denken. Alles, was größer ist als sein Kutter Heike, ist für ihn eine Zumutung und kein richtiges Schiff mehr.« Anja griff nach der Kiste. »Ich bringe die schon mal ins Auto.«

Veronika schnappte sich eine weitere und folgte ihr zur Straße. »Danke auch, dass du mich fährst.« Sie stellte die Kiste in den Kofferraum. »Warum hat Fiete eigentlich nur einen Roller?«

»Kann ich dir gar nicht so genau sagen. Sein altes Auto war kaputt und nachdem er nicht mehr jeden Tag nach Ditzum zur Heike fahren musste, reichte ihm der.«

Veronika lachte auf. »Macht hier in Leer ja auch Sinn.« Außerdem kann man sich auf dem Roller viel besser an ihn kuscheln.

Nachdem auch das letzte Brennstück notiert, verpackt und seinen Platz in Anjas Auto gefunden hatte, ließ sich Veronika mit einem Seufzer auf den Beifahrersitz fallen. Wie die gebrannten Werke wohl aussehen werden?

Je näher sie der Haneburg kamen, desto unruhiger wurde Veronika. In dem alten u-förmigen Gebäude waren Teile der Leeraner Volkshochschule untergebracht.

Anja fuhr durch die Kastanienallee auf den Hof. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch stieg Veronika aus. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, war sie als Geisel genommen worden. Sie schüttelte sich.

»Alles okay?« Anja legte ihr einen Arm um die Schulter.

»Ja. Ich musste nur gerade an was denken.«

»Der Typ ist hinter Gittern und kommt da auch so schnell nicht wieder raus.« Anja ließ Veronika los und öffnete den Kofferraum. »Dort unten müssen wir rein.« Sie deutete auf eine Tür im rechten kleinen Flügel. »Marga hat gemeint, wir können die Sachen direkt in den Ofen stellen. Sie heizt ihn heute Abend an, wenn sie ihre Brennstücke auch eingeräumt hat.«

»Das ist echt super.« Veronika griff sich eine Kiste und lief hinter Anja die Kellertreppen der Haneburg hinunter. Von einem schmalen Gang gingen mehrere Türen ab. Anja öffnete die mit der Aufschrift Töpferwerkstatt. In dem Raum standen ein Tisch, Regale, mehrere Werkzeuge und Ton. Dahinter lag der Raum, in dem der Brennofen untergebracht war. Ein Stück nach dem anderen stellte Veronika vorsichtig in den Ofen, hakte jedes Stück auf der Liste ab und legte diese dann auf eines der Regale.

»Kannst du Marga meine Mobilnummer geben?«, fragte Veronika.

»Schon passiert. Sie ruft dich an, wenn alles fertig gebrannt ist. Dann können wir die Sachen abholen.«

»Super! Anja, vielen Dank.«

»Da nich für. Weißt du was? Wir lassen meinen Wagen hier stehen und machen noch einen Bummel durch die Altstadt, was meinst du?«

»Perfekt!« Veronika liebte die Leeraner Altstadt mit den verwinkelten Gassen und den alten Häusern, die sich eng aneinander duckten. Sie und Fiete gingen oft am Hafen spazieren, sahen den Möwen zu und lauschten den Wellen, die an die Kaimauer schwappten.

Kapitel 5

Knapp eine Woche später trafen sich die Frauen am frühen Abend im Hof der Haneburg. Veronika sah sich suchend um – sie vermisste jemanden. »Kommt Marie heute gar nicht?«

»Vielleicht muss sie arbeiten.« Luisa zuckte mit den Schultern.

»Wo arbeitet sie denn?«, erkundigte Veronika sich.

»In einer Cateringfirma. Sie springt wohl mal spontan ein, wenn eine Kollegin ausfällt.«

»Okay. Seid ihr auch so gespannt wie ich, wie unsere Kunstwerke geworden sind?«

Ein vielstimmiges Ja war die Antwort.

»Wir haben hier mehr Platz als in Fietes Gartenlaube. Deshalb bin ich sehr froh, dass die Volkshochschule uns den Raum heute zur Verfügung stellt. Ich will euch gar nicht weiter auf die Folter spannen – auf geht’s!« Sie klatschte in die Hände, bevor sie den anderen voran in den Keller ging. Sie hatte die endgültigen Ergebnisse selbst noch nicht gesehen. Was, wenn sie alle kaputtgegangen waren? Wenn die ganze Arbeit umsonst und die Frauen berechtigterweise sauer auf sie waren? Mit klopfendem Herzen betrat sie den Werkraum der Töpferwerkstatt, sah sich um. Die Becher, Schalen und der Seemann standen ordentlich aufgereiht auf drei Regalen – und sahen perfekt aus. Veronika atmete auf.

»Oh, die ist so schön geworden!« Luisa griff nach ihrer Schale, die sie blau glasiert hatte.

Eine nach der anderen nahm ihre Stücke und setzte sich damit an den großen Tisch.

»Ihr Lieben, ich habe euch ein paar Dinge mitgebracht, mit denen ihr die Schalen und Becher noch bekleben könnt. Da sind Glassteine, Metallornamente und Perlen.« Veronika legte ein paar Tüten auf den Tisch. »Bedient euch.«

Sofort stürzten sich alle auf die Dekoration.

Sie hatten die Teile gerade ein wenig unter sich aufgeteilt, als Marie atemlos in den Raum gerannt kam. Sie trug einen schwarzen kurzen Rock, eine weiße Bluse und eine schwarze Weste. »Entschuldigt, ich musste noch arbeiten.« Sie ließ sich auf einen freien Stuhl fallen und schnappte nach Luft.

»Ist doch kein Problem. Brauchst du n Kruiden?« Gesine hob ihre Flasche, die sie wie immer bei sich trug.

»Oh, gerne.« Marie angelte nach einem Schnapsglas, das in der Mitte des Tisches stand, und ließ sich einschenken. Mit einer Bewegung stürzte sie den Kruiden hinunter. »Noch einen bitte.«

»Na, so n schlimmen Tach gehabt?« Gesine füllte auf.

»Schlimmer.« Marie donnerte das Gläschen auf den Tisch. Sie hatte einen roten Kopf vom Rennen. Schnaufend knöpfte sie die Weste auf und zog sie aus. Als sie sie über die Rückenlehne des Stuhles hängen wollte, fiel ihr ein kleiner Lederbeutel aus der Tasche. Aus den Augenwinkeln sah Veronika, wie ein blinkender Stein über den Boden rollte

»Oh, der ist ja bezaubernd!« Luisa bückte sich danach. »Wie der funkelt. Seht doch mal. Marie hat uns ganz besonders schöne Deko mitgebracht.«

»Ich … Luisa, nein, das …« Marie langte nach dem Beutel, aber da hatte Gesine schon zugegriffen und ließ ein paar Steine in ihre Hand kullern.

»Ach, die sind doch perfekt für meinen Becher. Wo hast du die denn her?«

»Nicht! Die sind nicht für hier.« Marie streckte die Hand aus, aber Gesine gab den Beutel weiter an Veronika.

Die nahm sich einen Stein und begutachtete ihn im Licht der Neonröhren. »Oh!« Ihre Augen leuchteten. Sie liebte alles, was glitzerte. »Du musst mir unbedingt verraten, wo du die bekommen hast, Marie. Die sehen ja aus wie echte Diamanten.«

»Was?« Marie lachte schrill auf. »Das ist nur Bastelzeugs. Gib mir bitte den Beutel zurück.«

»Nun sei doch nicht so egoistisch, Marie. Wir kaufen dir neue, versprochen. Aber die hier sind so perfekt. Bitte!« Luisa klimperte mit den Augen.

»Aber ihr habt doch schon genug davon.« Marie zeigte auf die anderen Steine und Elemente, die auf dem Tisch lagen. »Ich brauch die noch.«

»Noch heute Abend?«, fragte Frau Gramberg.

»Ähm, nein.«

»Dann sehe ich keine Veranlassung, warum Sie uns die Nutzung dieser wirklich außergewöhnlichen Steine verweigern sollten.«

Mit offenem Mund sah Veronika sie an. Es war ungewöhnlich, dass sich ihre eher steife Nachbarin an einer Unterhaltung beteiligte. Und dann noch in diesem Ton, wo es doch nur um Bastelsteine ging.

Marie stöhnte auf, sackte auf ihrem Stuhl zusammen.

»Ich werte das mal als ein Ja.« Luisa schnappte sich den Beutel. »Danke, Marie. Du bist die Beste!«

Gesine angelte nach deren Schnapsglas und füllte es erneut. »Wir kaufen dir gleich morgen neue.« Sie schob Marie das Glas über den Tisch zu.

Die griff danach, kippte es herunter und ließ dann den Kopf auf die Tischplatte fallen.

***

Veronikas Reiseführer – Ostfriesische Teezeremonie

Die Ostfriesen sind Weltmeister im Tee trinken. Sie trinken ca. 300 Liter pro Kopf und Jahr.

Bei der Zeremonie gibt es einiges zu beachten: Zuerst wird ein Kluntje (oder auch Kandis) in die Tasse gelegt. Dieser wird dann mit dem heißen Tee übergossen. Ein verheißungsvolles Knistern erklingt, wenn er auf den Kluntje trifft. Zum Schluss wird entgegen dem Uhrzeigersinn mit einer kleinen Kelle en Wulkje mit Rahm in den Tee gegeben. Und auf keinen Fall umrühren! So schmeckt man zuerst den milchigen Geschmack, in der Mitte das herbe Teearoma und am Ende den süßen Tee.

Wozu dann der Löffel? Nun, wenn man keinen Tee mehr trinken möchte, legt man diesen als Zeichen dafür in die Tasse – aber frühestens nach der dritten!

Gerne wird zum Tee ein Krintstuut gereicht – Rosinenbrot mit Butter.

Und nicht wundern: Die Teezeremonie findet öfter am Tag statt.

***

Am nächsten Morgen saßen Veronika und Fiete gemütlich beim Frühstück in der Küche. Er hatte Brötchen geholt und der Tisch war reichlich gedeckt mit Käse, Wurst und Marmelade. Die obligatorische Kanne Ostfriesen-Tee stand auf dem Stövchen.

Veronika nahm einen Schluck. »Das mit dem Töpferkurs war eine richtig gute Idee. Die sind alle sehr nett und haben mich so herzlich aufgenommen. Jetzt kann ich auch mal jemanden besuchen gehen, wenn du bei Joke in der Kneipe bist.«

Fiete biss in sein Brötchen. »Das hört sich gut an.«

Veronika stellte ihre leere Tasse ab und schenkte sich Tee nach. »Weißt du, ob Anja mir später mit dem Auto aushelfen kann? Der Schmucksteinkleber ist gestern nicht ganz trocken geworden. Also habe ich angeboten, heute alles abzuholen und zu verteilen.« Sie ließ kunstvoll ein wenig Sahne in ihren Tee gleiten und wiederholte das bei Fietes Teetasse, sah verzückt den aufsteigenden Sahnewolken zu. Die ostfriesische Teezeremonie beherrschte sie schon fast perfekt.

»Die brauchst du heute nicht.« Fiete zwinkerte seiner Freundin über sein Brötchen zu. »Ich habe nämlich eine Überraschung für dich.«

»Oh, was denn?« Veronika sah ihn an.

»Erst Frühstück, dann Überraschung.«

»Und wenn ich ganz plötzlich keinen Hunger mehr habe?«

»Dann trink ich erst noch meinen Tee aus.«

»Fiete!«

Er griff nach seiner Tasse und trank einen großen Schluck. Langsam stellte er die Tasse wieder ab.

»Fiete? Bitte!« Veronika schickte ihm einen Luftkuss.

»Na gut. Komm mit.«

Er stand auf und zog Veronika an der Hand hinter sich her in die Garage, wo sein Roller stand. Und ein kleiner Kastenanhänger, den Veronika noch nicht gesehen hatte. Auf den deutete Fiete jetzt.

»Tadaa! Darf ich vorstellen? Der extra für dich ausgepolsterte Anhänger. Damit bekommen wir die Töpfersachen heile nach Hause.«

Veronika öffnete neugierig die Klappe. Der Innenraum war dick mit Schaumstoff ausgekleidet, ein Brett war mit Füßen versehen und konnte als Zwischendeck eingesetzt werden.

»Der ist toll! Danke, mein Schatz.« Veronika fiel Fiete um den Hals und küsste ihn stürmisch. »Du bist der Beste!«

 

Nach einem ausgiebigen Frühstück machten sich Fiete und Veronika auf den Weg zur Haneburg. Je näher sie kamen, desto mehr klammerte sie sich an ihm fest. Es ärgerte sie, dass sie das ungute Gefühl einfach nicht loswurde. Dieses Gefühl der Waffe an ihrem Hals, der Hilflosigkeit. Was war denn nur los mit ihr? Es war vorbei. Der Kerl saß hinter Gittern und würde da auch so schnell nicht wieder herauskommen.

Fiete tätschelte ihre Hand. Er stellte den Roller recht dicht am Seiteneingang ab und hängte seinen Helm an den Lenker. »Komm mal her.« Veronika drückte sich in seine Arme. »Mach dir keine Gedanken mehr, Schatzi. Ab heute ist die Haneburg nur noch ein Ort mit wundervollen Begegnungen. Gestern war doch schon ein guter Anfang.«

Veronika seufzte. »Hast ja recht. Habe ich dir erzählt, dass Marga mich gefragt hat, ob ich nicht einen Kurs bei der Volkshochschule geben möchte? Ihr haben unsere Arbeiten sehr gut gefallen.«

»Das ist doch prima! Da müssen wir runter?« Fiete zeigte zur Seitentür.

»Genau.«

Veronika ging voran in den Kellerraum, in dem ihre Töpfersachen standen. Fiete warf einen Blick auf die Sachen.

»Ganz schön viel Glitzer.« Er hielt eine Schale hoch, an der fünf funkelnde Steine und diverse Ornamente klebten. »Aber der gefällt mir.« Fiete stellte die Schale wieder ab und griff nach einer Figur. »Ein Seemann! Wer hat den gemacht?«

»Marie. Sie hat wirklich Talent«, erklärte Veronika.

»Ich sollte sie fragen, ob sie mir auch so eine Figur macht.«

»Das macht sie bestimmt. Ich mag sie richtig gerne.«

Stück für Stück verstauten Veronika und Fiete die Sachen in dem Anhänger, bevor sie den Weg zurückratterten. Als Erstes brachten sie Silke Frerichs ihre Becher. Sie schwatzten noch ein wenig mit ihr, bevor sie zum Haus schräg gegenüber schlenderten. Dort wohnte Marie. Auf ihr Klingeln öffnete keiner und so gingen sie zurück zum Roller. Veronika sah in den Anhänger.

»Mist, wo hab ich die denn gelassen?«

»Was suchst du?«, fragte Fiete.

»Die Liste. Da habe ich mir genau notiert, wer was gemacht hat. Frau Gramberg möchte ihre Sachen hinten auf die Terrasse gestellt haben und ich weiß nicht mehr genau, was von ihr ist. Eigentlich hatte ich unter jedes Teil die Initialen geritzt, aber die sind nicht mehr alle lesbar.«

»Dann verteil doch erst die anderen Stücke und was übrigbleibt, ist von ihr.«

»Geht nicht. Ich habe auch nicht mehr genau im Kopf, welches Maries sind. Und die ist nicht da.«

»Wo hast du denn die Liste zuletzt gesehen?«

»Och nee, die liegt in der Haneburg. Tut mir leid, Fiete.« Veronika ließ die Schultern hängen.

»Kein Problem. Aufsitzen, mien Deern.«

***

Hauptkommissar Klaas Jacobsen saß in seinem Büro in der Leeraner Polizeiwache. Die Möbel waren schon sehr in die Jahre gekommen; teilweise hielten sie nur dank Metern von Klebeband zusammen. Dafür entschädigte ihn der tägliche Blick auf den Hafen. Den Dreiundvierzigjährigen hatte es sehr zu Fietes Leidwesen zur Polizei gezogen statt auf den Kutter. Denn Jacobsen hatte ein großes Problem: Er wurde extrem seekrank.

»Moin!« Kollege Meinders klopfte an den Türrahmen. Er war gut zehn Jahre jünger und arbeitete seit einem Jahr bei ihnen in Leer.

»Na, Kollege? Wie war das lange Wochenende mit der Totengräberin?« Jacobsen lehnte sich grinsend in seinem Stuhl zurück.

»Du sollst sie doch nicht …«

»… immer so nennen, ich weiß.« Jacobsen lachte. »Aber du springst immer so herrlich darauf an.«

Meinders schüttelte den Kopf. Er war seit ein paar Wochen mit der Gerichtsmedizinerin Frau Dr. Sophia Sandkrug zusammen. Weil sie eher nordisch herb war und Haare auf den Zähnen hatte, hatte sie auf der Dienststelle den Spitznamen Totengräberin bekommen. Warum hatte sich Meinders nur ausgerechnet in sie verliebt? Und umgekehrt? Dabei schätzte Jacobsen beide sehr und war mit seinem Kollegen gut befreundet.

»Es war ein sehr entspanntes Wochenende.« Meinders schnappte sich einen Kaffeebecher und stellte ihn unter die Maschine. »Solltest du mit Anja auch mal machen. Wir hatten uns ein Zimmer in einem Wellness-Resort genommen. Erste Sahne, sag ich dir.«

»Hm, hört sich gut an. Gib mir …« Das schrille Klingeln des Telefons ließ Jacobsen zusammenzucken. Er griff den Hörer. »Bürgermeister«, formte er tonlos.

Meinders grinste.

»Herr Jacobsen. Herr Konstantin hat mich gerade völlig aufgelöst angerufen. Diebstahl! Bei einem der größten Männer Leers. Das ist …«

»Chefsache?« Jacobsen verdrehte die Augen.

»Das will ich wohl meinen. Sie werden sich sofort ins Auto setzen und zu ihm fahren.«

»Warum hat der werte Herr denn nicht direkt den Notruf gewählt, wo es doch eilig ist?«, fragte Jacobsen.

»Und riskieren, dass er und seine Sicherheit Stadtgespräch werden? Nein, nein. Herr Jacobsen, fühlen Sie sich doch bitte einmal in so eine Persönlichkeit ein. Aber wahrscheinlich können Sie das nicht nachempfinden, wenn …«

»Wir werden uns sofort auf den Weg machen.« Jacobsen warf den Hörer auf. »Fühlen Sie sich doch einmal ein«, äffte er den Bürgermeister nach. »Mann ey!«

Meinders lachte auf.

»Karl Konstantin möchte eine Anzeige aufgeben. Also, Kaffee gibt’s später, Kollege.«

»Und das kann keiner der Streifenkollegen übernehmen?« Meinders nahm einen schnellen Schluck.

»Da kennst du Karl Konstantin aber schlecht. Der besteht immer auf die Chefetage.« Jacobsen griff nach seiner Jacke.

»Echt? Wer ist das denn?«

»Wie lange bist du schon in Leer? Karl Konstantin gehören mehrere Firmen und er ist bekannt für seine zahlreichen Wohltätigkeitsveranstaltungen.«

»Ah, jetzt klackert es so langsam bei mir.« Meinders stellte seinen Becher ab. »Der wohnt in der großen Villa am Stadtrand, richtig?«

»Jup. Und genau da fahren wir jetzt hin.«

 

Zehn Minuten später standen die beiden Beamten mit dem Wagen vor einem schmiedeeisernen Tor und warteten darauf, dass ihnen geöffnet wurde. Die beiden Flügel schwangen auf und Jacobsen fuhr über einen Kiesweg vor zum Haupthaus. Der Garten glich einer Parkanlage mit akkurat angelegten Beeten und Büschen. Das Haus thronte mittig hinter einem Rondell. Die Fassade war weiß getüncht, die Fensterrahmen dunkelbraun mit Sprossenfenstern. Von der Größe hätten locker vier Einfamilienhäusern hineingepasst.

Meinders blickte mit großen Augen aus dem Fenster. »Wow. Das ist kein Haus, das ist eine Residenz. Alle Achtung.«

»Tja, dafür haben wir eindeutig den falschen Beruf.« Jacobsen stoppte den Wagen vor dem Eingang.

Breite Stufen führten hinauf zu einer herrschaftlichen Eingangstür; geschwungene weiße Säulen stützten die Überdachung ab. Ein Mann in schwarzem Anzug und mit weißen Handschuhen stand in der Tür und begrüßte sie mit einem Nicken.

»Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Herr Konstantin erwartet Sie in seinem Büro.«

»Na sicher doch.« Meinders trat hinter dem Mann in die Eingangshalle.

»Mund zu«, flüsterte Jacobsen und stieß ihn an. Doch auch er staunte wie jedes Mal über die zweistöckige Halle, die sich vor ihnen auftat. Der Boden war mit schwarzen und weißen Fliesen im Schachbrettmuster verlegt worden; eine großzügige Galerie umgab die Halle. Rechts und links führte eine Marmortreppe hinauf. An den Wänden hingen Gemälde, die sicherlich sehr viel Geld gekostet hatten. Mein Geschmack wär das ja nicht.

Der Mann mit den weißen Handschuhen klopfte an eine Tür auf der linken Seite der Halle und öffnete sie.

»Herr Konstantin? Die Herren von der Polizei wären jetzt da.«

»Ich lasse bitten«, ertönte eine tiefe Stimme aus dem Inneren.

Der Butler trat zur Seite und Jacobsen ging mit Meinders im Rücken ins Büro. Schwere Eichenmöbel, Gemälde und ein paar Statuen schmückten den Raum. In einem Erker stand ein dunkler Eichenschreibtisch mit einem riesigen Monitor darauf.

»Wo ist denn jetzt dieser Konstantin«, fragte Meinders leise, als eine Stimme erklang: »Meine Herren, schön, dass Sie es so schnell einrichten konnten.« Gleich darauf tauchte ein Kopf hinter dem Monitor auf und Karl Konstantin erhob sich.

»Ich hatte ihn mir irgendwie größer vorgestellt«, flüsterte Meinders. Jacobsen versteckte ein Lachen schnell hinter einem Hustenanfall.

Karl Konstantin war nicht sonderlich groß, vielleicht 1,65 Meter, strahlte aber dennoch eine Art von Autorität aus, die Jacobsen immer wieder überraschte. Er war Anfang fünfzig, die grauen Haare noch voll. Er kam hinter dem Schreibtisch hervor, schloss das Sakko seines grauen Anzugs.

Jacobsen trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Herr Konstantin, wenn Sie anrufen, kommen wir natürlich sofort. Darf ich Ihnen meinen Kollegen Meinders vorstellen?«

»Angenehm.« Konstantin schüttelte auch Meinders die Hand, musterte ihn mit gerunzelter Stirn, bevor er auf eine stilvolle Sitzgruppe vor einem der Eichenmöbel deutete.

Jacobsen folgte seinem Zeig und nahm Platz. »Worum geht es denn?«

»Diebstahl. Eine wertvolle Kette meiner Frau wurde entwendet.«

Meinders zückte seinen Notizblock. »Welchen Wert hat denn diese Kette?«

»Nun, ich denke, fünfzig werden es schon sein. Es ist ein Einzelstück.«

Meinders verschluckte sich und hustete. »Wegen fünfzig Euro rufen Sie die Polizei?«

Konstantin verzog das Gesicht. »Fünfzigtausend, junger Mann. Ich umgebe mich doch nicht mit billigem Modeschmuck.«

»Wann haben Sie den Diebstahl denn bemerkt?«, fragte Jacobsen und warf Meinders einen warnenden Blick zu.

»Heute früh. Ich kann Ihnen auch sagen, wer es gewesen ist.« Er machte ein Handzeichen und sein Angestellter reichte Jacobsen ein Tablet. »Der Tresor wird selbstverständlich videoüberwacht.«

Jacobsen hielt das Tablet so, dass Meinders ihm über die Schulter blicken konnte. Auf dem Bildschirm war ein Standbild des Büros zu sehen.

»Das ist hier, richtig?«, fragte der.

»Gut erkannt. Der Tresor befindet sich dort hinter dem Gemälde meiner Frau.« Konstantin zeigte auf ein Bild, auf dem zwar viele bunte Striche, aber kaum eine Person zu erkennen war.

»Äh, ja. Können wir uns das Video ansehen?« Meinders deutete auf das Tablet.

»Dafür habe ich es Ihnen doch gegeben.« Konstantin schüttelte den Kopf. »Sie sind noch neu, oder?«

Bevor Meinders etwas erwidern konnte, klingelte das Telefon des Kaufmanns. »Entschuldigen Sie, da muss ich kurz rangehen.« Er ging zum Schreibtisch.

»Dann wollen wir mal sehen, wer da die Finger lang gemacht hat.« Jacobsen drückte die Play-Taste.

Eine Zeit lang passierte nichts. Die Kamera war erhöht über der Tür angebracht worden und hatte den kompletten Raum im Blick.

Jacobsen sah zu Karl Konstantin, der nicht gerade erfreut über das schien, was ihm am Telefon erzählt wurde. Unruhig lief er hinter dem Schreibtisch hin und her und raufte sich die Haare.

»Guck, da geht die Tür auf.« Meinders tippte ihm auf die Schulter.

Jacobsen wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Video zu. Tatsächlich war ein heller Lichtstreifen auf dem Boden zu sehen, gefolgt von dem Schatten einer Person. Eine Frau betrat den Raum und …

»Das Problem hat sich erledigt!«

Ohne Vorwarnung riss Konstantin Jacobsen das Tablet aus der Hand und reichte es an seinen Angestellten weiter.

Jacobsen sah zu Meinders, der nur mit den Schultern zuckte.

»Die Kette wurde also nicht gestohlen?«, fragte Meinders.

»Nein. Meine Herren, es ist mir absolut unangenehm. Das war gerade meine Frau. Sie ist ein paar Tage zum Ausspannen an die See gefahren und hat mir eben berichtet, dass sie die Kette mitgenommen hat.« Konstantin deutete zur Tür.

»Moment. Sie haben aber doch eine Person aufgezeichnet, die sich an Ihrem Tresor zu schaffen gemacht hat, richtig?« Jacobsen stand auf.

»Es war meine Frau. Sie hat sich heimlich in mein Büro geschlichen, um die Kette zu nehmen. Sie weiß, dass ich es nicht gerne habe, wenn sie die mit auf Reisen nimmt.«

»Aber …«

»Meine Herren, es tut mir leid, wenn ich Ihre kostbare Zeit so unnütz in Anspruch genommen habe. Paul, begleiten Sie die Herren bitte hinaus.«

Meinders steckte den Notizblock ein und erhob sich ebenfalls. »Sie haben Ihre Frau nicht erkannt? Das halte ich für ziemlich …«

Konstantin fiel ihm ins Wort. »Ich sagte bereits, es war ein Missverständnis. Schicken Sie mir gerne die Rechnung für diesen Einsatz.« Und damit wandte der Kaufmann sich ab und eilte hinter den Monitor.

Mit verkniffenem Gesicht folgte Jacobsen dem Butler und seinem Kollegen nach draußen.

»Meine Herren.« Der Butler nickte und verschwand im Haus; die Tür schlug zu.

»Pff, der hat seine Frau nicht erkannt? Wer’s glaubt!« Meinders kickte einen Kieselstein zur Seite.

»Tja, vielleicht hatte der werte Herr die falsche Brille auf? Egal. Ich bin nicht böse drum, dass wir hier keinen Fall haben.«

»Auch wieder wahr.« Meinders stieg ein. »Dieser Paul war etwas unheimlich, oder?«

Jacobsen lachte. »Erinnert mich irgendwie an die alten Butler aus den Edgar Wallace-Filmen. War der nicht immer der Mörder?«

»Ein Glück, dass wir keine Leiche haben.«

***

Veronika schwang sich hinter Fiete auf den Roller und zurück ging die Fahrt. Sie ließ den Blick schweifen. Leer gefiel ihr mit jedem Besuch besser. Es gab keine mehrspurigen Straßen, auf denen sich der Verkehr zu jeder Tages- und Nachtzeit drängte. Keine riesigen Hochhäuser, die einem das Licht nahmen, wie in ihrem Viertel zu Hause. In gut zwanzig Minuten kam man mit dem Roller einmal durch die gesamte Stadt. Alles war klein, überschaubar, gemütlich und sie liebte es.

Fiete lenkte den Roller in die Kastanienallee und fuhr im Schritttempo auf den Hof. Veronika stieg ab.

»Ich flitz schnell runter und hol die Liste.«

Sie drückte Fiete ihren Helm in die Hand und eilte die Stufen hinunter in den Keller. Verflixt, ich werde auch immer vergesslicher.

In dem Vorderraum der Töpferwerkstatt wurde sie nicht fündig. Langsam drehte Veronika sich im Kreis und ließ den Blick über die Regale werfen. Nichts. Sie lief in den Nebenraum, in dem der große Brennofen stand. Vielleicht hatte sie die Liste hier irgendwo abgelegt, als sie das Brenngut gebracht hatte? Ihr Blick huschte über das Sideboard, den Ofen, das Regal – nichts! Sie war sich hundertprozentig sicher, dass sie die Liste hiergelassen hatte.

Veronika griff zum Telefon und rief Fietes Schwiegertochter an. »Hallo, Anja! Du, nur eine kurze Frage: Als wir die Töpfersachen zur Haneburg gebracht haben, da hatte ich doch eine Liste dabei. Weißt du noch, wo ich die hingelegt habe?«

»Hey! Lass mich kurz überlegen. Hattest du sie nicht auf eines der Regale gelegt? Ist sie weg?«

»Leider. Hier ist sie nicht. Na, vielleicht hat Marga die mitgenommen und entsorgt. Aber danke dir!«

Sie legte auf, steckte das Smartphone wieder ein, kratzte sich nachdenklich am Nacken. Ohne Liste war doof. Das machte keinen guten Eindruck, wenn sie ihren Töpferdamen nicht das brachte, was sie geschaffen hatten. Sie wollte zurück in den Flur gehen, als sie stutzte. Irgendetwas war nicht richtig. Langsam drehte sie sich um und ließ den Blick noch einmal durch den Raum gleiten. Ein komisches Gefühl machte sich in ihrem Magen breit.

Das Sideboard.

Der Ofen.

Das …

Moment!

Hastig trat Veronika an den Ofen. Die Tür war fest verschlossen, aber dort hing ein Stück Stoff heraus. Stoff im Brennofen?

»Fiete! Fiete, kommst du bitte?«, rief sie und ging gleichzeitig ein paar Schritte zurück. Ein beklemmendes Gefühl ergriff sie und stahl ihr die Luft. Verdammt, was war nur los mit ihr? War es dieser Ort, der sie so nervös machte?

Kurz darauf hörte sie seine Stimme. »Roni?«

»Hier beim Ofen!«

Fiete trat in den Raum. »Hast du die Liste gefunden?«

Ohne ein Wort deutete Veronika auf den Fetzen Stoff, der in der Tür des Brennofens eingeklemmt war.

»Roni?«

»Fiete? Ich glaube, da stimmt was nicht. Stoff gehört doch nicht in den Ofen.«

»Hm.« Fiete trat näher heran und nahm den Stoff zwischen zwei Finger. »Fühlt sich an wie ein T-Shirt. Vielleicht ist jemand hängengeblieben. Der Ofen ist doch aus, oder?«

Veronika nickte. »Kannst du die Tür öffnen? Bitte?«

»Aber …«

»Ich habe ein ganz komisches Gefühl im Bauch. Und … ich bin mir ziemlich sicher, dass der vorhin offen gestanden hat. Bitte, Fiete«, flehte Veronika ihn an. Sie musste einfach wissen, was da drin war. Ob dieses ungute Gefühl nur von ihrem Erlebnis mit der Geiselnahme kam?

»Kein Problem.« Er drehte den Verschlusshebel und zog dann die Tür des Ofens ein wenig auf. Doch statt des Stofffetzens fiel ihm ein Arm entgegen.

Fiete machte einen Satz nach hinten, während Veronika laut aufschrie und sich zu ihm flüchtete. Ein Arm! Da hing tatsächlich ein Arm aus dem Töpferofen. Mit zusammengekniffenen Augen wagte sie einen erneuten Blick. Sie hatte sich nicht getäuscht. Doch wie war das möglich? Der Ofen war doch viel zu klein für einen Menschen. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken; eine schreckliche Ahnung überkam sie.

»Wir sollten rausgehen.« Fiete schob sie bestimmt in Richtung Tür.

»Ist … wer … verbrannt?« Veronika wagte kaum zu atmen.

»Nein.« Fiete bugsierte Veronika in den Vorraum. Mit einer Hand fischte er sein Smartphone aus der Tasche und wählte. »Sohn? Wir haben eine Leiche gefunden.«

Veronika taumelte ein paar Schritte zurück, lehnte sich an die Wand. Ihr Puls raste, ihr Hals schnürte sich zu. Das ist nur ein Albtraum, ein ganz böser Albtraum.

»Im Töpferkeller der Haneburg. Nein, wir fassen nichts an. Kennst uns doch.« Er legte auf.

»Eine Leiche?«, flüsterte Veronika. »Aber, der Ofen, der ist doch zu klein. Und du hast gesagt, es wurde keiner verbrannt …« Sie stolperte zum Ofen. Blinzelte, sah noch einmal hin, schlug die Hand vor den Mund.

Der Anblick war entsetzlich. Wie ein Paket zusammengefaltet hatte jemand eine junge Frau hineingesteckt. Es dauerte einen Augenblick, bis Veronika sie erkannte. Tränen brannten ihr in den Augen, sie griff sich an den Hals.

Es war Marie.