Leseprobe Töte sie alle

1

Elsa Flanagan war stinksauer. Die Wut brodelte in ihr, ihre Fingerspitzen zuckten in Richtung Taschenlampe. Ein kräftiger Schlag auf das Gehäuse, das Licht flackerte, erlosch für einen Herzschlag und flammte dann wieder auf. Ein kleiner Trost in ihrer aufgewühlten Stimmung. Hatte sie Dennis nicht gestern gebeten, neue Batterien zu besorgen? Natürlich hatte er es vergessen, schließlich musste er sich im Pub Bier hinter die Binde kippen. Typisch Dennis. Und nun stand Elsa hier, allein gelassen, während sie mit Smokey in der zunehmenden Dunkelheit über die Weide stapfte.

Der Hauch des nahenden Frühlings hing schwer in der Luft, begleitet vom zarten Duft der Erde und der Pflanzen, die sich zu regen begannen. Elsa atmete tief durch und versuchte, den Ärger zu verdrängen und die Schönheit der erwachenden Natur um sich herum zu genießen. Doch die Dämmerung schritt von Minute zu Minute voran und Elsas Nervosität wuchs. Die Geräusche der anbrechenden Nacht drangen gedämpft an ihr Ohr: das Rascheln der Blätter im Wind, das leise Zwitschern der Vögel und das entfernte Summen eines Insektes.

Plötzlich begann Smokey aufgeregt zu bellen und riss Elsa aus ihren Gedanken. Wie ein geölter Blitz schoss der Border Collie durch den Lichtkegel auf der Jagd nach flüchtenden Kaninchen. Seine Schnelligkeit und Wendigkeit waren beeindruckend, aber sein impulsives Verhalten verstärkte nur Elsas wachsende Nervosität. In einiger Entfernung ertönte das Horn eines Zuges, der sich von der belebten Londoner Victoria Station her näherte. Elsa pfiff und ihr treuer Begleiter kehrte zu ihr zurück. Liebevoll kraulte sie ihm zwischen den Ohren und befestigte die Leine an seinem Halsband.

Doch als Elsa sich umdrehte, spürte sie, wie Smokey plötzlich an der Leine riss. Seine Augen waren starr auf den Bahndamm am Ende der Wiese gerichtet. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken und sie begann unkontrolliert zu zittern, als der Hund leise knurrte. Ihr Herz raste und ein Gefühl beklemmender Angst überkam sie. „Was ist los?“, flüsterte sie ängstlich und griff reflexartig in ihre Tasche. Nichts. Das verdammte Handy lag in der Küche. Elsa zog entschlossen an der Leine und befahl Smokey, zu ihr zu kommen, aber er riss nur noch fester.

Sie stolperte und kämpfte um ihr Gleichgewicht, als plötzlich der verzweifelte Schrei eines Mannes ertönte. „HIIILFEEE!“ Elsa reckte den Hals, um etwas zu sehen. Die Stimme schien von den Gleisen zu kommen. Ihr Herz begann wild zu klopfen, als sie einen Schritt vortrat. Wieder zerrte der Hund an der Leine. Bei jeder Bewegung ging ihr Atem schneller, ihr Puls raste. „Hallo?“, rief Elsa unsicher, aber es kam keine Antwort. Wie aus dem Nichts schrie die Stimme erneut: „Hilfe! Bitte, ich brauche Hilfe!“

Elsa setzte sich in Bewegung und rannte über das unebene Gelände. Dabei stolperte sie mehrmals, aber sie fing sich immer wieder und lief weiter. Sie ignorierte den schmerzhaften Stich in ihrer arthritischen Hüfte und eilte die sanfte Böschung zu den Gleisen hinunter. Vor dem Sicherheitszaun, der von dichten Ranken überwuchert war, blieb sie stehen. Fieberhaft überlegte sie, suchte nach einer Lücke und fand sie schließlich. Doch die Erleichterung währte nur kurz. Der Zaun war viel zu hoch, sie konnte nicht darüberklettern.

„Bitte, helft mir! Ich kann mich nicht bewegen!“ Schwer atmend hielt sie die Taschenlampe in Richtung der Stimme. Das Licht durchdrang die Dunkelheit und fiel auf einen Mann, der regungslos auf den Schienen lag. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, doch dann bewegte er sich. Seine Glieder zitterten vor Anstrengung und Schmerz, er kämpfte verzweifelt um sein Leben. „Der Zug kommt! Hilfe!“, brüllte er mit letzter Kraft, seine Stimme voller Panik und verzweifeltem Flehen.

Elsa schrie auf, schlug die Hand vor den Mund und ließ die Taschenlampe fallen. Der Boden unter ihren Füßen bebte, ein Ruck ging durch ihre Beine, als der Zug mit voller Geschwindigkeit heranraste. Die Welt schien für einen Moment stillzustehen, während das Donnern des Zuges und die panischen Schreie des Mannes zu ihr drangen. Verzweifelt rüttelte sie am Zaun, um ihn zu durchbrechen, doch er hielt stand. Panik erfüllte sie und sie fühlte sich so hilflos. „Steh auf!“, schrie sie verzweifelt.

Warum bewegte er sich nicht? Nur wenige Meter von ihr entfernt vibrierten die Schienen unter dem Gewicht des Zuges. Wieder ertönte das Signalhorn und der Mann schrie und flehte sie an, den Zug anzuhalten, ihm zu helfen. Doch das Gitter gab nicht nach.

Die Lokomotive bog um die Kurve und die grellen Scheinwerfer fielen auf Elsa. Sie blickte auf die Schienen. Der Mann hob mühsam den Kopf und starrte sie entsetzt an. Die Räder der Lok kreischten über den Stahl, als das Licht die Gestalt auf den Schienen anstrahlte. Aber der Zusammenstoß war unvermeidlich.

Elsa schloss die Augen, versuchte dem Anblick zu entkommen, doch es war zu spät. Die Schreie des Mannes wurden von einem fürchterlichen Knirschen übertönt. Blut spritzte über den Stoßfänger der Lokomotive. Die Bremsen quietschten ohrenbetäubend, als der Zug zum Stehen kam. Nur das Zischen der Druckluftbremsen durchbrach die Stille. Der Hund winselte einmal, dann drückte er sich zitternd an Elsas Beine. Sie drehte sich um und übergab sich ins Gebüsch.

2

Detective Sergeant Kay Hunter drehte sich der Magen um, als sie den Einsatzwagen hinter einem Geländewagen der britischen Verkehrspolizei parkte. Sie sollte das Opfer eines schrecklichen Zugunglücks untersuchen und fürchtete sich vor dieser Aufgabe.

Als die Sonne bereits untergegangen war, wurden sie und ihre Kollegin zu den Gleisen gerufen. Sie erhielten nur spärliche Informationen, aber der Ernst der Lage war deutlich zu spüren. Die British Transport Police war bereits seit Stunden vor Ort und der Streckenbetreiber drängte darauf, den Betrieb wieder aufzunehmen.

Kay wandte sich an Constable Carys Miles. Beim Anblick ihrer ins Leere starrenden Augen und ihres totenbleichen Gesichts wurde ihr das Herz schwer. „Wenigstens musst du das Chaos nicht aufräumen“, sagte Kay mit einer Spur von Galgenhumor.

„Das hilft nicht“, erwiderte Carys mit leiser, kaum hörbarer Stimme. Kay nickte grimmig und stieg aus dem Auto.

Eine bunte Ansammlung von Krankenwagen, Bussen und Polizeifahrzeugen säumte die schmale Landstraße. Ein uniformierter Polizist stand in einer Lücke im Dickicht und wies die Einsatzkräfte auf einen Weg, der von der Straße abzweigte und über eine Wiese führte. Scheinwerfer leuchteten den Pfad aus und zeichneten seinen Verlauf nach. Als Kay der Spur mit den Augen folgte, sah sie den Zug mit den acht Waggons voller eingeschlossener Pendler auf den Gleisen dahinter.

„’n Abend, Graham“, begrüßte sie ihren Kollegen.

„Hallo, Sarge.“

„Wer hat hier das Sagen?“, fragte Kay. Der Constable deutete auf die kleine Gruppe von Leuten, die am Rand der Wiese stand.

„Dave Walker von der BTP. Er hat uns angerufen.“

„Okay, dann wollen wir mal.“ Kay stapfte über das Feld, umging dabei die matschigen Stellen. „Diese verdammte Strecke“, murmelte sie. „Die haben doch einen Zaun aufgestellt, um so etwas zu verhindern.“

„Passiert das hier öfter?“ Carys musste sich beeilen, um nicht zurückzufallen.

„Früher nannte man diesen Abschnitt ‚Selbstmordmeile’. Durch die Barriere ist es ruhiger geworden, zumindest in den letzten anderthalb Jahren. Aber wenn sich jemand das Leben nehmen will …“

„Da kenne ich bessere Methoden“, sagte Carys.

„Wem sagst du das.“ Kay schnaubte.

Kurz bevor sie die Gruppe erreichten, trat ein Mann heraus und kam ihnen entgegen. „Detective Sergeant Kay Hunter?“

„Das bin ich.“ Sie reichte ihm die Hand.

„Sergeant Dave Walker.“

Kay stellte Carys vor und deutete in Richtung der Gleise. „Ein Selbstmord?“

„Es ist nicht ganz klar“, sagte Sergeant Walker. „Eine Augenzeugin sagt, der Mann habe um Hilfe gerufen und wir fanden verdächtige Spuren. Deshalb wurden Sie angefordert.“

„Können Sie das näher erläutern?“, fragte Kay.

„Am besten wenden Sie sich selbst an die Zeugin“, er deutete mit dem Daumen über seine Schulter, „die Frau spricht gerade mit Ihrer Kollegin. Sie ist ziemlich aufgewühlt, weil sie mit ansehen musste, wie ein Mensch von einem Zug überfahren wurde. Es ist unglaublich tragisch, denn sie wollte eigentlich nur mit ihrem Hund frische Luft schnappen.“

Der Krankenwagen rumpelte über die Wiese und entfernte sich in Richtung Straße. „Bleiben die Sanitäter nicht, um den Mann für tot zu erklären?“

„Das ist nicht nötig.“ Er deutete auf ein kleines blaues Zelt, das vor der Lok aufgebaut war. „Sein Kopf liegt da drüben.“

Carys wandte sich stöhnend ab.

„Wie ist der Stand der Dinge?“, fragte Kay.

„Wir warten auf die Bestätigung der Leitstelle, dass die Strecke sicher ist und keine Lokomotiven zwischen den Stationen rangieren. Sobald wir grünes Licht bekommen, können wir die Passagiere in Busse setzen und von hier abtransportieren. Wir sind froh, wenn endlich Bewegung in die Sache kommt. Der Verkehr auf dieser Strecke ist völlig zum Erliegen gekommen und die Straßen zwischen Maidstone und Tonbridge sind mit Bussen verstopft. Es herrscht das totale Chaos!“

„Wie lange wird es noch dauern, bis wir loslegen können?“

„Eine Viertelstunde, schätze ich.“

„Dann reden wir in der Zwischenzeit mit der Zeugin.“ Kay und Carys gingen auf einen Streifenwagen zu, dessen Türen offen standen. Auf dem Rücksitz saß eine ältere Frau, die Arme um den Körper geschlungen, die Augen weit aufgerissen. Eine uniformierte Beamtin stand mit einem Notizblock daneben und schrieb eifrig. Kay streichelte kurz den Border Collie, der neben dem Auto hockte, und ließ sich Elsa Flanagan vorstellen. „Mrs Flanagans Aussage lege ich Ihnen morgen auf den Schreibtisch“, erklärte die Beamtin. „Ihr Mann holt sie ab, er müsste jeden Moment hier sein.“

Kay nickte knapp und ging in die Hocke, um auf Augenhöhe mit der Frau reden zu können. „Mrs Flanagan, Sie haben gerade mit meiner Kollegin gesprochen, aber würden Sie mir bitte noch mal erzählen, was heute Abend passiert ist?“

Die Frau atmete zitternd aus und zog die Rettungsdecke fester um ihre Schultern. „Es war schrecklich“, sagte sie mit bebender Stimme. „Ich wusste nicht, dass da unten jemand war. Ich war mit Smokey spazieren, und als er zu mir zurückkam, knurrte er. Dann habe ich den Mann gehört. Er schrie wie am Spieß.“

„Wo haben Sie gestanden, als Sie den Mann gehört haben?“

„Da drüben bei der Senke, ein Stück den Acker hinauf. Sehen Sie?“ Sie zeigte auf die Stelle. Kay schirmte die Augen gegen das grelle Scheinwerferlicht ab und machte den Bereich vor dem Absperrband aus. „Der Trampelpfad dort hinten führt zu unserer Straße. Den benutzen nur wir und eine Nachbarin, wenn wir mit den Hunden Gassi gehen.“

Kay nickte und fuhr fort. „Ist Ihnen unterwegs jemand aufgefallen?“

„Nur meine Nachbarin, die mit ihrem Yorkshire Terrier nach Hause ging.“

Kay warf der Uniformierten einen fragenden Blick zu. „PC Debbie West ist vor zwanzig Minuten los, um mit ihr zu sprechen“, sagte sie.

Kay wandte sich wieder der Zeugin zu. „Sie haben also einen Mann schreien gehört. Was ist dann passiert?“

„Ich dachte, es könnte ein Dieb sein und bekam Angst. Eigentlich gehe ich nicht so gerne allein raus“, sie beugte sich zu dem Hund hinunter und kraulte ihm die Ohren, „aber Smokey gefällt es dort.“

Kay wartete geduldig, bis Mrs Flanagan sich wieder gefangen hatte. Nichts lag ihr ferner, als die traumatisierte Frau zu drängen.

Diese seufzte und lehnte sich mit gesenktem Blick zurück. „Smokey hat jedenfalls wie verrückt an der Leine gezogen. Ich glaube, er wusste, dass etwas nicht stimmte. Er wurde immer lauter, und als ich merkte, dass das Geschrei vom Bahndamm kam, war das Signalhorn schon zu hören.“ Zitternd hielt sie sich die Hand vor den Mund. „Ich bin zum Zaun gerannt, aber da war nichts. Dann habe ich mit der Taschenlampe geleuchtet und den Mann gesehen.“

„Wo genau lag er?“

„Er lag quer über den Gleisen. Ich konnte nicht über den Zaun klettern und habe versucht, die Bespannung herunterzureißen. Aber auch das ging nicht. Der Zug kam immer näher und der Mann schrie ununterbrochen. Dann ist die Lok um die Kurve gekommen. Ich glaube, der Lokführer hat ihn sogar gesehen, weil er gebremst hat. Aber da war es schon zu spät …“

Kay legte der Frau die Hand aufs Knie. „Danke, Mrs Flanagan.“

„Sarge, Mr Flanagan ist hier“, sagte Carys. Kay richtete sich auf und sah einen Mann in den Siebzigern. Er rief nur „Elsa“, woraufhin seine Frau die Decke wegwarf und in seine Arme fiel. Nachdem er gefragt hatte, ob er sie mitnehmen dürfe, gab Kay ihm ihre Visitenkarte.

„Mrs Flanagan, wir werden uns in den nächsten Tagen wieder bei Ihnen melden. Bitte zögern Sie nicht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ein solch traumatisches Erlebnis sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen.“

Elsa Flanagan bedankte sich. Das Paar ging den hell erleuchteten Weg zurück. Kay sah ihnen nach und drehte sich um, als Sergeant Walker auf sie zukam.

„Es kann losgehen“, verkündete er. „Ich bringe Sie zur Unglücksstelle.“

Er ging voraus zum Zaun, der durchschnitten worden war, damit die Einsatzkräfte auf den Bahndamm gelangen konnten. Die aufgebrachten Passagiere wurden so aus den Waggons geführt, dass sie die Lok nicht sehen konnten.

„Wo ist der Lokführer?“, fragte Kay, während sie in den Schutzanzug und die Überschuhe schlüpfte, die ihr jemand in die Hand gedrückt hatte.

„Redet mit meinem Kollegen“, antwortete Walker. „Sie werden seine Aussage so schnell wie möglich bekommen.“

„O mein Gott“, murmelte Carys entsetzt, als sie auf den Triebwagen zugingen. Zerstückelte Gliedmaßen, Fleischfetzen und Kleidungsstücke lagen unter den blutverschmierten Rädern.

Ein paar Meter weiter stand die Leiterin der Spurensicherung. Kay begrüßte sie und ließ sich die Situation erklären, während sie sich den Overall anzog und die Haare zusammenband. Harriet Baker war eine scharfsinnige und angesehene Forensikerin, die seit einiger Zeit mit Kay zusammenarbeitete.

Sie warf dem Fotografen einen auffordernden Blick zu, der sofort erwidert wurde. „Wir sehen uns die Sache kurz an, dann sperren wir den Bereich ab. Es reicht, wenn einer von euch mitkommt.“

Kay betrachtete Carys’ blasses Gesicht und ihre weit aufgerissenen Augen und wusste, dass sie diese Aufgabe übernehmen musste. „Carys, du wartest hier und meldest dich später bei der Spusi, okay?“

„Klar, Sarge.“ Carys war die Erleichterung deutlich anzuhören.

„Er wäre nicht der erste Lebensmüde, der es sich im letzten Moment anders überlegt“, meinte Kay. „Wofür genau braucht ihr uns?“

Walker führte die Gruppe zum hinteren Teil der Lokomotive. Er ging in die Hocke und richtete seine Taschenlampe unter das Fahrgestell. „Es war kein Selbstmord.“

Kay starrte fassungslos auf das Gemetzel. Sie biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf, um sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. „Was genau soll ich mir ansehen?“

Statt zu antworten, richtete Walker seine Taschenlampe auf das gegenüberliegende Gleis. „Da drüben hängt ein zerfetztes Seil. Der Mann war an die Gleise gefesselt.“

4

Die Spannung in der Luft war greifbar, als Kay Larchs Blick begegnete. Sein Groll gegen sie war unverkennbar, eine ständige Erinnerung an ihre gescheiterte Beförderung zum Detective Inspector und an die Fehlgeburt, die sie unter dem Stress der internen Ermittlungen gegen sie erlitten hatte. Obwohl sie entlastet und der Fall zu den Akten gelegt worden war, torpedierte Larch seither ihre Beförderung. Außerdem stellte er immer wieder ihre Kompetenz infrage.

Sharp wurde von zwei Männern flankiert. Er stellte sie als Sergeant Dave Walker und Sergeant Robert Moss von der British Transport Police vor. Sie sollten die Truppe bei diesem Fall unterstützen, da sie sich auf dem Schienennetz bestens auskannten. Während die BTP-Beamten Platz nahmen, wurden Begrüßungsworte gemurmelt.

„Hunter, berichten Sie von gestern Abend“, forderte Sharp sie auf.

Kay trat vor, schilderte die Ereignisse und kam zu dem Schluss: „Es war auf keinen Fall Selbstmord. Der Mann war an den Hand- und Fußgelenken an die Gleise gefesselt. Zerfetzte Seilreste wurden gefunden. Außerdem gibt es eine Augenzeugin, die ihn auf den Gleisen entdeckt und alles gesehen hat.“ Es wurde still im Raum, einige Kollegen zuckten zusammen.

Sharp übernahm wieder. „Zum Umgang mit den Medien: Dieser Fall wird in der Öffentlichkeit zunächst als Suizid dargestellt, um den Täter in Sicherheit zu wiegen.“

„Es ist ziemlich clever, einen Mord als Schienensuizid zu tarnen, denn der Tote geht einfach in die Statistik ein“, meinte Kay.

„Das liegt doch auf der Hand, Hunter!“, blaffte Larch.

Kay biss sich auf die Lippe, holte tief Luft und schluckte eine Erwiderung hinunter. Stattdessen fuhr sie sachlich fort: „Bei der Besichtigung des Tatorts hatte ich das Gefühl, dass hier nicht zum ersten Mal ein Mord auf diese Weise vertuscht werden sollte. Denn es wirkte durchdacht.“

„Sie und Ihre wilden Theorien!“, stieß Larch mit hochrotem Kopf aus. „Haben Sie eine Ahnung, wie viele Menschen in den letzten Jahren auf diesem Teil der Strecke ums Leben gekommen sind? Das sollen alles Morde gewesen sein? Dass ich nicht lache!“

„Ich glaube, sie hat recht“, sagte Carys Miles unerwartet und sah Larch mit erhobenem Kinn an.

Kay drehte sich kurz um und erklärte: „Es sah aus wie geplant. Ich glaube, wir haben es hier mit einem Wiederholungstäter zu tun.“

„Ganz aus der Luft gegriffen ist das nicht“, meinte Sharp. „Im gegenwärtigen Stadium sollten wir diese Möglichkeit in Betracht ziehen.“

Larch funkelte Kay an, aber sie hielt seinem Blick stand. Schließlich seufzte er und sagte: „Wie Sie meinen, Sharp. Machen Sie sich ruhig lächerlich, indem Sie auf Hunter hören und nach einem ‚Eisenbahn-Serienmörder’ suchen.“ Er machte Anführungszeichen in die Luft und stapfte schnaubend aus dem Zimmer.

Nachdem die Tür krachend ins Schloss gefallen war, deutete Sharp auf Carys. „Hat sich die Spurensicherung schon gemeldet?“

Carys schlug ihr Notizbuch auf und räusperte sich. „Der Mann wurde enthauptet. Die Lok hat ihn in voller Fahrt erfasst, sein Kopf wurde in das Gestrüpp neben den Gleisen geschleudert.“ Ein kollektives Stöhnen ging durch den Raum. Kay hörte das Gemurmel einiger Kollegen, dass ihnen dieser Anblick zum Glück erspart geblieben war. „Von der Leiche ist nicht mehr viel übrig. Sergeant Walkers Team hat die Überreste geborgen. Das meiste ist verstümmelt.“

Sharp nickte. „Das war unter den Umständen zu befürchten. Wann kommt der vorläufige Bericht des Gerichtsmediziners?“

„Wahrscheinlich heute“, antwortete Kay. „Die Autopsie wird vorgezogen, damit die Leiche so schnell wie möglich identifiziert werden kann.“

„Wurden verdächtige Fahrzeuge oder Personen in der Nähe des Tatorts gesehen?“, fragte Sharp die BTP-Beamten.

„Nein“, antwortete Walker. „Ihre Leute haben den Tatort weiträumig abgesperrt. Unvollständige Schuhabdrücke wurden unterhalb des Bahndamms gefunden. Das Unterholz war zertrampelt. Beides wurde untersucht und die Spuren gesichert.“

„Wir haben eine Liste von Anwohnern und Kneipen in der Umgebung. Die werden wir in den nächsten Tagen abklappern, um möglichst viele Zeugenaussagen zu sammeln“, erklärte Kay.

Sharp sah auf die Uhr. „Bis sich die Spusi meldet, arbeiten wir mit dem, was wir haben. Ein paar Kollegen aus der Verwaltung werden zusammen mit der BTP alle registrierten Selbstmorde entlang der Strecke noch einmal durchgehen. Vielleicht findet sich im Nachhinein etwas Verdächtiges, das damals übersehen wurde. Barnes, Sie befragen die Augenzeugin, vielleicht fällt ihr noch etwas ein. Dann wird die Frau mit dem Yorkshire Terrier vernommen. Sie war vor der Dämmerung am Bahndamm, vielleicht hat sie jemanden gesehen.“

„Ja, Chef.“

„Miles, Sie fahren zur Forensik. Möglicherweise gibt es dort Kleidungsreste oder andere Dinge, die uns bei der Identifizierung des Mannes helfen können. Hunter, Sie gehen zur Autopsie. West, Sie besorgen die bereits aufgezeichneten Aussagen der Anwohner. Achten Sie auf Widersprüche, ungewöhnliche Beobachtungen. Und finden Sie heraus, ob es jemanden gibt, den wir noch einmal verhören müssen. Dann erarbeiten Sie eine Ermittlungsstrategie. Am frühen Nachmittag möchte ich über den aktuellen Stand informiert werden.“

„Ja, Chef.“ Die junge Polizistin senkte den Kopf. Mit gerunzelter Stirn machte sie sich eifrig Notizen.

Kay lächelte; Debbie West war ein weiterer aufsteigender Stern und eine Bereicherung für das Team.

Sharp sah noch einmal auf die Uhr. „Nachbesprechung um sechzehn Uhr. Seien Sie pünktlich.“

Nachdem sich das Team verteilt hatte, nahm Kay Carys beiseite. „Können wir uns kurz unterhalten?“

„Sicher. Was gibt’s?“

Kay zog einen Stuhl heran, setzte sich neben ihre Kollegin und kam mit gedämpfter Stimme zur Sache. „Hör auf, dich meinetwegen mit Larch anzulegen, auch wenn’s gut gemeint ist.“

Carys’ Lächeln verrutschte. „Was? Ich weiß nicht …“

„Danke für die nette Geste, aber nein, danke. Lass es in Zukunft!“ Sie setzte ein Lächeln auf, um ihre Worte etwas zu entschärfen. Diesen Kampf musste sie persönlich ausfechten.