Leseprobe Torte, Tod und Trüffelschokolade

Kapitel 1

„Hol einfach tief Luft und dann los, Kleine.“ Savannah Reid deutete auf den Leichnam, der in einem Meer von Sonnenlicht und geronnenem Blut auf dem polierten Eichenboden schwamm. „Willkommen im Morddezernat 101.“ Die junge Möchtegerndetektivin, die neben Savannah stand, verschränkte impulsiv die Arme vor der Brust und zerknitterte dadurch die Vorderpartie ihres tadellos geschnittenen Kostüms. Sie schluckte krampfhaft, und ihr Gesicht nahm eine grünliche Färbung an, die lediglich etwas heller war als die elegante jadegrüne Seide, die sie trug.

Savannah kicherte innerlich, doch ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Was für ein Waschlappen, dachte sie. Die Leiche hier war schließlich richtig hübsch und noch ganz frisch. Sie roch noch nicht einmal. Warte, bis Miss Tammy Zimperliese sich eine Leiche anschauen musste, die halbwegs ‚reif‘ war, eine, die ungekühlt schon ein paar Sonntage in Folge irgendwo herumgelegen hatte. Sie hätte ihre Kekse wieder von sich gegeben, das stand fest. Savannah genoss die Gesellschaft ihrer neuen Assistentin, und das trotz der Tatsache, dass die beiden Frauen nicht unterschiedlicher hätten sein können. Tammys Leidenschaft fürs Detail und ihre eindeutig vernunftgeprägte Lebensweise waren Savannah ein Dorn im Auge. In der Hauptsache deshalb, weil der Kontrast ihr den eigenen Mangel an Organisation vor Augen führte, der manchmal an regelrechte Schlampigkeit grenzte. Aber Tammy war intelligent, neugierig, zurückhaltend in den Bereichen, in denen sie sich nicht auskannte, und eifrig bestrebt dazuzulernen. Mit der Zeit begann es Savannah richtig Freude zu machen, sie auszubilden ... wenn sie nur irgendwann mal ihre Überempfindlichkeit überwinden könnte.

„Komm schon, mach voran“, Savannahs georgianischer Südstaatenakzent ließ ihre Worte gedehnt und zähflüssig klingen wie die klebrig-süße Füllung eines Pfirsichkuchens. Sie kniete neben dem Leichnam, der seitlich auf dem Boden des Büros in der Nähe eines großen Fensters lag, von dem aus man die Bucht sehen konnte. Die schräg einfallenden Strahlen der nachmittäglichen Sonne Kaliforniens tauchten den Schauplatz des Verbrechens in ein helles Licht und ließen der Fantasie nur noch wenig Spielraum. „Kommen wir also zur Sache. Was zuerst?“

„Nun ...“ Die normalerweise schon piepsige Stimme der zierlichen Blondine mit ihrem deutlichen Long Island-Näseln klang mindestens noch eine halbe Oktave höher als sonst. „Dieser ... hm, dieser Kerl ... er ist das Opfer, und ...“

„Was du nicht sagst, Sherlock.“ Savannah grinste gutmütig. „Komm, knie dich hin und sieh ihn dir genau an. Er wird dich schon nicht beißen. Jetzt nicht.“ Vorsichtig trat Tammy einen Schritt näher und suchte sich einen sauberen Fleck auf dem Boden, wohin sie ihr wohlgeformtes Knie platzieren konnte.

„Demnächst könntest du etwas Praktischeres anziehen“, schlug Savannah vor und wies auf ihre eigenen Klamotten: weite Hosen, Pullover und Mokassins. „Leichen ist es egal, wie du aussiehst.“

„Mein Gott, Savannah, du bist dermaßen grob.“

„Wer, ich? Nein, ich bin nur ein bisschen bodenständiger. Du solltest dir mal mit Dirk zusammen eine Autopsie ansehen. Er hat ein paar makabre Scherze auf Lager, bei denen du dir vor Lachen in die Hosen machst.“ Beim Namen Dirk Coulters krauste Tammy ihre vorwitzige Nase. „Ja, darauf möchte ich wetten“, antwortete sie trocken.

„Gut, zurück zum Geschäft, Kleine.“ Savannahs Gesichtsausdruck veränderte sich von einer Minute auf die nächste, das neckende Lächeln war verschwunden, mit dem aufmerksam taxierenden Blick ihrer blauen Augen betrachtete sie den Leichnam auf dem Boden. „Die Opfer eines Gewaltverbrechens sind häufig die einzigen Zeugen, mal abgesehen von dem Täter“, begann sie mit ernster, gleichförmiger Stimme aus dem Gedächtnis zu zitieren. „Sie können dir meist den genauesten Bericht vom Tathergang geben ... das heißt, wenn sie überhaupt in der Lage sind, hinterher noch zu reden. Offensichtlich sagt dieser Typ hier nicht mehr allzu viel. Also ...?“

„Schauen wir uns am Tatort um, um herauszufinden, was passiert ist“, beendete Tammy den Satz.

„Stimmt. Dann erzähl mir doch mal, was geschehen ist.“

Sie warf dem Opfer einen prüfenden Blick zu. „Eine oder mehrere – unbekannte Personen haben diesem Kerl Handschellen angelegt, ihm die Augen verbunden und ihm dann von hinten in den Nacken geschossen.“

„Von Weitem oder aus der Nähe?“

Tammy beugte sich vor, um das Einschussloch zu betrachten. „Aus der Nähe.“

„Wieso?“

„Wegen der Schmauchspuren.“

Mit einer Handbewegung deutete Savannah auf das Büro. „Ist unser Mörder eher kontrolliert-organisiert oder chaotisch-spontan vorgegangen?“ Einen Augenblick lang kaute Tammy auf der Unterlippe. „Ich würde sagen, kontrolliert-organisiert.“ „Warum?“

„Der Tatort kommt mir recht ordentlich vor, nicht chaotisch. Keine Anzeichen von Gewalteinwirkung – außer dem Einschussloch. Er hat das Opfer gefesselt.“ Mit dem Kopf deutete sie auf die Hände des Opfers, die auf seinem Rücken von Handschellen zusammengehalten wurden. „Ich bezweifle, dass diese Handschellen hier einfach so herumgelegen haben, also muss der Mörder sie selbst mitgebracht haben. Die Mordwaffe fehlt, und auch ansonsten sind nicht allzu viele Beweismaterialien am Tatort zurückgelassen worden. Kommt mir ziemlich gut organisiert vor.“

„Also, wie sieht der Kerl aus, nach dem wir suchen?“ Tammy zögerte und suchte nach der richtigen Gehirnschublade, in der sie die notwendige Information fand. „Das Profil eines organisierten Mörders: sehr intelligent, sozial und sexuell angepasst, lebt wahrscheinlich mit einem Partner zusammen, hoher sozialer Status, kontrolliert, männlich, charmant.“ Savannah grinste. „Klingt großartig.“

„Ja, richtig.“ Tammy entspannte sich einen Augenblick lang, dann nahm sie ihren Vortrag wieder auf. „Und er ist darauf vorbereitet, verhört zu werden ... das heißt, wenn wir ihn finden können.“

„Wenn wir das tun ... wie werden wir bei dem Verhör vorgehen?“

„Direkt, und das während der ganzen Zeit. Vorher werden wir unsere gesamten Detailinformationen überprüfen und sie beim Verhör selbst im Hinterkopf behalten, denn er kennt sie schließlich besser als wir. Er wird nur das zugeben, was er wirklich zugeben muss.“

„Deine Hausaufgaben hast du jedenfalls gemacht“, sagte Savannah und warf der jüngeren Frau das Reidsche Grübchen-Lächeln zu, das seine Wirkung niemals verfehlte. Ihre weiblichen Züge – große blaue Augen, ein Schmollmund, der Brigitte Bardot alle Ehre gemacht hätte, und ein herzförmiges Gesicht, umrahmt von dunkelbraunen Locken – waren sittsam und züchtig. Aber der Schein trog. Hier hörte die für Südstaatenschönheiten so sprichwörtliche Anmut nämlich auch schon auf. Im Rahmen ihrer Arbeit hatte Savannah nur selten Gelegenheit, die anziehende Seite ihrer Persönlichkeit zu demonstrieren.

Gott sei Dank wusste Großmama Reid in Georgia nicht, was für ein Wildfang sie geworden war. „Ich glaube, ich werde aus dir noch eine richtig gute Detektivin machen“, sagte sie zu Tammy. Die blassen Wangen der Blondine röteten sich vor Freude über das Lob. „Ja, nun ... ich habe auch ganz schön gepaukt.“

„Wie steht es mit dem Profil des Opfers?“ Tammys selbstzufriedenes Grinsen löste sich in Wohlgefallen auf. „Profil des Opfers? Oh, ich glaube, soweit bin ich noch nicht gekommen.“

„Das Opfer kann uns eine Menge sagen. Bevor irgendein Schweinehund ihn zu Hackfleisch verarbeitet hat, war er ein lebendiges, atmendes menschliches Wesen.“ Ein fast ehrerbietiger Ausdruck huschte über Savannahs Gesicht, als sie die Hand ausstreckte und dem Opfer sanft eine Haarlocke aus der Stirn strich. „Was für ein Mensch er war, kann uns einiges über die Person sagen, die ihn getötet hat. Erzähl mir etwas über unser Opfer.“

„Er ist ... war ... ein großer Mann. Um einiges größer als eins achtzig, wahrscheinlich fast zwei Zentner. Kaukasische Gesichtszüge. Ich würde sagen, in den Mittdreißigern, dunkelbraune Haare, grüne Augen. Sehr gut aussehend.“

„Das hast du also auch bemerkt, hm?“

„He, du hast mir doch die Anweisung gegeben, besonders aufmerksam zu sein.“ Mit der Fingerspitze strich sie über den Ärmel seiner wollenen Jagdweste. „Teure Kleidung, trägt keinen Ehering, eleganter Haarschnitt.“

„Breite Schultern, schlanke Taille, toller Arsch“, fügte Savannah in lüsternem Ton hinzu, als sie sich vorbeugte und das Hinterteil des Leichnams beäugte. „Sa-van-nah! Um Himmels willen, sei doch nicht so respektlos!“

„Ach, entspann dich, Süße“, antwortete sie lachend. „Vertrau mir, was das angeht, kann man ihm nicht auf den Schlips treten.“

Als das Telefon auf dem Schreibtisch neben ihnen klingelte, fuhren sie erschreckt zusammen. „Gütiger Himmel“, sagte Savannah. „Ein Anruf. Ein richtiger Anruf! Ist es möglich ...“ „Vielleicht. Könnte schon sein. Soll ich abnehmen?“ „Natürlich. Dafür bezahl ich dich schließlich.“ Tammy sprang auf ihre Füße und eilte zu dem Sekretär hinüber. Sie räusperte sich, nahm den Hörer ab und setzte ein Gesicht auf, das – wie Savannah im Stillen dachte – eine schlechte Imitation von Lauren Bacall war.

„Moonlight Magnolia Detective Agency“, hauchte sie. „Kann ich Ihnen helfen?“

Aufgeregt packte Savannah die Leiche am Ärmel und schüttelte sie. „Ryan ... ein Anruf. Wir haben endlich einen Anruf erhalten.“

„Wahrscheinlich hat er sich verwählt“, erwiderte die Leiche, hob den Kopf und streckte die langen Glieder. „Was dagegen, wenn ich jetzt aufstehe? Dieser Holzboden ist nämlich echte Qualitätsarbeit, so hart, wie der sich anfühlt.“

„Ja, ja, sicher“, sagte Savannah, packte ihn am Revers und hievte ihn in Sitzposition. Zerstreut rieb sie ihm das Theaterblut aus dem Gesicht und begann, seine Handschellen aufzuschließen, während sie zuhörte, wie Tammy das Telefonat beendete. Es klang sehr vielversprechend. Halleluja! Ihr erster Kunde!

„Ja, Mr. O‘Donnell“, sagte sie gerade. „Ich bin sicher, dass wir Ihnen dabei helfen können, Ihre Schwester ausfindig zu machen. Aber ich denke, Sie sollten zuerst mit Miss Savannah Reid selbst sprechen. Ja, sie ist die Besitzerin der Detektei ... eine ehemalige, mehrfach ausgezeichnete Polizeibeamtin. Das stimmt. Einen Augenblick bitte.“

Tammy legte die Hand über die Sprechmuschel, wackelte mit ihrem winzigen Hintern und hüpfte auf ihren acht Zentimeter hohen Absätzen auf und ab. „Wir haben einen Fall, wir haben einen Fall.“

„Dem Himmel sei Dank“, murmelte Savannah, als sie ihrer Assistentin das Telefon aus der zitternden Hand nahm. „Vielleicht müssen wir jetzt doch nicht verhungern.“

 

Brian O‘Donnell. Groß, schlank. Extrem dunkelrotes Haar, braune Augen und Schnurrbart mit nach oben gezwirbelten Enden. Siebenundvierzigjahre alt. Wohnhaft – Orlando, Florida, seit fünfzehn Jahren. Beruf Immobilienmakler. Verheiratet. Sucht nach seiner Schwester.

Savannah blickte auf die Notizen in ihrem Schoß hinunter, die sie sich während der vergangenen zwanzig Minuten gemacht hatte. Sie steckte sich das Ende ihres Stiftes in den Mund und kaute nachdenklich darauf herum, dann – als ihr bewusst wurde, dass ihre Gedanken abschweiften – richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Mann, der in dem Ohrensessel ihr gegenüber saß.

Er nippte an seinem dampfenden Kaffee und sah sie über den Rand seiner Tasse hinweg an. „Glauben Sie, dass Sie mir helfen können, Ms. Reid?“, fragte er, nachdem er sich einen Tropfen aus dem Schnurrbart geleckt hatte. „Haben wir genug Material zur Verfügung, um weiterzumachen?“

„Tatsächlich sind Sie selbst gar kein schlechter Detektiv, Mr. O‘Donnell. Sie haben mir mehr Informationen gegeben, als ich zu hoffen gewagt hätte.“

„Gut. Freut mich, das zu hören. Es bedeutet mir eine Menge, meine Schwester wiederzufinden.“ Savannah beobachtete, wie seine Hände sich um die Tasse schlössen. Obwohl seine Körperhaltung ganz lässig war – einen Turnschuh hatte er auf dem gegenüberliegenden Knie seiner halb abgetragenen Jeans platziert –, umklammerte er den Griff der Tasse fester als nötig. Sie notierte sich das auf ihrem mentalen Notizblock. Das war der Hauptgrund gewesen, warum sich Savannah entschlossen hatte, ihren Klienten Kaffee oder Tee anzubieten, wenn sie sie zum ersten Mal in ihrem Büro empfing – einem kleinen Raum, der ihr bis vor Kurzem noch als Sonnenterrasse gedient hatte. Das dampfende Getränk und die mit Cadbury-Schokolade überzogenen Kekse waren mehr als nur ein Beweis ihrer Südstaaten-Gastfreundschaft. Beim Essen und Trinken gewährten die meisten Menschen häufig einen unvoreingenommenen Blick hinter die so sorgsam aufrechterhaltene Kulisse. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass man viel über einen Menschen lernen konnte, wenn man ihn dabei beobachtete, wie er Milch und Zucker in seinen Kaffee gab oder einen Keks knabberte. Brian O‘Donnell hatte seine drei Kekse aufgesogen, ohne sich die Zeit zu nehmen, auch nur einen einzigen Krumen richtig zu genießen. Eindeutig kein Genießer wie sie. Savannah hatte sich krampfhaft davon zu überzeugen versucht, dass das Silbertablett, auf dem Kaffee, Schlagsahne, Zimtstangen, verschiedene Liköre und Schokoladenlocken lagen, nichts mit ihrem eigenen ständigen Verlangen nach Süßigkeiten zu tun hatte. Natürlich wusste sie es besser, und eigentlich war es ihr auch egal.

Sie stellte ihre eigene Porzellantasse auf den Beistelltisch, der zwischen ihnen stand, und nahm den Stapel Papiere zur Hand, die O‘Donnell darauf abgelegt hatte. „Vielleicht kommt Ihnen diese Frage jetzt sehr persönlich vor, aber ich wüsste gerne, warum es so wichtig für Sie ist, Ihre Schwester zu finden“, sagte sie, während sie die verschiedenen Dokumente durchblätterte. Brians Gesicht wirkte blass und abgespannt, war gezeichnet von tiefen Furchen, und er hatte dunkle Schatten unter den Augen. In den ersten Minuten, nachdem sie sich kennengelernt hatten, hatte Savannah gemutmaßt, dass er entweder nicht genug Stunden im Bett verbrachte oder sich dort, statt zu schnarchen, vorzugsweise von der einen Seite auf die andere wälzte. Als der Name seiner Schwester fiel, wurde sein Gesicht jedoch weicher, und er richtete den Blick nachdenklich in die Glut des gasbetriebenen Kamins, den sie für ihn angemacht hatte. Auch das sollte zu einer behaglichen Atmosphäre beitragen, damit ihre Klienten sich entspannten. Es schien zu wirken.

„Meine Mutter starb, als Susette fünf war. Ich selbst war sieben“, sagte er. „Eine plötzliche Krankheit ... irgendeine Art von Grippe, glaube ich. Dad war sich nicht sicher. Er fühlte sich der Aufgabe, allein zwei kleine Kinder aufzuziehen, nicht gewachsen, dachte, dass ein Mädchen eine Mutter braucht, die sie ... nun ja, zur Weiblichkeit erzieht, wissen Sie.“ Savannah nickte. „Fahren Sie fort.“

„Deshalb hat er Susie zur Adoption freigegeben. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als sie kamen, um sie abzuholen. Wir haben beide viel geweint, haben Dad gebeten, die Sache abzublasen. Ich weiß, dass er sie liebte. Aber ich glaube, er musste das tun, was er damals für das Beste hielt.“

Ein paar Minuten lang schwieg er und starrte in die flackernde Glut. Dann räusperte er sich und nahm energisch einen Schluck Kaffee zu sich.

„Susie war gut drauf ... für ein Mädchen.“ Er warf Savannah einen Seitenblick zu. „Nichts für ungut.“ Savannah zuckte die Achseln. „Ein paar von uns sind gar nicht so übel.“

„Mit Angeln hatte sie nicht viel am Hut, aber wir hatten ein Baumhaus und ...“

Seine Stimme wurde leiser, und Savannah entschloss sich, ihn nicht weiter zu drängen. Seine Gründe, warum er seine Schwester ausfindig machen wollte, waren eindeutig, ob sie nun ausgesprochen worden waren oder nicht.

„Gibt es das Baumhaus noch?“, fragte sie sanft.

„Ja. Und ich lebe immer noch im Haus meines Vaters, das wir auch bewohnten, als sie weggegeben wurde. Ich habe jetzt selbst drei Jungs. Ein Bild von ihnen liegt bei den Unterlagen, die ich Ihnen mitgebracht habe. Sie haben die alte Hütte – sie bezeichnen sie als Festung – ganz schön auf Vordermann gebracht, aber ich glaube, Susie würde sie immer noch erkennen. Ich will, dass sie sie sieht. Und wenn sie selbst Kinder hat, dann will ich, dass sie meine Jungs kennenlernen.“

„Ich verstehe.“ Savannah dachte an ihre eigenen Brüder und Schwestern in Georgia – acht an der Zahl – und spürte einen Stich des Heimwehs. „Aber warum gerade jetzt?“, fragte sie. „Ist dies ihr erster Versuch, Susette ...“ Sie warf einen Blick auf die Papiere. „... oder Lisa, wie sie jetzt genannt wird, ausfindig zu machen?“

„Oh nein. Ich habe es über die Jahre hinweg immer mal wieder versucht, ohne Erfolg zu haben. Dann, vor ein paar Monaten, ist mein Vater gestorben. Er war nicht besonders wohlhabend, beileibe nicht, aber er hat Susie ... ich meine Lisa etwas Geld hinterlassen. Vor seinem Tod bat er mich, es noch einmal zu versuchen.“

O‘Donnells Gesicht entspannte sich, und ein müdes, trauriges Lächeln breitete sich darauf aus. „Aber darum hätte er eigentlich gar nicht bitten müssen“, fügte er hinzu. „Ich hätte sowieso wieder nach ihr gesucht. Ich glaube nicht, dass ich jemals aufgeben werde ... nicht, bevor ich sie nicht gefunden habe. Sie ist die einzige Familie, die meine Söhne und ich noch haben. Außer meiner Frau natürlich.“

„Natürlich.“ Savannah betrachtete den Stapel Papiere in ihrem Schoß. Arbeit. Endlich ein Job, in den sie sich vergraben konnte. Es hatte einfach viel zu lange gedauert. „Eine Frage noch, Mr. O‘Donnell. Warum haben Sie sich für unsere Detektei entschieden?“

Er lächelte, und einen Augenblick lang sah er nicht mehr ganz so müde aus. „Wie ich schon sagte, ich habe Lisas Spur bis San Carmelita zurückverfolgt. Ich weiß, dass sie vor drei Monaten hier gewohnt hat, aber jetzt hat sich ihre Spur verloren. Während ich in der Bibliothek arbeitete und versuchte, ein paar Aufzeichnungen zu finden, stieß ich auf einen alten Zeitungsartikel und ...“

Er hielt inne und sah leicht verlegen aus. Savannah entschied, ihn nicht länger zappeln zu lassen und den Rest selbst zu sagen. „Sie haben also von meinem kleinen Zusammenstoß mit dem Polizeichef und einer Stadträtin erfahren.“

„Ah ... – ja.“

„Und Sie haben gehört, da man mich entlassen hat.“

„Ja, aber Sie haben Ihren Fall trotzdem gelöst. Das ist es, was für mich zählte. Ich dachte mir, wenn Sie den Stadtrat aufmischen können, dann könnten Sie auch so ein kleines Problem wie das meine lösen.“ Savannah beugte sich vor und streckte ihm ihre Hand entgegen. „Danke. Ich hoffe, dass ich Ihre Erwartungen erfülle.“

„Ich bin sicher, dass Sie das werden.“ Er ergriff ihre Hand und schüttelte sie feierlich.

„Mr. O‘Donnell, Sie haben soeben eine Detektei engagiert“, sagte sie, „und wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Ihre Schwester ausfindig zu machen.“ Verdammt heiß, dachte sie, als sie beobachtete, wie der Stress von seinem Gesicht schmolz. Eines stand fest: Es war ein gutes Gefühl, wieder arbeiten zu können, irgendetwas Nützliches in der Welt vollbringen zu können.

Sie griff nach seiner Tasse. „Und wie wär‘s jetzt mit noch einer Tasse Kaffee? Diesmal aber etwas Richtiges. Wir werden sie mit einem Schluck Bailey‘s würzen und mit einer Sahnehaube schmücken.“

 

Obwohl Savannah schon Vorjahren an die südkalifornische Küste ausgewandert war, war sie stolz auf die Tatsache, dass man aus einem richtigen georgianischen Pfirsich niemals den letzten Tropfen Saft rauspressen konnte. Südkalifornien oder Südstaaten-Dixie, es spielte keine Rolle, wenn es darum ging, Freunde oder die Familie zu unterhalten oder zu umsorgen.

Wie ihre Großmama Reid und Generationen von Ladies vor ihr lebte Savannah in tödlicher Angst davor, dass irgendwo irgendwer in ihrer Anwesenheit einen Hungeranfall erleiden würde. Das durfte einfach nicht passieren.

Außer vielleicht bei Dirk.

Wie sie ihn da so an ihrem Esstisch sitzen sah, bei diesem ersten offiziellen Stabstreffen der Moonlight Magnolia Detective Agency, fühlte sie, wie langsam der Ärger in ihr hochstieg, denn soeben nahm er sich den sechzehnten Keks mit Schokoladensplittern und Macadamianüssen. Sie hatte ein ganzes Blech gebacken. Jetzt waren nur noch zwei übrig.

Jahrelang hatten sie als Partner bei der Polizei von San Carmelita gearbeitet, ebenso lange war sie seine engste persönliche Freundin gewesen, deshalb musste Savannah zugeben, dass sie den Kerl mochte. Aber sie hatte sich niemals Illusionen über ihn gemacht. Dirk war ein richtiges Schwein, und das in mehr als nur einer Hinsicht.

„Möchtest du vielleicht, dass ich dieses Meeting für eine halbe Stunde oder so aufschiebe, damit ich dir etwas zu essen machen kann, Dirk?“, fragte sie. „Ich könnte eine Lammkeule mit Minzsoße herbeizaubern oder ein erstklassiges Rippenstück mit Meerrettich-Sahnesoße und dazu vielleicht ein Chateaubriand?“ Sein Gesicht leuchtete auf wie der Weihnachtsbaum auf der Rockefeller Plaza bei ansteigender Stromspannung. „Würdest du das tun? Das wäre großartig!“ Savannah schüttelte den Kopf und seufzte, als sie den Teller auf die andere Seite des Tisches schob. „Nimm dir einen Keks, Ryan“, sagte sie zu dem zuvor dahingeschiedenen Leichnam. Sie wandte sich seinem Gefährten zu. „Du auch, Gibson, solange noch etwas übrig ist.“

Savannah wusste, dass sie Tammy nichts anbieten durfte, was Kalorien hatte. Tammy saß da und nippte sittsam an ihrem entkoffeinierten Kaffee, der mit einer Süßstofftablette und fettfreiem Kaffeeweißer auf Pflanzenbasis gewürzt war. Okay, Savannah musste zugeben, dass die jüngere Frau zierliche Größe 36 hatte und dass wahrscheinlich ihr Leben lang keine Fettzelle in ihren Körper dringen würde, um ihre Arterien zu verstopfen. Aber sie hatte auch keine Titten.

Das fand Savannah recht tröstlich: Tammy Hart würde lange leben und dann sterben, ohne jemals den Genuss der reinen, cholesterin-überfrachteten Sünde kennenzulernen. Auch das aufregend weibliche Gefühl, ihren BH zu sprengen, würde sie niemals erfahren. Beides genoss Savannah an jedem Morgen ihres Lebens wieder aufs Neue.

Schließlich war es Savannah gelungen, sich selbst davon zu überzeugen, dass Tammy und ihre gepflegte, schlanke Figur ihr leidtaten. Ganz gehörig leid sogar. Aber es war nicht leicht gewesen.

„Sag mir, meine Liebe“, sagte John Gibson, der elegante britische Gentleman mit silbernem Haarschopf, der am Tischende neben Ryan saß, „wie genau können Ryan und ich dir bei diesem neuen Fall nützlich sein? Wir stehen wie stets ganz zu deiner Verfügung.“ Mit ritterlicher Geste deutete er auf seinen jüngeren Freund. Dirk gab ein unangenehmes Schnauben von sich, das, wie Savannah vermutete, nichts mit seiner chronischen Stirnhöhlenvereiterung zu tun hatte, sondern vielmehr die Folge eines akuten Anfalls seiner Feindseligkeit Homosexuellen gegenüber war. Sie warf ihm einen warnenden Blick zu.

„Im Augenblick gar nicht, Gibson, danke“, antwortete sie und stand auf, um noch heißes Wasser und einen weiteren Teebeutel in die Teekanne des älteren Mannes zu geben. „Das hier wird eine Suche, wie sie im Buche steht. Ich glaube nicht, dass wir eure besonderen Fähigkeiten zur Überwachung oder eure Ausrüstung brauchen.“

„Wenn doch, dann meldest du dich bei uns, ja?“, sagte Ryan und lächelte zu Savannah empor. Sein Anblick raubte ihr schier den Atem. Groß, dunkel und über die Maßen gutaussehend wie er war, hatte Ryan Stone so manch einen von Savannahs nächtlichen Träumen inspiriert. Wenn er nicht schon so viele Jahre glücklich mit Gibson verbandelt gewesen wäre, hätte sie jede einzelne ihrer bemerkenswert weiblichen Listen aufgewandt, um seinen sexuellen Präferenzen eine andere Richtung zu geben.

Keine Chance.

Als sie sah, dass Tammy ihn wie ein lüsterner Cockerspaniel anstarrte, erriet Savannah, dass ihr die gleichen Gedanken in den Sinn gekommen waren. Oh, nun gut ... „Tammy und ich kommen allein zurecht ... zumindest vorläufig“, sagte sie, kehrte zu ihrem Stuhl zurück und ließ einen Klacks Schlagsahne mit Schokoladenaroma in ihren Kaffee plumpsen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Tammy zusammenzuckte. „Morgen früh kannst du damit anfangen, Brian O‘Donnell zu überprüfen“, sagte sie zu ihr. „Das Übliche, also ob sein Personalausweis noch gültig ist, ob er derjenige ist, für den er sich ausgibt usw. Er scheint mir durchaus die Wahrheit zu sagen, aber wir wollen doch sichergehen, bevor wir anfangen, in seinem Auftrag nach jemandem zu suchen.“

Tammy legte ihre zimperliche Art ab, und ihr Gesicht nahm einen geschäftsmäßigen Ausdruck an, als sie ihr Notizheft öffnete und eifrig mitzuschreiben begann. „Verstanden, Boss“, sagte sie mit eifrigem, fast schon naivem Enthusiasmus, der Savannahs Herz rührte. Tammy ist ein feiner Kerl, rief sie sich ins Gedächtnis. Etwas jung, ein bisschen mager und einen Tick zu selbstgerecht vielleicht. Aber ein feiner Kerl.

„Und was ist mit mir?“, sagte Dirk, der immer noch ein Schmollen zur Schau trug, das sich auf dem Gesicht des über Vierzigjährigen nun doch etwas lächerlich ausnahm. Es besaß Charakter, und das machte es liebenswert, hatte allerdings jenes wettergegerbte Aussehen, als ob er ein- oder zweimal auf seinem übermäßig widerstandsfähigen Bauch durch die Straßen geschleift worden wäre. „Warum hast du mich überhaupt gerufen, wenn du mich nicht brauchst?“

„Weil, mein Schatz ...“, Savannah blies ihm einen erotischen Kuss über den Tisch hinweg zu, „... weil wir dich lieben und wir wollten, dass du diesen ersten Fall mit uns zusammen feierst.“

Er errötete bis zu seinem zurückweichenden Haaransatz. Savannah kam der Gedanke, dass Dirk noch irgendein Highlight im Leben brauchte, wenn so eine kleine Südstaaten-Flirterei ihm schon tiefe Röte ins Gesicht trieb.

„Außerdem“, fügte sie mit gleichmütiger Stimme hinzu, „möchte ich, dass du ein paar Nummernschilder überprüfst und ein paar Akten wälzt.“

„War mir klar, dass es da einen Haken gibt“, knurrte er und kämpfte ein grimmiges Grinsen nieder. Dirk war am glücklichsten, wenn er sich darüber beklagen konnte, dass man ihn benutzte. „Was ist dabei für mich drin? Ich meine, ich stehe schließlich nicht auf deiner Gehaltsliste.“

„Ein Schinkensandwich.“

Er dachte nach, dann schüttelte er den Kopf. „Ich glaube nicht. Entweder die Lammkeule in Minzsoße oder gar nichts.“

„Mit Käse ...“, handelte sie. Er rührte sich nicht. „Und einem Hauch Senf.“

„Gebongt.“

 

In einem Auto, das einen Häuserblock weiter im Schatten parkte, saß eine dunkle Gestalt und beobachtete, wie sich Savannahs Gäste – einer nach dem anderen – verabschiedeten. In der vergangenen Stunde hatte der Beobachter ihre Schatten auf den Vorhängen im Esszimmer beobachtet; eine Zusammenkunft hatte dort stattgefunden. Man brauchte keine besonders lebhafte Fantasie, um zu erraten, wer und was der Gegenstand ihrer Unterhaltung war.

Nachdem er das Kommen und Gehen in diesem Haus während der letzten vier Stunden aufgezeichnet hatte, war die Person im Schatten hoch befriedigt. So weit, so gut. Alles schien wie geplant zu verlaufen. Im schwachen Schein einer Miniaturtaschenlampe kritzelte der Beobachter etwas auf seinen Notizblock. Als die Gäste sich verabschiedeten, richtete er seine besondere Aufmerksamkeit darauf, in welchem Verhältnis ein jeder Besucher zu der Gastgeberin stand. Der große Mann verließ das Haus zusammen mit dem älteren, jeder der beiden gab ihr einen herzlichen Kuss auf die Wange. Die junge Blondine umarmte sie, dann tuckerte sie in einem grell pinkfarbenen, perfekt restaurierten VW Käfer davon.

Ein etwas auffälligerer Charakter war der Kerl, der wie ein verwahrloster Polizist aussah. Er hatte ihr nur einen Klaps auf die Schulter gegeben, bevor er in einen zerbeulten Buick Skylark aus dem Jahre 1962 stieg. Im Gegensatz zu dem Volkswagen konnte man den Skylark nur noch durch die taktvolle Formulierung beschreiben, wie man sie häufig in den entsprechenden Anzeigen liest — ‚an Bastler abzugeben‘. Aber auch der würde nicht mehr viel damit anfangen können. Der über den Notizblock gebeugte Mann war überrascht, denn er hatte den Kerl im Buick für Savannahs Liebhaber gehalten und erwartet, dass er die Nacht über blieb.

Also lebte Savannah Reid gar nicht mit einem Mann zusammen, sie war allein.

Gut, das würde die Sache später nur vereinfachen. Als das letzte der Autos verschwunden war, kehrte Savannah in das malerische Landhäuschen im spanischen Stil zurück und löschte das Licht auf der Veranda. Ein paar Augenblicke später wurden hinter den Jalousien die Vorhänge zugezogen und weitere Lampen gelöscht. Sie ging also zu Bett. Schließlich brannte das Licht nur noch in einem Fenster – im ersten Stock links. Ihr Schlafzimmer. Das war‘s für heute Abend, Leute, dachte die Person, drehte den Zündschlüssel um und gab Gas. Jetzt wendet sich das Blatt. Es dauert nicht mehr lang.

Bislang liefen die Dinge viel besser als erwartet. Wer hatte eigentlich behauptet, dass Mord eine komplizierte Sache war?

Kapitel 2

An einem Morgen wie diesem fiel es Savannah nicht schwer, sich daran zu erinnern, warum sie vor fünfzehn Jahren von Georgia nach Südkalifornien umgesiedelt war. Als sie ihren roten Camaro um die scharfen Kurven der Buena Vista Road in Richtung Norden lenkte, konnte sie den Pazifik zu ihrer Linken glitzern sehen wie einen fernen, mit Diamanten umsäumten Smaragd.

An der Küste breitete sich San Carmelita aus, die kleine, malerische Stadt, wo sie sich nach einem unerfreulichen Abstecher als Frischling bei der Polizei von Hollywood schließlich niedergelassen hatte. Es war eben hart, die Jungfernschaft zu verlieren.

San Carmelita war eine kleine und sehr persönliche Stadt. Savannah kannte die Besitzer der Geschäfte und Restaurants, die sie besuchte, und gelegentlich traf sie auch einen Freund auf der Straße.

Alles in allem mochte Savannah San Carmelita. Abgesehen von den gelegentlichen Anfällen von Heimweh, dem regelmäßig wiederkehrenden Sehnen nach dem Geruch der Kiefernwälder Georgias und dem – infolge von PMS – heißen Verlangen nach ein paar luftig-leichten Südstaatenkeksen, bestrichen mit Zuckerrübensirup und frischer Butter, war San Carmelita jetzt ihr Zuhause.

Die goldene Morgensonne beschien die Gebirgsausläufer, die sich zu ihrer Rechten erhoben, sanfte Abhänge, die aus der Entfernung aussahen, als wären sie mit weichem, braunem Samt überzogen.

Die Frühlingsregengüsse waren heftiger gewesen als sonst und hatten die Hügel monatelang grün gehalten, aber die Santa-Ana-Winde, die seit kurzem darüber hinwegfegten, hatten die frischen Sträucher in trockenen Zunder verwandelt.

Nicht zum ersten Mal staunte Savannah über die seltsame Logik, die die Menschen dazu trieb, die teuersten Häuser der Stadt auf dem Kamm dieser Hügel zu bauen. Sicher, die Aussicht war einzigartig, aber wenn im Herbst die alljährlichen Buschfeuer begannen, standen sie an vorderster Front. Ganz zu schweigen von der Aussicht, im Falle eines größeren Erdbebens spontan unten zu landen.

Als sie höher hinauf in diese exklusive Gegend fuhr, versicherte Savannah sich immer wieder, dass ihre Ansichten vernünftigen Überlegungen entsprangen und nichts damit zu tun hatten, dass sie es sich nicht leisten konnte, in diesen eleganten, maßgeschneiderten Häusern mit dem atemberaubenden Ausblick zu wohnen. Sicherlich nicht mit dem fehlenden Gehalt eines kürzlich gefeuerten Police-Detective und schon gar nicht mit dem Einkommen aus einer neu gegründeten Privatdetektei. Sie warf einen Blick in ihr Notizbuch, das geöffnet neben ihr auf dem Beifahrersitz lag. Sie überprüfte die Adresse – 1513 N. Lotus. Die letzte bekannte Adresse von Lisa Mallock, früher bekannt als ‚Susie‘ O‘Donnell.

Diese Information hatte Savannah von Bruder Brian, es war seine letzte Spur auf der Suche nach seiner Schwester gewesen. Er hatte ihr erzählt, dass man ihn, nachdem er an diese Tür geklopft hatte, darüber informiert hatte, dass Lisa nicht mehr dort lebte. Ein strenger, älterer Gentleman mit einem überdimensionalen Hund hatte ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Das waren ja schöne Aussichten.

Aber Savannah machte sich keine Sorgen. Zur Hölle, in ihrem Job war eine Tür, die ihr vor der Nase zugeschlagen wurde, gar nichts. Solange keiner schoss, auf sie einstach, sie verprügelte oder ihre Familie in den Schmutz zog, betrachtete sie einen solchen Verlauf normalerweise als einigermaßen befriedigendes Gespräch. „Hmm-hmm ... nicht schlecht“, murmelte sie, als sie vor dem dreistöckigen Chalet in schweizerischem Stil parkte. Das Erscheinungsbild dieses Hauses war vielleicht etwas aus der Mode gekommen, aber es war gepflegt und frisch gestrichen, und in dem makellos gepflegten Vorgarten blühten jede Menge Blumen. Sie entschloss sich, den Camaro nicht in der gepflegten Auffahrt zu parken; er hatte die peinliche Gewohnheit, Öl zu verlieren.

Von dem Augenblick an, da sie an der Tür läutete, hörte sie einen Hund bellen. Der tiefen Stimme und dem großen Resonanzboden nach zu urteilen hatte Brian nicht übertrieben. Es handelte sich um einen sehr großen Hund, der seinen Job offensichtlich sehr ernst nahm. Als die Tür geöffnet wurde, sprengte ein Bündel aus gesträubtem, schwarzem Fell hindurch und direkt auf sie zu. In einem Gesicht, das wie eine Kreuzung aus Akita und Grizzly aussah, glitzerten gebleckte Zähne. Instinktiv glitt Savannahs Hand in ihre Jacke und umfasste den Griff ihrer Beretta. Aber sie widerstand dem Impuls, die Waffe zu ziehen. Den Familienhund auf der Terrasse zu erschießen war wohl kaum der richtige Weg, um sich das Wohlwollen seines Gegenübers zu sichern.

„Beowulf, sitz!“, grollte die gleichermaßen entschlossene wie männliche Stimme eines Menschen, und die Tür öffnete sich noch etwas weiter.

„Ja bitte, Beowulf, nimm doch einfach Platz“, flüsterte sie, als sie den heißen Atem des Hundes durch das dünne Leinen ihrer Hose an den Waden spürte. Gehorsam hörte er mit dem Bellen auf, knurrte aber weiter, seine Zähne waren nur Zentimeter von ihren Beinen entfernt, und seine Lippen flatterten wie eine Markise bei heftigem Wind.

„Beowulf, es reicht. Schluss jetzt“, sagte der rüstige, ältere Mann, dessen breite – wenn auch leicht gebeugte Schultern beinahe den Türrahmen ausfüllten. Er war wahrscheinlich so um die Siebzig, aber sein physisches Erscheinungsbild war bemerkenswert für sein Alter. Er war groß, um einiges größer als eins achtzig, hatte stahlgraues Haar, das er im Bürstenschnitt trug, und blassblaue Augen, deren Intensität etwas Beunruhigendes hatte.

Nur die arthritischen Schwellungen und Verformungen an seinen Fingergelenken legten Zeugnis davon ab, dass er ein altersbedingtes Gebrechen hatte. Aber offensichtlich hielten ihn seine gesundheitlichen Probleme nicht davon ab, seine Interessen zu verfolgen. Die Erde an seiner Jeans und auf seinem T-Shirt und der Striemen Torfmoos auf seiner rechten Wange sagten ihr, dass sie ihn bei der Gartenarbeit störte. Er streckte die Hand nach unten aus, griff den Hund an seinem fülligen Nackenfell und schüttelte ihn leicht. „Keine Angst, Ma‘am“, sagte er mit leichtem Südstaatenakzent, der sie an ihren eigenen erinnerte. „Der alte Knabe will sich einen zusätzlichen Hundekeks verdienen, indem er hier den harten Kerl rauskehrt. Aber Sie wissen ja: Hunde, die bellen, beißen nicht.“ Zweifelnd sah sie auf die funkelnden Schneidezähne hinab. „Tatsächlich?“

Der Mann gluckste in sich hinein. „Nein, nicht ganz. Aber er hat noch niemanden ohne meine Erlaubnis aufgefressen.“

„Freut mich sehr, das zu hören.“ Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. Er nahm sie und schüttelte sie fest. „Ich heiße Savannah Reid. Ich versuche, eine Lisa Mallock ausfindig zu machen. Ist sie zu Hause?“ Sofort ließ er ihre Hand fallen. „Nein.“ Der offene, freundliche Blick verschwand, er verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust und blickte stirnrunzelnd auf sie herab.

„Ich verstehe.“ Sie zögerte, dann preschte sie voran. „Wann erwarten Sie sie zurück?“

„Wer fragt das?“

Sie zuckte die Achseln und schenkte ihm ihr gewinnendstes Lächeln, das die ohnehin schon bezaubernden Grübchen vertiefte, und schaltete auf Südstaatenunschuld. „Wieso, einfach nur ich.“ Das konnte ihn nicht beeindrucken. Tatsächlich sah er mittlerweile ebenso wütend aus wie sein Hund. „Was wollen Sie von ihr?“

Savannah ließ die Georgia-Masche fällen und fixierte ihn mit ihrem hochoffiziellen Festnagel-Blick. Er war auf dieser Terrasse nicht der einzige mit intensiv dreinblickenden blauen Augen. Und ihre waren sogar noch ein paar Schattierungen dunkler. „Das möchte ich nicht sagen, Sir, aber es betrifft eine sehr wichtige Familienangelegenheit.“

„Ja, das möchte ich wetten.“ Er trat einen Schritt zurück und zog den Hund hinterher. „Lady, fahren Sie zur Hölle!“

Sekundenbruchteile später starrte sie auf die Tür, die er vor ihrer Nase zugeschlagen hatte, und in ihren Ohren hallte der Knall wider.

So viel zu diesem Verhör und zu allem, was es ihr hätte enthüllen können.

Und da hatte sie doch tatsächlich geglaubt, sich glücklich preisen zu können.

Wenigstens hatte er Beowulf nicht die Erlaubnis gegeben, sie zu fressen.

 

Als Savannah durch die Vordertür des Polizeireviers von San Carmelita schritt, fragte sie sich, ob sie dieses Gebäude jemals wieder würde betreten können, ohne dass ihr übel und das Herz mehr als nur etwas schwer wurde.

Wahrscheinlich nicht.

Sie hatte es genossen, ein Cop zu sein. Nun ... vielleicht war ‚genossen‘ nicht das richtige Wort, dachte sie, als sie an die Zeit hier zurückdachte. Es hatte auch reichlich Albtraum-Erlebnisse gegeben. Dunkle, schmerzhafte, unendlich traurige und einfach nur beängstigende Zeiten. Aber der Stress war das richtige für sie gewesen, und sie hatte das befriedigende Gefühl genossen, gut in ihrem Job zu sein. Zu gut.

Sie hatte den falschen Mordfall gelöst, die falschen Menschen der Öffentlichkeit preisgegeben und hatte dafür einen Tritt in den Hintern bekommen. Wenn die ‚Wahrheit‘ einen Polizeichef und eine prominente Stadträtin betraf ... dann konnten die eigenen Fähigkeiten als Ermittlerin einem flugs die Karriere ruinieren.

Seit sie ohne viel Federlesens aus den Diensten der Polizei entlassen worden war, hatte sie ihre Ausflüge ins Revier immer auf die Zeit nach Dienstschluss beschränkt. Auf diese Weise konnte sie sicher sein, Chief Hillquist und Captain Bloss, den beiden Menschen, die sie auf der Welt am wenigsten mochte, nicht zu begegnen.

Sie nickte Denise Harmon zu, die während der Nachtschicht die Stellung – oder genauer gesagt, den Schreibtisch an der Rezeption – hielt. Wie die meisten anderen Mitarbeiter des Reviers, die Savannah von Zeit zu Zeit traf, begrüßte Denise sie herzlich. Man war in der Mannschaft allgemein der Ansicht, dass Savannah mies behandelt und auf unfaire Weise entlassen worden war. „He, Savannah. Wie geht‘s dir?“, fragte sie mit einem strahlenden, offenen Lächeln, das ihre attraktivste Eigenschaft war. Vielleicht war es sogar ihre einzige attraktive Eigenschaft – sie sah leicht verlebt aus und hatte eine recht kantige Figur –, aber das nahm Savannah schon seit langem nicht mehr wahr. Einige Menschen waren einfach so nett und gutherzig, dass solche Dinge unwichtig waren.

„Wie es mir geht?“, antwortete Savannah und verfiel in ihren tiefsten Südstaatenakzent. „Danke, dass du fragst. Tatsächlich lebe ich momentan wie die Made im Speck, Schätzchen.“

„Und ‘ne verrückte Made dazu“, sagte eine mäßig enthusiastische männliche Stimme.

Savannah wandte sich um und sah Dirk im Eingang zum Dezernat stehen, ein dümmliches Lächeln auf dem Gesicht. Er entdeckte die braune Papiertüte in ihrer Hand, und sein Grinsen wurde breiter.

„Du hast sie mitgebracht!“, rief er aus.

„Natürlich.“ Sie hielt ihm die Tasche entgegen. „Ich weiß doch, dass ich hier nicht erscheinen darf, ohne eine Opfergabe verbrannten Fleisches für das Ungeheuer mitzubringen.“

„Verbrannten Fleisches?“ Er rümpfte die Nase. „Gekochter Honigschinken und geräuchertes Truthahnfleisch. Ich weiß, dadurch musst du von deiner Drei-Pfund-für-einen-Dollar-Mortadella abgehen, aber ...“

„Ich nehm‘s.“

„Irgendwie habe ich das geahnt.“

Mit mehr Getue und Respekt als üblich führte er sie ins Dezernat. Mit viel mehr.

Vor langer Zeit hatte Savannah entdeckt, dass Essen auf direktem Weg zum menschlichen Herzen führte. Es gab kaum eine Seele, die so hart war, dass sie nicht mit einer Schwarzwälder Kirschtorte oder einem Stück Apfelstrudel besänftigt werden konnte.

Außerdem teilten großzügigere Menschen das Geschenk manchmal mit dem Schenkenden. Ihr war klar, dass das in diesem Fall nicht geschehen würde, als sie beobachtete, wie Dirk zu seinem Schreibtisch hinüberging, das Sandwich auswickelte und sein Gesicht darin vergrub. Wenn es um etwas Essbares ging, teilte Dirk niemals.

„Also, was muss ich jetzt dafür tun?“, fragte er mit dem Mund voller Schinken und Truthahn.

„Lass einen Namen für mich durchlaufen.“

„Nur einen?“

„Für den Anfang.“

Nachdem er die Hälfte des Sandwiches mit drei Bissen verschlungen hatte, legte er den Rest beiseite und rollte seinen Stuhl vor den Computer. Sie griff nach dem nächstbesten Stuhl und setzte sich neben ihn. „Welchen?“, fragte er und versuchte, unwirsch zu klingen. Schon relativ früh innerhalb ihrer Beziehung hatte Savannah das simple psychologische Puzzle namens ‚Dirk Coulter‘ gelöst. Dirk würde für jedermann alles tun, aber er wollte, dass sich der andere zumindest ein bisschen schuldig fühlte, weil er seine kostbare Zeit in Anspruch genommen und sein Privatleben gestört hatte.

Als ob er überhaupt ein Privatleben hätte. „Lisa Mallock“, antwortete sie, dann buchstabierte sie den Nachnamen. „Geburtsdatum: 13. Juni 1951.“ Zuerst rief er die Datenbank des Straßenverkehrsamtes auf. Gespannt blickte Savannah auf den Bildschirm und war enttäuscht, dass dort die gleiche Adresse gespeichert war, die sie soeben aufgesucht hatte, 1513 N. Lotus. Aber wenigstens hatte sie jetzt eine Personenbeschreibung und ein Bild — ihr erster Blick auf die fragliche Dame. Lisa Mallock war ein attraktiver Rotschopf mit Haaren von der gleichen rotbraunen Farbe wie die ihres Bruders. Wie Brian O‘Donnell hatte sie dunkelbraune Augen. Doch da endete die Familienähnlichkeit auch schon. Ihre Züge waren erheblich feiner, obwohl sie älter als fünfundvierzig wirkte. Größe: eins siebzig Gewicht: fünfundsechzig Kilo. „Irgendwelche Vorstrafen oder vorliegende Haftbefehle?“, fragte sie.

Er betätigte ein paar Tasten, und der Bildschirm veränderte sich. „Nein.“

„Keine?“

„Keine einzige. Ein sehr braves Mädchen.“

„Ja.“ Savannah runzelte die Stirn und trommelte mit ihren mit ‚Flaming Desire‘ lackierten Fingernägeln auf den Schreibtisch.

„Irgendetwas falsch daran? Willst du, dass sie etwas auf dem Kerbholz hat?“

„Eigentlich nicht. Aber sie ist ziemlich häufig umgezogen. Mein Klient, also ihr Bruder, hat allein im letzten Jahr fünf Adressen ausmachen können, das hier ist die letzte. Entweder ist sie extrem unstet, oder sie läuft vor irgendetwas davon. Ich habe halt vermutet, dass sie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist.“

„Schulden?“

Sie nickte. „Das ist meine zweite Annahme. Ich werde Tammy bitten, ihre Kontenlage zu überprüfen.“

„Sonst noch was?“ Dirks Augen glühten, und zwar nicht nur aufgrund des kranken grünen Lichts des Computerbildschirms. Er genoss es wirklich, Polizist zu sein; das hatte Savannah immer besonders an ihm gemocht. Und das vermisste sie am meisten, jetzt, da sie nicht mehr zusammenarbeiteten. Sie hatten die gleichen Leidenschaften gehabt – Essen und einen jeglichen Fall, an dem sie gerade arbeiteten, lösen zu wollen. „Ja ... noch eine Sache.“ Sie zog einen Papierfetzen aus ihrer Tasche. Darauf hatte sie das Kennzeichen des alten Lincoln Continental notiert, der vor dem Haus von Beowulfs Herrchen parkte.

„Kannst du dieses Kennzeichen für mich überprüfen?“

„Hast du noch ein Schinkensandwich in deiner Tasche?“

Mit einem Seufzer langte sie erneut in ihre Tasche, und diesmal zog sie ihre Lieblingsspeise par excellence heraus, einen Riegel aus dunkler Schweizer Schokolade mit Haselnüssen und einer Cremefüllung aus Maraschinokirschen. Sie kaufte sie zu Dutzenden bei Trader Joe; man wusste nie, wann man von einem Schokoladenanfall befallen wurde, und diese Riegel waren das einzig wirksame Heilmittel.

Es war ihr letzter Riegel, was ihn noch kostbarer machte.

Sie hielt ihn Dirk hin, der ihn ihr glücklich aus der Hand schnappte. „Und jetzt los“, murmelte sie. Und wieder bearbeitete er die Tasten, im Zweifinger-Suchsystem. Der Computer klickte, piepste und öffnete ein neues Dokument. „Forrest Neilson“, verkündete Dirk. „Ja, das ist Beowulfs Herrchen, stimmt genau“, sagte sie und betrachtete das Bild, der Stiftekopf aus grauem Haar, die intensiv dreinblickenden Augen. „Und die Adresse auf seinem Führerschein wurde etwa zur gleichen Zeit geändert wie die von Lisa Mallock. Und es war die gleiche Adresse. Irgendwann haben sie also zusammengelebt, wenn sie es nicht immer noch tun.“

„Die Frau, nach der du suchst, lebt mit Forrest Neilson zusammen?“, fragte Dirk und starrte das Bild auf dem Bildschirm an.

„Vielleicht. Ich weiß es nicht genau. Als ich ihn gefragt habe, hat er sich nicht klar geäußert, weder in die eine noch in die andere Richtung. Er hat einfach nur gesagt, dass sie nicht zu sprechen sei. Warum? Kennst du ihn?“

„Sicher tue ich das. Er ist Colonel Forrest Neilson, Träger der Großen Ehrenmedaille, hat sich zur Ruhe gesetzt, war sehr aktiv in lokalen Veterinärprogrammen. Ich habe ihn letztes Jahr in der American Legion kennengelernt. Ein prächtiger alter Knabe.“

„Ein Colonel? Tatsächlich? Hm ...“

„Und weißt du noch was?“

„Was denn?“

„Er hat eine erwachsene Tochter ... sein einziges Kind ... adoptiert, wie ich hörte. Habe sie eines Abends aus der Ferne gesehen ... auf der anderen Seite eines Parkplatzes.

„Ein Rotschopf? Eins siebzig groß, 65 Kilo?“

Er nickte und schob sich den letzten Bissen des Schokoladenriegels in den Mund. „Ja, so ungefähr“, sagte er mit vollem Mund. „Auf jeden Fall ein richtiger Karottenkopf.“

 

Am nächsten Morgen, als Savannah das Büro der Moonlight Magnolia Detective Agency — vormals ihre private Höhle — betrat, sah sie, wie Tammy eine Hornbrille von ihrem schmalen Gesicht riss und sie hinter dem Monitor ihres Computers verstaute.

„Aha! Erwischt!“, rief sie und lachte über die Eitelkeit der jungen Frau. Auch sie war einmal eitel gewesen. Vor langer Zeit ... als sie noch viel jünger und hübscher als heute gewesen war.

Tammy kicherte verlegen. „Na ja, du weißt doch, was man sich über Männer erzählt, dass sie an Frauen mit Brille kein Interesse haben.“

„Ja, davon habe ich gehört. Aber man sagt auch, dass Kerle nicht hinter einem dicken Hintern her sind.“ Sie legte ihre Hände auf ihre ausladenden Hüften und nahm eine verführerische Pose an. „Aber ich sag dir eins, Schätzchen, das stimmt nicht.“ Savannah beugte sich zu ihrer Assistentin vor, nahm die Brille und hielt sie ihr hin. „Das andere Geschlecht ist gar nicht so wählerisch, wie man glaubt ... deshalb müssen wir es sein. Zieh sie also wieder auf, Süße. Du musst die Guten schließlich von den Bösen unterscheiden können, und zwar auch von Weitem ... solange du noch wegrennen kannst.“

Mit einem etwas dümmlichen Lächeln ließ Tammy die große Brille wieder auf ihr kleines Gesicht gleiten. Alles an Tammy Hart erinnerte Savannah an einen Valentinsgruß. Kitschig, gefühlsbetont, ultrafeminin ... aber leidenschaftlich. Tammy war ständig von einer zartrosa Aura umhüllt, die sie einem so richtig ans Herz wachsen ließ. Aber Savannah hielt sie durchaus für fähig, unter den richtigen/falschen Umständen auf Flammendrot umzuschalten.

„Übrigens“, sagte Tammy und fuhr sich mit der Hand durch das hellblonde Haar, das ihr glatt und seidig auf die Schultern fiel. „Ich bin fertig mit der Überprüfung von Brian O‘Donnell. Er ist tatsächlich derjenige, für den er sich ausgibt. Hört sich an wie ein richtig braver Kerl.“

„Ich bin sicher, dass du sehr gründlich gearbeitet hast“, sagte Savannah. „Bring doch deine Notizen mit ins Wohnzimmer, und wir gehen sie dort durch. Aber erst noch was anderes. In meiner Küche warten noch eine Tasse Mokka und ein Stück dänischer Käsekuchen auf mich. Möchtest du auch ...?“ Sie blickte an der schlanken Gestalt der jungen Frau hinab. „Nein, natürlich nicht. Wie dumm von mir. Darf ich dir ein Blättchen Sellerie in einem Glas Perrier anbieten?“

 

Savannah saß auf ihrem absoluten Lieblingsplatz, dem dick gepolsterten Ohrensessel, mit Diamante auf dem Schoß und Cleopatra zusammengerollt auf dem Fußbänkchen zu ihren Füßen. Beide Katzen schnurrten zufrieden vor sich hin.

Wie um sich noch behaglicher zu fühlen, war sie umgeben von weichen, satingesäumten Kissen im Blumenmuster. Sie war einfach nicht fähig, die geblümten Hauskleider wegzuwerfen, die ihr Großmutter Reid regelmäßig aus Georgia schickte, also hatte sie sie zu Kissen umgearbeitet. Wenn sie in ihrer Mitte thronte, konnte sie fast spüren, wie ihr achtzigjähriger Schatz sie umarmte.

Tammy hockte auf der Ecke des Sofas, Notizblock in den Händen, ein aufmerksamer Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht. Eifrig. Sehr eifrig.

„Ich habe bei der Telefongesellschaft in Orlando angerufen, um die Nummer und die Adresse zu verifizieren, die Brian O‘Donnell dir gegeben hat“, sagte sie und plapperte munter weiter. „Und dann habe ich bei seiner Familie angerufen. Seine Frau war sehr freundlich und schien sich über meinen Anruf zu freuen. Wir verglichen die äußere Beschreibung, und die passte sogar bis hin zu seinem lenkstangenähnlichen Schnurrbart. Sie betonte, dass sie Brian bei seiner Suche nach seiner Schwester vollkommen unterstützt.“

„Dann weiß sie, dass er hier ist?“

„Oh ja. Sie hat gesagt, dass er vor vier Tagen nach Kalifornien abgereist ist. Ich glaube, sie sagte, dass er mit dem Auto ...“

„Mit dem Auto? Hat er mir nicht erzählt, dass er geflogen ist?“

Tammy schürzte gedankenvoll die Lippen. „Oh ... okay ... vielleicht habe ich sie ja auch missverstanden. Wie auch immer, sie wünschte uns bei der Suche nach Lisa Glück. Sagte, dass es ihnen allen einiges bedeuten würde. Ist das nicht nett?“

„Sehr.“

„Aber da ist noch etwas ...“

„Und was?“

„Abgesehen von den sentimentalen Motiven hat er noch einen anderen Grund, warum er seine Schwester gerade jetzt wiederfinden will.“

Savannah hörte auf, Diamante zu streicheln, und schenkte Tammy ihre volle Aufmerksamkeit. „Du meinst die Erbschaft?“

„Oh, das weißt du schon?“ Tammy wirkte leicht enttäuscht.

„Brian hat sie erwähnt, meinte, es sei nicht viel.“

„Nicht viel? Nun ... wahrscheinlich kommt es darauf an, wie man es sieht, aber für mich sind fünfzigtausend schon eine Menge Geld.“

Savannah dachte an den Stapel unbezahlter Rechnungen auf ihrem Küchentisch. „Ja, ich finde auch, dass es eine Menge Geld ist. Ich frage mich, warum Bruder Brian das Bedürfnis hatte, diesen Aspekt seiner Geschichte halbwegs zu unterschlagen.“ Tammy zuckte die Achseln. „Vielleicht dachte er ja, dass du dich mehr anstrengst, wenn du es für eine Mission der Liebe hältst.“

„Vielleicht.“

Ein prickelndes und ungutes Gefühl machte sich in Savannahs Nacken bemerkbar, ein Gefühl, das ihr durchaus vertraut war, das sie jedoch hasste. In der Hauptsache deshalb, weil es recht zuverlässig bevorstehende Katastrophen ankündigte.

Sie versuchte, das Gefühl in den hintersten Winkel ihres Hirns zu verdrängen und zu ignorieren. Dies war ihr erster Auftrag als Privatdetektivin. Es war herrlich, wieder zu arbeiten.

Und sie wollte nicht, dass irgendetwas diesem Gefühl des Stolzes oder der Erfüllung in die Quere kam. Halt die Klappe!, befahl sie ihm. Und hau ab! Du weißt schließlich nicht alles. Die ganze Sache kann sich als völlig harmlos entpuppen.

„Alles in Ordnung, Savannah?“ Tammy hatte Savannah aufmerksam beobachtet und sah jetzt fast so besorgt aus, wie sie sich fühlte.

„Sicher.“ Sie zuckte leicht mit den Schultern und kicherte, aber es war kein fröhliches Kichern. „Alles in Ordnung.“

Aber egal, was sie Tammy oder sich selbst sagte ... dieses unbehagliche Gefühl wollte einfach nicht verschwinden.

 

Etwa fünfundzwanzig Meilen außerhalb der Stadt, in einer einsamen Hütte am Ufer des Lake Arroyo, versuchte sich eine andere Person ebenfalls davon zu überzeugen, dass trotz ihrer bösen Vorahnungen alles in Ordnung war.

Reid ist gut. Sie wird sie finden. Es dauert nicht mehr lange.

Nervös schritt die Person in der alten Hütte, die nach Moder und Fisch roch, auf und ab. Sie trat auf der Stelle. Wartend, hoffend, sich schmerzhaft nach dem Augenblick sehnend, an dem so viele sorgsam entworfene Pläne und kostbare Träume sich erfüllen sollten. Aber alles hing von Savannah Reids Fähigkeit ab, Lisa Mallock ausfindig zu machen. Und Lisa hatte nicht die Absicht, sich finden zu lassen.

Sorgfältig überprüfte die Person die Utensilien, die auf dem zerschlissenen Bettüberwurf ausgebreitet lagen: dünner Kupferdraht, Wattebäusche und silbernes Klebeband, das Schweizermesser und ... natürlich ... die Pistole.

Das Bühnenbild war perfekt.

Alles, was man jetzt noch brauchte ... war das nicht-ganz-so-unschuldige Opfer. Es würde jetzt nicht mehr allzu lange dauern. Das Warten würde bald ein Ende haben.