Leseprobe Tot am Buffet

Prolog

Jutta ging zum Ausgang des Backstage-Zeltes und spähte hinaus. Auf dem Niederteerbacher Rathausplatz herrschte reges Treiben. Imbiss- und Getränkewagen, ein Schießstand, zwei Losbuden und ein Kinderkarussell hatten sich zu Harrys Fressoase gesellt und waren umgeben von Menschen. Es roch nach Zuckerwatte und Popcorn. Dem süßen Kram konnte Jutta nichts abgewinnen. Sie freute sich darauf, mit Maike, Mark, Zoe und ihren Enkelkindern nach ihrem Chorauftritt etwas Herzhaftes zu essen, wobei sie im Moment nicht sagen konnte, ob sie mehr Appetit auf Currywurst oder Reibekuchen hatte.

Ihre Familie saß vor der Bühne an einem der Biertische und wartete auf ihren Auftritt. Mark hatte den Arm um Zoes Schultern gelegt und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sarah saß neben ihnen und zog ein Gesicht, das deutlich machte, wie ungern sie gerade hier war. Vermutlich hätte sie etwas Besseres vorgehabt. Jutta schmunzelte, als sie die Zwillinge dabei beobachtete, wie sie kichernd um den Tisch herumrannten und sich gegenseitig zu fangen versuchten. Maike genehmigte sich trotz der 30 Grad im Schatten ein Kölsch.

»Na, hab ich zu viel versprochen?«, fragte ihr neuer Chorleiter und schaute über Juttas Schulter hinweg ebenfalls nach draußen. »Ganz Niederteerbach hat sich versammelt. Und da wir gegen den Chor aus dem Nachbarort antreten, werden auch viele Oberteerbacher im Publikum sitzen«

Jutta war dem Chor beigetreten, kurz nachdem Maike nach Niederteerbach gezogen war. Vorher hatte sie dieses Dorf nicht einmal gekannt. Mit ihrem Kölner Chor hatte sie regelmäßig öffentliche Auftritte, mit diesem war es ihr erster. Sie spürte das Lampenfieber als heißes Kribbeln in sich aufsteigen, was wohl vor allem daran lag, dass ihre Familie heute zuschaute.

»Der Oberteerbacher Chor hat ein kleineres Backstage-Zelt und wird nicht verköstigt«, sagte Bürgermeisterin Graefe, die inmitten der anderen Chormitglieder am Büfetttisch stand und von der Käseplatte naschte. Sie strich ihr schickes Kostüm glatt und wandte sich dann dem Chorleiter zu. »Heute werden wir siegen, Herr Lindgraf …« Sie stockte. »Äh, ich meine, wir werden singen.«

Jutta trat zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Wir machen das schon. Trinken Sie mal einen Baldriantee. Oder Sie gehen vielleicht besser mal nach draußen? Im Zelt ist es ganz schön stickig. Nicht, dass Sie noch einen Hitzschlag bekommen. Ihr Talent, andere zu begeistern und zu ermutigen, wird noch gebraucht. Sie müssen schließlich gleich auf die Bühne.«

Die Graefe strahlte wie ein Freudenfeuer. Sie hatte Juttas Worte zweifellos als Kompliment aufgefasst. »Wir geben für Niederteerbach eben alle unser Bestes!«

Dietrich Lindgraf tupfte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Halbglatze und trat beiseite, als sich ein kleiner Mann mit beachtlichem Bauch an ihm vorbei ins Zelt drängte.

»Bienchen, hier steckst du. Ich wollte mal nachschauen, ob die Trophäe inzwischen eingetroffen ist.«

Der Oberteerbacher Bürgermeister ging auf die Graefe zu und legte seine Hände auf ihre Arme. Sie wirkte im ersten Moment wie erstarrt, straffte dann jedoch die Schultern und lächelte ihn übertrieben freundlich an.

»Willy, du alter Schmeichler. Deine Wertschätzung in allen Ehren, aber als Trophäe würde ich mich nun nicht bezeichnen.«

Er ließ sie los und verschränkte die Arme vor der Brust, wobei sein Anzug an den Schultern zu reißen drohte. »Dein Liebreiz ist unvergänglich, aber ich meinte natürlich die andere antike Trophäe: den Taktstock.«

Für einen kurzen Moment entgleisten der Bürgermeisterin die Gesichtszüge. Dann legte sie den Kopf schräg und zupfte sein Einstecktuch zurecht. »Selbstverständlich, ich habe ihn persönlich hergebracht.« Mit dem Kinn deutete sie auf einen schmalen Metallkoffer, der auf einem Klappstuhl lag und so lang war, dass er über die Stuhlseiten hinaus ragte. »Aber mach dir keine allzu großen Hoffnungen, Willy. Der Taktstock wird auch in diesem Jahr unserem Chor als Sieger überreicht werden. Er gehört quasi zum Inventar meines Rathauses. Wir wissen beide, dass du schon in der Schule unmusikalisch warst und erst nachschlagen müsstest, wozu genau man diesen Gegenstand eigentlich nutzt.«

Der Oberteerbacher Bürgermeister kratzte sich am Kopf und brachte dadurch seinen Haaransatz in Bewegung. Seine unnatürliche Haarfarbe war Jutta sofort aufgefallen, und spätestens jetzt war sie sich sicher, dass er ein Toupet trug.

»Liebe Biene, ich war im Musikunterricht zwar nicht der Beste, aber ich meine mich zu erinnern, dass du es warst, die mir in der Tanzstunde auf die Füße getreten ist«, erwiderte er. »In meinem Rathaus gibt es auch ein schönes Plätzchen für das antike Stück.« Er beugte sich der Graefe entgegen. »Unterschätze mich nicht, Bienchen.«

Die Bürgermeisterin hob eine Augenbraue. »Überschätze dich nicht, Willy.« Sie stolzierte aus dem Zelt.

Jutta sah ihr nach, bis Wilhelm Herzog tief durchatmete und ihr folgte. Er blieb am seitlichen Aufgang zur Bühne stehen, während Sabine Graefe diese unter Applaus betrat und ihre Eröffnungsrede hielt.

»Wir sind zuerst dran«, sagte Dietrich Lindgraf und winkte alle Chormitglieder zu sich. »Ab jetzt bitte volle Konzentration. Stellt euch in der richtigen Reihenfolge auf und marschiert auf mein Zeichen auf die Bühne. Ich folge, sobald ihr aufgestellt seid und die Musik einsetzt.«

Alle nickten und gehorchten seiner Anweisung.

Jutta würde das Zelt als Erste verlassen und ihre Chormitstreiter anführen. Sie blickte zu den elf Frauen und sieben Männern hinter sich, die nervös an der Kleidung oder an den Haaren zupften. Dietrich stand wieder am Ausgang des Zeltes und sah nach draußen. Sabine Graefes Stimme hallte durch die Lautsprecher und überlagerte das Stimmengewirr auf dem Platz.

»Heißen Sie nun mit mir unseren Niederteerbacher Chor unter der Leitung von Dietrich Lindgraf willkommen«, rief sie, und wieder setzten Applaus und Jubel ein.

»Jetzt«, sagte Dietrich, nickte Jutta zu und hob bestärkend die Fäuste.

Sie erwiderte die Geste und ging voran. Das Zelt stand nur wenige Meter hinter der Bühne und sie brauchte nicht lange, bis sie die Treppe erreichte. Um nicht zu stolpern, konzentrierte sie sich auf die Stufen und sah auch nicht auf, bis sie ihre Position auf der Bühne eingenommen hatte. Erst dann, während sich ihre Gesangskollegen neben und hinter ihr in drei Reihen aufstellten, suchte sie ihre Familie im Publikum.

Maike hob ihr Kölsch und zwinkerte ihr zu, Mark und Zoe lächelten und klatschten, die Zwillinge riefen nach ihr und sprangen immerzu auf und ab, und Sarah hatte sie mit ihrer Handykamera genau im Visier.

Die Hintergrundmusik wurde über die Lautsprecher eingespielt. Agnes neben ihr räusperte sich leise, sie selbst benetzte mit der Zunge ihre Lippen. Nun konnte es losgehen. Doch von Dietrich Lindgraf war weit und breit nichts zu sehen. Wo blieb er nur?

Die Sängerinnen und Sänger blickten über ihre Schultern zu dem Backstage-Zelt. Da die Musik weiterhin spielte und der Chor stumm blieb, setzte allgemeines Gemurmel ein.

»Wo bleibt er denn?«, flüsterte Agnes. »Langsam wird es peinlich.«

Jutta atmete tief durch. »Ich schau mal nach, wo er bleibt.« Sie setzte ein verkrampftes Lächeln auf und verließ unter den Blicken der Zuschauer die Bühne.

»Was ist hier los?«, erkundigte sich Sabine Graefe, an der sie auf dem Weg zum Zelt vorbeilief. Sofort heftete sie sich an Juttas Fersen.

»Sicher nur eine kleine Verzögerung«, erwiderte sie, beschleunigte ihre Schritte und huschte vor der Bürgermeisterin ins Zelt.

Dort blieb sie so abrupt stehen, dass sie aus dem Gleichgewicht kam und schwankte.

»Dietrich? Was …?«

Jutta sah ihn vornübergebeugt auf dem Büfetttisch liegen und taumelte zurück, als sie die Blutlache sah, die sich unter seinem Kopf und auf der Käseplatte ausbreitete. Sie stieß keuchend den Atem aus, bevor sie aus tiefster Kehle schrie.

1. Kapitel

»Die singen vielleicht so schrecklich, dass der Chorleiter das Weite gesucht hat, bevor er sich mit ihnen blamiert«, sagte Maike, reckte wie Zoe und Mark den Hals und hielt nach dem Mann der Stunde Ausschau. Sie hatte sowieso nicht nachvollziehen können, warum ihre Mutter dem Niederteerbacher Chor beigetreten war. Anscheinend war sie mit ihrem Singsang in Köln nicht ausgelastet, und ständig suchte sie sich neue Hobbys.

Nachdem der Hanfanbau in Frau Kuschels Gewächshaus aufgeflogen war, waren ihre Kräutermischungen binnen weniger Tage ausverkauft gewesen, ebenso wie Juttas Marmeladenkreationen, die die Kuschel in ihrem Blumenladen mit verkauft hatte. Aufgrund der großen Nachfrage hatte Jutta ihre Marmeladenherstellung nicht mehr bewältigen können und aufgegeben. Doch es war sicherlich nur eine Frage der Zeit, bis sie sich wieder einer neuen Sache widmete. Fürs langweilige Rentnerdasein war ihre Mutter einfach nicht geschaffen.

»Sieht so aus, als würde Jutta mal nach ihm sehen«, raunte Zoe, als Jutta die Bühne verließ und das Backstage-Zelt ansteuerte.

»Soll ich auf die Bühne gehen und die Pause mit einem Ständchen überbrücken?«, erkundigte sich Horst lallend. Er saß mit Gabi und Lukas am Nachbartisch und kippte gerade Schnaps in sein Bierglas.

»Bloß nicht«, antwortete Gabi.

Da er sich schwankend erhob, stand sie ebenfalls auf und hielt ihn am Arm fest. Maike konnte nicht sagen, ob sie Horst zurückhalten oder nur stützen wollte. Wenn sie genauer darüber nachdachte, wäre ihr sein Auftritt anstelle der Chöre sogar lieber.

»Du könntest die Verzögerung nutzen und wieder Wetten entgegennehmen«, rief Maike ihm zu und zwinkerte. »Ich tippe auf einen Sieg für Oberteerbach.«

»Maikelein, das ist eine schöne Idee.« Horst legte sich den Zeigefinger auf die Lippen. »Aber lass unsere Bürgermeisterin nicht hören, dass du auf den Feind setzt«, flüsterte er, lachte laut und deutete mit dem Kinn zum Backstage-Zelt, in dem Sabine Graefe soeben hinter Jutta verschwand.

»Ist das öde«, stieß Maikes Nichte Sarah neben ihr aus, stemmte die Ellenbogen auf den Tisch, stützte ihren Kopf mit den Händen und atmete tief durch.

Maike schmunzelte. »Dir ist wohl eher danach, alte Akten zu digitalisieren? Hast du eigentlich Nicholas von Marking hier schon irgendwo entdeckt?«

Sie sah sich nach dem jungen Assistenten der Bürgermeisterin um und entdeckte stattdessen Frau Kuschel, die sich eine selbstgedrehte Zigarette zwischen die Lippen schob und auffällig unauffällig rauchend hinter einem Speisewagen Deckung suchte. Vermutlich roch es gleich auf dem ganzen Festplatz nach Pilzen.

Sarah verdrehte die Augen und ließ Maike damit wissen, was sie von ihrem Kommentar hielt. »Statt unseren Crime-Podcast aufzunehmen, muss ich hier Oma Applaus spenden und Nicholas’ Chefin unterstützen. Diese Rentnerveranstaltung ist echt zum Gäh…«

Ihr blieb das Wort im Hals stecken, als plötzlich ein Schrei das Stimmengewirr der Festbesucher übertönte.

Maike stand auf und versuchte zu lokalisieren, woher er gekommen war. Das war kein Jubelschrei, sondern ein Angstschrei gewesen. Innerhalb einer Sekunde waren die meisten verstummt und sahen sich um. Maike drehte sich um ihre eigene Achse, da drang abermals die grelle Stimme zu ihnen herüber, die Maike erst jetzt als die ihrer Mutter erkannte. Sie schrie eindeutig aus dem Backstage-Zelt um Hilfe.

»Halt die Leute zurück«, rief sie Gabi zu, hielt den Blick starr auf das Zelt gerichtet und rannte los.

Lukas holte sie ein. Sie schoben sich beide gleichzeitig durch den Zelteingang und Maike lief ihrer Mutter regelrecht in die Arme.

Jutta hatte Tränen in den Augen. »Sag mir bitte, dass unser Chorleiter nicht tot ist!«, flehte sie und deutete zum Büfetttisch.

Erst in diesem Moment sah Maike den Mann, der mit dem Oberkörper bäuchlings auf dem Tisch lag, wobei seine Beine über der Tischkante herabhingen.

Lukas versuchte die Fassung zu wahren. »Ich schick die Sanitäter rein.« Er fühlte am Hals nach dem Puls.

Maike trat näher an den bewegungslosen Mann heran, dessen Kopf auf der Käseplatte lag, das Gesicht zur Seite gedreht. Sie blickte in seine weit aufgerissenen starren Augen und seufzte. »Die Sanis nützen hier nichts mehr. Schick mir lieber Zoe. Gabi soll Verstärkung rufen und ihr müsst dafür sorgen, dass niemand den Festplatz verlässt. Wer auch immer diesen Mann auf dem Gewissen hat, kann ja noch nicht weit gekommen sein.«

Die Bürgermeisterin stand neben Maikes Mutter und japste nach Luft. »Bitte nicht schon wieder ein Mord in Niederteerbach!«

»Na ja, bei all dem Blut wird sein Zustand wohl nicht der Käseplatte anzuhängen sein«, entgegnete Maike. »Haben Sie beim Betreten des Zeltes jemanden gesehen oder ist Ihnen irgendetwas anderes aufgefallen?«

Die Graefe schüttelte den Kopf, ihre Mutter, als Maike sie fragend ansah, ebenso.

»Wie geht es dir, Mama? Mark ist draußen. Ich kann auch einen Seelsorger besorgen.« Sie blickte zur Bürgermeisterin. »Falls Sie jemanden zum Reden brauchen …?«

Da keine der beiden reagierte, nickte sie Lukas auffordernd zu, der ihre Geste verstand und die Graefe und Jutta hinausführte.

Maike ließ den Blick durch das Zelt schweifen. An den Zeltwänden standen Klappstühle, auf denen ein länglicher Metallkoffer sowie Handtaschen und Rucksäcke der Chormitglieder lagen. Einen zweiten Ausgang gab es nicht, doch an einer Stelle flatterte der Zeltstoff im lauen Wind, von dem hier drinnen leider nichts zu spüren war.

Sie fuhr sich mit der Hand über den verschwitzten Nacken und trat näher an die gelockerte Zeltwand heran. Anscheinend hatte jemand von außen einen Zeltanker gelöst und war an dieser Stelle hereingekrochen und auch wieder herausgekrochen. Das Kopfsteinpflaster des Marktplatzes war vor Jahrzehnten verlegt worden und viele Steine waren locker. Verdorrte Grashalme ragten aus den mit Sand gefüllten Fugen und waren niedergedrückt. Das musste die Spurensicherung sich genauer ansehen.

Maike griff zu ihrem Smartphone und wählte Walther Pöllers Nummer. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er endlich abnahm.

»Pöller im Liegestuhl«, meldete er sich mit seinem Kölscher Dialekt. »Bei der Hitze wird mich heute keiner von meinem schattigen Plätzchen wegkriegen, Frau Pech. Wenn Sie mich anrufen, schwant mir allerdings nichts Gutes.«

»Ich mag Sie auch«, erwiderte Maike. »Trommeln Sie Ihr Team zusammen. Ich brauche Sie in Niederteerbach. Und beeilen Sie sich bitte. Unter meiner Leiche schmilzt bereits der Käse. Sie können sich den Geruch sicherlich vorstellen.«

»Käse? Was für Käse?«

»Davon können Sie sich gleich selbst ein Bild machen. Rathausplatz Niederteerbach, im Backstage-Zelt hinter der Bühne.«

Pöller schnaubte. »Sie haben jetzt nicht wirklich von einem Zelt gesprochen? Ist Ihnen klar, dass wir heute den bisher wärmsten Tag des Jahres haben?«

»Im Winter beschweren Sie sich ja immer, dass Sie frieren«, entgegnete Maike und legte auf.

Sie konnte sich schon jetzt darauf vorbereiten, neben den Ermittlungen auch noch Pöllers schlechte Laune zu händeln. Ihr rann der Schweiß den Rücken hinab. Das T-Shirt auf ihrer Haut und schien regelrecht mit ihr zu verschmelzen.

»Ich hab gehört, du kannst Unterstützung gebrauchen«, sagte Zoe, während sie das Zelt betrat.

Maike deutete zum Büfett. »Mir ist der Appetit auf Käse endgültig vergangen.«

Zoes Blick glitt zum Tisch. »Ach du meine Güte.« Mit erhobenen Augenbrauen ging sie zu dem Toten und beugte sich über ihn. »Das Blut ist aus einer Wunde am Hals ausgetreten. Die Tatwaffe hat wohl die Schlagader erwischt. Er hat nicht lange gelitten.« Sie sah sich nach Maike um. »Gibt es eigentlich auch mal einen Monat, in dem ihr es in diesem beschaulichen Örtchen nicht mit einer Leiche zu tun habt?«

»Nicht, seit ich hier lebe«, sagte Maike und seufzte. »Passt du bitte auf die Leiche auf, bis der Pöller eintrifft? Ich informiere inzwischen Jens und die Staatsanwaltschaft. Sandro ist momentan im Urlaub.« Sie wandte sich zum Ausgang. »Außerdem muss ich mit Gabi und Lukas die Leute im Zaun halten. Wer auch immer Mamas Chorleiter auf dem Gewissen hat, könnte noch anwesend sein.«

»Maike, ich zerfließe hier drinnen«, hörte sie Zoe noch sagen, während sie aus dem Zelt schlüpfte.

Draußen konnte sie dank der sanften Brise freier atmen. Doch beim Anblick der vielen Menschen, die wild gestikulierend auf Gabi und Lukas einredeten, wäre sie am liebsten sofort in das stickige Zelt zurückgekehrt.

»Frau Pech …« Die Bürgermeisterin kam auf sie zugeeilt. »Das ist eine absolute Katastrophe«, flüsterte sie und beugte sich Maike entgegen. »Auf keinen Fall darf das publik werden. Niederteerbach wird wieder in Verruf geraten. Für Willy ist das ein gefundenes Fressen.« Sie presste die Worte leise zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, wobei sie verkrampft in die Menge lächelte. »Entschuldigung. Fressen ist in diesem Zusammenhang vielleicht das falsche Wort.«

»Okay.« Maike beugte sich Sabine Graefe nun ihrerseits entgegen. »Vorschlag: Ich gehe auf die Bühne und lenke die Festbesucher ab und Sie schaffen die Leiche inzwischen irgendwie aus dem Zelt.«

Die Graefe starrte sie an. »Wie soll ich das denn unbemerkt schaffen? Hier sind überall Leute.«

Maike hob die Augenbrauen. Das klang nicht nach einer klaren Absage.

Der Oberteerbacher Bürgermeister näherte sich. »Was ist denn los?«, erkundigte sich Willy Herzog.

Dessen ungeachtet schob Sabine Graefe Maike in die entgegengesetzte Richtung. »Wir machen es umgekehrt«, flüsterte sie hastig. »Ich sorge für die Ablenkung und Sie kümmern sich um die Leiche. Keine Information zu irgendwem. Vielleicht ist die Situation nicht so schlimm, wie im ersten Augenblick gedacht.«

Maike unterdrückte ein Augenrollen. »Der Tote wird nicht wieder lebendig. Machen Sie sich darauf gefasst, dass hier gleich die Spurensicherung auftaucht. Es ist unmöglich, den Mor…« Sie stockte und sah zu Wilhelm Herzog, der wenige Schritte hinter ihnen stehen geblieben war und sie beobachtete. »… den Vorfall geheim zu halten«, fuhr sie fort. »Alles, was Sie tun können, ist, dafür zu sorgen, dass meine Kollegen und ich hier ungestört unserer Arbeit nachgehen können. Beruhigen Sie inzwischen die Leute, damit wäre uns sehr geholfen.«

Die Bürgermeisterin warf einen Blick zu ihrem Konkurrenten und straffte dann die Schultern. »Selbstverständlich, Frau Pech. Ich werde Sie in allem unterstützen. Mit uns Niederteerbachern sollte sich keiner anlegen. Der oder die Verantwortlichen werden nicht ungestraft davonkommen. Dafür sorge ich höchstpersönlich.«

Maike hatte den Eindruck, die Worte waren unterschwellig an Willy Herzog gerichtet. Sie verwarf den Gedanken und wandte sich von Sabine Graefe ab. Einen Auftragsmord traute Maike Herzog nicht zu, geschweige denn, dass er sich selbst die Finger blutig machte.

Kurz blickte sie noch einmal zu ihnen zurück. Oder doch? Die beiden lieferten sich ein Dorfbattle nach dem anderen. Ihre Konkurrenzkämpfe wurden mit immer härteren Bandagen geführt. Und heute hatten die Chöre gegeneinander hatten wollen. Maike beschloss, diesen Ansatz bei den Ermittlungen nicht außer Acht lassen.

Bevor sie sich ins Getümmel stürzte, rief sie ihren Chef an und informierte ihn über die Ereignisse.

»Du ziehst das Chaos wirklich an«, sagte Jens, nachdem sie ihren Bericht beendet hatte. »Ich informiere die Staatsanwaltschaft und du hältst mich auf dem Laufenden.«

»Mach ich«, erwiderte sie und legte auf. Sie nahm die Menschen auf dem Festplatz wieder ins Visier. War einer der Anwesenden der Täter, der sich unter die Dorfgemeinschaft mischte, um seine Tat zu verschleiern? Oder hatte sich der Mörder oder die Mörderin längst aus dem Staub gemacht?

Sie atmete tief durch und ging auf die Meute zu.