Leseprobe Tot im Gewächshaus

Prolog

„Aber die Ranunkeln können nicht die Schuld daran tragen.“

Sandra Kuschel wurde ganz schlecht. Ja, sie hatte endlich herausbekommen wollen, warum ihr eine Hanfpflanze nach der anderen einging. Dafür hatte sie Frau Melusine ja extra aus Quedlinburg hierherkommen lassen – mit einem Zugticket erster Klasse, selbstverständlich. Schließlich war Frau Melusine ein deutschlandweit anerkanntes Medium und eine Lichtheilerin. Wenn jemand herausfinden konnte, was mit dem Hanf nicht stimmte, dann sie. Zu erfahren, dass sich ihre Pflanzen auf kosmischer Ebene nicht miteinander vertrugen, war trotzdem ein herber Schlag. Und dass ausgerechnet die Ranunkeln die Unruhestifter sein sollten! Schlimm!

„Sie sind doch die Blumen der Liebe“, murmelte sie verzagt.

„Tja“, erwiderte Frau Melusine unerbittlich. „Diese hier sind jedenfalls ziemlich eifersüchtig. Spürst du denn all diese negativen Schwingungen nicht?“

Unsicher betrachtete Sandra Kuschel die pinkfarbenen Blüten im Hochbeet. Auf sie wirkten sie ganz normal. Und ein Blumenladen ohne Ranunkeln, das ging gar nicht! Wenn sie selbst keine anbauen konnte, musste sie sie wieder für viel Geld vom Großhändler beziehen. Andererseits: Auf den Hanf konnte sie noch viel weniger verzichten.

„Herrjemine.“

„Nun schau nicht so bedröppelt, Sandra. Ich bin ja hier. Und du hättest dir keine bessere Nacht dafür aussuchen können. Schau mal nach oben.“

Sandra legte den Kopf in den Nacken und starrte durch das Glasdach ihres Gewächshauses in den wolkenlosen Junihimmel. Der Mond und die Sterne strahlten so hell, dass sie den Baustrahler im Gewächshaus gar nicht gebraucht hätten.

„Der Vollmond?“, fragte sie hoffnungsvoll.

Frau Melusine stellte sich hinter sie und legte ihr beruhigend die Hände auf die Schultern. „Genau. Weißt du, was wir jetzt machen?“

„Nein.“

Die Lichtheilerin hatte offensichtlich keine andere Antwort erwartet. „Wir räuchern die ganzen schlechten Energien einfach aus.“

Sandra faltete andächtig die Hände und blickte hinüber zu dem Berg völlig vertrockneter Hanfpflanzen, der inzwischen so groß geworden war, dass sie dafür einen eigenen Komposthaufen hatte anlegen müssen. Das ging nicht so weiter. Sie beobachtete, wie das Medium aus seiner goldbestickten Tragetasche eine Bronzeschale und Räucherkohle holte und alles vorbereitete.

„Hier, häng die um.“ Frau Melusine reichte ihr eine Kette aus grünen Steinen.

„Ist das Chrysopras?“, fragte sie und strich mit der Fingerkuppe vorsichtig über die glatte Fläche.

Frau Melusine nickte. „Gut gegen Eifersucht.“

„Aber ich bin doch nicht eifersüchtig, sondern die Ranunkeln.“

Die Lichtheilerin warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Erinnerst du dich daran, was du mir über deinen letzten Ehemann erzählt hast?“

Es war wohl besser, darauf nicht zu antworten. Wenn sie auch nur an Peter dachte, kam ihr die Galle hoch.

„Behalt die Kette nach heute Nacht einfach“, schlug ihr das Medium großzügig vor.

„Das kann ich nicht annehmen. Sie ist viel zu kostbar.“

„Natürlich kannst du das. Sie wird dir guttun. Ich setze sie einfach mit auf die Rechnung.“

Mit dem sich kräuselnden Rauch zog der starke Geruch von Patschuli durch das Gewächshaus und vermischte sich mit dem Duft der Pflanzen. Sandra schloss die Augen und atmete genüsslich durch die Nase ein. Ja! Sie fühlte bereits jetzt, wie alle negativen Gefühle ihren Körper verließen. Sicher ging es dem Hanf genauso. Oder den Ranunkeln?

„Kannst du eines der Dachfenster öffnen?“, drang die Stimme der Lichtheilerin zu ihr durch. „Damit der Rauch die dunkle Energie mit sich nach draußen nehmen kann.“

Sandra öffnete die Augen und nickte. „Ich kann es kippen.“

Sie zog an der Schnur und machte sich sogleich ein bisschen Sorgen um ihre zarten Pflänzchen, die es warm und behaglich haben sollten. Aber es war Sommer und wenn es Frau Melusine und ihr nicht gelang, die dunkle Energie in die Nacht abzuleiten, war es für den Hanf bestimmt zu spät.

„Kannst du es bereits spüren, meine Liebe?“, fragte das Medium entrückt. „Spürst du, wie der Rauch die gelben Klauen der Eifersucht von den zarten Pflanzenstängeln löst und mit sich nimmt?“

„Ja“, behauptete Sandra, weil sie nicht zugeben wollte, dass sie außer dem herrlichen Patschuli-Geruch und einem Kribbeln auf der Haut gerade gar nichts wahrnahm. Wieder schloss sie die Augen, um sich ganz dem Ritual hinzugeben.

„Ich sage dir“, versprach ihr Frau Melusine, „dein Hanf wird gedeihen! Mit meinem Geist-Auge kann ich sehen, dass er von innen heraus leuchtet. Er wird jeden in deinem schönen kleinen Örtchen verzaubern. Die Leute werden in seinem Duft baden und von nichts Anderem sprechen.“

Sandras Herz begann schneller zu schlagen. „Glaubst du?“

„Gewiss“, befeuerte Frau Melusine ihre Hoffnungsfantasien. „Nimm eines davon“, forderte Frau Melusine sie auf.

Sandra öffnete die Augen und sah, dass die Lichtheilerin die Schale mit dem Rauchwerk mitten in das Hochbeet gesetzt hatte. Zudem schwenkte sie ein Räucherbündel aus getrockneten Kräutern, das bereits brannte.

Sandra nahm es ihr ab. „Ich frage mich, ob das eine gute Idee ist?“ Sie deutete mit dem Kinn auf die Schale mit den glimmenden Kohlen.

„Aber ja.“ Frau Melusine entzündete ein zweites Räucherbündel. Der Geruch, der sich jetzt im Gewächshaus ausbreitete, war beißender und schärfer.

„Und wenn die Blumen Feuer …“, begann Sandra, doch die Lichtheilerin unterbrach sie.

„Wir sind doch da. Was soll da passieren? Du musst vertrauen haben, Sandra. Sonst bringt das hier alles nichts. Gerade du solltest um die Kräfte der Pflanzen wissen. Hab Vertrauen in die Macht der Natur. Und jetzt: Wedeln!“

Energisch schwang Frau Melusine das glühende Kräuterbündel hin und her. Sandra tat es ihr gleich. Unter das Räucherwerk hielten sie große Muscheln, mit denen sie die herabfallende Asche auffangen konnten. Die dicken Schwaden stiegen Sandra beißend in die Nase.

Was war das für eine Geruchsmischung? Salbei erkannte sie. Aber da war noch etwas Anderes. Süßlich irgendwie, aber gleichzeitig etwas, das ihre Kehle reizte und ihre Nasenschleimhaut kitzelte. Und das dafür sorgte, dass sie sich leichter und leichter und leichter fühlte.

Sandra schlüpfte aus ihren spitz zulaufenden Holzpantoffeln, die plötzlich viel zu schwer waren. Beschwingt trippelte sie durch ihr Gewächshaus und verteilte die Rauchschwaden über ihren geliebten Pflanzen: den Rosen, dem Thymian, dem Hanf, und ihren wunderbaren, aber ziemlich ungezogenen Ranunkeln.

Alles würde gut werden.

„Spürst du es, Sandra?“, fragte Frau Melusine erneut.

Diesmal nickte sie aus vollem Herzen. Sie spürte, wie sich sämtliche dunkle Energie, die sich im Gewächshaus angesammelt hatte, verdichtete und mit dem Rauch nach draußen getragen wurde. Hinaus in die Nacht.

„Hinaus zu den Sternen.“

Sie begriff erst, dass sie laut gesprochen hatte, als die Lichtheilerin ihr mit glücklichem Lachen antwortete.

„Richtig, liebe Sandra, richtig. Der Rauch trägt die schreckliche gelbe Eifersucht hinaus zu den Sternen und der volle Mond badet uns in seinem heilenden Licht. Vertrau auf den Himmel, Sandra. Vertrau auf das Licht des Mondes. Kannst du es spüren, du Gute? Kannst du es hören?“

Erneut stieß das Medium ein glückliches Lachen aus.

Sandra hielt den Atem an. „Es hören?“, fragte sie und spitzte die Ohren. „Das Mondlicht?“

„Ja!“ Frau Melusine kicherte. „Es singt. Der Mond singt für uns. Er …“

Ohrenbetäubendes Klirren unterbrach die Lichtheilerin. Ein dumpfer Schlag, ein Geräusch wie von splitterndem Glas schnitt durch die Nacht.

„Ich kann es hören!“, rief Sandra glücklich, während etwas Großes, Schweres direkt vor ihnen auf dem Hochbeet landete.

Frau Melusine schrie erschrocken auf.

Sandra zuckte zusammen. Sie hielt das Räucherbündel von sich weg, dessen Qualm ihre Augen reizte, und blinzelte einmal, dann noch einmal.

Die Lichtheilerin hörte nicht auf zu schreien.

Es dauerte, bis auch Sandra begriff, was der Mond ihr geschickt hatte. Was gerade geschehen war.

Das Räuchergebinde fiel ihr aus der Hand.

Während sie auf den reglosen Körper der Frau starrte, der durch ihr Glasdach gekracht und auf die Ranunkeln gestürzt war, bemerkte Sandra Kuschel nicht, dass ihr glimmendes Räucherbündel direkt in den ausgemisteten Hanf gefallen war und diesen entzündete.

Kapitel 1

Es war mitten in der Nacht und dunkler, als es hätte sein dürfen. Wolken hingen vor dem Mond und das einzige Licht kam von Maikes winziger Smartphone-Taschenlampe, deren Strahl in dieser Umgebung etwas Verlorenes anhaftete. Vielleicht auch, weil ihre Hand zitterte, als sie endlich vor der Scheune stand. Wie oft sie bereits hierhergekommen war, auf dieses verfallene Gehöft außerhalb von Niederteerbach. An diesen trostlosen Ort mit den eingeschlagenen Fensterscheiben, den staubigen Fluren – und der Scheune, dem Tor zu ihrer persönlichen Hölle. Maike war keine Kirchengängerin, aber hätte sie den Hof von Hans und Johanna Wagner beschreiben müssen, sie hätte ihn „gottlos“ genannt. Das Ehepaar Wagner war schon lange tot. Und doch führten alle Spuren zu Billie über die Sargfabrik zu diesem Hof.

Obwohl sie wusste, was sie im Inneren erwartete, trieb es sie vorwärts. Sie schob das Scheunentor auf und trat ein. Stroh raschelte unter ihren Füßen. Die Luft roch nicht mehr nur noch abgestanden und nach verwitterndem Holz, sondern auch scharf, fast beißend. Vermutlich hatten sich Tiere aus dem Wald hereingestohlen und in den Ecken ihr Geschäft verrichtet. Ob es auch so gerochen hatte, als …

Nein! Sie verbot sich den Gedanken.

Wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, ging Maike weiter. Schritt für Schritt auf die Stelle zu, wo eine Bodenluke aus Metall den Eingang in eine unterirdische Zelle verschloss. Sie hätte diesen Weg auch mit geschlossenen Augen und ohne die Taschenlampe gefunden, so oft war sie ihn gegangen. Vielleicht wäre das sogar besser gewesen, denn ungnädig entriss das grelle Licht Dinge der Dunkelheit, auf deren Anblick sie liebend gern verzichtet hätte. Die scharfe Kante der Luke, ein Fleck, von dem sie wusste, dass es sich nur um Rost handelte, der sie jedoch immer wieder an Blut erinnerte. Die ersten Stufen der knarzigen Holztreppe, die nach unten führten.

Warum tust du dir das immer wieder an?, fragte sie sich.

Maike spürte, wie sich ihr Magen und ihre Kehle gleichzeitig zusammenzogen. Trotzdem stolperte sie weiter, die Holztreppe hinunter, tiefer und tiefer, bis die Luft so sauer und abgestanden schmeckte, dass sie glaubte, nicht mehr atmen zu können. Mit der freien Hand klammerte sie sich an das raue Holz und zählte bis zehn.

Wie gern hätte sie jetzt das Smartphone ausgeschaltet. Wie gern hätte sie sich erspart, was jetzt kam.

Doch sie war es sich schuldig. Und Zoe auch. Und Billie.

Maike drehte sich um, ließ den Blick durch den kleinen Raum schweifen, der ungefähr so groß war wie ihr eigenes winziges Kinderzimmer damals. Eine verdreckte Matratze lag auf dem Betonboden. An der Seite war sie aufgerissen und ihr Innenleben quoll daraus hervor wie aus einer Wunde. Eine löchrige Decke lag darauf und ein Federkopfkissen, viel zu groß im Vergleich mit den anderen Gegenständen. Und wie zum Hohn mit einem fröhlichen Bezug: rote Autos auf blauem Grund, die Farben verblasst von den Jahren, in denen es hier gelegen hatte.

Ein uralter Walkman lag neben der Matratze. Ein Becher aus Holz. Die zwei Hälften eines auseinandergerissenen Comic-Taschenbuchs. Ein Nachttopf.

Bei seinem Anblick wurde Maike noch mulmiger, nicht wegen des schauderhaften Geruchs, der von ihm ausging, sondern weil sie wusste, was er bedeutete. Jahre der Qual. Wie viele waren es gewesen?

Obwohl ihr das Atmen immer schwerer fiel, konnte sich Maike nicht dazu bringen, ihren Blick vom Nachttopf loszureißen. Weil das, was sie sehen würde, wenn sie sich umdrehte, noch schlimmer war. Viel, viel schlimmer.

Also stand sie da und wartete. So wie jedes Mal. Mit fest zusammengepressten Lippen zwang sie sich, reglos zu bleiben. Dann spürte sie die leichte Berührung am Nacken, ersehnt und verhasst. Obwohl sie darauf gewartet hatte, richteten sich die Härchen auf ihren Armen auf. Wieder spürte sie den Faden an sich zupfen. Er zwang sie, sich umzudrehen. Langsam. Ganz langsam.

Sie war nicht mehr allein im Raum. Jemand stand ihr gegenüber, eine Person, die sie einmal gut gekannt hatte. Billie sah noch genau aus wie damals: die roten Haare gerade so lang, dass sie sie zu einem winzigen Zopf zusammenbinden konnte; die Sommersprossen auf der jugendlichen Haut, in die sich noch keine einzige Falte eingegraben hatte.

Und niemals eingraben würde, dachte Maike.

Billie trug die gleiche Kleidung wie an dem Abend, an dem sie verschwunden war: die dunkle Jeans, das sonnengelbe T-Shirt. Und um ihr Handgelenk baumelte das Freundschaftsbändchen.

Sie atmete nicht. Ohne den Mund zu öffnen, sagte sie: „Es ist zu spät. Viel zu spät.“

Die Kälte in den Worten ihrer toten besten Freundin ließ Maike zurückzucken. Sie fütterte die Vorwürfe, die sie sich selbst machte, schon seit langer Zeit, vor allem aber seit dieser Nacht im März, ihrem vierzigsten Geburtstag, als sie und Zoe auf den Hof des verstorbenen Ehepaares Wagner gekommen waren und Billies Leiche entdeckt hatten.

Da hatte sie nicht ausgesehen wie jetzt in der Erinnerung. Oder wie damals, in der Nacht ihres Verschwindens.

Alles, was von Billie übriggeblieben war, waren ihre Knochen, ein wie im Wahn grinsender Totenschädel und Fetzen von Kleidern, denen Staub, Schimmel und Moder so zugesetzt hatten, dass man sie kaum noch als solche erkannte.

Das Skelett hätte jeder sein können. Doch sowohl Zoe als auch Maike hatten in jener Nacht instinktiv gewusst, dass sie ihre verschwundene Freundin endlich gefunden hatten. Die Spurensicherung und die Rechtsmedizin hatten dieses Gefühl später bestätigt.

Das Gebiss des blanken Totenschädels, es war Billies Gebiss.

Die Bruchstelle im rechten Unterarmknochen des Skeletts: Es war Billies Bruch, den sie sich als Vierzehnjährige bei einem Treppensturz zugezogen hatte.

Und viele kleine andere Dinge, die Zoes Kollegen herausgefunden hatten, die Maike jedoch gar nicht brauchte.

Sie hatte es gewusst.

Sie hatten Billie gefunden. Zu spät. Viel zu spät.

Billies Geist hatte recht. Sein Arm schoss vor und packte Maikes Kehle. Entsetzt konnte sie beobachten, wie Billies Haut bleich wurde, dann grau – und verschrumpelte. Wie das Fleisch und die Sehnen sich zusammenzogen, kleiner wurden und dann wie Kerzenwachs zu Boden tropften und den blanken Knochen zurückließen. Der überwältigende Gestank von Verwesung schlug auf Maike ein und sie musste würgen. Sie versuchte, Billies Klammergriff zu lösen, doch ihre freie Hand rutschte am glatten Knochen ab.

„Warum hast du meinen Mörder noch nicht gefunden?“, grollte die Tote!

„Das werde ich!“, erwiderte Maike – und fuhr aus dem Schlaf hoch.

Um sie herum war es dunkel und ihr Herz klopfte wie wild.

„Was wirst du?“, hörte sie Zoes verschlafene Stimme, und während Maike versuchte, die Reste des Albtraums abzuschütteln und die Tränen in ihren Augenwinkeln wegzublinzeln, begriff sie, wo sie war: Nicht in der Kerkerzelle unter der Scheune des Wagner-Hofes, sondern auf dem Dachboden der Schwäfels, auf dem bequemen Luftbett, das Zoe extra für sie angeschafft hatte.

„Geht schon“, murmelte sie. „Hab nur schlecht geträumt.“

Ihre beste Freundin erhob sich von der dünnen Decke neben dem Luftbett und schaltete das Licht an. „Alles in Ordnung?“

Maike nickte.

Zoe setzte sich neben sie und das Luftmatratzenbett ächzte.

„Hast du wieder von Billie geträumt?“

„Ja. Ich war in der Scheune. In ihrem Gefängnis“

Sie erhob sich abrupt und sammelte ihr Sweatshirt und die Jeans auf, die neben den Gläsern und den leeren Flaschen lag. Es war ein feuchtfröhlicher Abend gewesen, mit zu viel Wein für Zoe und zu viel Kölsch für Maike. Obwohl es warm war, fröstelte sie, als sie ihr Pyjama-Oberteil auszog.

„Was hast du vor?“, fragte Zoe und starrte auf ihr Smartphone-Display. „Elf nach drei. Es ist mitten in der Nacht.“

Maike schlüpfte in das Sweatshirt. „Ich kann jetzt nicht schlafen. Nicht, solange ihr Mörder noch frei herumläuft.“

Zoe seufzte. „Den werden wir heute Nacht aber auch nicht schnappen.“

Während Maike sich die Jeans anzog, sah sie, dass ihre beste Freundin ebenfalls nach ihren Kleidern angelte.

„Und jetzt?“, wollte Zoe wissen, nachdem sie beide angezogen waren.

„Spaziergang?“, fragte Maike hoffnungsvoll.

„Spaziergang“, stimmte Zoe zu.

Sie schlichen die Klappleiter vom Dachboden hinab, durch den Flur im ersten Stock, dann die Treppe nach unten. Sie weckten niemanden, noch nicht einmal Nele, den Golden Retriever der Familie Schwäfel.

Als sie aus der Haustür traten, warf Maike einen Blick in den Himmel. Keine Wolken. Vollmond. Ganz anders als in ihrem Albtraum. Warum fühlte es sich dennoch so an, als würde Billies Geist sie begleiten?

Maike beschleunigte ihre Schritte. Die Wohnsiedlung in Köln-Junkersdorf, wo Zoe mit Maikes Bruder Mark und den drei Kindern lebte, wirkte wie ausgestorben.

Ausgestorben. Was war das überhaupt für ein Wort? Warum benutzte man es, um eine Gegend zu beschreiben, in der einfach nichts los war? In der alle friedlich in ihren Betten schlummerten, die Häuser durch Alarmanlagen gesichert?

„Wenn ich von ihr träume“, sagte Maike, „sieht sie aus wie früher. Weißt du noch, das gelbe T-Shirt, das sie so gern getragen hat?“

„Die Jungs haben sie deshalb Pumuckl genannt“, erinnerte sich Zoe. „Aber da stand sie drüber.“

Maikes Stimme wurde dunkel. „Und dann verwandelt sie sich jedes Mal wieder in dieses … Skelett.“

Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Zoe die Arme um sich schlang.

„Ich kann sie gar nicht mehr anders sehen. Jedes Mal, wenn ich versuche, mir ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen, sehe ich nur dieses furchtbare Loch und den gebrochenen Knochen am Hinterkopf des Schädels.“ Sie schluckte. „Alle haben mich gewarnt, nicht in den Obduktionssaal zu gehen.“

„Aber du hattest Billie … das, was von ihr übrig war, ohnehin bereits im Kerker unter der Scheune gesehen.“

„Ich hätte mich trotzdem fernhalten und die Leichenschau Thomas überlassen sollen.“

Als hätten sie sich verabredet, blieben Maike und Zoe gleichzeitig stehen und schauten sich an. Im Licht der Straßenlaterne wirkte Zoes cremefarbener Hosenanzug fast schneeweiß. Selbst nach einem weinseligen Abend, ein paar Stunden Schlaf und weit nach Mitternacht sah Zoe-Iyeke Schwäfel aus wie vor einer Pressekonferenz. Ganz so, als habe sie alles im Griff und würde von nichts aus der Bahn geworfen werden können. Ihre Augen verrieten allerdings, dass es in ihr anders aussah.

Maike griff nach Zoes Hand. „Ich verstehe, dass du in den Obduktionssaal musstest.“

Zoes Finger schlossen sich fest um ihre. „So wie du es nicht der SoKo Billie überlassen kannst, den Mord aufzuklären.“

„Die SoKo!“, stieß Maike genervt aus. „Die tappen doch genauso im Dunkeln wie ihre Vorgänger vor über 20 Jahren.“

Drei Monate war es jetzt her, dass sie die Leiche ihrer besten Freundin gefunden hatten. Und noch immer waren sie ihrem Mörder kaum einen Schritt näher.

Langsam gingen Maike und Zoe weiter. Sie bemerkten erst, dass sie den Weg zu Maikes und Marks Elternhaus eingeschlagen hatten, als sie fast davorstanden. Diese Nacht schien den Geist der Vergangenheit zu atmen.

„Vielleicht erfahren wir morgen Abend endlich mehr“, sagte Maike. „Da kommt Martin zu mir.“

Zoe schmunzelte. „Scheint ja gut zwischen euch zu laufen.“

„Tut es das?“

„Na ja schon, oder? Du triffst ihn momentan fast häufiger als mich. Er wohnt ja schon fast bei dir.“

„Er wohnt in Berlin“, stellte Maike schnell klar.

Zoe zwinkerte ihr zu. „Momentan nicht. Momentan lebt er in einem kleinen Hotel in Köln.“

„Weil er sich temporär hat versetzen lassen, um in der SoKo Billie zu arbeiten, nicht wegen mir.“

Zoe gab nicht auf. „Weil er weiß, wie wichtig dir dieser Fall ist. Red‘ das nicht klein und such nicht nach Ausreden, Maike. Er mag dich ziemlich gern. Und das ist toll. Jedenfalls, solange du nicht nach der Aufklärung des Falls zurück nach Berlin ziehst.“

Maike murmelte etwas Unverständliches. Sie wusste, dass Zoe recht hatte. Martin war kompetent, pragmatisch – und mit seinem Dreitagebart, seinem Knackarsch und den schönen Augen auch äußerst attraktiv. Inzwischen war er definitiv mehr für sie als nur ein Kollege. Nur was sie beide füreinander waren, darüber war sich Maike noch nicht ganz im Klaren. Und dann war da ja auch noch …

„Hast du schon mit Sandro gesprochen?“, fragte Zoe, als könnte sie ihre Gedanken lesen.

Maikes Schultern versteiften sich. „Noch nicht.“ Und zugegebenermaßen hatte sie deswegen ein schlechtes Gewissen. Staatsanwalt Sandro Grasso war mit seiner beherrschten Art, seinem ruhigen Auftreten und seinem Anzug-und-Krawatte-Kleiderstil ein ganz anderer Typ als Martin und – sollte er sie doch verklagen! – sie mochte beide. Sehr.

Sandro war für sie dagewesen nach der schrecklichen Nacht in der Scheune und allem, was darauf gefolgt war. Er hatte sie am Wochenende zu Ausflügen abgeholt, um sie abzulenken, hatte mit ihr geredet oder geschwiegen, je nachdem, was ihr lieber gewesen war. Und obwohl Maike zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, was da nun genau zwischen Martin und ihr entstand – oder zwischen Sandro und ihr –, hatte an einem Abend eines zum anderen geführt und Sandro und sie waren sich sehr nahe gekommen.

Mehr als einmal. Und sie hatte es genossen.

Seit Martin jedoch wegen seiner Arbeit in der SoKo nach Köln gekommen war, hielt sie Sandro auf Abstand. Was gar nicht so leicht war, wenn man beruflich ständig miteinander zu tun hatte.

„Er ist mir gestern in der Rechtsmedizin über den Weg gelaufen“, sagte Zoe. „Hat mich gefragt, wie es dir geht.“

„Oh.“

„Ja“, entgegnete Zoe. „Klang fast so, als ob du seine Anrufe ignorierst.“

„Natürlich nicht, er ist der Staatsanwalt.“

„Ha ha“, sagte Zoe. „Ich meine seine privaten.“

„Würde ich nie tun.“

„Nein. Du doch nicht.“

Maike blickte sie an. „Ich bin doch kein Teenager mehr. Ich schwöre, wenn er jetzt anrufen würde …“

Ihr Smartphone klingelte.

Zoe riss die Augen auf und Maike versteifte sich.

Das Smartphone klingelte weiter.

„Das ist er nicht“, behauptete Maike, während sie das Gerät aus ihrer Hosentasche fischte. „Siehst du.“ Demonstrativ hielt sie Zoe das Display vor das Gesicht. „Unbekannte Nummer.“

„Nachts um halb vier“, sagte Zoe skeptisch. „Wer ruft denn um diese Zeit mit unterdrückter Nummer an?“

„Finden wir es heraus“, sagte Maike und tippte auf den grünen Kreis mit dem Hörer.