Leseprobe Tote Fische fängt man schneller

Prolog

Er stand auf dem asphaltierten Weg oben auf dem Deich und starrte in die Schwärze, die die Grenze zwischen Meer und Himmel verschwinden ließ. Nur die Lichter der Frachtschiffe, die irgendwo da draußen waren, gaben einen Hinweis darauf, wo sich der Horizont befand.

Von der See her wehte ein kühler Wind an Land, der recht schwach ausfiel, wenn man sich vor Augen hielt, dass es hier in Zeeland für gewöhnlich um einiges stürmischer zuging. So ließen sich immerhin die für Ende Oktober typisch niedrigen Temperaturen gut aushalten. Hauptsache, es regnete nicht, sagte er sich.

Sein Blick wanderte von links nach rechts, aber nirgends war der Mann zu sehen, der sich mit ihm verabredet hatte. Weder bewegte sich jemand durch den Lichtkegel der in großen Abständen aufgestellten Laternen, noch waren die Umrisse einer Person in den dunklen Abschnitten dazwischen zu sehen.

Er sah auf die Uhr. Kurz nach elf. Am liebsten wäre er gegangen, aber er wusste, der andere Mann würde noch auftauchen. Er hatte nie zu den pünktlichsten Menschen gehört, und daran würde sich vermutlich auch nichts mehr ändern.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung. Er drehte den Kopf nach links und entdeckte einen Radfahrer, der sich ihm zügig näherte. Das konnte aber der Mann nicht sein, auf den er wartete. Denn auf einem Fahrrad wäre der so wie er selbst keine zwei Meter weit gekommen, weil der Gleichgewichtssinn nicht mitspielen wollte.

Auf dem Rad saß eine junge Frau, die einen Mantel und eine Wollmütze trug. Lange blonde Haare flatterten im Wind, während sie auf der Deichkrone entlangfuhr. Als sie näher gekommen war, nickte er ihr zu, doch die Frau nahm von ihm keine Notiz. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem plärrenden Smartphone, das sie auf den Lenker geklemmt hatte. Als sie an ihm vorbeigefahren war, konnte er sehen, dass sie mit irgendwem ein Videotelefonat führte, was erklärte, dass sie nichts um sich herum wahrnahm. Es würde ihn nicht wundern, wenn er morgen in den Nachrichten hören würde, dass am Deich bei Zuiderdijk eine Frauenleiche entdeckt worden war. Er selbst hätte nur einen Schritt nach vorn machen und ihr einen Stoß versetzen müssen, um sie vom Rad zu stoßen und zu überwältigen, ehe sie überhaupt wusste, was geschehen war.

Das rote Rücklicht ihres Rads war mittlerweile kaum noch zu sehen, und er richtete seine Aufmerksamkeit auf die See und auf das Meeresrauschen, das eine sehr beruhigende Wirkung auf ihn hatte.

Ein doppelter Piepston ließ ihn hochschrecken, so sehr hatte ihn das Rauschen in den wenigen Minuten entspannen können. Irritiert sah er sich um, konnte aber nicht sagen, woher das Geräusch gekommen war. Dann ertönte es wieder. Diesmal bemerkte er ein Blinken auf dem Parkplatz am Deich. Eines der Autos war offenbar per Fernbedienung ent- und wieder verriegelt worden. Zu sehen war kein Mensch, doch irgendjemand musste mit der Fernbedienung seines Wagens spielen. Er kniff die Augen zusammen und suchte die Umgebung ab, konnte jedoch niemanden entdecken.

Er wusste, der Wagen hatte schon dort gestanden, als er hergekommen war, und daher wusste er auch, dass niemand in diesem Wagen gesessen hatte. Er konnte auch nicht in der Zwischenzeit eingestiegen sein, weil dann schon früher das Geräusch zu hören gewesen wäre. Aber wo hielt sich derjenige auf, der die Fernbedienung in der Hand hielt?

Plötzlich bewegte sich etwas vor seinem Gesicht, aber was es war, konnte er nicht sagen. In der nächsten Sekunde legte sich etwas Dünnes, Kaltes um seinen Hals und zog sich schnell zusammen. Ein Draht!, ging es ihm durch den Kopf. Doch seine verzweifelten Bemühungen, sich von dem Draht zu befreien, waren zum Scheitern verurteilt, da der sich schon zu tief ins Fleisch geschnitten hatte und er ihn mit den Fingern nicht mehr zu fassen bekommen konnte.

Er versuchte zu atmen, aber es gelang ihm nicht. Ihm wurde schwarz vor Augen. Das Letzte, was er wahrnahm, war eine Stimme dicht neben seinem Ohr.

„Reingelegt“, flüsterte ihm jemand zu.

1. Kapitel

Jenny van Oosterburg stand an der Empfangstheke und betrachtete den Zweiertisch ganz vorn im Speisesaal, der nach wie vor für einen Gast gedeckt war. Für einen Gast, der allem Anschein nach verschwunden war.

„Soll ich abräumen?“, fragte ihre Angestellte Sietske, die sich seit ein paar Tagen mit einer feuerroten Kurzhaarfrisur präsentierte, an deren Anblick sich Jenny noch immer nicht gewöhnt hatte. Das würde wohl auch eine Weile so bleiben, da es ihr schwerfiel, das neue Aussehen zu akzeptieren. Bis vor Kurzem war die junge Frau mit bis tief in den Rücken reichenden, tiefschwarzen Haaren gesegnet gewesen, die ihren von Natur aus dunklen Teint unterstrichen hatten.

„Hm? Oh. Nein, noch nicht“, antwortete sie, als sie sah, dass Sietske auf den Zweiertisch zeigte. Das Frühstücksbuffet war vor wenigen Minuten abgeräumt worden. Natürlich gab es auch danach die Möglichkeit, ein Frühstück zu bestellen, weil ihre Gäste es zu schätzen wussten, wenn sie nicht auch im Urlaub mit starren Vorschriften konfrontiert wurden, von denen sie im Alltag schon mehr als genug hatten. Sollte ihr verschollener Gast gleich zur Tür hereinspaziert kommen, dann würde er dennoch ein Frühstück serviert bekommen, wenn er es wollte.

„Guten Morgen!“ Eine Männerstimme riss sie auf Deutsch aus ihren Gedanken, die ihr irgendwie vertraut war, aber einen Akzent aufwies, den sie so nicht in Erinnerung hatte.

Sie sah zur Eingangstür, wo ein großer Mann mit grauem Bart und grauen Haaren stand, die er zurückgekämmt und zum Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Er trug eine dicke Stoffjacke, die den mittlerweile herrschenden Temperaturen durchaus angemessen war, und in jeder Hand hielt er einen altmodischen Koffer, die offenbar keine Rollen hatten, auf denen er die beiden hinter sich hätte herziehen können.

„Guten Morgen“, erwiderte sie zögerlich, da sie noch nicht so genau wusste, wo sie diesen Mann hinsortieren sollte. „Was kann ich für Sie tun?“

„Erst mal kannst du zum Du zurückkehren, Blondie“, sagte er, grinste sie breit an und kam näher. Dann stellte er die Koffer ab.

Sie kniff die Augen zusammen und murmelte: „Niemand wagt es, mich Blondie zu nennen …“

„Außer …?“

„… außer Rainer Trompeter“, führte sie den Satz zu Ende und schüttelte den Kopf. „Bist du das wirklich, Rainer?“

"Tja, entweder bin ich es oder ich bin ein anderer und trage nur eine Maske, die aussieht wie ich“, konterte er. „Was meinst du?“

„Das werde ich schon herausfinden“, sagte sie. „Wenn du anfängst, zu schreien, sobald ich versuche, dir die Maske vom Gesicht zu reißen, weiß ich ja, ob ich einen Betrüger vor mir habe.“ Dabei machte sie mit ihren Fingern Lockerungsübungen, als wollte sie ihre letzten Worte jeden Moment in die Tat umsetzen. Sie tat drei Schritte auf ihn zu und fiel ihm um den Hals, was kein leichtes Unterfangen war, da er mehr als einen Kopf größer war als sie.

Allerdings kam der Mann ihr entgegen, indem er sich gleichzeitig vorbeugte, sodass ihre Köpfe auf gleicher Höhe waren, während sie sich an ihn drückte. „Beinahe hätte ich dich nicht wiedererkannt“, sagte er. „Ich hatte eine Frau mit wallenden goldblonden Locken erwartet, nicht mit diesem kümmerlichen Rest da oben auf dem Kopf."

„Von den goldblonden Locken hab ich mich schon vor langer Zeit verabschiedet, weil die bei dem Wind, der hier fast immer weht, einfach auf Dauer unpraktisch sind. Aber erzähl mir lieber, wieso du hier bist. Wie hast du mich gefunden?“, wollte sie wissen, als sie sich wieder von ihm gelöst hatte.

„Das war ganz einfach“, sagte Rainer. „Na, okay, ganz so einfach war es nicht. Ich kannte nur die alte Telefonnummer von deinen Eltern, aber der Anschluss existiert nicht mehr. Dann habe ich mir im Internet den Stadtplan von Westkapelle angesehen und festgestellt, dass einer der Souvenirläden immer noch den gleichen Inhaber hat wie damals. Also habe ich da angerufen und er hat mir die Telefonnummer vom Hotel deiner Eltern in Lissabon gegeben. Ich dachte zuerst, der gute Mann hat was durcheinandergeworfen, aber dann meldete sich tatsächlich deine Mutter, als ich da anrief.“

„Ja, mein Großvater hat meiner Mutter das Hotel vererbt. Sie konnte einfach nicht widerstehen, das Haus zu übernehmen. Aber das ist jetzt auch schon wieder acht oder neun Jahre her.“

„Ich störe nur ungern, Jenny“, meldete sich ein Mann, der noch keine dreißig zu sein schien und dessen rötliches Haar auffallend schütter war. „Aber ich muss einen Berg Rechnungen überweisen und ich weiß nicht, ob du diese drei sachlich richtig gezeichnet hast oder ob das …“

„Gekritzel“, half sie ihm mit einem Grinsen auf die Sprünge, als sie sein Zögern bemerkte.

„… ob das ‚Gekritzel‘ etwas anderes zu bedeuten hat.“ Er hielt ihr die Rechnungen hin.

Sie betrachtete ihre Notiz und grübelte einen Moment lang, was das von ihr stammende Kürzel bedeuten sollte. „Ach ja, richtig. Bei den Rechnungen stimmt das Datum nicht. Der neue Kaffeelieferant hat die Rechnung und das Lieferdatum um zwei Wochen zurückdatiert, womit sie jetzt schon überfällig sein müssten, obwohl er erst am Freitag geliefert hat. Da hattest du ja frei.“

„Gut, dann werde ich ihn anrufen, damit er das korrigiert“, sagte er.

„Schreib ihm lieber eine Mail, dann können wir es besser dokumentieren, falls es bei ihm eine Masche ist, um seinen Kunden Mahngebühren in Rechnung zu stellen.“

„Bestimmt nur ein ‚Computerfehler‘“, gab der Mann ironisch zurück.

„Ganz bestimmt“, pflichtete sie ihm augenzwinkernd bei. Sie drehte sich zu ihrem Besucher um. „Das ist übrigens Jan-Willem Dekker, meine rechte Hand.“

„Hallo“, begrüßte ihn Rainer mit einem Nicken. Der Mann erwiderte die Geste.

"Und das ist", fuhr sie fort, "ein alter Freund von mir. Rainer Trompeter. Rainer ist …“

„… Software-Entwickler für Computerprogramme“, fiel er ihr ins Wort.

„Ja, richtig“, sagte sie, nachdem sie eine Sekunde lang gestutzt hatte.

„Irgendwelche Programme, die man kennt?“, fragte Jan-Willem interessiert.

„Nur, wenn man sich in der chemischen Industrie auskennt“, antwortete Rainer.

„Oh“, machte der jüngere Mann. „Das ist ganz und gar nicht mein Fachgebiet.“

Rainer lächelte ihn verständnisvoll an. „Das höre ich so ungefähr zehnmal am Tag.“

„Wir kennen uns schon ewig“, redete Jenny weiter. „Rainer war früher bereits Gast im Hotel meiner Eltern.“

„Richtig“, stimmte der ihr zu. „Ich glaube, als ich sie das erste Mal gesehen habe, muss sie vier oder fünf gewesen sein. Und beim letzten Mal so ungefähr vierzehn, fünfzehn. Aber das ist schon ewig her.“

„Das ist gerade mal zwanzig Jahre her“, berichtigte sie ihn prompt. „Für wie alt soll Jan-Willem mich denn halten, wenn das ewig her wäre? Siebzig? Achtzig? Und vergiss nicht, dass du zwanzig Jahre älter bist. Dann würde er dich für neunzig oder hundert halten.“

„Maximal fünfundneunzig“, gab er lachend zurück. „Aber das ist natürlich Blödsinn. Niemand würde dich für einen Tag älter halten, als du wirklich bist. Schließlich siehst du aus wie eine junge Meg Ryan vor ihren Schönheitsoperationen.“ Dann fügte er noch rasch ironisch an: „Wobei ich nicht verstehe, warum wir Deutschen immer von Schönheitsoperationen reden, wenn doch üblicherweise das genaue Gegenteil dabei herauskommt.“

„Ich … ähm … will nicht unhöflich sein“, meldete sich Jan-Willem wieder zu Wort, „aber ich müsste mich jetzt um die Überweisungen kümmern.“

„Jan-Willem, du musst dich nicht erst abmelden“, sagte Jenny. „Wir beide reden sowieso gerade über alte Zeiten, und das meiste davon würde dich ohnehin nur langweilen, weil du nicht mit dabei warst.“

„Okay, danke“, sagte er und zog sich zurück.

Jenny deutete auf die Hocker, die vor der Empfangstheke standen. „Im Sitzen lässt es sich besser reden, glaube ich.“

„Ich werde dir nicht widersprechen“, gab Rainer zurück.

„Außer es geht um deinen Beruf“, meinte sie grinsend.

„Außer es geht um meine Ruhe“, stellte er richtig. „Ich will hier nur Rainer Trompeter sein, der Privatmensch, aber nicht Arnold Shaeffer, der preisgekrönte Maskenbildner aus Hollywood …“

„Der Oscar-Preisträger“, ergänzte Jenny.

„Ja, den habe ich auch bekommen“, räumte er ein. „Aber nicht für die Arbeit, für die ich den Oscar eigentlich verdient hätte. Nur weil dieser Herzschmerzfilm so viele Millionen Menschen ins Kino gelockt hat, wurde dem auch noch der Oscar für die besten Masken hinterhergeworfen.“

„Aber du hast die Auszeichnung trotzdem im Jahr darauf bekommen.“

„Das ja, aber für eine mittelmäßige Arbeit, weil man mich im Jahr davor übergangen hatte.“ Er zuckte mit den Schultern. „Das ist so ähnlich wie ein Oscar fürs Lebenswerk. Man ist auch bei zwanzig Nominierungen nicht ein einziges Mal besser als die Konkurrenz. Und zum Trost wird man fürs Lebenswerk ausgezeichnet, was ja so grandios gar nicht gewesen sein kann …“

„Klar, weil man ja vorher nie gewonnen hat“, sagte Jenny. „Das kann ich nachvollziehen. Doch jetzt verrat mir endlich, wieso du mit zwei Koffern hier hereinspaziert bist.“

Er räusperte sich, während Sietske vorbeikam und eine Handvoll Servietten auf einen der Tische legte. Mit gespielter Geschäftigkeit wartete er, bis Sietske nicht mehr zu sehen war, bevor er antwortete: „Weil ich beschlossen habe, eine Auszeit zu nehmen. Hollywood geht mir auf den Geist. Ich weiß gar nicht, wie ich das zwanzig Jahre lang ausgehalten habe. Ständig dieses falsche Lächeln und die gegenseitige Bewunderung und Verehrung. Und sobald du jemandem den Rücken zudrehst, marschiert er geradewegs zum anwesenden Produzenten und schwärzt dich wegen irgendeiner unüberlegten Äußerung an. Dann bist du den nächsten großen Job los, ohne dass du weißt, wem du eigentlich was getan hast. Meine Söhne dürfen sich damit herumschlagen, die sollen meine Werkstatt sowieso irgendwann übernehmen. Ich will jetzt erst mal meine Ruhe haben.“

„Die hast du hier“, versicherte sie ihm. „Wie lange willst du bleiben? Vier Wochen? Fünf Wochen?“

„Oh, ich dachte eher an sechs oder sieben Monate. Wenn das kein Problem darstellt.“

„Warum sollte das ein Problem sein?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe drei, vier Gäste, die sich auch für ein paar Monate hier einquartieren. Es gibt auch einen ordentlichen Rabatt auf den normalen Zimmerpreis.“

„Hast du hier auch so was wie eine Suite?“, wollte er wissen. „Früher haben mir diese kleinen Zimmer nichts ausgemacht. Und eine Woche könnte ich’s schon auf ein paar Quadratmetern aushalten, notfalls auch noch länger. Aber es wäre schön, wenn du etwas verschwenderisch Großes hättest.“

„Natürlich habe ich das im Angebot", antwortete sie und fügte grinsend hinzu: „Die Koningskamer nimmt das halbe Dachgeschoss in Anspruch. Die habe ich schließlich nur eingerichtet, weil ich wusste, dass du eines Tages eine Auszeit in Zeeland nehmen wirst. Dafür wollte ich gewappnet sein.“

Er lachte. „Das könnte ich fast noch glauben. Aber sag mal, wieso bist du hier und nicht in Lissabon?“

„Der Süden ist nichts für mich. Alles, was südlicher liegt als Zeeland, ist nicht meine Welt“, erwiderte sie. „Vor allem meine Mutter fühlt sich da unten pudelwohl. Meinem Vater ist es ziemlich egal, ob es kalt, warm oder brütend heiß ist. Ich bin hier in meinem Element.“

„Und wie kommt es, dass du dich hier in Zuiderdijk niedergelassen hast, anstatt die Pension deiner Eltern in Westkapelle zu übernehmen?“

„Meine Eltern hatten mir die alte Pension sogar überlassen“, erzählte sie. „Ich sollte mit dem Haus und dem Grundstück machen, was ich für richtig hielt. Verkaufen war genau das, was ich wollte.“

„Aber die Pension lief doch gut“, wandte Rainer ein. „War das nicht ziemlich riskant, das alte Zuhause zu verkaufen und hier neu anzufangen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ganz im Gegenteil. Es nicht zu machen, wäre ein Fehler gewesen. Westkapelle wird seit einer Weile von immer mehr Touristen überlaufen. Und es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis der Punkt kommt, an dem der Trubel einem großen Teil der Stammgäste zu viel wird und dann bleiben sie weg. Ich habe das Haus und das Grundstück nicht sofort verkauft, sondern erst noch zwei bis drei Jahre die Pension weiterbetrieben. Doch da gab es schon die ersten Klagen meiner Gäste, dass es draußen auf der Straße nachts zu laut ist. Und tagsüber waren etliche von ihnen gar nicht glücklich darüber, kaum aus dem Haus zu kommen, weil immer wieder Massen von Touristen vorbeiströmten. Wenn sich diese Unzufriedenheit erst mal herumspricht, dann verlieren mögliche Investoren das Interesse und damit sinken die Immobilienpreise.“ Sie machte eine vage Handbewegung. „Man könnte sagen, dass mir für unsere alte Pension ein Angebot gemacht wurde, dass ich nicht ausschlagen konnte.“

„Und dann hast du ein paar Kilometer weiter nördlich gleich eine neue Pension eröffnet“, sagte er und nickte beeindruckt.

„Ja, aber das Hauptgebäude hier war vorher schon eine Pension gewesen“, antwortete sie. „Ich bekam das Haus mehr oder weniger geschenkt, weil der Eigentümer kurz zuvor verstorben war und der einzige Sohn nach Australien ausgewandert ist, wo er es zum Multimillionär gebracht hatte. Er wollte den Verkauf so schnell und so unkompliziert wie möglich abwickeln. Und da ich als Erste angefragt habe, überließ er mir die Pension für einen Spottpreis.“

„Glückspilz“, kommentierte Rainer.

„Von dem Geld, das ich hier eingespart habe, konnte ich die beiden angrenzenden Einfamilienhäuser dazukaufen, die glücklicherweise gerade leerstanden“, fuhr sie fort. „Damit habe ich die Zahl der Betten verdoppelt.“

„Und die Gäste fallen entsprechend ein?“, fragte er.

Sie nickte und lächelte zufrieden. „Fast all unsere Gäste aus Westkapelle sind uns hierher gefolgt. Und sie sind von Zuiderdijk so begeistert, dass sie uns ihren Freunden und Bekannten weiterempfehlen. Hier gibt es nicht so viele Lokale und bei denen handelt es sich durchweg um Restaurants.“

„Also keine Wirtschaft, in die man gehen kann, nur um zu trinken?“

„Richtig. Das macht dieses Dorf so uninteressant für die Leute, für die Urlaub in erster Linie darin besteht, sich jeden Tag zu betrinken. Ich hoffe, das bleibt hier auch noch lange so.“

„Wie sieht es denn mit der Konkurrenz für dich aus?“, wollte Rainer wissen. „Gibt es noch andere Pensionen? Oder Hotels?“

„Nein, nur Privatleute, die ein Zimmer oder eine umgebaute Garage auf dem Hinterhof an Touristen vermieten“, erwiderte sie. „Keine Konkurrenz für mich. Wer will, kann drei Mahlzeiten am Tag buchen. Das spart eine Menge Geld im Gegensatz zu täglichen Restaurantbesuchen und darauf achten viele meiner Gäste.“

„Also ein richtig schöner, rundum langweiliger Urlaubsort“, stellte er amüsiert fest. „Und man muss nicht mal das Haus verlassen, um ein Mittagessen oder ein Abendessen zu bekommen.“ Er nickte angetan. „Es war richtig von mir herzukommen. Ich brauche so einen Ort, an dem einfach gar nichts passiert.“

Jenny musste lachen, während sie mahnend den Zeigefinger hob. „Einfach gar nichts stimmt so nicht. Dienstags müssen wir bis um sieben Uhr morgens die Mülltonnen rausstellen.“

Rainer verzog das Gesicht. „So viel Aufregung ist nicht gut für mich, glaube ich.“ Er stutzte, als ihm auffiel, dass Jenny einen der Tische mit einem düsteren Blick bedachte. „Stimmt irgendwas nicht?“, fragte er besorgt.

„Nein, nein, alles in Ordnung“, beteuerte sie.

„Na, komm schon, Jenny“, erwiderte Rainer. „Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, wann etwas nicht in Ordnung ist. Und das ist jetzt gerade der Fall.“

„Na ja, es ist einfach seltsam“, brachte sie nach kurzem, nachdenklichem Schweigen heraus.

„Was ist seltsam?“

„Einer meiner Gäste ist verschwunden“, sagte sie.

„Verschwunden? Saß er eben noch da und ist jetzt weg?“

„Nein, er ist nicht zum Frühstück erschienen.“

„Dann hat er wohl verschlafen“, meinte Rainer.

„Ich habe seine Codekarte überprüft. Er hat gestern Abend um kurz nach halb zehn sein Zimmer verlassen und ist seitdem nicht wieder aufgetaucht.“ Jenny seufzte. „Es würde mich nicht so irritieren, wenn er nicht gestern nach dem Abendessen ausdrücklich gesagt hätte, dass er heute Morgen eine große Portion Rührei haben wollte.“

„Na, wenn du jetzt nicht weißt, wohin damit, dann kannst du mir das Rührei überlassen“, scherzte er.

Aber sie blieb ernst und schüttelte flüchtig den Kopf, um ihm zu signalisieren, dass sie das Ganze nicht lustig fand. „Möchtest du was essen?“, fragte sie. „Oder etwas trinken? Entschuldige, aber daran habe ich bis jetzt nicht gedacht, weil ich viel zu erstaunt war, dich nach so langer Zeit wiederzusehen.“

„Kein Problem, Jenny“, versicherte er ihr. „Wenn ich was haben möchte, melde ich mich schon, okay?“

Sie lächelte ihn an. „Ja, okay.“

„Was deinen verschwundenen Gast angeht“, überlegte Rainer, „hat er vielleicht gestern Abend eine nette Dorfbewohnerin kennengelernt und die Nacht mit ihr verbracht. Da wäre es doch kein Wunder, wenn er darüber vergisst, dass hier eine große Portion Rührei auf ihn wartet.“

Jenny seufzte frustriert. „Natürlich wäre das möglich, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ihm etwas zugestoßen ist.“

„Ah“, machte Rainer und musste unwillkürlich lächeln. „Du meinst, ihm hat womöglich ein Scharfschütze aufgelauert, angeheuert von einem wütenden Ehemann, der davon überzeugt ist, dass dein Gast eine Affäre mit seiner Frau hat?“

„Ausgeschlossen ist so was doch nicht“, gab sie zurück.

„Bist du immer noch so ein Krimi-Fan wie damals?“, fragte Rainer.

„Ja, aber was hat das …“ Sie riss ungläubig die Augen auf. „Moment mal, willst du mir unterstellen, ich würde gleich ein Verbrechen vermuten, nur weil ich Krimis liebe?“

„Weißt du was, Jenny?“, sagte er. „Was hältst du davon, wenn wir beide ein bisschen auf dem Deich spazieren gehen, um da weiterzureden?“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Hast du Angst, ich könnte mich vor meinen Angestellten und meinen Gästen zum Gespött machen, wenn jemand meine Mordtheorie mitbekommt?“

Rainer legte seine Hand auf ihre Schulter. „Nein, ich befürchte vielmehr, dass spätestens morgen die wildesten Gerüchte die Runde machen, wenn irgendjemand mitbekommt, welche Möglichkeiten du in Betracht ziehst.“

„Oh.“ Jenny verzog den Mund. „Daran hatte ich gar nicht gedacht. Stimmt, draußen können wir ungestörter reden.“

„Gut. Dann bringe ich mein Gepäck nach oben, mache mich kurz frisch und danach können wir losgehen.“ Er ging zurück zu seinen Koffern.

„Und du willst wirklich nicht vorher noch etwas essen oder trinken?“, vergewisserte sie sich.

„Wenn du dir unbedingt Umstände machen willst, dann hätte ich gern ein … wie hieß das … ein Broodje Kaas. Mit jungem Gouda.“

„Sollst du bekommen“, versprach sie ihm und steckte ihm die Codekarte für sein Zimmer in die obere Jackentasche, da er bereits die Koffer in den Händen hielt.

Als sie die steile Treppe bewältigt hatten, die auf der anderen Straßenseite schräg gegenüber der Pension hinauf zum Deich führte, blieben sie stehen und drehten sich um, weil Rainer einen Blick auf das idyllische Dörfchen Zuiderdijk werfen wollte. Von einem Meer aus roten Ziegeldächern zu reden, wäre sicher übertrieben gewesen. Das Rot reichte nicht bis zum Horizont, sondern nur bis zu einem ausladenden Wald, der im übertragenen Sinn das gegenüberliegende Ufer von Zuiderdijk darstellte. Lediglich die Kirche und der Leuchtturm ragten hoch über die Dächer hinaus – und in gewisser Weise galt das auch für Jennys Pension: Ihr Gebäude war das Einzige im Ort, das noch ein zweites Stockwerk hatte. Allerdings wirkte sich dieser Umstand nicht nachteilig aus, da der Dachfirst noch unterhalb der Deichkrone lag und die Sicht auf das Dorf dadurch nicht beeinträchtigt wurde. Zudem stand das Haus genau an der Straße, die direkt am Deich entlang verlief, sodass es nicht einmal Nachbarn gab, die gegenüber wohnten und sich in ihrem Sichtfeld eingeschränkt fühlen konnten.

„Huis Zonnebloem“, las er den Namen vor, der in großen weißen Buchstaben auf dem Dach geschrieben stand, um Touristen auf dem Deich auf sich aufmerksam zu machen. „Bei uns würde deine Pension Haus Bienlein heißen.“

„Bienlein? Nicht Sonnenblume?“, fragte Jenny verwundert und zog den Reißverschluss ihrer leicht gefütterten Jacke zu. Obwohl die Sonne schien, war es nicht so warm, wie man hätte vermuten können. Ein kräftiger Wind trieb die Wellen mit ihren weißen Schaumkronen in Richtung Küste und sorgte dafür, dass man lieber zu einem dünnen Pullover griff, wenn man das Haus verließ.

„Eigentlich müsste sie Pension Sonnenblume heißen“, stimmte er ihr zu und genoss den kühlen Wind so sehr, dass er sich mit einem dünnen Jeanshemd und einem leichten Mantel begnügte, den er nicht mal zugeknöpft hatte. „Aber in deinem Fall würde sie trotzdem Bienlein heißen, weil ich mir sicher bin, dass du bei diesem Namen an Professor Zonnebloem gedacht hast. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie du damals die ‚Tim und Struppi‘-Alben gelesen hast …“ Er bemerkte ihren fragenden Blick. „Was bei euch ‚Kuifje‘ heißt. Das waren ja auch immer kleine Krimis.“ Jetzt nickte sie verstehend. „Euer Professor Zonnebloem heißt bei uns Professor Bienlein. So viel wie kleine Biene.“

„Dir entgeht auch nichts, wie? Du bist wirklich gut“, sagte sie. „Zu gut. Und du weißt zu viel. Ich werde dich verschwinden lassen müssen. Ganz unauffällig.“

„Sag mir, wenn ich dir dabei behilflich sein kann“, konterte er ironisch. „Vielleicht die Axt halten? Oder die giftige Tinktur rühren?“

„Ich werde dir schon Bescheid sagen“, erwiderte sie und zeigte auf die beiden einzigen markanten Punkte von Zuiderdijk. „Da rechts siehst du unseren Leuchtturm, der aber schon vor Jahren abgeschaltet wurde. Besichtigen kann man ihn aber immer noch.“

„Und viele viele Stufen bewältigen. Danke, aber das ist nichts für mich.“ Nachdenklich betrachtete er das schmale, hohe Bauwerk. „Ich könnte schwören, dass ich hier früher mal durchgefahren bin und den weiß-rot gestreiften Leuchtturm gesehen habe, nicht komplett in Backsteinrot.“

„Deine Erinnerung trügt dich nicht, Rainer“, antwortete sie. „Früher hatte der Leuchtturm weiße Streifen, aber nicht von Anfang an. Irgendwann hat irgendwer beschlossen, ihm weiße Streifen zu verpassen. Aber als daraus ein Denkmal werden sollte, stellte man fest, dass das nicht der Originalzustand war. Also wurde erst mal die weiße Farbe entfernt, ehe er zum Denkmal werden konnte.“

„Interessant. Und die Kirche?“, wollte er wissen und zeigte nach links. „Ist das noch eine Kirche?“

„Auch schon lange nicht mehr.“ Jenny musste grinsen und stupste ihn an, damit er sich umdrehte und sie auf dem Deich entlanggehen konnten. Am Strand rechts von ihnen waren ein paar Leute mit ihren Hunden unterwegs, die sich jetzt wieder dort tummeln durften, nachdem die letzten Touristen abgereist waren. „Das Kuriose daran ist, dass die Menschen aus Zuiderdijk auf dem Platz rund um die Kirche einen Markt haben wollten. Doch die Kirchenleitung hat sich immer geweigert, den Platz dafür freizugeben. Nachdem die Kirche dann keine Kirche mehr war, hat die Gemeinde beschlossen, sie in eine Markthalle umzubauen, in der die Händler vor Wind und Wetter geschützt ihre regionalen Waren anbieten können. Es war ein voller Erfolg und das ist bis heute so geblieben.“

„Und ein Tritt in den Hintern der Kirchenoberen, würde ich sagen.“

„Wir hatten alle unseren Spaß auf deren Kosten“, bekräftigte Jenny amüsiert, wurde dann aber ernst. „Lass uns über meinen verschwundenen Gast reden, Rainer.“

Er schüttelte den Kopf. „Erst will ich wissen, ob du immer noch so eine Krimifanatikerin bist wie früher, als du dir so gut wie jede Krimiserie angesehen hast.“

„Nicht so gut wie jede“, stellte sie schnell klar. „All das blutrünstige Zeug wollte ich nie sehen und das will ich heute auch noch nicht. Mich interessiert mehr, wie die Polizisten ermitteln und wie sie dann den Täter überführen. Du weißt schon: So wie bei ‚Derrick‘ und ‚Der Alte‘ und ‚Baantjer‘.“

„Was ist ‚Baantjer‘?“, fragte er.

„Ach, stimmt, die kannst du ja gar nicht kennen. Die lief nur bei uns“, antwortete sie. „‚Baantjer‘ ist so was wie der ‚hollandse Derrick‘, aber noch viel cooler.“

„Also jung und dynamisch?“

„Ganz im Gegenteil. Commissaris de Cock ist eher so ein Typ, bei dem man denkt, dass er nächste Woche pensioniert wird. Der wirkt immer total entspannt, geht von einem Verdächtigen zum nächsten, stellt Fragen, macht Notizen und kurz vor Ende präsentiert er den Mörder, wenn er sich ganz sicher ist, dass er den Richtigen hat.“

Rainer runzelte die Stirn. „Wenn der Kommissar de Cock heißt, wer ist dann dieser ‚Baantjer‘?“

„So heißt der Mann, der die Romane geschrieben hat, nach denen die Serie entstanden ist“, erklärte sie. „Aber nur weil ich Krimis liebe, heißt das nicht, dass ich überall Mord, Raub und andere Verbrechen sehe.“

„Du meinst, so wie damals, als deine beste Freundin entführt worden war, nur weil sie nicht wie verabredet an eurem Stammtreffpunkt erschienen war?“, fragte Rainer schmunzelnd. „Oder als du die Polizei angerufen hast, weil du davon überzeugt warst, dass euer Klassenlehrer seine Frau im Keller gefangen hielt? Oder als …“

„Schon gut, hör auf!“, ging sie dazwischen. „Damals war ich zehn oder elf. Da haben solche Geschichten eine ganz andere Wirkung. Heute sehe ich nicht überall Mörder oder Entführer oder was weiß ich. Trotzdem bin ich mir sicher, dass meinem Gast etwas zugestoßen ist.“

„Kannst du ihn nicht anrufen?“

„Das habe ich heute früh schon versucht, als ich festgestellt habe, dass er nicht zurück ins Haus gekommen ist“, antwortete Jenny frustriert. „Dummerweise ist der Teilnehmer nicht erreichbar.“

„Dann ruf die Polizei an, wenn dir das so zu schaffen macht“, schlug er vor.

Sie warf ihm einen Seitenblick zu. „Dann glaubst du mir? Dass ihm etwas zugestoßen ist?“

Sofort hob er abwehrend die Hände. „Nicht so hastig, Blondie. Ich glaube dir, dass du beunruhigt bist, aber aus meiner Sicht spricht nichts für ein Verbrechen oder ein Unglück. Ich sage nur, dass du deine Beobachtung der Polizei melden könntest. Wenn du seinen Namen und eine Personenbeschreibung liefern kannst, dann können die sich umhören, ob er zum Beispiel in einen Unfall verwickelt war und im Krankenhaus liegt.“

Jenny verzog den Mund. „Leider habe ich das schon versucht, aber der zuständige Agent …“

„Agent ist ein einfacher Polizist, richtig?“, unterbrach er. „Ich habe in zwanzig Jahren zwar einiges vergessen, aber ich glaube, das ist noch im Hirn.“

„Richtig, Rainer“, sagte sie. „Auf jeden Fall meinte er, ich müsste mindestens achtundvierzig Stunden warten, wenn ich keinen konkreten Anhaltspunkt für ein Verbrechen habe.“

„Hat er das näher definiert?“

„Nein, er sagte nur, mein Gefühl würde nicht zählen, auch nicht meine Gewissheit.“

„Dann frage ich mich, was zählt“, sagte Rainer und ließ den Blick über das Meer schweifen. Möwen kreisten kreischend dort über dem Wasser, wo ein kleiner Fischkutter seine Netze ausgeworfen hatte. Einige Frachtschiffe waren nahe der Küste unterwegs, da sie wohl den Hafen von Antwerpen ansteuerten.

„Seine Leiche“, flüsterte Jenny.

„Wenn du erst mal seine Leiche gefunden hast, dann musst du ihn ja nicht mehr als vermisst melden“, gab er zurück.

„Nein, seine Leiche“, wiederholte sie. „Da unten liegt seine Leiche.“