Leseprobe Traummann gesucht, Rockstar gefunden

Eins

Ich habe kurz mit dem Gedanken gespielt, ein Plakat zu malen: Suche Ehemann für Flitterwochen. Doch als ich mir vorgestellt habe, wer dann alles auftauchen könnte, habe ich ihn schnell wieder verworfen. Jetzt stehe ich hier, am Frankfurter Flughafen – bereit, in den Flieger zu steigen. In meinem Brautkleid.

In Bergen von Tüll kämpfe ich mit den Tränen, die vor allem von Wut zollen, und mache mich auf den Weg zum Gate. Zum Glück haben die Leute beim Securitycheck Mitleid. Ich meine – eine Braut, einsam und mit verheulten Augen, spricht für sich, also durchsuchen sie mich nicht. Ich werde das Kleid heute Abend wahrscheinlich zerschneiden, verbrennen, gemeinsam mit allen Wünschen, die ich für Erick und diese Hochzeit hatte. Es war – und ist noch immer – ein großer Schock, als ich ihn vor der Trauung sah, was ja bekanntlich Pech bringen soll. Anscheinend hatte das Unglück – ich stelle es mir als schwarzes Schwein vor, ein bisschen zerfleddert und dadurch wütend, weil das Glücksschwein das ganze Lob einheimst – schon zugeschlagen. Schließlich drückte er, aber womöglich war er auch gestolpert, seinen Kopf zwischen die Beine meiner Trauzeugin. Ich muss nicht erwähnen, dass sie meine beste Freundin war, oder? Allein bei dem Gedanken daran verziehe ich das Gesicht, immerhin hat sie kurz nachdem ich die zwei unterbrochen hatte, noch eine Szene gemacht, er würde eh nur sie lieben.

Was hat er gemacht? Mich stillschweigend angesehen und nicht einmal gezuckt, als ihn meine Ohrfeige traf und einen Handabdruck auf seiner Wange hinterließ. Ich habe mich umgedreht und bin in das wartende Taxi gestiegen, das uns nach der Trauung zum Flughafen fahren sollte, und jetzt werde ich eben allein nach Finnland fliegen. In den Winter, den ich absolut hasse, Erick aber liebt, und werde diesen Urlaub genießen, der meine Flitterwochen hätte sein sollen. Zum Glück habe ich den Flug noch auf meinen Namen gebucht: Malu Liebert, nicht Malu Schwaiger – ein Name, den ich jetzt niemals tragen werde.

„Entschuldigen Sie, zuerst dürften die Priority-Gäste einsteigen.“
Ich sehe die Dame am Gate verdattert an. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich mich vorgedrängelt habe, zu sehr war ich in Gedanken versunken. Sie mustert mich abschätzend, ein wenig verwirrt, und ich kann es ihr nicht verübeln. Meine Hochsteckfrisur muss scheußlich aussehen. Der Saum des langen Kleids ist verschmutzt.
„Natürlich.“ Ich trete beschämt einen Schritt zurück und musterte einige Mütter mit Kindern auf dem Arm. Ein kleiner Stich durchzieht mein Herz, wenn ich daran denke, dass es ewig dauern wird, bis ich mir diesen Wunsch erfüllen kann. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, mich erneut zu verlieben? Jemanden zu treffen, der es ernst mit mir meint und dann auch noch ähnliche Zukunftsgedanken hat? Davon abgesehen, dass das Ding in meiner Brust gerade genug damit zu tun hat, weiterhin Blut durch meine Adern zu pumpen und dabei schon fast überfordert ist. Man denkt immer, ein Herz könnte nicht brechen, doch bei dem lodernden Schmerz in meiner Brust, gepaart mit der Wut über meine Naivität, bin ich mir dessen gar nicht mehr so sicher. Ich schlucke die Tränen hinunter, die sich in den vergangenen drei Stunden zu oft einen Weg an die Oberfläche gebahnt haben, und setze mich auf einen der Sitze. Durch den Reifrock, der unter all dem Tüll versteckt ist, ist das gar nicht so einfach.

„Dieses verdammte Kleid“, murmele ich, und ohne weiter darüber nachzudenken, steige ich aus dem Reifrock und lehne ihn an die Wand. Die Blicke um mich herum wirken teils amüsiert, teils schockiert, und alle haben eines gemeinsam: Sie nerven mich, und zwar gewaltig. „Noch nie eine Braut gesehen, die verlassen wurde und nun am Flughafen sitzt, oder warum starrt ihr mich alle so an?“ Meine Stimme ist laut, und just in diesem Moment ist natürlich auch alles still um mich herum. Ich habe das Gefühl, jeder hält den Atem an, bevor sie beschämt die Blicke abwenden. Ich muss die Tränen schon wieder wegwischen, die mein Sichtfeld verschwimmen lassen. „Es ist nun mal nicht alles rosarot, also hören Sie bitte auf, mich anzustarren wie ein Tier im Zoo“, fauche ich und verschränke dann die Arme vor der Brust.

Eine alte Dame kommt auf mich zu. Wortlos hält sie mir eine Tafel Schokolade hin und eine Packung Taschentücher. „Sie brauchen sie eher als ich“, murmelt sie und legt ihre faltige, kleine Hand auf meine Schulter. Die Berührung, tröstend und warm zugleich, tut so gut, und ich versuche, ihr ein dankbares Lächeln zuzuwerfen. „Guten Flug“, wünscht sie mir, bevor sie geht, und ich blicke ihr lange hinterher. Ich muss mich jetzt irgendwie zusammenreißen, und dann werde ich die Reise genießen. Weil dieser gottverdammte Kerl es nicht verdient hat, mich zum Weinen zu bringen oder gar einen meiner Gedanken zu beanspruchen. Aber ich habe ihn so sehr geliebt, flüstert mein gebrochenes Herz mit tränenerstickter Stimme.

Ja, und eventuell verbuche ich genau das unter dem größten Fehler in meinem Leben.

Die Reise geht erst einmal nach Ivalo; zum Glück wird der Flug nur fast vier Stunden dauern. Die restlichen Gäste werden zum Boarding aufgerufen. Ich nutze die Zeit in der Warteschlange, um nach draußen zu sehen. Wir haben den dreiundzwanzigsten Januar, und in Frankfurt liegt kein Krümel Schnee. Der Wind vorhin war eisig, ja, aber zum Glück gibt es hier nichts von diesem weißen Zeug. Ich bin mir sicher, an meinem Reiseziel wird es ganz anders aussehen. Ich atme tief durch. Es gibt nur zwei Optionen: in Selbstmitleid versinken unter einer warmen Decke oder mich auf die Suche nach meinem neuen Ich auf die höchsten Schneeberge begeben. Die erste Variante klingt verlockend, doch das bin nicht ich, ich bin eine Kämpferin. und deshalb steige ich in das verfluchte Flugzeug und fliege in meine Beinahe-Flitterwochen, allein. Es hat Vorteile, verlassen zu werden und diese Reise allein anzutreten. So kann ich mir ohne schlechtes Gewissen den Fensterplatz angeln, und neben mir bleibt genug Platz, um mein Kleid auszubreiten, ohne einen anderen Passagier mit dem Tüll zu ersticken.

Ich atme tief durch, als ich die Maschine betrete. Die Luft hier ist wie immer stickig, und ich stelle die Luftzufuhr an der Decke über meinem Platz direkt auf mich ein, damit ich überhaupt Sauerstoff abbekomme. Ich nehme das Handy aus der Tasche – seit ich abgehauen bin, steht es sowieso dauerhaft auf Flugmodus, und ich habe auch nicht den Drang, meine Nachrichten zu kontrollieren.

Warum? Ich habe keine Lust auf das Mitleid der anderen, das wäre mir alles zu viel. Ich kann ja mein Selbstmitleid schon kaum ertragen. Der Sperrbildschirm lässt mich zusammenzucken. Stimmt, Fotos löschen sollte ich schnellstmöglich. Mein zerbrochenes Herz pocht direkt schneller, als ich das Bild betrachte.

Ich sehe so glücklich aus. Meine langen blonden Haare sind vom Wind zerzaust, und ich trage ein weißes Sommerkleid, das bis zur Mitte meiner Oberschenkel reicht. Mein Lachen ist echt, meine Füße berühren das Meer, die Zehen vergraben im Sand, und wenn ich die Augen schließe, dann kann ich das Salzwasser fast noch auf der Zunge schmecken. Das war vor vier Jahren. Es war das erste und einzige Mal, dass ich mich durchsetzen konnte, endlich mal ans Meer zu fahren.

Erick war nie der Mensch für diese Art von Reisen gewesen. Kultur stand bei ihm mit an erster Stelle, und wenn es nichts Kulturelles gab, dann musste es zumindest kalt sein. Auf dem Foto lacht Erick; wir beide strahlten in die Kamera, als wäre es der schönste Tag gewesen. Ich muss dringend diese Bilder löschen. Meine Augen, dort so von Freude durchzogen, dass das Blau strahlt, sind nun schon wieder nass. Verflucht. Meine Finger zittern, als ich einen schwarzen Hintergrund einstelle.

Meine Mutter hatte mir einen guten Flug gewünscht. Ihr habe ich kurz nach meiner Flucht erzählt, was ich vorhabe, und sie versteht auch, dass ich das hier brauche. Allen Widerständen und Zweifeln zum Trotz ist die Reise allein eine gute Entscheidung, denn so kann ich mit der Veränderung beginnen. Mich selbst finden, auch wenn das in einem kalten Land passiert und nicht wie erhofft in der Sonne. Das wäre mir lieber gewesen, aber wie so oft beweist mir das Leben, dass es kein Wunschkonzert ist. Ich werde also mit den Gegebenheiten klarkommen, wie immer, auch wenn es gerade noch ein wenig aussichtslos erscheint.

Ansonsten bin ich anscheinend mehr der Typ „wir akzeptieren sie“ im Freundeskreis gewesen und nicht diejenige, für die man sich wirklich interessiert, denn weitere Nachrichten gibt es überraschenderweise nicht. Ich muss mich ablenken.

Musik. Ich brauche ganz dringend eine Melodie, die lauter ist als meine Gedanken. Als ich auf Play drücke und die Klänge meine Kopfhörer füllen, wird es in mir ruhiger. Musik ist schon immer eine Art Anker für mich gewesen, doch heute fühlt es sich an, als wäre sie das Einzige, was mich vor dem Durchdrehen bewahrt.

Ich bin so unendlich müde, aber finde einfach nicht die Ruhe, um einzuschlafen. Immer wieder schließe ich die Augen und hoffe, endlich in den verdienten Schlaf zu finden, doch dann dreht sich mein Gedankenkarussell an, sich erneut an zu drehen. Mein Leben ist ein Scherbenhaufen, ich werde nicht wie schon immer geplant bald Mama sein. Nach der Hochzeit wollte ich gerne das Thema Kinder akuter ansprechen, der Wunsch in mir wächst immer weiter.

Die Tränen rollen mir über die Wangen, an Schlaf ist nicht zu denken. Irgendwann gebe ich auf. Die restliche Stunde des Flugs verbringe ich damit, aus dem Fenster zu sehen. Die Sonne macht dem Abend Platz. Die Trauung – ich gewöhne mich langsam an den Stich in meiner Brust – hätte um dreizehn Uhr stattfinden sollen. Danach war ein kurzer Sektempfang geplant, und dann sollte die schönste Hochzeitsreise losgehen. Noch immer kann ich nicht glauben, dass ich hier wirklich in diesem Flugzeug sitze, nur ohne Erick an meiner Seite. Ich stöhne auf, weil es mich nervt, schon wieder an ihn zu denken, und doch kann ich nichts dagegen tun. Es tut zwar weh, aber lange nicht so, wie ich es erwartet habe. Dennoch bin ich gespannt, wie viel Zeit es braucht, bis aus der Wunde in meinem Herzen eine Narbe wird.

Ich habe vorhin nur meinen bereits gepackten Koffer geschnappt, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe an dem Ort zu bleiben, an dem der schönste Moment meines Lebens passieren sollte. Erick hat einiges geplant, zumindest hat er damit immer angegeben, als er wieder einmal am Laptop saß und ich nicht zugucken durfte. Wahrscheinlich hat er sich Filmchen angesehen, doch etwas sagt mir, dass ich diese Reise antreten soll und sie dann sogar genießen werde. Wieso? Weil ich es verdient habe, irgendwann wieder glücklich zu sein, und wenn ich eine Reise auf Kosten meines Verlobten – nein, ehemaligen Verlobten –genießen kann, dann werde ich das auf jeden Fall tun.

„Möchten Sie etwas essen?“ Nur gedämpft höre ich die Stimme des Flugbegleiters und ziehe einen Stöpsel aus dem Ohr. Mein Magen knurrt, und mir fällt auf, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr zu mir genommen habe. „Wir haben eigentlich nur Sandwiches für diese Klasse vorgesehen, aber warten Sie kurz.“

„Ein Sandwich wäre vollkommen …“ Ich kann den Satz gar nicht zu Ende bringen, da läuft er schon wieder den Gang nach vorne. Ich streiche über den weißen Tüllrock, sehe auf meine perfekt manikürten Nägel. Eventuell ist das alles nur ein Traum, der sich sehr real anfühlt, und ich wache jeden Moment auf. So viel Pech kann eine Frau nicht haben, oder?

Der Mann kommt zurück und balanciert einen Teller. „Klappen Sie das Tablett hinunter“, sagt er freundlich, und ich gehorche. Er stellt Essen vor mir ab, und alleine der Geruch betört meine Nase.

„Wir hatten noch eine Portion übrig, und ich denke, Sie können eine kleine Aufmerksamkeit gebrauchen.“ Er öffnet den Deckel. Wow, das sieht echt zum Anbeißen aus.

„Das ist heute die besondere Spezialität auf unserem Mittelstreckenflug.“

Er bringt mich zum Lächeln.

„Das ist junger Grünkohl mit einem pochierten Ei und französischen Macaire-Kartoffeln. Guten Appetit.“ Sein Versuch, die Worte wie ein Franzose klingen zu lassen, scheitert und lässt mich sogar kurz kichern. Er zwinkert mir zu und geht.

Die Passagiere um mich herum sind zum Glück in ihre eigene Welt vertieft, sonst würden sie die Extrawurst wahrscheinlich bemerken. So etwas wird in einem Flugzeug serviert? Auf einem kurzen Flug … nein, was hat er gesagt? Mittelstrecke? Für mich geht das erst ab circa neun Stunden los, aber was weiß ich schon. Was gibt es dann wohl auf längeren Strecken?

Ich grinse in mich hinein, als ich die erste Gabel nehme. Das hat rein gar nichts mit klassischer Kantine zu tun oder mit den trockenen Sandwiches, die mir bisher auf Flügen serviert worden sind. Das ist die Extraklasse, und ich glaube, wenn ich es mir leisten könnte, dann würde ich zukünftig allein wegen des Essens First Class fliegen.

Die Betonung liegt auf wenn, denn auch dafür muss ich eine Lösung finden. Ich habe mich damals in Erick verliebt, als er mein Ausbilder war und ich seine Auszubildende im Büro. Es war nie ein Problem, die Arbeit und das Private zu trennen, doch jetzt ist es unmöglich. Ich kann ihm nicht jeden Tag unter die Augen treten und daran denken, wie er seine Lippen auf die etwas anderen Lippen meiner besten Freundin drückt. Nein, ich werde definitiv kündigen müssen. Zum Glück findet man als gelernte Kauffrau für Büromanagement wohl schnell etwas Neues, aber darüber möchte ich mir erst mal keine Gedanken machen. Zuerst werde ich dieses perfekt pochierte Ei verspeisen, eine Reise erleben, die ich vielleicht nie vergessen werde, und mich auf den Weg zu mir selbst machen.

Noch im Taxi ist mir aufgefallen, wie abhängig ich von Erick war. Ich habe den Umschlag geöffnet und den Papierbogen herausgezogen, auf dem grob stand, wie die Reise zumindest bis zum Hotel verläuft. Ein Mann wird am Flughafen auf uns warten, also jetzt auf mich, und ins Hotel bringen. Dort werde ich wohl mehr erfahren. Erick hat alles geplant und wollte mich überraschen, und in gewisser Weise hat er das ja auch. Ob er jetzt meine ehemalige beste Freundin heiratet? Ob die beiden wahre Gefühle füreinander haben? Ich sollte lieber nicht weiter darüber nachdenken, sonst kommt mir der leckere Grünkohl wieder hoch.

Mir ist aufgefallen, dass ich wirklich keine Ahnung habe, wer ich ohne ihn bin. Seit wir uns damals kennengelernt haben, habe ich mich auf ihn verlassen, ich habe aufgehört, ein eigenständiger Mensch zu sein. Die Gewissheit schmerzt fast noch mehr als der Verrat.

Die Probleme könnten wieder losgehen, wenn der Urlaub vorbei ist und mein Rückflugticket zum Einsatz kommt. Nach einundzwanzig Tagen in Finnland, der wohl kältesten Region, in der ich je war.

Ich wische mir den Mund mit der Serviette ab, und als hätte der nette, junge Flugbegleiter darauf gewartet, räumt er auch schon das Tablett weg. „Essen kann zwar Probleme nie heilen, aber hungrig sind sie noch viel größer.“

Ich nicke, kann ihm nur zustimmen. Dann ist er wieder weg, und ich habe es nicht einmal geschafft, mich bei ihm zu bedanken. Na toll.

Zwei

Die eiskalte Luft schlägt mir ins Gesicht. Es fühlt sich an wie tausende Nadelstiche auf meiner Haut.

Meine Nase kribbelt, und ein durch die Kälte stechender Schmerz breitet sich im Kopf aus. Verdammt, wie viele Minusgrade es hier wohl hat? Hinter mir räuspert sich jemand, und ich bemerke jetzt erst, dass ich wie angewurzelt stehen geblieben bin. Ich gehe die Treppenstufen am Flugzeug nach unten, halte mich dabei am Geländer fest. Ich bin wirklich hier.

In Finnland, Lappland, wie auch immer. In Ivalo. Ich trete einen Schritt zur Seite, als die Passagiere, die es eilig haben, an mir vorbei spurten, schultere meinen Rucksack und blicke mich um.

Mein Atem bildet Wölkchen, und auf einmal fällt ganz viel von mir ab. Ich drehe mich im Kreis, strecke die Arme aus. Ich fange an zu lachen, ignoriere die Blicke der anderen, immerhin trage ich noch immer dieses verfluchte Kleid. Ich lache, bis mir der Bauch weh tut und mir vom Drehen schwindelig wird. Dann bleibe ich stehen und gehe in das Gebäude. Meine Beine sind eiskalt, und ich bin sicher, am ganzen Körper eine Gänsehaut zu haben sowie – verdammt –, an Stellen, von denen ich es niemals geahnt hätte, dort eine bekommen zu können. Ich muss mich im Hotel dringend umziehen, vor allem steigt meine Lust, dieses Kleid zu verbrennen. Ich bin hier, in einem fremden Land, ich bin unabhängig, und auch wenn ich heute die vermeintliche Liebe meines Lebens verloren habe, gibt es eine Sache, die ich noch habe. Mich selbst. Und ich bin hier, um das Beste aus der Situation zu machen.

Es dauert nicht lange, bis die Passkontrolle und die Gepäckausgabe erledigt sind. Die Flughafenhalle begrüßt mich mit einer überraschend hellen Atmosphäre. Von den Decken hängen runde Lampen, die ein angenehmes Licht abgeben, und ich muss lächeln, als ich sehe, wie sich manche Menschen glücklich in die Arme fallen. Wie das wohl unter normalen Umständen bei mir gewesen wäre? Wahrscheinlich hätte ich Erick an mich gezogen, geküsst und mich dafür bedankt, dass wir hier sind. Ich schlucke meine aufkeimende Wut hinunter. Es bringt nichts, wenn ich im Selbstmitleid versinke. Allerdings ist das so verlockend, und ich werde einfach Zeit brauchen, um darüber hinwegzukommen. Aber diese heilt alle Wunden, oder? Ich warte darauf, auch wenn ich das noch nicht lange tue, weil meine Welt noch vor vierundzwanzig Stunden in Ordnung war. Ich warte darauf, dass der Schmerz, der so stark in meiner Brust brennt, schwächer wird. Vielleicht warte ich auch auf das Löschfahrzeug, das dieses Feuer in meinem Herzen löscht, sodass es langsam wieder anfangen kann zu schlagen, ohne bei jedem Pochen zu lodern.

Ich blicke mich um. Hier sollte jetzt laut dem Zettel ein Fahrer auf uns warten. Ich lese die Namen, die auf den Schildern stehen, die Menschen in die Luft halten. Ich finde keines, auf dem Liebert steht. Ich runzele die Stirn, das kann nicht sein. Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Ich muss natürlich nach Schwaiger suchen. Immerhin hätte ich seinen Namen angenommen. Einmal mehr fühle ich mich, als würde man mir ein Messer in die Brust rammen. Immer, wenn es für einen Moment okay ist, dreht es sich um.

Endlich entdecke ich das Schild. Ich schlucke und gehe auf den Mann zu, der es in einer Hand hält. Er muss von der Reisegesellschaft sein, über die Erick alles gebucht hat. Er hat öfters mit jemandem telefoniert und dann die Tür zugesperrt, damit ich nicht mithören konnte. Ich frage mich jetzt, ob er wirklich mit diesem Typen gesprochen hat oder doch eher mit meiner besten Freundin, die er verführen wollte.

Auf Englisch beglückwünscht er mich, und ich starre ihn an. „Bitte nicht.“ Es sind die einzigen Worte, die ich durch meine tränenerstickte Kehle bekomme.

Er mustert mich von oben bis unten. „Mister Schwaiger?“, hakt er noch mal nach, und ich bin kurz davor, erneut in Tränen auszubrechen.

„Er ist nicht hier“, sage ich, und mein Blick, gemeinsam mit dem dreckigen Brautkleid, das man unter der dicken Winterjacke sieht, scheinen für sich zu sprechen.

„Ich verstehe“, sagt er und bedeutet mir, ihm zu folgen. Er nimmt meinen Koffer, und dann gehen wir durch die Halle. Ich werde noch oft erklären müssen, dass es keinen Mister gibt. Ich werde so oft sagen müssen, dass ich allein gekommen bin, weil der Mann, mit dem ich für immer mein Leben teilen wollte, nicht mehr da ist. Ich schlucke, das hatte ich alles nicht bedacht, als ich losgefahren bin.

Diese Reise wird wehtun, aber vielleicht ist gerade das notwendig, um innezuhalten. Manchmal braucht es Schmerz, um zu heilen. Auch wenn die Schmerzphase unendlich erscheint.

Er bringt mich zu einem Pick-up, der in der Tiefgarage steht und mit Schneeketten ausgestattet ist und hält mir eine Flasche Sekt entgegen, auf deren Etikett verschlungene Ringe zu sehen sind neben zwei Herzen. Ich schlucke, nehme sie und bedanke mich herzlich, dann lasse ich mich auf der Rückbank nieder.

„Die Fahrt wird circa eine halbe Stunde dauern.“

Ich nicke und schließe die Augen, als sich das Auto in Bewegung setzt. Meine Gedanken kreisen. Langsam aber sicher erwache ich aus meiner Schockstarre. Ich bin hier, allein in meinen Beinahe-Flitterwochen, und habe eine Flasche in der Hand.

Ich zucke mit den Schultern. Der Sektempfang ist ausgefallen, also kann ich mir ein Gläschen erlauben. Ich schraube die Flasche auf, das Glas habe ich abgelehnt, das ist heute nun wirklich nicht notwendig. Also trinke ich direkt aus der Flasche, und als die prickelnde Flüssigkeit auf meine Zunge trifft, seufze ich auf. Alkohol löst zwar nicht jedes Problem, aber ich bin mir sicher, er wird dafür sorgen, dass sich alles nicht mehr so schlimm anfühlt. Ich blicke aus dem Fenster und muss lächeln. Die Wälder, an denen wir vorbeifahren, sind schneebedeckt. Die Eiszapfen, die an den Ästen hängen, sind riesig. Es sieht wunderschön aus. Die Landschaft sorgt dafür, dass ich innerlich zur Ruhe komme. Vielleicht ist auch der Sekt dafür verantwortlich. Ich blicke in den Himmel, der sich langsam dunkel färbt. Hier soll es viele Nordlichter geben. Ich weiß noch, wie ich in freudiger Erwartung Pinterest durchstöbert habe und mir auf Instagram angesehen habe, wie die Leute zu den Nordlichtern gereist sind und dann vor atemberaubender Atmosphäre die schönsten Momente ihres Lebens eingefangen haben. Heute ist es leicht neblig, und ich bin erleichtert, dass mich die Nordlichter, die einen glücklich machen, vorerst in Ruhe lassen.

„Heute sieht man leider keine Nordlichter. Sie werden auf Ihrer Reise aber bestimmt noch die Möglichkeit finden. Wir sind übrigens gleich da, sehen Sie?“ Er zeigt auf einen beleuchtenden Weg nicht weit entfernt. „Da setze ich Sie ab, dann sind es noch fünf Minuten zu Fuß.“ Ich blicke an mir herab, die Winterjacke habe ich ausgezogen und trage noch immer die weißen Pumps. Ich hätte die Zeit am Flughafen nicht mit heulen verbringen sollen, sondern eher damit, mich umzuziehen. Sicher werde gar nicht richtig in diesem Urlaub ankommen, denn vorher werde ich erfrieren. Auf jeden Fall.

Nach wenigen Minuten stehe ich auch schon vor dem eisbedeckten Weg, der zu einem großen Haus führt, das wohl das Hotel sein soll. Es sind vielleicht fünfhundert Meter, aber meine Füße fühlen sich nach den wenigen Sekunden an, als würden sie gleich einfrieren und einfach abfallen. Auf meine innere Liste schreibe ich: googeln, ob Füße durch Kälte verschwinden können. Dann schultere ich den Rucksack, ziehe die Mütze zurecht und gehe den eisigen Weg entlang. Meine Pumps haben natürlich nicht genug Profil, und ich bin froh, dass ich noch den Koffer dabeihabe, der mir ein bisschen Halt schenkt. Wie dumm war es auch, nur die Mütze, den Schal und die Jacke aus dem Gepäck zu kramen, nicht aber die dicken Moonboots, die ich extra für diese Reise gekauft habe?

Ich fluche vor mich hin, kämpfe mich den eisigen Weg nach oben, und als ich die Tür aufreiße und eintrete, empfängt mich eine solche Wärme, dass ich mich fühle, als wäre ich direkt vor eine Wand gerannt.

„Verdammt nochmal“, fluche ich und bleibe stehen, weil Sterne vor meinen Augen tanzen. Ich nehme meine Mütze ab und stopfe sie achtlos in den Rucksack, den ich auf dem Koffer abgestellt habe. Dann sehe ich mich um. Der Eingangsbereich ist in Holzoptik gehalten, es wirkt sehr rustikal und nicht wie ein Sternehotel. Ich bin auf das Zimmer gespannt. Nachdem meine Füße, die jetzt langsam auftauen, mich wieder tragen wollen, gehe ich zur Rezeption.

„Sie müssen Miss Schwaiger sein, unsere herzlichsten Glückwünsche. Wo haben Sie denn Ihren Mann gelassen?“

Da ist er wieder, der Schmerz. „Liebert. Es ist bei Liebert, meinem Mädchennamen, geblieben.“

Die Frau mit den perfekt gelockten, blonden Haaren und dem roten Lippenstift – sie sieht aus, als wäre sie einem Modemagazin entsprungen – sieht mich an. Sie schürzt die Lippen, und ich halte ihrem Blick stand, ohne in Tränen auszubrechen.

„Na dann, Miss Liebert. Herzlich willkommen.“ Ich höre Spott in ihrer Stimme und würde ihr am liebsten die Meinung geigen, doch der Sekt und das fehlende Selbstbewusstsein sorgen dafür, dass ich ihren Tonfall ignoriere und einfach nur dafür sorge, dass ich die Schlüsselkarte bekomme. „Sie haben die Honeymoon Suite gebucht. Wir wussten ja nicht …“

„Schon gut“, unterbreche ich sie. Ich wusste auch nicht, dass mein Verlobter sich zwischen den Beinen meiner besten Freundin wohler fühlt als in meinen Armen.

„Mit dem Aufzug in den vierten Stock, dann links.“

Ich nicke, bedanke mich höflich und gehe los. Ich öffne den Reißverschluss meiner Jacke, weil mir der Schweiß den Rücken hinunterläuft. Der Aufzug ist klein, und ich warte darauf, dass sich die Türen schließen, bevor ich blinzle und die verräterischen Tränen sich erneut einen Weg über meine Wangen bahnen.

Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich bin zu schwach für das hier, ich bin noch nie allein gereist. Die Versuchung war zu groß, vor der Realität zu flüchten, die zuhause auf mich wartet. Der Schluchzer, der sich in meiner Brust bildet, bricht aus mir heraus, und ich wische mir verzweifelt mit der feuchten Jacke übers Gesicht. Das war die schlimmste Idee – allein in der Honeymoon Suite. Wahrscheinlich werde ich mich in den Schlaf heulen, und verdammt nochmal, ich habe doch nicht mal eine Ahnung, wie ich mich hier zurechtfinden soll.

Auf einmal bin mir sicher, dass es ein Fehler war, hergekommen zu sein, aber jetzt bin ich zu müde, um mich heute noch in ein Flugzeug zurück nach Frankfurt zu setzen. Ich werde also erst einmal bleiben. Im schlimmsten Fall werde ich den Zimmerservice nutzen und mich im Bett verkrümeln, bis mein Rückflug geht. Das klingt immer noch besser, als in Deutschland zu versauern.

Das Pling des Aufzuges holt mich aus meinen Gedanken, und ich trete in den Flur. Links, hat die Dame am Empfang gesagt, und als mich auf der Tür ein Bild von Turteltäubchen erwartet, da kommt mir fast das Essen aus dem Flieger wieder hoch. Ich atme noch einmal tief durch, bevor ich die Karte dagegenhalte und die Tür aufschwingt.

Honeymoon Suite, allein. Ich Glückspilz.

Drei

Wow. Ich bin wirklich beeindruckt. Wie viel Kitsch kann man in einem Hotelzimmer verarbeiten?

Ja.

Ich lache hysterisch, als ich durch den Flur laufe, der zur Suite gehört und mit Rosenblättern bestreut ist. Ich streife die Schuhe ab – zum Glück gibt es eine Fußbodenheizung. Der erste Weg führt mich ins Schlafzimmer, und ich grinse mittlerweile nur noch, als mich aus Handtüchern geformte Schwäne erwarten. Natürlich steht in Rosenblättern auf dem Bett Just married geschrieben. Wie schlimm soll es noch kommen?

Als ich das Badezimmer betrete, weiß ich, es wird noch schlimmer kommen. Selbst auf den Bademänteln steht Mister und Misses. Es gibt einen Whirlpool, Champagner steht bereit, auf dem Etikett natürlich die Silhouette eines küssendes Paars. Puh, diese Reise wäre mir vielleicht sogar schon im Hormonrausch nach der Hochzeit zu viel gewesen. Ich gehe zurück ins Schlafzimmer, wische die Rosenblätter auf den Boden, entwickele die Schwäne und suche verzweifelt nach einem Staubsauger. Das werde ich unten an der Rezeption ansprechen müssen, der Geruch nach Rosen sorgt für Übelkeit in meiner Magengrube.

Ich gehe zum Spiegel und mustere mich. Die Hochsteckfrisur, die mir heute früh so mühevoll geflochten wurde, ist mittlerweile verrutscht. Das könnte eventuell auch daran liegen, dass ich den Schleier rausgerissen und ihm vor die Füße geworfen habe. Ich sehe unfassbar erschöpft aus. Mein Make-up ist noch frisch, aber die Augen sind verquollen und ich bin scheinbar gealtert, mehr als in den vergangenen acht Jahren mit Erick.

Ich muss dringend raus aus diesem Kleid. Auf dem Schreibtisch an der Wand finde ich eine Schere und weiß genau, was zu tun ist.

Eine Viertelstunde später stehe ich unter der Dusche. Ich habe das Brautkleid gemeinsam mit dem blauen Strumpfband und den Strapsen, die ich mir habe andrehen lassen, im Papierkorb versenkt. Ich kann nur hoffen, dass der spätestens morgen geleert ist. Jetzt, wo der warme Wasserstrahl meinen Körper trifft, merke ich, wie ich mich allmählich entspanne. Die Muskeln in meinen Schultern lösen sich, und als ich die Frisur entknote und mir meine Haare wieder bis zu den Ellenbogen reichen, da geht es mir besser. Ich fühle mich wieder mehr wie ich selbst.

Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass es acht ist, zu früh, um mich ins Bett zu kuscheln. Der Sekt, der mich vorher beflügelt hat, hat seine Wirkung verloren, und ich brauche Nachschub. Ich ziehe mir den Bademantel über, dann gehe ich wieder ins Schlafzimmer, wo eine kleine Couch steht, auf die ich den Koffer gewuchtet habe. Ich greife nach meiner Kosmetiktasche, um mich fertig zu machen. Es gibt nur eine Möglichkeit, den Tag heute ausklingen lassen. Die Bar wird mein bester Freund werden, da bin ich mir ganz sicher.

Ich entscheide mich für eine schwarze Skinny Jeans, dazu ein dicker Strickpullover, der kurz über dem Hosenbund verknotet wird. Ich nehme lieber noch eine Jacke mit, immerhin weiß ich nicht, ob die Kälte vielleicht auch in die Bar zieht. Meine Haare binde ich zu einem lockeren Knoten. Ich trage nur leichtes Make-up auf, immerhin gehe ich nicht in die Bar, um jemanden aufzureißen, sondern um mich zu betrinken. Ich schlüpfe in meine Stiefeletten, die hoffentlich für das Hotel ausreichen. Natürlich habe ich die weißen Pumps, die so perfekt zum Kleid gepasst haben, ebenfalls in die Tonne gepfeffert.

Auf dem kleinen Beistelltisch finde ich eine Broschüre. Reiseablauf steht darauf, und die Neugierde in mir sorgt dafür, dass ich die Finger ausstrecke. „Eine Reise, die die schönsten Momente Ihres Lebens unterstreicht“, steht darauf. Ich bin mir nicht sicher, ob das so stimmt. Ich blättere nur durch, sehe Bildern von Huskies und Elchen oder sind das sogar Rentiere, doch lese mir die Details nicht durch. Anscheinend hat das Hotel viel zu bieten, und die Reise wird actionreicher als erwartet.

Ich nehme den Aufzug nach unten, und ein aufgeregtes Kribbeln setzt in meiner Magengrube ein. Ich habe mir den Tag anders vorgestellt, auch den Abend, aber irgendwie freue ich mich dennoch auf das Ankommen in Finnland.

Die Bar begrüßt mich mit einer rustikalen Einrichtung; die Theke ist aus Holz, vermutlich Eiche. Zahlreiche Schnapssorten, manche kenne ich nicht mal, hängen an in den Wänden in Halterungen. Ich frage mich, ob die Möglichkeit besteht, dass ich mich einfach darunter stelle und die Flüssigkeit direkt in meinen Mund befördere. Ich sollte die Option im Kopf behalten.

Es ist nicht viel los, in der Ecke sitzt ein knutschendes Paar, und ich sehe einen Moment zu lange hin, weil mein Herz sich wieder schmerzhaft zusammenzieht. „Ich hoffe, uns geht es bald besser“, flüstere ich ihm leise zu, dann setze ich mich auf einen Hocker und lächele dem Barkeeper entgegen. Er ist blond, ich schätze ihn auf Anfang zwanzig. Sein Gesicht ist glattrasiert, kein Bartschatten ist zu sehen, nur ein nettes Lächeln. „Was darf ich dir bringen?“

Ich überlege kurz und sehe auf die Getränkekarte, die auf der Theke befestigt ist. „Ein Gin Tonic und einen Tequila bitte.“ Vielleicht hätte ich erst nach einem Snack fragen können, aber als ich den Shot gekippt habe, begrüße ich die Hitze in mir, und ich erwarte das betäubende, gar befreiende Gefühl, das Alkohol mit sich bringt. Die Musik im Hintergrund verstummt; ich blicke mich verwirrt um. Eine Bar ohne Musik? Ich will mich gerade bei dem Barkeeper beschweren, als ich den Klang einer E-Gitarre höre. Auf einem kleinen Podest sitzt ein Mann vor einem Mikrofon auf einem Barhocker. Die Gitarre auf den Knien abgestützt, lässt er den Raum beben. Als Sekunden später seine rauchige Stimme erklingt, halte ich für einen Moment die Luft an. Wow. Ich habe noch nie eine Stimme gehört, die gleichzeitig so rockig und tieftraurig klingt. Er singt Wonderwall von Oasis, und als der Refrain ertönt, steht er auf und fängt an die Bude zu rocken.

Ich kann nicht anders, als ebenfalls aufzustehen, meinen Drink in die Hand zu nehmen und mich zu bewegen. Er macht aus dem eher ruhigen Lied einen Rocksong und zieht mich in seinen Bann. Ich kann mich nur auf seine Musik konzentrieren, und als rund drei Minuten später der letzte Akkord ertönt, da jubele ich und applaudiere. Der Alkohol sorgt dafür, dass ich „Zugabe!“ rufe und der Kerl mich direkt ansieht. Vielleicht auch, weil seine einzige Zuhörerin bin. Meine Wangen werden rot, als mich sein stechender Blick trifft. Ich erkenne die Farbe nicht. Seine Haut ist braungebrannt, er passt nicht in diese Winteratmosphäre. Seine langen Haare sind zu einem Zopf gebunden. An seiner Lippe glitzert ein Piercing im Licht, und er grinst mir zu, dann zwinkert er.

„Das nächste Lied ist dann wohl für dich.“ Seine Worte sorgen für eine Gänsehaut, und ich quietsche kurz auf. Sofort schlage ich mir die freie Hand vor den Mund. Ich sollte dringend etwas essen oder weniger trinken. Ich nippe an meinem Gin Tonic und habe in der nächsten Sekunde den guten Vorsatz schon wieder verworfen. Wozu eine Pause? Mir geht es gut, und die musikalische Untermalung des Rockers da vorne sorgt dafür, dass es mir besser geht als in den vergangenen vierundzwanzig Stunden.

Das Lied, das er nun spielt, kenne ich nicht. Es ist schneller, und ich achte nicht auf den Text, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, auf seine Lippen zu starren. Ich kann mich nicht sattsehen. Das Piercing an seiner Unterlippe habe ich bei so einem Kerl noch nie gesehen, ich dachte bisher, das tragen nur Hipster bis maximal Anfang Zwanzig, doch ich bin mir sicher, dass er älter als ich ist. Mein Herz pocht schneller, als er mir in einer kurzen Sekunde einen tiefen Blick zuwirft, bevor der elektronische Sound der Gitarre erneut die Geräusche um mich herum übertönt. Dieser Mann ist für die Musik geboren. Als auch das Lied endet, beuge ich mich über den Tresen.

„Ich hätte gerne eine Whisky-Cola für den Rocker da vorn, und ich würde noch einen Gin Tonic trinken.“

Der Barkeeper nickt und ich grinse, als ich sehe, wie der Rocker auf mich zukommt. Die Gitarre hat er schon wieder weggepackt, und es macht mich ein bisschen traurig, dass er kein weiteres Lied zum Besten gibt. Er lässt sich wortlos auf dem Barhocker neben mir nieder, und das mag ich. Es ist wie eine stille Übereinkunft zwischen uns. Ich schiebe ihm die Whisky-Cola rüber, sehe ihn aber nicht an, als ich zu meinem Drink greife.

„Ich hoffe, dir hat die Musikeinlage gefallen“, raunt er, und nun blicke ich ihn doch an. Braun. Er hat braune Augen, die mich an Zartbitterschokolade erinnern und mich irgendwie anziehen. Sein Bart hat denselben Braunton wie seine Haare. Ich würde den Bart gerne berühren, weil er so flauschig aussieht, doch ein wenig Selbstbeherrschung besitze ich dann doch noch.

„Ja. Machst du das öfter?“, frage ich und nippe am Gin Tonic. Ich sollte zu etwas Härterem greifen, denn langsam merke ich die Wirkung nicht mehr, und das ist genau das, was ich nicht möchte.

„Nein“, antwortet er nur knapp, und ich hake nicht weiter nach, weil ich damit beschäftigt bin, mein Glas zu leeren, um mir etwas anderes zu bestellen.

„Grund zu trinken?“, fragt er mich, und ich nicke nur, kann mir vorstellen, dass er gerade eine Augenbraue hochzieht. „Dann mach ich mit. Danke für die Whisky-Cola.“ Ich nicke wieder, dann knalle ich das Glas etwas stärker als beabsichtigt auf den Tresen. „Nachschub für die Lady. Eine Runde Sex on the Beach und zwei Tequilas.“

„Ich mag deinen Geschmack“, sage ich, und er blickt mich an. „Wahrscheinlich werde ich es bereuen, dich abzufüllen, aber manchmal ist Alkohol eben doch eine Lösung.“

Ich lache schallend und schlage ihm mit der flachen Hand gegen den Oberarm.

„Genau das habe ich mir vorhin auch gedacht.“

Der Barkeeper ist schneller als schnell, was wahrscheinlich daran liegt, dass außer uns nur zwei andere Gäste hier sind.

Mein neuer Bekannter schiebt ein Glas zu mir herüber und hebt seines an.

„Ich muss aber wissen, wem ich heute beim Vergessen helfe.“ Seine Worte dringen an mein Ohr, bilde ich es mir ein oder klingt er noch leicht heisern von seiner Gesangseinlage?

„Der Alkohol hilft beim Vergessen, aber mit dir als Gesellschaft geht das noch besser und wirkt nicht so verzweifelt.“

Ein Lächeln zupft an seinen Lippen und dann stoße ich mein Glas an seines.

„Ich bin Malu Liebert aus Frankfurt“, sage ich schnell, bevor ich den Shot hinunterkippe und anschließend in die Zitrone beiße.

„Hallo Malu aus Frankfurt. Ich wohne derzeit in Berlin.“

Ich ziehe die Augenbrauen nach oben und wechsle ins Deutsche. „Du kommst aus Deutschland?“, hickse ich, weil der Alkohol sich in meiner Magengrube sammelt und ich kurz von der Wucht des Tequilas überfordert bin.

„Ja“, sagt er. Ich mag es nicht, dass er nur einsilbig auf Fragen antwortet.

„Was treibt dich hierher?“, frage ich, und weil der Tequila noch in meinem Mund brennt, trinke ich einen Schluck des süßen Cocktails hinterher. Alkohol mit Alkohol bekämpfen – etwas sagt mir, dass ich das morgen jämmerlich bereuen werde.

„Ich suche Inspiration.“ Er klopft auf den Gitarrenkoffer neben sich, und ich nicke.

„Ergibt Sinn, aber ich glaube, hier findest du nicht so wirklich was außer Romantik und Kitsch.“ Ich hickse erneut, alles um mich herum dreht sich, und ich genieße das. Ich brauche das. Es ist ein Fehler, doch es ist zu spät.

Er beugt sich zu mir.

„Vielleicht ist das ja genau das Richtige“, sagt er, und ich spüre seinen heißen Atem auf meinem Gesicht.

Ich lache verbittert auf. „Liebe ist nur was für Idioten.“

Er zieht eine Augenbraue nach oben, ebenso wie einen Mundwinkel. Das sieht unfassbar sexy aus.

„Der Grund für den Abschuss?“, hakt er nach.

„Darf ich mich noch mal richtig vorstellen? Ich bin Malu, achtundzwanzig Jahre alt, und das hier ist meine Hochzeitsreise.“ Ich sehe, wie sich seine Schultern anspannen, und lege eine Hand auf seinen Unterarm. „Keine Sorge, er ist nicht hier. Er ist auf meine beste Freundin gefallen, mit den Lippen direkt zwischen ihren Beinen gelandet“, lache ich, bevor es mich erneut trifft, wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Aus meinem Lachen wird ein Schluchzen, und im nächsten Moment sprudelt alles aus mir heraus. „Ich bin achtundzwanzig und dachte, ich wäre endlich im Leben angekommen. Wir waren das perfekte Paar, alles lief gut. Jeder hat uns bewundert.“ Ich ziehe meine Nase hoch. „Es sollte der schönste Tag meines Lebens werden. Mein verdammtes Kleid hat so viel gekostet wie ein Kleinwagen, aber es war egal, immerhin heiratet man nur einmal, oder?“

Ich lache auf, die Tränen trüben meine Sicht. „Er hat sie einfach genommen vor der Trauung. Ich dachte immer, es würde Unglück bringen, sich davor zu sehen, aber ich konnte doch nicht ahnen, dass er sie einfach …“ Ich sehe die Bilder wieder vor meinem inneren Auge und schlinge die Arme um meinen bebenden Körper, fühle mich hilflos, verzweifelt, und gleichzeitig bin ich so wütend. „Er hat nichts gesagt, nicht als ich ihm eine geknallt habe, nicht als sie mir eine Szene gemacht hat, dass sie seine wahre Liebe wäre. Er stand da und hat geschwiegen.“ Ich atme tief durch.

„Manchmal kann Schweigen verletzender sein als jedes Wort.“

„Kannst du dir vorstellen, dass in nur einer Sekunde der schönste Moment deines Lebens zum schrecklichsten wird? Es hat nicht einmal ein Zwinkern gebraucht, um ihn zu verwandeln.“

Ich schlage mir die Hände vor die Augen, stütze die Ellenbogen auf der Theke ab und fange hemmungslos an zu heulen. Ich kann nicht anders, ich kann nur alles rauslassen. Ein Teil von mir wartet darauf, dass er mich umarmt, dass er vielleicht irgendwas sagt, doch er schweigt. Ich kann mich nicht beruhigen, und es dauert Ewigkeiten, bis seine Stimme ertönt.

„Ich bringe dich in dein Zimmer.“ Seine Worte sind tonlos, völlig ohne Emotionen, und ich schüttele trotzig den Kopf.

„Ich möchte trinken und vergessen“, sage ich, und er sieht mich an. Habe ich schon gesagt, dass seine Augenfarbe an Schokolade erinnert? Dunkle Schokolade in einem Schokobrunnen. Ich möchte darin schwimmen.

„Komm, Malu. Du musst ins Bett.“

Ich lache, ziehe beide Augenbrauen nach oben und bin mir sicher, dass ich nicht so gut dabei aussehe wie er.

„Man sollte beim ersten Treffen nicht weiter gehen als bis zu einem Kuss.“

Er presst seine Lippen aufeinander und nimmt mich sanft am Oberarm.

Es ist das zweite Mal seit meiner Flucht, dass mich jemand anderes als Erick berührt, und das allein reicht aus, dass ich erneut falle. Meine Knie geben nach, was sowohl an den Tränen liegt als auch an der Menge Alkohol im Körper. Ich schluchze auf, weil ich die bitteren Tränen auf meinen Lippen spüre. Wozu habe ich mich schick gemacht?

„Er hat mich einfach betrogen am Tag unserer Hochzeit.“ Ich wiederhole die Worte immer wieder, wie ein Mantra, weil ich es noch immer nicht begreifen kann. Wird der lodernde Schmerz weniger werden? Seitdem ich getrunken habe, ist er stärker geworden. Wann wird es anfangen, nicht mehr so weh zu tun, und wann verdammt nochmal werden die Tränen versiegen für einen Menschen, der es nicht verdient, dass ich auch nur eine an ihn verschwende?

Alles dreht sich um mich.

„Ich glaube, ich muss mich über…“ In diesem Moment passiert es auch schon. Ich erbreche mich in einen Champagnerkühler, der plötzlich vor mir auftaucht, und wische mir dann mit dem Handrücken den Mund ab.

„Vielleicht bist du kein Rocker, sondern ein Zauberer?“, frage ich, weil ich nicht weiß, woher er den so schnell hat.

„Kannst du laufen?“

Ich nicke und setze einen Schritt vorwärts, doch ich sehe nichts, weil die Tränen hinterhältig sind und sich schon wieder in meinen Augen sammeln.

„Ich hebe dich jetzt hoch und bringe dich ins Bett.“

Ich kichere.

„Na, dann übergehen wir doch einfach die Regeln und landen direkt zusammen in der Kiste.“