Kapitel Eins
Kent, England
1817
Gareth Lockheart blickte etwas ratlos auf die schnüffelnden braunen und weißen Fellknäuel herab. »Brauche ich wirklich so viele?«, fragte er den Ehrenwerten Sandford Featherstone.
Beim Klang seiner Stimme bewegten sich die Welpen und wimmerten, und die Hundemutter – oder Hündin, wie man sie vermutlich nannte – warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, weil er ihre schlafende Brut geweckt hatte. Oder Herde. Oder wie auch immer man eine Menge Welpen nannte; Welpen mit einem edleren Stammbaum, als Gareth Lockheart ihn sein Eigen nennen konnte.
Featherstones Kopf wippte vor Begeisterung auf und ab, was Gareth anstrengend fand. »O ja, so viele und mehr, wenn Sie jagen wollen.«
Ach ja, die Jagd. Die angebliche Notwendigkeit zu jagen hatte er ganz vergessen. Gareth runzelte die Stirn bei dieser Aussicht, machte sich aber nicht die Mühe, mit dem pedantischen, feingliedrigen Aristokraten zu diskutieren. Schließlich war das genau die Art von Information, für die er Featherstone bezahlte: wie man sich als Adliger benimmt; wie man ein Haus baut und einrichtet, das aussieht, als hätten seit Jahrhunderten feine Pinkel darin gelebt.
Gareth musste einen Augenblick innehalten, um sich selbst daran zu erinnern, warum er das alles unternahm.
Ach ja, er erinnerte sich: Er nahm all dieses Brimborium, die nervtötenden Diskussionen und ausufernden Ausgaben in Kauf, weil sein Geschäftspartner, Declan McElroy, behauptete, dass sie eine zivilisierte Fassade präsentieren mussten, wenn sie jemals beim Adel ankommen wollten und dass Gareth so erfolgreicher Geschäfte machen könnte. Wahrscheinlich hatte er recht, obwohl ihm nicht klar war, warum er Declans Urteil über irgendetwas vertrauen sollte, das mit England zusammenhing. Schließlich verachtete Declan die Engländer, und es bereitete ihm großes Vergnügen, sich irischer zu geben als die Iren, obwohl er nie einen Fuß auf die grüne Insel gesetzt hatte.
»Und wegen dieser Jagdpferde, Mr Lockheart …«
Als Featherstone sprach, sah Gareth von den schlummernden Welpen auf; eine kratzige Stimme mit kurzen Konsonanten und einem herablassenden Tonfall. Der kleinere Mann beobachtete ihn genau; sein Ausdruck war besorgt und … noch irgendetwas.
Gareth war vielleicht nicht besonders gut darin, Leute einzuschätzen, doch er wusste genau, was Adlige in ihm sahen: einen Emporkömmling mit mehr Vermögen und Einfluss als ein solcher Straßenköter verdiente. Er fand eine solche Einstellung weder beleidigend noch amüsant; sie interessierte ihn bloß nicht.
Es war eine Tatsache, dass die dicken Mauern der Aristokratie von wohlhabenden Händlerfürsten wie Gareth durchbrochen worden waren; die Macht des Hochadels rann durch diesen Riss wie Wasser durch das Speigatt eines Schiffs.
Doch es war ein langsamer Wandel, und der uralte englische Landadel hatte noch immer einen Einfluss auf die Regierung, der in keinem Verhältnis zu seiner Zahl oder seinem Vermögen stand.
Die Rechnung, die sich daraus ergab, war einfach: Die Adligen waren auf Männer wie Gareth ebenso angewiesen wie er auf sie.
Featherstone trat unter Gareth’ ruhendem Blick von einem Fuß auf den anderen. »Mein Cousin hat ein sehr angesehenes Gestüt in Yorkshire und …« Die Worte sprudelten aus seinem Mund und erfüllten die stickige Luft im Stall wie ein Schwarm Mücken. Worte, Worte und noch mehr Worte.
Gareth bekam langsam wieder dieses Gefühl, zerplatzen zu müssen, das ihn immer befiel, wenn er zu lang in Featherstones Gegenwart verbrachte oder in der Gegenwart anderer, die seine Zeit mit trivialen Dingen verschwendeten, über die sie bereits gesprochen hatten.
Er unterdrückte das unangenehme Gefühl, was geistige Gelenkigkeit erforderte und ihn viel Mühe kostete.
Zunächst lenkte Gareth seine Aufmerksamkeit weg von der aktuellen Situation. Dann beschäftigte er sich mit der Goldbachschen Vermutung, einem bis dato ungelösten mathematischen Problem aus dem Jahr 1742. Über ein solches Rätsel nachzudenken, beruhigte ihn immer.
Jede gerade Zahl, die größer als zwei ist, ist Summe zweier Primzahlen.
»Mr Lockheart?«
Gareth zwang sich, seinen Blick wieder auf Featherstones schmales, ängstliches Gesicht zu konzentrieren und sich zu erinnern, wovon er geplappert hatte. Von Pferden. Er hatte über Pferde geredet.
Gareth runzelte die Stirn. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, Sie sollen die Tiere kaufen, die Sie für angemessen erachten, Featherstone. Derlei Entscheidungen habe ich Ihnen anvertraut, damit Ich damit nicht behelligt werde.« Und doch behelligen Sie mich, hätte er gern hinzugefügt, ließ es aber lieber.
Stattdessen machte er auf dem Stiefelabsatz kehrt und ging zum Ausgang. Er hatte gehofft, der andere Mann würde zurückbleiben, doch er konnte hören, wie er sich hinter ihm bemühte, mit ihm Schritt zu halten.
»Aber Mr Lockheart, Sie wollen nicht einmal über Ihre eigenen Reitpferde sprechen?«
»Nein.« Ihre Schritte hallten durch die geräumigen, noch leerstehenden Ställe wie Pistolenschüsse.
Gareth wechselte absichtlich das Thema. »Wann wird Hiram Beech ankommen?«
»Mr Beech wird hier am späten Nachmittag eintreffen.«
Gareth verbiss sich die Wut, die er empfand, wenn er an Beech dachte. Er hatte Amon Henry Wilds für die Gestaltung von Rushton Park gewinnen wollen, doch der berühmte Architekt hatte es abgelehnt, einen Auftrag so weit entfernt von seinem geliebten Brighton anzunehmen. Nicht einmal, als er ihm das Dreifache seiner üblichen Bezahlung angeboten hatte, war es Gareth gelungen, ihn fortzulocken. Gareth hatte die Erfahrung gemacht, dass ein Mann, der keinen Preis hatte, selten zu finden war, und er hatte entdeckt, dass es ihm nicht gefiel.
Also hatte er sich an Stelle von Wilds für Beech entschieden, der ihm als Architekt sehr empfohlen worden war und der ein Faible für den Indo-Sarazenischen Stil hatte; und der, so hatte man Gareth gesagt, war gerade absolut en vogue.
Es war ihm völlig gleich, in welchem Stil der Landsitz erbaut wurde, er wollte nur, dass er von einem der Besten gebaut wurde.
Welchen Sinn hätte das Ganze sonst?
Um ehrlich zu sein, hatte Gareth rasch das Interesse an dem sich ausbreitenden Ziegelhaufen verloren, nachdem die Bauphase beendet war. Er hatte keinen Sinn für Design, Dekor oder Innenausstattung und hatte nur Spaß an den technischen Aspekten des Projekts gehabt.
Oh, er war so weit zufrieden mit dem Haus, glaubte er jedenfalls. Nicht, dass er viel Zeit dort verbracht hätte. Er hoffte, dass all der Wirbel und das Chaos im Frühjahr beendet sein würden, wenn das Gebäude endlich fertig würde. Jetzt allerdings hatte man ihm gesagt, er benötige eine Art Lustgarten oder eine antike Ruine oder so einen Firlefanz. Und offenbar war Beech genau der Richtige, um so etwas zu entwerfen und zu bauen, da er bereits mit dem Anwesen vertraut war, und es erschien Gareth die am wenigsten lästige und zeitraubende Option, ihn einzustellen.
Sie erreichten die Stufen vor dem Haupteingang – zwanzig gab es davon, aus dem feinsten italienischen Marmor, abgebaut und importiert vom Kontinent, nun, da der Krieg vorüber war – und Gareth blieb stehen und wandte sich Featherstone zu. Er konnte es nicht abwarten, ihn loszuwerden.
»Ich habe noch viel zu tun und werde in die Bibliothek gehen. Ich denke, Sie können sich allein um alles kümmern, was Beech betrifft.«
Selbst für Gareth’ ungeübte Ohren klangen seine Worte reichlich kurz angebunden und unhöflich. »Ich werde Sie dann nicht weiter von Ihrer Arbeit abhalten«, fügte er hinzu, um der unfreundlichen Aufforderung die Schärfe zu nehmen.
Featherstone nickte und rieb seine Hände in der zwanghaften Waschgeste, die Gareth lästig und geschmacklos fand. Dieser Mann war eine unangenehme Mischung aus herablassend und geschmeidig, aber Beech hatte ihn empfohlen. »Mr Beech kommt in Begleitung von …«
Gareth hob die Hand. »Ja, das sagten Sie bereits. Er wird einen Steinmetz oder Bildhauer oder Gärtner oder so etwas mitbringen. Ich werde vor dem Abendessen mit beiden oder allen von ihnen sprechen.«
Gareth warf die Worte über seine Schulter. Er konnte nicht abwarten, zurück an die Arbeit zu kommen.
Mit großen Schritten durchquerte er die Eingangshalle und wandte sich nach rechts, um durch die portraitlose Portraitgalerie zum Wohntrakt des Hauses zu gelangen. Er verbrachte den Großteil seiner Zeit auf Rushton Park in der Bibliothek, die aus drei riesigen miteinander verbundenen Räumen bestand. Sie erschien Gareth übertrieben groß, aber der Entwurf ahmte offenbar eine antike Bibliothek aus einem Ort nach, von dem Gareth noch nie gehört hatte. Er hatte lediglich von Beech verlangt, dass sie hell und geräumig genug sein sollte für seinen Schreibtisch, seine gesammelten Journale und einen bequemen Stuhl. Und als Featherstone begonnen hatte, das Haus mit Möbeln und allerlei anderem Zeug auszustatten, hatte er sich lediglich ausgebeten, dass die Bibliothek nicht mit ablenkendem Nippes vollgestopft würde.
Zwei Diener standen vor der Flügeltür bereit und warteten nur auf seine Ankunft. Gareth ignorierte das unangenehme Gefühl, das eine solche Dekadenz bei ihm auslöste; schließlich hatte er das gewollt, einen Landsitz, der ebenso überdimensioniert und überbesetzt war wie die Residenzen der königlichen Herzoge. Eigentlich hatte Gareth sogar mehr Diener und ein größeres Haus.
Seit er vor zwei Tagen aus London hergekommen war, ließ er sich täglich zweimal von Boten seine Korrespondenz bringen. Der Stapel Briefe war bereits fast zehn Zentimeter hoch. Dort würden Geschäftsberichte auf ihn warten, aber der Großteil des Stapels würde die neue Töpferei betreffen, die er in London bauen ließ, sein bisher ehrgeizigstes Projekt.
Gareth hatte sich erst zur Hälfte durch den Stapel gearbeitet, als ein Räuspern ihn aufsehen ließ. Sein Butler, Jessup, wartete in der Tür.
»Ich hatte darum gebeten, nicht gestört zu werden.«
Der hochgewachsene, gertenschlanke Mann nickte leicht, aber seine Miene blieb unbewegt wie eine geschnitzte Totemmaske. Er war, das wusste Gareth, absolut unerschütterlich. Gareth hatte ihn dem Duke of Remington abspenstig gemacht, wo Jessups Vorfahren seit zweihundert Jahren als Butler gearbeitet hatten. Remington konnte nicht mit dem Gehalt mithalten, das Gareth ihm zahlte.
»Da ist eine Besucherin, Mr Lockheart. Mrs Serena Lombard.«
Gareth schüttelte den Kopf. »Eine solche Person kenne und erwarte ich nicht.«
»Sie ist hier im Auftrag von Mr Beech, Sir. Wegen der Gärten.«
»Aha, ich verstehe.« Auch wenn das nicht der Wahrheit entsprach. Er räusperte sich. »Sie sagen, Beech hat eine Gärtnerin engagiert?«
»Richtig, Sir. Mrs Lombard ist eine Frau. Und Gärtnerin«, bestätigte Jessup.
Manchmal – nur gelegentlich – fragte sich Gareth, ob sein Butler sich über ihn lustig machte. Er schüttelte den Gedanken ab. Was wusste er schon von Gärtnern? Es konnten genauso gut alles Frauen sein. Nun, wer auch immer sie war und was auch immer sie tat, Gareth würde es zu gegebener Zeit herausfinden.
Er warf Jessup einen ungeduldigen Blick zu. »Featherstone soll sich darum kümmern, Jessup.«
»Mr Featherstone ist ins Dorf gefahren, Sir.«
Gareth starrte ihn an.
Jessup nickte, als ob er etwas gesagt hätte. »Ich werde sie in den Salon führen und ihr Tee anbieten.«
»Ja, sehr gut. Setzen Sie sie in ein Zimmer mit Tee.« Es gab Gott weiß genug Räume in diesem Haus – dreiundsiebzig – einer davon würde doch wohl angemessen sein, um unerwarteten weiblichen Besuch zufriedenzustellen.
Gareth wandte seinen Blick und seine Aufmerksamkeit wieder den ordentlichen Zahlenkolonnen vor ihm zu.
»Sehr wohl, Sir.«
Er hörte den Butler kaum, denn sein Verstand beschäftigte sich längst wieder mit seinen Zahlen und hatte die Frau bereits vergessen.
***
Serena betrachtete wohlwollend das großzügig bestückte Teetablett und nahm sich drei verschiedene Sorten Keks und das hübscheste Törtchen, das sie je gesehen hatte. Derlei Delikatessen waren in diesen Tagen selten. Selbst wenn sie das Elternhaus ihres verstorbenen Mannes besuchte, den Duke und die Duchess of Remington, war das Angebot recht dürftig; der mächtige Duke hatte seit Kriegsende gelitten und sich gezwungen gesehen, sich auf seine sechs Häuser zurückzuziehen.
Serena sah sich in dem riesigen Salon um, der pompöseste, in dem sie je gesessen hatte, und genoss ihre Köstlichkeiten. Der Butler kehrte zurück, nachdem sie etwa eine Viertelstunde allein dort gesessen hatte.
»Haben Sie alles, was Sie benötigen, Mrs Lombard?« Das kurze Zögern vor ihrem Namen war kaum wahrnehmbar, aber sie hatte es dennoch bemerkt.
Serena legte den Kopf schräg und lächelte ihm zu. »Was denn? Sind wir denn keine Freunde mehr, Jessup? Wie geht es Ihnen? Ich bin dieses Jahr noch nicht auf Keeting gewesen, aber ich war zu Weihnachten dort. Seine Gnaden erinnert sich gern an Sie, wissen Sie?« Keeting Hall war der Landsitz des Dukes of Remington.
Die Haut über den hohen, scharfgeschnittenen Wangenknochen des Butlers hatte einen leichten rosigen Schimmer angenommen. »Und ich denke noch oft an Seine und Ihre Gnaden und auch an die übrige Familie.« Er sah aus, als wollte er noch mehr sagen, doch er zögerte.
»Seine Gnaden macht Ihnen aus Ihrem Weggang keinen Vorwurf, Jessup«, sagte sie.
Nun, das war ein wenig geflunkert. Ihre Schwiegereltern waren am Boden zerstört gewesen, weil er nach so langen Jahren in der Familie den Dienst quittiert hatte. Aber Mr Lockheart, der angeblich zu den zehn reichsten Männern in Britannien zählte, hatte ein Gehalt angeboten, das zu hoch gewesen war, als dass Robert Jessup es hätte ausschlagen können.
Jessups Lippen zuckten, und man hätte es beinahe für ein Lächeln durchgehen lassen können. »Sie sind zu liebenswürdig, Madam.«
»Und wie gefällt es Ihnen hier?« Serena schaute sich in dem riesigen Raum um, der mit seiner kühnen Farbgebung in Fuchsia, Gold und Grün, den opulenten Vorhängen aus Seide und Samt und den Möbeln im ägyptischen Stil an ein Serail erinnerte.
»Ich finde, meine Position passt ausgezeichnet zu mir, Mrs Lombard.«
Wieder hörte sie das Zögern vor ihrem Namen. Sie wusste, dass Jessup genau wie die Familie ihres verstorbenen Mannes bedauerte, dass sie sich weigerte, ihren Ehrentitel zu benutzen. Serena ließ sie alle gern in dem Glauben, dass ihr Widerstand gegen aristokratische Titel ihrer französisch-republikanischen Erziehung geschuldet war, anstatt ihnen den wahren Grund zu nennen; denn diese Wahrheit durften sie nie erfahren.
Sie merkte, dass der Butler auf ihre Antwort wartete. »Es freut mich, zu hören, dass Sie hier glücklich sind, Jessup.« Und das war die Wahrheit. Es war zu schade, dass er sein langjähriges Zuhause hatte verlassen müssen, aber – wie sie nur zu gut wusste – verdiente jeder eine Chance auf ein besseres Leben.
Serena stellte Tasse und Untertasse zurück auf das riesige Teetablett.
»Mr. Beech hat mich gebeten, mit ihm an den neuen Gärten für Rushton Park zu arbeiten.« Jessup wusste, womit Serena ihr Geld verdiente. Er hatte für die Familie Lombard gearbeitet, als sie vor fast zehn Jahren zuerst nach England gekommen war. Er war dabei gewesen, als Serena – nachdem sie ihr erstes Jahr unter der Obhut des Herzogs und der Herzogin verbracht hatte, die sehr freundlich zu der ausländischen Witwe ihres jüngsten Sohnes waren – ihre neuen Verwandten schockiert hatte, indem sie nach London gezogen war und dort eine Stelle als Lehrerin für Kunst und Bildhauerei an einer Mädchenschule angetreten hatte.
Wieder einmal hatte die Familie ihres Mannes ihr verrücktes französisches Erbe dafür verantwortlich gemacht, aber zum Glück nicht versucht, sie davon abzuhalten, ihren kleinen Sohn aus dem Komfort von Keeting Hall herauszunehmen und zusammen in ein Stadthaus mit zwei weiteren Lehrerinnen zu ziehen. Es war eine schwierige Entscheidung gewesen, aber sie bereute sie nicht.
»Wenn Sie gestatten, Madam, ich habe Ihre Arbeit gesehen, und sie ist sehr schön.«
Der Jessup von damals hätte nie unaufgefordert seine Meinung geäußert. Vielleicht hatte die Arbeit in einem Whig-Haushalt ihn egalitärer gemacht.
»Danke, Jessup.« Sie stand auf und strich sich den Rock ihres dunkelgrünen Reisekostüms glatt. »Ich bin erfrischt und begierig darauf, Rushton Park zu sehen. Wäre es möglich, einen Spaziergang über das Gelände zu machen?«
»Natürlich, Madam.«
Serena öffnete die Verschlusslasche der großen Ledertasche, ohne die man sie selten sah, und nahm ihren Skizzenblock heraus.
Sie lächelte ihm zu. »Ich bin bereit.«
Als er ging, um ihr die Tür zu öffnen, studierte Serena seine vertraute schmale Gestalt und die schwarz gekleideten Schultern und beschloss, dass sie sich mehr als erwartet über das Wiedersehen mit einem alten Bekannten und Diener der Familie freute. Natürlich hatte sie gewusst, dass Jessup für den zurückgezogen lebenden Gareth Lockheart arbeitete, aber der Mann hatte Häuser in London, Edinburgh und Bristol. Hätte sie mehr als nur kurz darüber nachgedacht, hätte sie angenommen, dass Lockheart den unvergleichlichen Butler in seinem Londoner Haus eingesetzt hätte, wo er Gerüchten zufolge die meiste Zeit verbrachte.
Jessup führte sie eine Treppe hinunter, die breit genug war, dass sieben Soldaten in Reih und Glied nebeneinander hätten hinuntergehen können, und blieb unten angekommen stehen.
»Würden Sie gern durch die Orangerie hinausgehen, Madam?«
»Ja, bitte. Von der Auffahrt aus habe ich sie nicht gesehen, aber auf Beechs Zeichnungen.«
Das Haus glich einem elisabethanischen »E«, aber mit vielen Abwandlungen, und einige davon waren eher … unkonventionell.
»Wie lange sind Sie schon hier, Jessup?«
»Ich bin vor zwei Tagen mit Mr Lockheart hergekommen, Madam. Ich war in seinem Stadthaus in London, habe ihn aber hierher begleitet, um mich um einige unerledigte Aufgaben im Haushalt zu kümmern.«
Serena hatte noch nie ein vergleichbares Haus gesehen. Es bestand aus einem corps de logis, der sich aus einem zentralen Gebäude mit zwei Seitenflügeln zusammensetzte, die drei Stockwerke hoch waren und drei Seiten eines Hofs – oder cour d’honneur – umschlossen.
Entweder Lockheart oder Beech hatten offenbar ein Faible für Zwiebeltürmchen, denn davon gab es ganze fünf Stück. Die blendend weiße Fassade war mit einer Vielzahl von Spitzbögen, minarettartigen Türmchen und leeren Sockeln verziert, die noch auf Statuen warteten. Der Mischmasch aus orientalischen und Indo-sarazenischen Elementen war dem Royal Pavillion so ähnlich, dass sie das Gefühl hatte, sie wäre falsch abgebogen und in Brighton gelandet. Dem Interieur fehlte die Chinoiserie, soweit sie gesehen hatte. Tatsächlich folgte das Dekor weit weniger einem eindeutigen Stil als das Äußere und wirkte eher wie der halbherzige Kompromiss eines Entscheidungsgremiums.
Die Halle war lichtdurchflutet, und vor ihr befand sich eine Wand aus Bleiglas.
»Meine Güte, wie schön«, sagte Serena, als Jessup eine der massiven Doppeltüren zu dem leeren Wintergarten öffnete, in dem nicht einmal ein Stock, eine Pflanze, ein Blatt oder auch nur ein Krümel Erde zu finden waren. »Wann wurde er fertiggestellt?« Sie drehte sich im Kreis und starrte auf die spektakulären Glaswände und das Vordach.
»Im letzten Frühjahr, Ma’am.«
Serena fühlte sich gleich an die Orangerie auf Keeting Hall erinnert, die vielleicht ein Viertel so groß war wie diese und so voller Pflanzen, dass sie wie ein Dschungel anmutete. Sie mochte alt und zu voll sein, das Glas stumpf und voller Risse, aber sie war lebendig. Das konnte man von diesem leeren Glaskasten nicht behaupten. Beech hatte die Orangerie nicht erwähnt, aber Serena konnte den leichten Anflug von Erregung nicht unterdrücken, der sie ereilte, als sie daran dachte einen solch schönen Raum mit Leben zu füllen.
Jessup öffnete einen Flügel der Glastür, und sie traten hinaus in die kühle Frühlingssonne. Sie wandte sich zu ihm um. »Ich werde einfach die nähere Umgebung erkunden, bis Mr Beech eintrifft.«
Der Butler hob die Augenbrauen.
»Was ist denn, Jessup?«
»Wir erwarten Mr Beech nicht vor dem späten Nachmittag, Ma’am.«
Serena runzelte die Stirn. »Er sagte mir, es sei ein Treffen am Mittag geplant. Ich habe für vier Uhr eine Mietkutsche bestellt, die mich abholt.«
»Mr Beech wird um fünf Uhr anreisen und über Nacht bleiben.«
Serena wollte vor Verärgerung aufjaulen, aber sie konnte es wohl kaum Jessup anlasten. »Ich fürchte, Mr Beech hat es unterlassen, mich über die korrekte Zeit und Dauer des geplanten Treffens zu informieren.« Sie seufzte und sah sich um, ohne wirklich hinzusehen. Ihre Gedanken drehten sich. Die teure Reise hierher und zurück hatte natürlich Mr Lockheart bezahlt. Darum musste sie sich also keine Gedanken machen. Allerdings hatte sie keine Kleidung zum Wechseln mitgebracht oder was sie sonst noch für eine Übernachtung benötigt hätte. Außerdem hatte sie Lady Winifred, ihrer Freundin und Mitbewohnerin nicht gesagt, dass sie über Nacht fortbleiben würde. Und natürlich würde Oliver erwarten, sie morgen früh zu sehen.
Sie sah auf, sah Jessups unbewegten Ausdruck und zuckte mit den Schultern. »Nun, Jessup, das ist ein ziemliches Durcheinander. Ich war auf eine Übernachtung nicht eingestellt und habe niemandem gesagt, dass ich länger ausbleiben würde.« Sie biss sich besorgt auf die Unterlippe. »Sie kennen die Abläufe hier, was raten Sie mir?«
Sein Ausdruck blieb unverändert, aber seine dunklen Augen verrieten, dass ihm ihre ruhige Reaktion gefiel.
»Mr Lockheart ist ein Gentleman, der nicht lange an einem Ort bleibt, Ma’am. Er wird Rushton Park bereits morgen verlassen und für einige Tage nach London zurückkehren, aber danach wird er in den Norden aufbrechen, soviel ich weiß. Es könnte eine Weile dauern, bevor er wieder für ein mögliches Treffen nach Rushton Park kommt.«
Das war seine Art zu sagen, dass sie bleiben sollte. »Verstehe.«
Jessups Mund öffnete sich ein wenig, doch dann schloss er ihn wieder.
»Was denken Sie? Halten Sie nichts zurück.«
»Müssen Sie zwingend noch heute Abend zurück in London sein?«
»Nein, aber mein Sohn und unsere Mitbewohnerin werden sich Sorgen machen, wenn ich heute Abend nicht zurück bin.«
»Könnten Sie sich vorstellen zu bleiben, wenn ich Sie mit allem Nötigen für eine Übernachtung versorgte und eine Nachricht an Ihre Freundin und Master Oliver schicken ließe?«
Es war nicht ideal, aber sie wusste, dass ihr dieser Auftrag viel Geld einbringen würde.
»Vielen Dank, Jessup, das wäre ganz fabelhaft.«
»Wenn Sie mich dann entschuldigen mögen, ich werde mich sofort darum kümmern. Ich überlasse Sie dann Ihrem Spaziergang und bin in etwa einer halben Stunde zurück.«
***
Gareth hatte die großen Rollen mit Plänen für die neue Töpferei auf dem riesigen aufgebockten Holztisch ausgebreitet, den er genau für diesen Zweck hatte anfertigen lassen. Er studierte sie mit einer Lupe, wobei er jedes kleine Detail der gigantischen Brennöfen in Augenschein nahm.
Er war so darin vertieft, dass er vor Schreck beinahe aus der Haut gefahren wäre, als sich hinter ihm jemand räusperte. Er ignorierte seinen rasenden Herzschlag und seufzte. »Ja, Jessup, was ist nun schon wieder?«
»Es tut mir schrecklich leid, Sie zu stören, Sir, aber es scheint, als hätte es ein kleines Missverständnis gegeben.«
Kapitel Zwei
Serena bestaunte den riesigen mit Büchern gefüllten Raum. Eigentlich waren es drei miteinander verbundene Räume. Solch eine Bibliothek hatte sie noch nie gesehen. Natürlich war das gesamte Anwesen einzigartig, angefangen bei der üppig bewachsenen Landschaft um das Haus herum, bis hin zu der enormen Suite, die man ihr für ihren kurzen Aufenthalt zugewiesen hatte. Die Zimmer waren doppelt so groß als alle, an die sie sich aus Keeting Hall erinnern konnte.
Jessup hatte sie wie eine Königin behandelt und einen Eilboten nach London und einen anderen bis nach Ayelford geschickt – der nächsten Stadt, in der es ein Bekleidungsgeschäft gab – um für sie ein Nachthemd und einen Morgenrock zu besorgen. Diese Dinge und eine Auswahl weiterer Toilettenartikel, Kämme und Bürsten erwarteten sie in ihren großzügig ausgestatteten Gemächern. Serena würde ihre Kleidung am Abend zum Dinner tragen müssen und auch morgen noch, wenn sie abreiste, aber Jessup informierte sie, dass er Mr Lockheart darauf hingewiesen hatte und das Dinner am heutigen Abend informell gestaltet würde.
Insgesamt konnte sie nicht unzufrieden darüber sein, einen Abend in einem solchen Haus verbringen zu können. Allein die Bibliothek war die Umstände wert. Die Bücherregale begannen nur wenige Zentimeter über dem Fußboden und reichten bis zur Decke, die ihrer Schätzung nach etwa vier bis fünf Meter hoch war. Die Bibliotheksleiter war bedrohlich hoch, und sie konnte sich vorstellen, dass sie Leib und Leben riskieren würde, um hinaufzusteigen und ein Buch zu holen.
Sie betrachtete gerade eine besonders exquisite sechsbändige Sammlung illustrierter französischer Gedichte, als sich die Tür hinter ihr öffnete. Als sie sich umdrehte, entdeckte sie Sandy Featherstone, einen Vetter zweiten Grades ihres verstorbenen Mannes.
»Hallo, Serena. Beech sagte mir, du hättest dich einverstanden erklärt, herzukommen.« Er kam ihr mit ausgestreckten Armen entgegen, und Serena ließ sich widerwillig von ihm umarmen. Er war ein unangenehmer Mensch, den sie nur seiner Verbindung zur Familie wegen tolerierte.
Serena machte einen Schritt nach hinten, als offensichtlich wurde, dass er sie nicht freiwillig loslassen würde. Er beäugte sie auf eine Weise, bei der sich ihr Kiefer verkrampfte, während seine Hände mit den kurzen Fingern stetig ihre gewohnte Waschbewegung machten.
»Hallo, Sandy.« Serena rang sich ein Lächeln ab. »Wie mir scheint muss ich mich also bei dir für all das hier bedanken.« Sie machte eine ausladende Geste, die auf die gesamte Umgebung deutete.
Er grinste, was ein etwas erschreckender Anblick war, denn er schien doppelt so viele Zähne zu haben wie ein normaler Mensch. »Das war gar nichts, meine Liebe – lediglich eine Gefälligkeit unter Verwandten. Außerdem habe ich Beech geraten, dich wegzuschnappen, bevor dein Honorar exorbitant wird.« Er schmunzelte, sichtbar amüsiert über den Gedanken, dass so etwas geschehen könnte.
Serenas Lächeln wurde noch verkniffener. »Nun, was auch immer dich dazu bewogen hat, ich weiß es zu schätzen. Ich habe gerade eine Reihe kleinerer Aufträge erledigt und hatte noch nichts Neues in Aussicht.«
»Wozu hat man Cousins, meine Liebe?« Er deutete auf eine Reihe Karaffen, die auf einem Granitblock standen, der von massiven goldenen Löwentatzen getragen wurde. »Hättest du gern etwas zu trinken vor dem Abendessen, Serena?« Seine Hand zitterte leicht, was verriet, dass er ganz sicher etwas zu trinken brauchte.
»Ein Gläschen Sherry, wenn du eins hast.«
»Mr Lockheart hat alles.« Er lächelte verschmitzt, und wandte sich dann ihren Getränken zu. »Oh, und ich fürchte, es gibt enttäuschende Neuigkeiten«, sagte Sandy, während er mit den Gläsern hantierte. »Wie es scheint, ist Beech in London aufgehalten worden.«
Serena klappte das Buch zu, das sie gerade aus dem Regal genommen hatte, und stellte es zurück. Natürlich war er das. Das war genau, was an diesem Tag noch gefehlt hatte.
Sandy kam mit den Getränken auf sie zu. »Keine Sorge, er hat die Pläne geschickt, und wir können sie nach dem Abendessen durchgehen.«
Das munterte Serena etwas auf. Es war sogar besser, als Beech hier zu haben, da sie festgestellt hatte, dass der erfolgreiche Architekt ein wenig zu gern über sich selbst und seine Leistungen sprach. Die beiden Male, die sie ihn getroffen hatte, war er erst nach einer halben Stunde auf den Punkt gekommen.
Serena saß auf einem vergoldeten Sofa, dessen Polsterstoff einen recht gewagten Hellgrünton hatte, und Sandy nahm den Stuhl neben ihr, ein Stück im gotischen Stil mit Drachen als Armlehnen.
»Also, was hast du so getrieben, seit wir uns das letzte Mal – Grundgütiger!« Er betrachtete die aufwändig gestaltete Kassettendecke, als ob er dort ablesen könnte, was er wissen wollte. »Wie lange ist es her? Fünf Jahre?«
»So lang schon?« Doch sie wusste, dass er recht hatte. Sandy hatte etwas getan, um den Duke zu verärgern, und war seither an Weihnachten nicht mehr zu den berühmten jährlichen Hauspartys des Dukes und der Duchess geladen gewesen.
Sie nahm einen Schluck des ausgezeichneten Sherrys und stellte das Glas auf dem Beistelltischchen ab, das anscheinend die Form einer Sphinx hatte.
»Ja, Oliver hat noch dieses Holzpferdchen hinter sich hergezogen, wenn ich mich recht erinnere. Es waren Schulferien, und du hattest frei.«
Er lächelte süffisant, offensichtlich amüsierte ihn die Art, wie sie ihren Lebensunterhalt bestritt.
Es erstaunte Serena, dass er sich überhaupt an den Namen ihres Sohnes erinnerte. »Die Stefani Academy wurde im vergangenen Jahr geschlossen.«
»Das ist mir auch zu Ohren gekommen.« Seine spitze Nase zitterte, was sie an eine Ratte erinnerte. »Ich hörte auch, dass die Leiterin ziemlich fragwürdig war und sich plötzlich davongemacht hat, als hätte sie einen Skandal zu verbergen?«
Ein starkes Gefühl der Abneigung gegen Sandy und seine Darstellung ihrer Freundin Portia Stefani flammte in ihr auf.
Die besagte Schule war ihr eine Oase der Freundschaft und Sicherheit gewesen, und sie vermisste sie schrecklich. Sie beschloss, das Thema zu wechseln, bevor sie noch etwas sagte, das sie bereuen würde.
»Seither habe ich eine Reihe Aufträge erhalten. Insbesondere ein Projekt für die Mannerings.«
»Davon habe ich ebenfalls gehört – ein reichlich protziges Stück in der Krypta ihrer privaten Kapelle.«
Es erstaunte sie immer wieder, dass Sandy anscheinend alles wusste, was in den Kreisen des bon ton vor sich ging, auch wenn er selbst sich stets nur an ihrem äußersten Rand bewegte.
»Und du, Sandy? Wie hast du die Zeit verbracht?«
Abgesehen von Alkohol und Glücksspiel, hätte sie hinzufügen mögen.
»Mit dem, was du hier siehst.« Er wedelte mit der Hand in der Luft, in der anderen das bereits halbleere Glas. Sandy war dem Alkohol schon immer etwas zu sehr zugeneigt gewesen.
»Was genau ist deine Aufgabe bei Mr Lockheart?«
»Dies und das. Ich bin, wenn man so will, so etwas wie ein sehr gut bezahlter Sekretär, auch wenn er mich nicht mit Geschäftsangelegenheiten betraut.« Ein abfälliges Lächeln lag auf seinen Lippen. »Man könnte sagen, ich übernehme die Aufgaben seiner Ehefrau, bis er sich eine kaufen kann.«
»Oh! Er ist also auf dem Markt?«
Bei seinem Lächeln fühlte sie sich schmutzig. »Das klingt, als seist du interessiert, liebe Cousine.«
»Vielen Dank, ich bin mit meinem Leben so zufrieden, wie es ist, Sandy.«
Seine hochgezogenen Brauen verrieten, was er von dieser Behauptung hielt.
»Ich habe große Teile seines Dienstpersonals ausgewählt, all seine Immobilien ausgestattet, von seinem Londoner Stadthaus einmal abgesehen, und berate ihn beim Kauf von Kunstwerken. Derzeit bin ich mit der Pferdewirtschaft beschäftigt, die bis zum Herbst betriebsbereit sein soll.«
Plötzlich wurde Serena der Grund für die scheußliche Einrichtung klar. »Geht Mr Lockheart auf die Jagd?« Sie hatte nicht viel über ihn gehört, außer dass er reich und ein wenig seltsam sein sollte.
»Nein.«
Die Tür wurde geöffnet, bevor Sandy weitere Ausführungen machen konnte, und ihr Gastgeber betrat den Raum. Serena war überrascht. Er war nicht nur jünger als sie erwartet hatte, er war auch sehr elegant gekleidet und überaus attraktiv. Sie musste feststellen, dass sie den gängigen Klischeevorstellungen erlegen war und einen bulligen Kaufmann oder einen protzigen neureichen Städter erwartet hatte.
Er überquerte die ausgedehnte Teppichfläche, und Sandy sprang auf die Füße, um sie einander vorzustellen.
»Mr Lockheart, darf ich Ihnen Mrs Lombard vorstellen.«
Der groß gewachsene, gut proportionierte Adonis nahm ihre Hand und beugte sich flüchtig darüber.
»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Madam.« Seine Augen waren schiefergrau und undurchdringlich. So etwas hatte Serena noch nicht gesehen, er betrachtete sie, ohne dass sein Blick auch nur einen Hauch Interesse oder überhaupt eine Gefühlsregung verriet. Seine Lippen waren sündhaft voll und wohlgeformt, lächelten aber nicht.
Schätzungsweise überragte er sie um etwa einen Kopf, sein dunkelblondes Haar trug er etwas länger. Wie Sandy war er informell gekleidet, um sie wegen ihrer mangelnden Abendgarderobe nicht in Verlegenheit zu bringen. Er trug eine flaschengrüne Jacke zu einer sattbraunen Weste und dazu braune Pantalons, die in kaffeefarbenen, auf Hochglanz polierten Reitstiefeln steckten. Seine schneeweiße Krawatte war schlicht, aber elegant gebunden; an der Weste trug er eine einfache goldene Uhr ohne Uhrkette. Seine Kleidung war offensichtlich von einem Meister seiner Zunft hergestellt worden und war perfekt auf ihn zugeschnitten.
»Vielen Dank für Ihre Einladung nach Rushton Park, Mr Lockheart.«
Er nickte kurz und blickte auf die Uhr, seine sinnlichen Lippen verzogen sich leicht nach unten.
»Es sind noch siebzehn Minuten bis zum Dinner.« Er sah auf, und sein Blick wanderte von Serenas nahezu unberührtem Sherry zu Sandys leerem Glas. »Was trinken Sie, Featherstone? Ich schenke Ihnen nach.«
»Ah, vielen Dank, Sir. Brandy.«
Ohne ein weiteres Wort nahm er das Glas und ging zum Sideboard.
Sandy lächelte sie an und zuckte leicht mit den Schultern. Ihr zukünftiger Arbeitgeber war also ein überaus attraktiver Mann, allerdings war er schroff, und es mangelte an guten Umgangsformen. Nun, sie hatte ja bereits gehört, er sei anders.
»Ich denke, Jessup hat Sie bereits darüber in Kenntnis gesetzt, dass Mr Beech nicht zum Dinner zugegen sein wird«, sagte Sandy, und sein Zwinkern verriet, wie unangenehm ihm Schweigen war.
»Ein Bote brachte seine Pläne. Wir werden einfach ohne ihn beginnen«, sagte Lockheart. »Nach dem Dinner werden wir uns anschauen, was er entworfen hat.« Seine Stimme war ebenso ausdruckslos wie sein Gesicht. Weder Verärgerung noch Bedauern oder Wut darüber, dass Beech nicht kommen würde. Er kam wieder zu ihnen, gab Sandy seinen Drink – einen doppelten, wenn Serena es richtig gesehen hatte – und nahm auf dem Stuhl gegenüber Serena Platz.
Der recht verstörende Blick seiner kühlen grauen Augen ruhte auf Serena, und er nahm einen Schluck aus seinem Glas. Wie seine gesamte Gestalt waren auch seine Hände schlank, elegant und schmucklos.
Serena hatte den typischen Geschäftsmann erwartet, einen bulligen und aufgeblasenen Mann älteren Semesters. Lockheart jedoch sah nicht nur aus wie ein Gentleman, er sprach auch wie einer. Auch wenn sein Akzent nicht unbedingt aristokratisch war, drückte er sich gewählt und präzise aus, jedenfalls nicht wie jemand, der angeblich aus einem eher fragwürdigen Teil Londons stammte. Hinter diesem Mann verbarg sich mehr, als auf den ersten Blick erkennbar war.
»Ich hörte, Sie hätten heute Nachmittag bereits das Anwesen inspiziert, Mrs Lombard.«
»Inspiziert wäre übertrieben, aber ich bin bis zum Fluss gegangen und dann an dem kleinen Waldstück entlang.«
»Hat der Spaziergang Sie zu Ideen inspiriert?«
Serena schmunzelte. »Ich habe immer Ideen.« Sie lächelte ihn an, aber er blinzelte nur ungerührt. Er hatte also keinen Humor. Sie versuchte es erneut. »Soweit ich es verstanden habe, wollte Mr Beech einen allgemeinen Entwurf schicken, und ich soll mich um die Details und die Bildhauerarbeiten kümmern.«
»Das ist wahr. Ich habe Mr Beech angestellt, um einen Plan zu entwerfen. Haben Sie denn bereits selbst Gärten entworfen und gestaltet?«
»Das habe ich«, gab sie zu, und die Frage überraschte sie. »Allerdings nie ein großes Projekt wie dieses.«
»Was würden Sie denn tun, wenn Sie zu entscheiden hätten?«
Das war allerdings tatsächlich eine gute Frage, die ihr bisher noch kein Klient gestellt hatte. Viele hatten ihre eigenen Ideen und Vorstellungen, und meistens waren die nicht besonders gut.
»Ich würde direkt neben der Orangerie einen formalen Garten anlegen. Darüber hinaus, würde ich die Dinge so lassen, wie sie sind. Ich denke, das Gelände auf der Südseite ähnelt dem in Badminton House und wäre mit seinem sanften Gefälle ideal für einen See, wie die von Brown angelegten. Das wäre zu bewerkstelligen, wenn man das Flüsschen geschickt aufstaut. Derzeit gibt es eine alte hölzerne Brücke über den Fluss. Ich würde sie durch etwas Interessanteres ersetzen.« Sie lächelte. »Natürlich würde ich Stein vorschlagen. Wenn Sie einen Pavillon oder etwas Ähnliches wünschen, gibt es dafür einen schönen Platz auf einer Erhöhung am anderen Ende des Anwesens, und wenn Sie einen See anlegen, ergäbe das mit ein paar neu gepflanzten Bäumen eine hübsche Szenerie. Auf der Ostseite wäre ein Rosengarten mit einem Spazierweg zum Wald perfekt. Sie haben die zwei Innenhöfe, die zur Einfahrt hinauszeigen. Die könnte man mit etwas Grün, einem Brunnen, weiteren Rosen und versteckten Sitzgelegenheiten gestalten. Natürlich habe ich mir nur die unmittelbare Umgebung angesehen. Mit einem Pferd könnte ich mir schneller ein umfassenderes Bild vom Anwesen machen.« Sie hielt inne. »Allerdings sind das nur meine ersten Eindrücke, die lediglich widerspiegeln, was ich tun würde, wenn es mein Anwesen wäre.« Serena nahm einen Schluck Sherry, wobei sie ihren Gastgeber nicht aus den Augen ließ. Er hatte während ihrer gesamten Rede nicht eine Miene verzogen. Er war kein unkomplizierter Gesprächspartner; nichts an seiner Mimik oder Körpersprache wirkte ermutigend. Es folgte ein langes, unangenehmes Schweigen, in dem er dasaß und offenbar über ihre Worte nachdachte. Schließlich nickte er.
»Das klingt perfekt.« Er wandte sich Sandy zu, der wieder sein Glas an die Lippen gehoben hatte. »Können Sie alles behalten, was Mrs Lombard gerade sagte, Mr Featherstone?«
Sandy schluckte seinen Brandy hinunter, hustete und stellte das Glas ab. Sein Blick glitt zu Serena hinüber, und dann direkt zurück zu seinem Arbeitgeber. »Falls nicht, bin ich sicher, dass Mrs Lombard mir die Details erklären kann.«
Mr Lockheart wandte sich wieder an sie. »Dabei waren einige Ideen, die mir gefallen, Ma’am. Wären Sie in der Lage, solche Pläne ohne weitere Beratung mit Mr Beech auszuführen?«
Serena hob erschrocken die Augenbrauen. »Möchten Sie etwa, dass ich Ihre Gärten und den Park für Sie gestalte, Mr Lockheart?«
»Ja.«
»Aber haben Sie nicht eine Abmachung mit Mr Beech?« Serena wollte vermeiden, dass es hieß, sie schnappe anderen die Aufträge weg.
Er sah sie noch immer mit seinem verstörend unbewegten Blick an. »Ich habe Mr Beech noch nicht angestellt, sondern ihn um ein Angebot gebeten. Er würde selbstverständlich für die bisher geleistete Arbeit bezahlt. Hält Sie außer Mr Beech noch etwas davon ab, meinen Auftrag anzunehmen?«
»Ich habe keine Erfahrung mit einem so großen Unterfangen.«
Wieder schwieg er.
Außerdem bin ich eine Frau, oder ist Ihnen das egal? Oder haben Sie es nicht bemerkt? Großer Gott! Ein gesamtes herrschaftliches Anwesen gestalten? Das wäre einfach …
»Denken Sie, dass Sie umsetzen könnten, was Sie eben beschrieben haben, Ma’am?«
Serena fühlte eine elektrisierende Vorfreude bei dem Gedanken, dafür bezahlt zu werden, auf Kosten eines anderen mit derart interessanten Konzepten experimentieren zu können.
Dieses kreative Unterfangen überstieg ihre kühnsten Träume – und gab ihr Gelegenheit, ihre Talente unter Beweis zu stellen. Auf diese Weise konnte sie einen Garten entwerfen, der ihre Werke zur Schau stellte, nicht umgekehrt.
Sie hob den Blick und sah in sein unbewegtes Gesicht. »Ja, Mr Lockheart, ich denke, das könnte ich.«
***
Gareth konnte sein Glück kaum fassen. Er konnte sich darum drücken, sich mit diesem nervtötenden Beech zu befassen und stattdessen nur mit dieser Frau verhandeln. Zugegeben, sie war ein wenig eigenartig, dachte er und löffelte seine Suppe. Sie sah nicht eigenartig aus, im Gegenteil, sie war attraktiv, wenn man einmal von ihrer wilden Haarpracht absah, die sich offenbar schwer bändigen ließ, und von diesem abgetragenen, wenig schmeichelhaften grünen Kleid.
Aber es war weniger ihre äußere Erscheinung als ihre gesamte … nun ja, Person. Sie gehörte zu dieser Art Menschen, die ihm immer ein Rätsel bleiben würden: fröhlich, nahezu immer ein Lächeln auf den Lippen und leicht zu amüsieren, aber trotz des Humors und der Leichtigkeit doch nicht unintelligent.
Außerdem war da noch die Tatsache, dass sie eine Frau war, die nicht nur mit Pflanzen, sondern auch mit Stein arbeitete. Gareth kannte keine andere Frau, die so etwas tat. Natürlich kannte er auch sonst keine Bildhauer. Jedoch hatte er durch seine Arbeit mit einer ganzen Reihe Steinmetze zu tun gehabt, und darunter gab es keine Frauen.
Sie schien keine Schwierigkeiten damit zu haben, ihre Erwartungen veränderten Bedingungen anzupassen. Seiner Erfahrung nach waren Frauen selten so kühn, so furchtlos und unabhängig und auch selten geistig so beweglich. Andererseits musste er zugeben, dass er in seinen dreieinhalb Lebensjahrzehnten auch nicht besonders viel Erfahrung mit Frauen hatte sammeln können.
Schließlich, und das war etwas, das ihm erst im Verlauf dieses Abendessens auffiel, war sie auch ziemlich … eigensinnig. Gerade in diesem Augenblick stritt sie sich so energisch mit seinem Möchtegern-Sekretär herum wie ein beliebiger Mann im Pub, dazu noch über ein Thema, das auch als Männerdomäne galt: Pferde.
Featherstone war ziemlich aufgebracht und wegen irgendetwas, das sie gesagt hatte, puterrot angelaufen. »Du kannst kaum behaupten, eine Expertin auf diesem Gebiet zu sein, Serena, auch wenn du deine Meinung so bereitwillig kundtust. Nun, hier ist meine Meinung: Leeland deckt die besten Stuten in ganz Yorkshire.«
Mrs Lombard schnaubte höchst undamenhaft und nahm noch einen Löffel Suppe, bevor sie sich herabließ, ihm zu antworten. »Zweifelsohne. Aber wir sprechen über seine Pferde, nicht über den Mann selbst.«
Gareth erstarrte, den Löffel wenige Zentimeter über seiner Suppe. Hatte sie wirklich gesagt, was er gerade gehört hatte? Er sah zu ihr hinüber. Auf seinen erstaunten Blick reagierte sie mit einem kaum sichtbaren Lächeln, dann aß sie weiter.
Selbst Featherstone musste lachen, auf eine Weise, die ebenso laut und unangenehm war wie seine Stimme. »Du hast dich wirklich nicht verändert, Serena. Du hast noch immer keinerlei Kontrolle darüber, was aus deinem Mund kommt.«
Sie zuckte mit den Schultern, offenbar ließ sie sich von seinem Versuch, sie zu beleidigen, nicht beeindrucken.
Gareth ließ den Blick zwischen seinen beiden Gästen hin und her wandern. Erst jetzt fiel ihm auf, was er schon längst hätte bemerken müssen, wenn er auf derlei Dinge achtgeben würde. Er ließ den Löffel sinken. »Sie beide kennen sich?«
»Ja, Mrs Lombard ist meine Cousine.« Featherstone schlürfte etwas Wein, und ein Diener trat vor, um ihm nachzuschenken. Gareth hatte noch nie bemerkt, wie viel dieser Mann trank.
»Mein Ehemann war sein Cousin zweiten Grades«, verbesserte sie ihn mit ihrem Akzent und der tiefen Stimme. Dann nahm sie die Serviette und betupfte sich die Lippen, auf denen ein ironisches Lächeln lag.
»Dann sind Sie nicht der Meinung, dass die Pferde des Cousins von Mr Featherstone gut sind, Mrs Lombard?«
Sie wandte sich von Featherstone ab, der sie nun offen feindselig anstarrte. »Mr Featherstone hat recht, Mr Lockheart. Ich bin keine Expertin, was Pferde angeht. Ich sollte nicht so über Leeland Bowles sprechen. Ich habe ihn seit einigen Jahren nicht gesehen und habe sein Gestüt in Yorkshire nie besucht.«
»Wo würden Sie denn Ihre Pferde kaufen?«
Offensichtlich unangenehm berührt, warf die Frau Featherstone einen Blick zu.
Gareth betrachtete sein Mädchen für alles und bemerkte eine untypische Anspannung in dessen Blick. Die Feindseligkeit war nicht zu übersehen.
Ein Verdacht beschlich Gareth, aber er schob ihn vorerst beiseite. Er sah seinen rotgesichtigen Sekretär an, dann die Frau und wechselte bewusst das Thema.
»Sagen Sie, Mrs Lombard, wie sind Sie überhaupt zur Bildhauerei gekommen neben ihrer Tätigkeit als Landschaftsgärtnerin?«
Selbst Gareth, dessen Fähigkeit, die Mimik anderer Leute zu deuten, arg zu wünschen übrig ließ, konnte ihre Erleichterung erkennen.
»Ich wurde in Frankreich in Bildhauerei ausgebildet. Mein Vater, Peter Veryan, war Engländer. Er ging vor dem Krieg nach Frankreich, um dort bei einem berühmten französischen Bildhauer zu lernen: Jean Favel. Meine Mutter war Henriette Favel, dessen Tochter.
Sie starb bei meiner Geburt, und so wuchs ich in einem eher unkonventionellen Haushalt auf – bei zwei Künstlern, die fanden, es könnte mir nicht schaden, mich in ihrem Handwerk zu unterweisen.«
»Und die Landschaftsgärtnerei? Haben Sie das auch in Frankreich gelernt?«
Sie lachte. »Nein, ich fürchte weder mein Vater noch mein Großvater wussten viel über Pflanzen oder Gärten. Ich entdeckte dieses Interesse, als ich bei meinen Schwiegereltern lebte. Sie planten Umgestaltungen, und zu dem Zeitpunkt wohnte ich bei ihnen. Sie wollten eine Skulptur von mir, und ich durfte auch die Szenerie drumherum entwerfen. Ich arbeitete mit dem Mann zusammen, den sie eingestellt hatten, der fand, ich hätte ein Talent für diese Arbeit.
Als ich nach London zog, kümmerte ich mich um den vernachlässigten Garten des Hauses, in dem ich noch immer lebe.« Sie zuckte mit den Schultern und lächelte, und aus unerfindlichen Gründen zog sich dabei sein Magen zusammen. »Zunächst half ich einer Freundin, und dann sahen deren Freunde meine Arbeit. Mit der Zeit suchten mich immer mehr Leute auf, um sich ihre Gärten von mir gestalten zu lassen. Ich denke, Sie wissen, wie das geht.«
Das wusste Gareth nicht. Niemand hatte ihn je gebeten, einen Garten zu gestalten. Aber er glaubte zu wissen, was sie sagen wollte. Sie hatte sich ihre aktuelle Position langsam erarbeitet. Das war nicht leicht, und womöglich für eine Frau noch einmal doppelt so schwer.
Featherstone hörte auf zu schmollen und riss die Kontrolle über die Unterhaltung an sich. Zur Abwechslung war Gareth einmal froh über das sinnlose Geplapper dieses redseligen Kerls. Er war vollkommen zufrieden damit, die Frau zu betrachten und über ihre Geschichte nachzudenken.