Kapitel 1
Jule
Ich rannte durch die Dunkelheit von Boston. Meinen Hoodie hatte ich weit ins Gesicht gezogen, während meine Füße fast geräuschlos über den Asphalt flogen und den Boden kaum berührten. Es war meine alltägliche Joggingrunde durch den menschenleeren Park, entlang der Einkaufsstraße hinunter zum Hafen und wieder zurück.
Zum Ende hin erhöhte ich mein Tempo. Ich sprintete so schnell, dass der brennende Schmerz meiner Muskeln und Lunge alles war, worauf ich mich konzentrierte.
Um diese Uhrzeit begegnete ich nur noch vereinzelt Menschen. Einige gingen zur Morgenschicht oder kamen gerade von der Arbeit nach Hause. Mein Puls raste, aber dieses Gefühl gab mir etwas … es ließ mich wieder etwas spüren. Erst, wenn mein Körper restlos ausgepowert war, fand mein Geist endlich zur Ruhe und es half mir für ein paar Stunden Schlaf zu finden. Albtraumfrei.
Verschwitzt erreichte ich das kleine Appartementhaus, das seit drei Jahren mein neues Zuhause war.
Im Sprint nahm ich die Treppe bis in den achten Stock, zerrte den Schlüssel aus der Innentasche meiner Leggings und öffnete die Haustür. Kaum war diese wieder mit einem Klicken ins Schloss gefallen, sperrte ich die Tür ab und sicherte sie mit dem zusätzlich angebrachten Riegel. Erst dann trat ich in den Wohnbereich, zog meine verschwitzten Sachen aus und warf sie in den Wäschekorb.
Ich wartete, bis das Duschwasser heiß genug war, und stellte mich unter den Strahl. Allmählich entspannten sich meine verhärteten Muskeln und mit ihnen, relaxte auch ich. Als ich mit dem Duschen fertig war, drehte ich den Wasserhahn zu und stieg aus der Dusche.
Eingewickelt in ein kuscheliges Badehandtuch rubbelte ich mir meine Haare trocken.
Im Dunkeln lief ich zu dem kleinen Schlafzimmer, das mittlerweile zu meinem Bereich geworden war. Genau genommen, seit der Nacht, in der ich unangekündigt vor Ellas Tür aufgetaucht war und sie mich nicht mehr wegschicken konnte … ein zerbrochenes, gebrandmarktes Häufchen Angst.
In dem Zimmer gab es nicht viel Persönliches. Wenn man mit fast nichts ankommt und nicht weiß, wie lange man bleiben kann, häuft man eben keine Reichtümer an.
Ich angelte nach einer Jogginghose und einem Kapuzenpulli und zog mich an. Bevor ich in die Küche lief, schlich ich zu Ellas Zimmertür und öffnete sie leise. Ein kurzer Blick und ich sah erleichtert zu meiner Freundin, die quer über dem Bett in einem Wirrwarr aus Decken und Gliedmaßen lag und schlief. Ein wenig beneidete ich sie um ihren tiefen, festen Schlaf. Wenn mich nachts die Dämonen meiner Vergangenheit heimsuchten, ging ich joggen.
Im Kühlschrank fand ich eine Cola und ein Sandwich, das mir Ella vor dem Schlafengehen gemacht haben musste. Lächelnd nahm ich es heraus und trug alles zur Couch. Der Mond erhellte unsere Wohnung zwar nur spärlich, aber ich genoss die Ruhe der Nacht. Andere hassten die Dunkelheit, die Finsternis. Aber für mich war sie Segen und Fluch zugleich. Auf der einen Seite machte sie mich unsichtbar, auf der anderen wurde ich gezwungen, mich der Angst vor ihr jeden Tag aufs Neue zu stellen. Mittlerweile hatte ich gelernt, damit umzugehen. Angst machte mich nicht mehr klein, sondern stärker. Die Schwärze der Nacht war zu meinem Freund, zu einem Teil von mir geworden. Wenn ich tagsüber sichtbar für jedermann war, konnte ich wenigstens die Nacht für meine Zwecke nutzen. Die Schatten verbargen nicht nur die Monster, sondern auch mich. Ich konnte darin wandeln, ohne über die Schulter schauen zu müssen; ohne Bedenken, dass mich jemand erkannte oder dass er plötzlich vor mir stand.
Hungrig biss ich in das Sandwich. Ellas Sandwiches waren einfach die Besten, daran gab es keinen Zweifel. Ich zog die Wolldecke über meinen Körper und schaltete den Fernseher ein.
»Jule! Jule!«, weckte mich Ellas Stimme. »Aufwachen, du Schlafmütze!«
Hundemüde zog ich die Decke über meinen Kopf. Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, wann ich in mein Bett gekrochen war, aber meinen müden Knochen nach zu urteilen, war die Nacht wieder extrem kurz gewesen.
»Wie kann man in der Früh so gut gelaunt sein?«, meckerte ich vor mich hin, als mir Ella die Decke wegzog.
»Früh«, prustete sie los. »Es ist acht Uhr und ich muss zur Uni. Du wolltest, dass ich dich wecke, wenn ich gehe. Also motz mich jetzt nicht an.«
Ich strich mir die widerspenstigen Locken aus dem Gesicht und sah zu meiner Freundin. Diese stand mit einem Lächeln vor mir, ihre blonden Haare legten sich wie Seide um ihr hübsches Gesicht. Sie war eine Elfe … zart … schön … und unschuldig.
Ein warmes Gefühl stieg in mir hoch. Ella war meine Rettung. Sie war das Beste, was in meinem kaputten Leben noch vorhanden war.
»Warte, bin gleich fertig.« Gähnend krabbelte ich aus dem Bett.
»Ich hab nicht mehr viel Zeit, sonst komm ich zu spät und mein Prof reißt mir den Hintern auf.«
»Ja, ich beeil mich ja schon.«
Ungeduldig tippelte sie von einem Fuß auf den anderen und beobachtete mich dabei, wie ich in eine Jeans schlüpfte und mir einen Pulli überzog. Meine Standardkleidung. Locker, lässig und unauffällig. Ich eilte ins Bad, putzte mir die Zähne und versuchte, meine Locken zu bändigen, die mir wild vom Kopf abstanden und bis zur Schulter reichten. Im Gehen zog ich meine Sneaker an und angelte nach meiner Lederjacke.
»Fertig!«
»Jule, du musst das nicht tun«, sagte Ella mir zum wiederholten Male, als wir auf die Straße traten und den Weg Richtung Uni einschlugen. Ich hakte mich bei ihr unter.
»Ich weiß, aber ich tu das gerne!«
Seit Ella mir gebeichtet hatte, dass sie auf dem Weg zur Uni an ein paar üblen Ecken vorbei musste und ihr das Angst machte, begleitete ich sie, wenn es meine Zeit zuließ. Es fuhren von unserem Stadtteil aus auch Busse in Richtung Uni, aber sie machten einen Umweg von ein paar Haltestellen und man musste zwei Mal umsteigen, was viel Zeit kostete. Durch den Park entlang der Hafenmauer, betrug der Fußweg nur eine halbe Stunde. Als wir den Straßenabschnitt passierten, vor dem sich Ella fürchtete, musste ich innerlich grinsen. Wenn sie wüsste, dass ich hier fast jede Nacht vorbei joggte, würde sie mich für verrückt erklären. Aber nachts unterschieden sich die dreckigsten Plätze nicht mehr so stark von den anderen. In der Nacht waren eben alle Katzen grau.
»Bis wann gehen deine Vorlesungen heute?«
»Ich treffe mich danach noch mit ein paar Kommilitonen zum Lernen in der Bibliothek. In zwei Wochen stehen Prüfungen an und ich muss noch einiges aufholen und nacharbeiten.«
»Soll ich dich dann dort abholen oder bringt dich jemand heim?«
»Ich denke, Harper wird mich mitnehmen und bei uns zu Hause absetzen.«
»Gut, aber wenn nicht, schreib mir kurz. Mr. Wang hat sicher nichts dagegen, wenn ich ein wenig länger Pause mache.«
Seit einem Jahr arbeitete ich nun schon für Mr. Wang in der Wäscherei. Er war ein netter, alter Kauz, der Verständnis hatte, wenn ich mal kurzfristig verschwand, um Ella abzuholen. Die Zeit, die ich fehlte, zahlte er natürlich nicht, aber er machte auch keinen Aufstand deswegen und das war mir recht.
»Nächstes Jahr«, sagte Ella und knuffte mir in die Seite, »kommst du zu mir auf die Uni.«
»Warten wir es ab.«
Wir waren vor den Toren der Universität angekommen und ich winkte Ella kurz zu, bevor sie in dem riesigen Gebäude verschwand. Es war eine bekannte Uni an der Ostküste und Ella liebte sie. Auch wenn sie immer wieder erklärte, dass ich ebenfalls auf die Uni gehen sollte, machte ich mir keine Hoffnungen. Ich hatte zwar vor einem Monat an der Abendschule meinen Schulabschluss nachgeholt und als Klassenbeste abgeschlossen, würde mir aber niemals die Gebühren für die Uni leisten können. Doch das verriet ich Ella nicht, denn dann würde sie wahrscheinlich ihre Eltern fragen. Aus diesem Grund schwieg ich. Ich wollte niemandem auf der Tasche liegen, schon gar nicht Ella. Sie hatte schon so viel für mich getan und übernahm auch die meisten Kosten. Sie ließ mich mehr oder weniger umsonst bei sich wohnen und bei dem Wenigen, was ich zu unserem Lebensunterhalt beitrug, war es eher die Geste, die zählte, nicht das Geld an sich.
Das Dreizimmer-Appartement hatten ihre Eltern gekauft, als sie die Zusage für den Studienplatz erhalten hatte. Sie wollten, dass sich ihre Tochter auf das Studium konzentrieren konnte und trotzdem noch Zeit für das Leben außerhalb des Campus hatte. Ella war mit liebevollen und wohlhabenden Eltern gesegnet. Sie brauchte sich nie Sorgen um Geld zu machen. Ich kannte ihre Familie seit der Grundschule, als meine Welt noch in Ordnung gewesen war. Als Kinder hatten wir in der gleichen Nachbarschaft gewohnt und waren unzertrennlich gewesen. Auf Geburtstagsfeiern waren wir nur gegangen, wenn wir beide eingeladen worden waren – als Kombipaket.
Nach dem Tod meines Vaters hatte sich mein Leben allerdings radikal geändert, als meine Mutter beschloss, alles zu verkaufen um in eine andere Stadt, in einen anderen Bundesstaat, zu ziehen. Ein kompletter Neuanfang, für sie und zwangsweise auch für mich.
Ein Stück weit beneidete ich Ella darum, was sie noch hatte und ich nicht. Aber es war nicht die Art Neid, die einen innerlich zerfraß, sondern eher die, die einem traurig bewusst machte, was man selbst nicht mehr besaß.
Ich gönnte ihr es, denn wenn es jemand verdient hatte so umsorgt und geliebt zu werden, dann war das Ella mit ihrem reinen Herzen.
Ich hingegen … Ich wischte die düsteren Gedanken beiseite und drehte mich um.
Mit ein paar Minuten Verspätung öffnete ich die Tür zu Mr. Wangs Waschsalon und begrüßte den alten Chinesen freundlich. Zügig band ich mir die Schürze um und machte mich an die Arbeit.
Dante
Ich hing gerade über den Büchern, als jemand in mein Büro stürmte. Es war Killian.
»Dante, wir haben ein Problem!« Sein wütender Gesichtsausdruck sprach Bände. Irgendetwas oder jemand musste ihn gewaltig auf die Palme gebracht haben.
»Was?«, bellte ich ihn ungehalten an. Ich konnte es nicht leiden, wenn jemand, egal aus welchem Grund, in mein Büro geprescht kam, ohne anzuklopfen, und ohne mir den nötigen Respekt zu erweisen. Und Killian überspannte den Bogen seit Kurzem extrem und wissentlich. Er hatte es sich anscheinend zur Aufgabe gemacht, meinen Geduldsfaden auf eine harte Probe zu stellen. Doch bald würde er reißen, und zwar vollends.
»Wir haben eine Ratte an Bord.«
»Das musst du mir schon genauer erklären, Killian.« Verärgert starrte ich ihn an. Eine solche Anschuldigung warf man nicht einfach so in den Raum. Loyalität entschied in unserem Geschäft schließlich über Leben und Tod. Nur derjenige, der loyal zur Familie war, gehörte dazu und bekam den nötigen Schutz.
»Heute Nacht wurde eine weitere unserer Lieferungen abgefangen.«
»Eine weitere Lieferung?«
»Eine vor zwei Tagen und nun die heutige!«
»Und wieso erfahre ich erst jetzt davon?«, schnauzte ich ihn erbost an. Damit war uns nicht nur viel Geld verloren gegangen, sondern ebenso Ansehen bei unseren Kunden. Warum erfuhr ich erst so spät davon? Es wäre seine Aufgabe gewesen, mich unverzüglich darüber zu informieren. Seine Alleingänge gingen mir mittlerweile mächtig auf die Nerven. Kaum, dass der Boss für ein paar Wochen nicht anwesend war, meinte Killian, er könnte machen, was er wollte und versuchte zugleich meine Autorität zu untergraben. Er war offenbar zu sehr von sich selbst überzeugt. Er wollte allen zeigen, wie toll er war und dass er der bessere Underboss von uns beiden wäre. Bei seinen Versuchen, Probleme auf eigene Faust zu lösen, scheiterte er allerdings meistens und verursachte letzten Endes nur noch mehr Probleme und noch mehr Chaos. Diese beiden verkackten Lieferungen bewiesen das eindeutig. Glück im Unglück … es handelte sich nur um zwei kleinere Lieferungen. Das Ganze war zwar ärgerlich, aber in unseren Büchern immerhin kein Riesenverlust.
Ich sah ihn kalt an und überlegte, welche Schritte ich gegen Killian unternehmen sollte. Was er hier gerade abzog, war übergriffig und er machte dabei noch nicht einmal einen Hehl daraus, dass er liebend gerne meinen Platz einnehmen würde.
»Beim ersten Mal dachte ich noch, dass es ein Zufall war …«, meinte Killian zerknirscht.
»… bei einem zweiten Mal kann man nicht mehr von Zufall sprechen«, ergänzte ich mit frostiger Stimme. »Wieso hast du mir das nicht direkt nach dem ersten Mal erzählt?«
Er zuckte mit den Schultern und grinste dämlich. Am liebsten würde ich ihm jetzt die Fresse polieren, und ihm das dümmliche Grinsen aus dem Gesicht schlagen, doch ich schüttelte nur genervt den Kopf. Geduldig öffnete ich die Knöpfe meiner schwarzen Hemdsärmel und krempelte sie hoch … vorsichtshalber, falls ich meine Wut nicht im Griff hätte und gleich jemandem zu nahekommen müsste.
»Ich war beschäftigt mit den Männern der Rigg-Brüder.«
»Wieso? Was haben die denn mit dem Vorfall zu tun?«
»Das weiß ich noch nicht, aber sie verticken seit Kurzem Zeug in meinem Revier.«
»In deinem Revier? Soso.« Ärgerlich zog ich eine Augenbraue hoch. Meine Wut kochte langsam aber sicher über. Äußerlich war ich allerdings die Ruhe in Person, was ganz gefährlich war.
»… unserem Revier«, verbesserte er sich hastig. Leider einen Tick zu spät, meiner Meinung nach.
»Wer war verantwortlich für die beiden Lieferungen?« Das war eine rhetorische Frage, deren Antwort mir natürlich bereits bekannt war, denn in diesem Laden passierte normalerweise nichts ohne mein Wissen. Normalerweise. Den Verlust der ersten Lieferung hatte man mir wohl absichtlich verschwiegen.
»Ich! Und, was gedenkst du jetzt zu tun?«, blaffte mich Killian an.
Ganz schlecht. Mein Zorn ihm gegenüber wuchs sekündlich. Ich erhob mich aus meinem Stuhl und umrundete gewohnt lässig meinen Arbeitsplatz. Mit einer geschmeidigen Bewegung, die er nicht hatte kommen sehen, nagelte ich ihn an der nächsten Wand fest. Meine Hand umschloss seine Kehle und ich drückte zu. Seine Augen quollen vor Überraschung und Furcht hervor. Ja, er sollte sich vor mir fürchten!
»Du wagst es, mir wichtige Informationen vorzuenthalten, stürmst ungefragt in mein Büro und besitzt dann noch die Frechheit, mir eine solch unverschämte Frage zu stellen?«
Meine Stimme war eisig und ruhig. Jeder andere hätte sich zwischenzeitlich eingepisst, denn wenn ich richtig wütend wurde, war das wie die Ruhe vor dem Sturm – und den überlebten die wenigsten. Auch Killian nicht.
»Sorry, Boss. Ich …«, krächzte er und krallte sich an meinen Unterarmen fest. Sein Gesicht glich gerade der Farbe einer reifen Tomate und sein Blick wurde hektisch. Ich ließ ihn zappeln, bis seine Augen trüb und wässrig wurden. Erst dann lockerte ich den Griff ein wenig. Hustend sog er die Luft ein.
»… du?«, fragte ich süffisant.
»Ich … Es tut mir leid«, keuchte er reumütig.
»Dann weißt du ja jetzt, wie du mir das nächste Mal unter die Augen zu kommen hast.«
Killian nickte hastig und rieb sich die schmerzende Kehle, als ich meine Hände ganz von ihm löste. Der rote Abdruck an seinem Hals würde ihn die nächsten Tage noch an den Vorfall erinnern.
»Und Killian«, schoss ich ihm entgegen. »Letzte Verwarnung. Überreiz mich nicht!«
Er hob abwehrend und beschwichtigend die Hände, aber tief im Innersten wusste ich, dass er es nicht ernst meinte. Ich musste Killian im Auge behalten, denn meine Instinkte schrien, dass er zu einem Problem wurde, und mein Bauchgefühl hatte mich noch nie im Stich gelassen.
»Schick mir Gregor hoch.«
Keine drei Minuten später tauchte Killian mit Gregor auf. Dieses Mal klopfte er und sie warteten auf mein Okay, bevor sie eintraten. Ich grinste Killian an und wandte mich dann an meinen engsten Vertrauten und Freund.
»Was wissen wir über die Rigg-Brüder?«
»Dass sie gar keine Brüder sind«, feixte Gregor. Mein Freund war doch immer für einen Scherz zu haben, egal ob dafür gerade die passende Zeit war oder nicht. Dennoch konnte er eine Sekunde später wieder todernst sein.
»Gregor, beschissener Zeitpunkt für deine Witze!«
»Okay. Soweit ich informiert bin, versuchen die Brüder gerade hier Fuß zu fassen. Es ist ein Abkömmling des portugiesischen Kartells. Ihr Gebiet lag bisher weiter im Süden, doch jetzt wollen sie in den Osten erweitern. Blöd nur, dass das zu unserem Gebiet gehört. Wir haben ihnen schon ein paar Warnungen zukommen lassen, aber anscheinend haben diese keine Wirkung gezeigt.«
»Du kannst gehen.« Ich sah zu Killian hinüber und machte eine abfällige Handbewegung in Richtung Tür. Kaum hatte er sich weggedreht, rief ich ihn noch einmal zu mir. »Killian, noch so ein Fehler und du findest dich im Keller wieder.«
Killian funkelte mich an, stapfte aber wortlos aus dem Raum.
Als er die Tür hinter sich zugeworfen hatte, wandte ich mich an Gregor, denn ihm vertraute ich zu hundert Prozent. Er war meine rechte Hand und mein bester Freund. Gregor und ich kannten uns von Kindesalter an, kamen aus dem gleichen schmutzigen Viertel und hatten die gleiche Schule besucht. Wir hatten Rücken an Rücken gegen die Gangs unserer Straßen gekämpft und uns einen Namen gemacht. Eines Tages hatten wir jedoch den falschen Mann bestohlen, Francesco Morello, und waren unter seine Fittiche genommen worden. Obwohl ich nicht Morellos leiblicher Sohn war, hatte er mich stets wie sein eigenes Fleisch und Blut behandelt, von dem Augenblick an, als er uns von der Straße geholt hatte. Francesco ließ mir eine private Schulausbildung und Kampftraining zukommen. Gregor war Nutznießer von dieser Verbindung und es war ihm gestattet worden, mit mir gemeinsam zu büffeln. Er war zum Soldaten ausgebildet worden. Einem Soldaten der italienisch-amerikanischen Mafia, der Morello-Familie. Mich nahm Morello noch härter an die Kandare und ließ mich alle Stationen, von deren Erfahrungen ein guter Don profitieren würde durchlaufen. Ich sollte eines Tages sein Nachfolger werden. Vor knapp drei Jahren, als mein Vorgänger durch eine Kugel im Kopf das Zeitliche gesegnet hatte, ernannte er mich schließlich zu seinem Underboss. Seither tätigte ich, während seiner Abwesenheit und in seinem Namen, alle Geschäfte des Morello-Clans mit Gregor an meiner Seite.
Jeder zollte mir Respekt, und kannte meine unnachgiebige Art und Härte. Zuerst hatte mich Morello testen wollen, ob ich das Zeug dazu hätte in seine Fußstapfen zu treten – ich hatte es ihm bewiesen. Mittlerweile übertrug er mir die komplette Führung, wenn er fort war und das passierte immer öfter.
Er war gesundheitlich angeschlagen und wollte daher in Zukunft etwas kürzertreten. Die misstrauischen Stimmen unter den Männern, die mich damals mit siebenundzwanzig Jahren als Underboss viel zu jung fanden, verstummten schnell. Ich hatte mich in Francescos und ihren Augen für diese Aufgabe mehr als fähig erwiesen, aber Neider gab es leider immer und überall. Killian gehörte eindeutig dazu. Er, der Sohn von Francescos Bruder, Giuliano Morello, sah sich als rechtmäßiger Erbe dieses Stuhls und verpasste keine Gelegenheit zu zeigen, dass er scharf auf meinen Platz war. Er wollte später selber Boss werden, was absolut lächerlich war, denn Killian war viel zu selbstsüchtig und unbeherrscht. Ausgehend von dem Problem mit den Lieferungen, konnte man sogar sagen, dass er noch nicht einmal ein guter Soldat war.
»Killian wird langsam zum Problem«, sprach Gregor aus, was ich dachte.
Ich nickte zustimmend. »Wusstest du von den beiden abgefangenen Lieferungen?«
»Nein. War Killian nicht dieses Mal allein dafür verantwortlich?«
»Ganz genau. Aber er war anscheinend zu beschäftigt mir das mitzuteilen.«
»Oha. Mit was denn? Einer seiner billigen Huren?«
»Nein, mit den Rigg-Brüdern, die laut ihm in sein Revier eindringen.«
»Sein Revier?« Gregor lachte und musterte mich. Er kannte mich zu gut. Er kannte meine Abneigung gegen Killian und dessen überhebliche Art. Wir hatten uns von unten hochgearbeitet, vom Laufburschen bis zum Underboss und der rechten Hand. Uns war nie etwas geschenkt worden. Ganz im Gegensatz zu Killian. Dem war schon immer alles in den Allerwertesten gepustet worden. Selbst ein Platz an einer teuren Privatuniversität, von der er letzten Endes geflogen war. Über die Gründe wurde nie gesprochen. Allerdings hatte er sein Studium auch nie wieder aufgenommen, geschweige denn zu Ende gebracht. Und jetzt meinte er plötzlich, er könnte sich wie der Boss höchstpersönlich aufführen.
»Ich möchte, dass du mir alle Informationen zukommen lässt, die mit den Rigg-Brüdern zusammenhängen. Außerdem will ich wissen, wer alles von den beiden Lieferungen wusste oder wissen konnte. Namen, Hintergründe, Geldprobleme … einfach alles.«
»Wird gemacht. Bis wann brauchst du die Infos?«
»Wie immer, bis gestern!«
Kapitel 2
Jule
Endlich war Samstagabend und die Prüfungen waren vorbei. Die ganze Woche über hatte ich versucht, Ella vor dem Durchdrehen zu bewahren, und ihr alle Arbeiten abgenommen, die sie vom Lernen abhielten. Gestern war die letzte Klausur gewesen und allmählich entspannte sich Ella wieder.
Seit einer gefühlten Ewigkeit stand sie jetzt bereits im Bad und richtete sich her. Als sie schließlich zurück ins Wohnzimmer kam, musste ich fast zwei Mal hinsehen. Sie stand in einem dunkelblauen, eng anliegendem Glitzerkleid vor mir, dessen Saum gerade einmal den Hintern zu überdecken vermochte. Ihre langen, blonden Haare umrahmten wellig und weich ihr Gesicht. Zusammen mit den Smokey Eyes sah sie einfach umwerfend aus. Neben ihr wirkte ich wie ein wildgewordener Pudel mit meinen kastanienbraunen Locken.
Eine meiner ersten Handlungen nach dem Einzug bei Ella war es gewesen, mir die Mähne, die mir bis zum Po gereicht hatte, abzuschneiden. Ich konnte mich noch daran erinnern, wie Ella Tränen geweint hatte, als ich sie zwang, meine Haare bis zum Kinn zu kürzen. Denn mein einstiger Stolz war das Sinnbild einer finsteren, verkorksten Vergangenheit geworden, die ich hinter mir lassen wollte. Ich hatte schon genug Male am Körper, die mich täglich daran erinnerten, woher ich kam und welcher Hölle ich entkommen war. Das Offensichtliche, das, was er so sehr geliebt hatte, wollte ich nicht auch noch vor Augen haben. Ein weiterer Grund dieses Entschlusses war, dass ich so auf den ersten Blick kaum wiederzuerkennen war. Ein Vorteil, wenn man sich unsichtbar machen wollte. Denn diese Mähne war einfach zu auffällig und zu markant gewesen. Ein echter Hingucker.
Jetzt stand ich mit einer engen Jeans und dem, von Ella ausgeliehenem, paillettenbesticktem Top, welches am Rücken alles verdeckte und nur vorne ein wenig freizügiger geschnitten war, vor dem Badezimmer und staunte mit offenem Mund, als Ella herauskam.
»Wow. Soll ich wirklich mitkommen?«
»Jule, du musst auch mal wieder raus, unter Menschen.«
»Schon, aber das da«, ich zeigte auf ihre umwerfende Gestalt, »… da kann ich nur als Aufpasser fungieren und ich werde heillos überfordert sein, die ganze Meute von dir fernzuhalten.«
»Wenn du mir erlauben würdest, dich einzukleiden, würde die Meute nicht nur mir hinterherjagen.«
»Oh nein, kein Bedarf. Das hier ist schon genug Chichi für mich.«
Ella lachte und warf kokett ihre blonde Mähne über ihre Schulter.
»Du siehst in dem Chichi dennoch scharf aus.«
»Tatsächlich? Dann zieh ich mich schnell wieder um«, neckte ich sie.
»Nein, du bleibst genauso, wie du bist. Ich bestehe darauf. Sollen die Kerle ruhig auch dich anschmachten.«
Ich schnaufte und lachte gleichzeitig. Ella konnte so schön normal sein.
»Gut, wenn das geklärt ist, lass uns den Abend genießen!« Schnell zückte sie ihr Handy und machte ein paar Selfies von uns beiden, die sie kurz darauf mir schickte. Wir waren augenscheinlich so ein ungleiches Paar, aber Gegensätze zogen sich ja bekanntlich an.
Harper und Kate winkten uns am Eingang des Clubs zu und wir reihten uns in die Schlange der Wartenden ein. Eine halbe Stunde später passierten wir die Türsteher und betraten den brechend vollen Innenraum. Ich unterdrückte den Impuls umzudrehen und zu flüchten und folgte stattdessen den Mädels. Wir waren noch nicht mal an der Bar ankommen, als ein Typ sich Ella schnappte und seine wüsten Finger in ihre Taille und ihren Po krallte. Er zog sie so fest an sich, dass sie überrascht aufschrie.
»Na Süße, willst du mit mir tanzen?«, brüllte er ihr ins Ohr, um den Lärm der Musik zu übertönen.
»Nimm sofort die Finger von meiner Freundin!«, schrie ich ihn an. Ella starrte ihn nur an und bewegte sich nicht.
»Und wenn nicht?«, fragte er und leckte sich anrüchig über die Lippen.
»Dann breche ich sie dir gleich«, prophezeite ich ihm eiskalt. Ohne mit der Wimper zu zucken, ging ich so nah an ihn ran, dass er mich überrascht anschaute.
»Du?« Er brach in ein höhnisches Gelächter aus.
»Nimm. Deine. Griffel. Von. Ihr!«
Ohne weitere Worte ergriff ich seinen kleinen Finger, der sich in Ellas Taille krallte und zog ihn mit einem Ruck nach hinten. Das spöttische Grinsen verschwand augenblicklich und wich einem entgeisterten und schmerzerfülltem Gesichtsausdruck.
Noch etwas weiter und der Finger würde brechen. Ja, das konnte verdammt wehtun. Mehr brauchte es nicht … er ließ Ella sofort los.
»Bitch«, knurrte er mir zu, als ich seinen Finger frei gab. Er drehte sich um und ließ uns stehen.
»Danke«, flüsterte mir Ella zu.
»Ich hab ja gesagt, ich muss als dein Wachhund mit.«
»Du bist die Beste!«
Wir schlossen zu den anderen auf, die von dem Vorfall gar nichts mitbekommen hatten und bestellten unsere Drinks.
Der Abend verlief nett und wir feierten ausgelassen. Seit Langem konnte selbst ich mich auf der Tanzfläche mal wieder gehen lassen. Ich ließ die Musik auf mich wirken und blendete all die anderen Menschen um mich herum aus. Ella und ich rockten die Tanzfläche, bis uns der Schweiß in Bächen herunterlief. Es war voll, heiß und stickig, aber der DJ war sehr gut.
Früher war ich gern tanzen gegangen und hatte mich mit anderen aus meiner Schule und einem gefälschten Schülerausweis in die Disco unserer Heimatstadt geschlichen. Früher. In einem anderen Leben. Da waren diese kurzen Momente des Ausreißens eine Rebellion an mein Zuhause gewesen, wenn man dieses überhaupt so nennen konnte. Wenn ich erwischt worden war, folgten Maßregelungen, die lächerlich gegen das waren, was ich sonst durchmachen musste. Denn die größte Strafe war es gewesen, in diesem Haus leben zu müssen … ohne Wahl, ohne Mitspracherecht. Dem Willen anderer ausgeliefert … seinem Willen.
Ich schüttelte die Gedanken an damals mühsam ab und tanzte wild weiter, bis mein Kopf vollkommen leer war. Es war fast so gut wie Joggen in der Nacht. Glücklich lachte ich Ella an.
Sie war mein Halt, meine neue Familie.
Etwas anderes brauchte ich nicht.
Dante
»Ich habe die Informationen, die du wolltest.« Gregor kam mit ernster Miene zu mir ins Büro.
»Und?« Die Nacht war kurz gewesen und meine Laune war, gelinde ausgedrückt, gereizt.
»Es wird dir nicht gefallen«, warnte er mich schon mal vorab.
»Schieß los.« Müde schloss ich die Augen und rieb mir die Nasenwurzel mit dem Daumen und Mittelfinger.
»Wie du weißt, versuchen die Rigg-Brüder gerade in der Stadt Fuß zu fassen und sich einen Namen zu machen. Dabei hatten sie es bisher nur auf die Kleindealer abgesehen. Ein bisschen Drogen, aber nichts im großen Stil. Jetzt sind sie der Meinung, auch an den größeren Geschäften mitwirken zu können … Menschenhandel und Waffen. Unterstützung haben sie offenbar durch ein polnisches Kartell, das uns bisher noch nie in die Quere gekommen und eigentlich auch gar nicht in Boston ansässig ist. Allerdings ist mir zu Ohren gekommen, dass die Polen keinen Ärger mit uns haben wollen.«
»Was schlägst du vor?«
»Wir sollten sie im Auge behalten und eventuell noch ein paar weitere Warnungen aussprechen.«
Was das zu bedeuten hatte, musste keiner von uns beiden aussprechen. Es würden Köpfe rollen.
»Was ist mit der Ratte? Hatte Killian recht damit?«
»Leider ja.« Gregor musterte mich. »Es ist Pelle.«
»Pelle? Unser Pelle?« Ich konnte es nicht fassen. Er war ein niedrig stehender Soldat, der schon lange unter Francesco tätig war, aber keine wichtigen Aufgaben ausübte. »Gib mir die Fakten.«
»Er hat Spielschulden und nicht gerade wenig … Poker. Die Geldeintreiber stehen bei ihm Schlange und ein paar von denen sind äußerst ungehalten. Bei der ersten Lieferung hatte Killian ihn als Wache eingeteilt.«
»Pelle also. Wie sicher bist du dir?«
»Zu hundert Prozent. Matteo hat seine Anrufe ausgewertet. Kurz vor den Übergabeterminen hat er jeweils eine unbekannte Nummer angerufen. Rate mal, zu wem die gehörte?«
»Jetzt spuck's schon aus«, schnauzte ich ihn ungehalten an.
»Ismael.«
»Einer der Rigg-Brüder?« Da sich die Abkürzung der Rigg-Brüder aus den jeweiligen Vornamen Ricardo, Ismael, Gustavo und Gabriel zusammensetzte, war das nicht so weit hergeholt.
»Was wollen die mit unserer Lieferung?« Ich hatte bereits eine Ahnung, wollte aber eine Bestätigung von ihm hören.
»Unruhe reinbringen.«
»Das vermute ich auch.«
»Wie wirst du vorgehen?«
Jeder in unserer Familie wusste, was mit Verrätern passierte. Sie starben – qualvoll oder schnell und effizient.
»Wie immer. Bring ihn zu mir. Sofort.«
»Das geht nicht.«
Ich zog eine Augenbraue hoch.
»Er ist untergetaucht, als er herausgefunden hat, dass wir den Fall genauer untersuchen.«
»Dann stöbere ihn auf. Hol die Ratte ans Tageslicht!«
Ich musste unbedingt irgendwo Dampf ablassen. Deswegen stattete ich am Abend meinem Lieblingsbordell einen Besuch ab. Kaum, dass ich eintrat, kam mir die Puffmutter Grace entgegen.
»Dante«, begrüßte sie mich freudestrahlend. »Lange nicht mehr gesehen.«
»War viel los.«
»Liz ist für dich frei«, sagte sie direkt. Sie kannte meine Vorlieben und ihre Mädchen. Sie würde mir keine zuteilen, die nicht mit meiner Art zurechtkam. Ihre Mädchen waren gut und sauber.
»Liz«, rief sie, und eine kleine Dunkelhaarige mit ausladenden Kurven kam zu ihr. Wir hatten schon einmal das Vergnügen miteinander gehabt. Während ich mir einen Drink genehmigte, redete Grace leise mit ihr.
»Gut, dann kümmere dich jetzt um Dante«, wies Grace sie an.
Wir verschwanden in einen separaten Raum. Lasziv kam sie auf mich zu, doch bevor sie mich anfassen konnte, hielt ich sie auf.
»Hat Grace dich aufgeklärt?«
»Ja.«
»Gut, dann weißt du ja, was ich will.«
Ich wartete auf ihr Nicken, dann ging ich auf sie zu, drehte sie ruppig rum, zog meinen Gürtel aus den Schlaufen und fesselte ihre Hände damit auf dem Rücken. Danach drückte ich ihren Oberkörper auf die Tischplatte. Energisch riss ich ihr den Slip nach unten und versohlte ihr den Hintern, bis dieser rot glühte. Langsam regte sich mein Schwanz. Ich befreite ihn aus meiner Hose und griff danach. Mit ein paar heftigen Bewegungen pumpte ich auf und ab, während ich nach einer Kondompackung griff, die überall in Gläsern für die Gäste zur Verfügung standen.
In dieser Nacht fickte ich Liz hart, brutal und gnadenlos. Ich musste meinen Kopf unbedingt freibekommen. Allerdings brachte sie mir nicht die Erlösung, die ich mir erhofft hatte, nur eine kurze Linderung. Liz verdiente sich heute zwar ein paar Dollar extra dazu, da ich meine Huren stets gut bezahlte, aber ich war leider nicht auf meine Kosten gekommen. Irgendetwas fehlte. Unzufrieden verließ ich das Bordell.
Kapitel 3
Jule
Schon beim Erwachen wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Ich lag auf dem Sofa und blinzelte in die Morgensonne. Müde streckte ich mich und überlegte kurz, was mich an der Situation störte. Wir waren in dem Club gewesen, hatten getanzt und Spaß gehabt. Allerdings waren mir die Leute irgendwann zu viel geworden und ich hatte gehen wollen. Ella war noch bei den anderen geblieben, während ich mir ein Taxi nach Hause gegönnt hatte. Auf dem Sofa musste ich dann eingeschlafen sein. Es kam häufiger vor, dass ich auf dem Sofa wegdöste und Ella mich weckte, wenn sie später, als ich zurückkam. Ich tapste dann für gewöhnlich in mein Bett und schlief weiter. Selten, ganz selten, blieb ich auf dem Sofa. Was also störte mich heute daran?
Ella!
Ella hatte mich nicht geweckt. Warum nicht? Ich wälzte mich aus der Decke und strich mir die widerspenstigen Haarlocken aus dem Gesicht. Leise ging ich zu Ellas Zimmertür, erstarrte aber kurz darauf. Denn sie stand immer noch offen, wie gestern und ihr Bett war unberührt.
»Ella?«
Ich riss die Badtür auf in der Hoffnung, Ella in einem gemütlichen Schaumbad vorzufinden, aber auch dort war sie nicht. Ella war noch nie über Nacht fortgeblieben, ohne mich zu informieren. Das war eine stille Abmachung zwischen uns. Sie konnte machen, was sie wollte, aber wenn sie länger oder über Nacht wegblieb, schrieb sie mir oder rief mich kurz an. Ich griff nach meinem Handy, das auf dem Couchtisch lag. Scheiße, der Akku war leer. Schnell kramte ich das Ladekabel hervor und schloss es an. Ungeduldig wartete ich darauf, dass das Minimum geladen war, und schaute nach Nachrichten von ihr. Das Handy piepte und kündigte eine eingehende SMS an. Als ich die Nachricht öffnete, gefror mir das Blut in den Adern.
Hilfe
Nur dieses eine Wort und ein Standort. Ein Club in einem entlegenen Industriegebiet. Wir waren schon zusammen dort gewesen. Aber was hatte sie dort gemacht? Wieso war sie nicht in unserem Club geblieben und mit wem war sie weitergezogen? Ich wählte ihre Nummer, landete aber nur bei der Ansage, dass die Nummer derzeit nicht verfügbar war. Scheiße, mein Akku gab erneut den Geist auf.
Ohne lange zu überlegen, schlüpfte ich in meine Turnschuhe und schnappte mir beim Rausgehen die Haustürschlüssel und etwas Geld aus der obersten Schublade unseres Schuhschranks. Dann stürmte ich auf die Straße hinaus.
Erst drei Straßen weiter schaffte ich es, ein Taxi anzuhalten. Ich gab dem Fahrer die Adresse und starrte den ganzen Weg über aus dem Fenster, während in meinem Kopf das Gedankenkarussell seine Kreise immer schneller drehte.
Wieso musste gerade heute Nacht mein Handy den Geist aufgeben? Wieso war ich ausgerechnet gestern, früher nach Hause gegangen? Ja, ich war müde gewesen, aber nicht so müde, dass ich nicht hätte bleiben können.
Wütend ballte ich meine Hände zu Fäusten.
Warum hatte ich daheim mein Handy nicht sofort an die Ladestation angeschlossen? Es war meine Schuld. Wenn Ella etwas passiert war, dann war das meine Schuld, weil ich zu schusselig war. Tränen der Wut und der Sorge schossen mir in die Augen, doch ich blinzelte sie hastig weg. Ich musste unbedingt Ruhe bewahren. Vielleicht war alles gar nicht so schlimm und Ella hatte nur jemanden gebraucht, der sie abholte und der Akku ihres Handys war ebenfalls leer. Womöglich war alles nur ein Missverständnis und sie war bereits bei Freunden untergekommen.
Dreißig Minuten dauerte die Fahrt. Dreißig Minuten, die mir vorkamen wie mein halbes Leben.
Kaum, dass wir angekommen waren, drückte ich dem Fahrer das Geld in die Hand und riss die Tür auf. Ich überquerte im Laufschritt den ausgestorbenen Parkplatz und stürmte zum Eingang des Clubs. Im Augenwinkel sah ich noch das Taxi wenden und wegfahren. Mist. Ich hätte ihn bitten sollen zu warten. Doch jetzt war es zu spät sich darüber Gedanken zu machen. Ich rüttelte an der Eingangstür, aber der Club war mittlerweile natürlich geschlossen. Die letzten Gäste waren garantiert schon vor Stunden gegangen und die nächsten würden erst am frühen Abend wieder vor der Tür stehen. Der Parkplatz war ebenfalls leer. Auch sonst gab es in dieser trostlosen Gegend keine einzige Menschenseele.
Ich umrundete das Gebäude in der Hoffnung, irgendwo Ella sitzen zu sehen, die auf mich wartete.
»Ella?«, rief ich in die Stille. Keine Antwort. »Ella?«
Vom Parkplatz, neben dem Vordereingang, ging eine Gasse ab, in die ich hineinlief. Sie war nur ein paar Meter breit und wirkte lang und unheimlich. Im hinteren Bereich standen Müllcontainer. Es war eine Sackgasse.
Gerade wollte ich die Gasse wieder verlassen, als drei Autos auf dem Parkplatz anhielten und mehrere Gestalten aus der Kategorie halt-dich-von-ihnen-fern, ausstiegen. Automatisch presste ich mich an die Wand, in den Schatten. Misstrauisch beobachtete ich die Szene. Aus dem einen Auto, einem unscheinbaren Wagen, stieg ein hochgewachsener, kräftiger Mann aus. Seine Haltung glich der eines Tieres auf der Hut. Aus den beiden anderen SUVs stiegen weitere Männer aus. Alles große, bullige Typen, denen man weder bei Tag noch bei Nacht begegnen wollte. Ihre markanten Gesichtszüge und die kurz geschorenen Haare trugen noch mehr zu ihrem bedrohlichen Erscheinungsbild bei. Ich zog die Kapuze meines Hoodies über den Kopf und versuchte, mit dem Schatten der Wand zu verschmelzen. Meine innere Stimme schrie: Vorsicht, lass sie dich nicht entdecken.
Die Männer sprachen zu leise, als dass ich die Worte verstehen konnte. Nur am Tonfall war erkennbar, dass sie nicht einer Meinung waren und über irgendetwas diskutierten. Wenn ich Glück hatte, würden sie bald wieder verschwinden und mich nicht bemerken.
Plötzlich tauchten weitere Fahrzeuge auf, die mit quietschenden Reifen die Zufahrt zum Parkplatz blockierten. Noch mehr furchteinflößende, muskelbepackte Männer stiegen aus, allesamt dunkel gekleidet und von einer düsteren Aura umgeben, die mir unweigerlich eine Gänsehaut bescherte. Ich starrte auf mein Handy und verfluchte zum x-ten Mal an diesem Morgen die Tatsache, dass der Akku leer war. Aber wen hätte ich andererseits zu Hilfe rufen können? Die Polizei?
Einer unheilvollen Vorahnung und der kippenden Stimmung auf dem Parkplatz folgend, verdrückte ich mich noch weiter nach hinten in die Gasse.
Schüsse und Schreie durchbrachen jäh die Stille. Erschrocken flüchtete ich in die Nische zwischen zwei der Container. Mein Handy glitt mir dabei aus der Hand und rutschte darunter. Doch ich wagte es nicht, mich zu rühren und danach zu greifen. Zitternd kauerte ich mich auf den Boden und hielt mir die Hand vor den Mund, damit ich keinen Ton von mir geben konnte.
Die Schritte und Schreie kamen näher. Kamen in die Gasse … direkt auf mich zu!
»Bitte, Dante … Killian. Ich kann das erklären. Es ist nicht so, wie es aussieht«, flehte ein Mann mit belegter, bebender Stimme. Ich hörte die Todesangst heraus.
»Nein, ist es nicht so?«, fragte eine tiefe, samtige Stimme, deren Klang an Eiswasser erinnerte. »Dann erklär es mir.«
»Ich … ich wollte das nicht.«
»Pelle, bitte. Für wie blöd hältst du mich?«
Ein dumpfer Schlag folgte, dann ein Japsen und schließlich ein Wimmern. Kurz darauf abermals ein paar dumpfe Schläge.
Ich schloss die Augen und versuchte, ein Würgen zu unterdrücken. Obwohl ich nichts sah, brauchte ich nicht viel Fantasie, um mir auszumalen, was sie gerade mit dem Mann machten.
Ein Schuss gefolgt von einem Aufschrei ertönte.
»Oh komm, Dante, lass mich ihm die zweite Kniescheibe auch noch wegschießen.«
»Du weißt, was mit Verrätern passiert?«, fragte die Eisstimme.
»Bitte.« Das Jammern war jetzt nur noch ein verschwommenes Gurgeln.
Sie kamen näher … jemand kroch über den Boden in meine Richtung … wimmernd und heulend. Mein Körper zitterte wie Espenlaub. Angst schlängelte sich mir den Rücken hinauf und mein Herz schlug so stark, dass es wahrscheinlich bis zu den parkenden Autos hörbar war.
Der Mann wich zurück, direkt an dem Spalt vorbei. Sein blutig geschlagenes Gesicht starr auf eine Person gerichtet, die noch nicht in meinem Sichtfeld war. Er müsste nur seinen Kopf drehen und würde mir direkt in die Augen sehen. Ich presste meine Hand noch fester auf meinen Mund und hielt den Atem an.
»Killian, ich schick dir Gregor. Aber lass noch was von ihm übrig!«, sagte die eisige Stimme, bevor ich hörte, wie sich die Schritte fortbewegten.
Der Mann am Boden keuchte, als jemand näherkam. Ein Kampfstiefel krachte auf sein Knie. Dem Knirschen von Knochen folgte der grelle Schrei des Mannes. Ein Laut entfuhr meiner Kehle. Der Mann wälzte sich vor Schmerzen auf dem Boden und seine weit aufgerissenen Augen sahen für einen kurzen Moment direkt in meine … darin der Ausdruck von Erstaunen und Angst.
Die Gestalt, die dem Mann gerade die Kniescheibe vor meinen Augen zertrümmert hatte, beugte sich über ihr Opfer und schlug ihm mehrmals mit der Faust ins Gesicht. Mit jedem Schlag flog Blut in alle Richtungen und ich keuchte auf vor so viel Brutalität.
»Fuck!«, rief der Mann erstaunt und sah mich direkt an. Ich zog die Beine an den Körper und verkroch mich noch tiefer in mein Versteck, aber es war zu spät. Er hatte mich bereits entdeckt. Seine grauen Augen fixierten mich mit einer Kälte und Grausamkeit, die mir einen Schauer über den Rücken laufen ließen. Eine hässliche Narbe zog sich einmal quer über seine linke Wange, aber es war sein hämischer, bösartiger Gesichtsausdruck, der sein eigentlich sonst attraktives Gesicht verunstaltete. »Wen haben wir denn hier? Ein verschrecktes Mäuschen, das sich zu nah an die Katze gewagt hat?«, verspottete er mich.
»Killian, was ist los?«, fragte eine raue Stimme.
»Wir haben einen ungebetenen Gast!«
Schon griffen Hände nach mir, umschlossen meine Fußgelenke wie Schraubzwingen und zogen mich unbarmherzig aus dem Versteck. Ich trat nach ihm, konnte gegen seine Kraft aber nichts ausrichten. Brutal riss er mich hoch. Ich wehrte mich, schlug um mich und versuchte, von ihm loszukommen. Er versetzte mir einen gezielten Schlag in den Magen, der mir die Luft nahm. Ein zweiter Schlag traf meine Wange und hinterließ ein brennendes, taubes Gefühl. Danach umschlang er meine Hüfte mit einem eisernen Griff und drückte mich so fest an seine Brust, dass ich mich nicht mehr rühren konnte. Er war so groß, dass meine Füße gerade noch so eben den Boden berührten. Während er mich mit seinem Arm umklammerte, hielten seine Pranken meine Handgelenke vor meinem Bauch zusammen. Wie konnte ein Mann nur so viel Kraft haben?
Er zerrte mich vorbei an dem am Boden liegenden, röchelnden Mann.
Jemand ging um uns herum, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
Das Narbengesicht drängte mich zum Ausgang der Gasse. Auf dem Parkplatz waren einige Männer damit beschäftigt, leblose Körper zum Kofferraum eines der SUVs zu tragen und hineinzuwerfen. Zwei weitere Gestalten kauerten am Boden, mit Säcken über den Köpfen und auf den Rücken gefesselten Händen. Hinter ihnen standen Männer, die mit Pistolen auf ihre Köpfe zielten.
Ich war in einen verdammten Bandenkrieg geraten. Panik erfasste mich. Zitternd ließ ich mich vorantreiben.
»Hier ist eine Schlampe, die uns belauscht hat!« Unsanft schleuderte er mich auf den Boden. Ich landete auf den Knien und riss mir die Handflächen dabei auf. Mit hasserfülltem Blick sah ich zu dem Typen hoch, der mich soeben eine Schlampe genannt hatte. Auf dieses Wort reagierte ich, ohne nachzudenken, und die nächsten Worte kamen schneller über meine Lippen, als mein Verstand mich hätte stoppen können.
»Wenn bei dir jede Frau automatisch eine Schlampe ist, was ist dann deine Mutter?« Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, landete auch schon seine Handfläche in meinem Gesicht. Die Wucht schleuderte meinen Kopf zur Seite. Jetzt brannte auch meine andere Wange und ich schmeckte Blut auf meinen Lippen; metallisch und bitter. Mit dem Handrücken wischte ich über meine aufgeplatzte Lippe und starrte auf den Boden.
»Oh, die Kleine hat Feuer und ist offenbar lebensmüde!«
Als ich meinen Blick hob, trat ein Mann vor mich. Er war komplett in schwarz gekleidet … seine Stiefel, seine Jeans und auch sein Hemd. Alles an ihm verkörperte Dunkelheit und Verdammnis. Sogar seine Haare und Augen waren schwarz wie die Nacht. Ausdruckslos sah er zu mir herunter und sein Blick wanderte langsam über meinen Körper, als wäre ich eine Ware, die zu begutachten sei.
Unzählige Gefühlsregungen vereinten sich in mir zu einem mächtigen Orkan.
Wut … Hass … Angst … Enttäuschung.
»Wer bist du?«, fragte er mit einer tiefen Baritonstimme.
Ich schwieg. Es tat nichts zur Sache, wer ich war. Ich war soeben Zeugin eines Gewaltverbrechens geworden und konnte mir ausmalen, wie hoch meine Überlebenschancen standen. Nämlich gleich null. Diese Männer waren kaltblütige Mörder, die bestimmt nicht das erste und letzte Mal getötet hatten, und ich würde als Nächstes auf ihrer Liste stehen. Wenn es schnell ging, wäre das eine Erlösung.
»Wer. Bist. Du?«, wiederholte er seine Frage und die Drohung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Ich blickte ihm direkt in die Augen und sah das Funkeln darin. Er entsicherte seine Waffe und richtete sie auf meine Stirn.
Fick dich!, wollte ich sagen, hielt meine Lippen aber fest verschlossen und sagte kein Wort.
»Zum letzten Mal: Wer bist du?« Seine Stimme glich nur noch einem Flüstern … ruhig und gelassen. Ich erkannte die Gefahr darin. Je ruhiger dieser Schlag von Mann wurde, desto gefährlicher war er.
Hier und jetzt würde meine kurze, aber glückliche Zeit enden. Drei Jahre. Mein Schicksal war mir nie gut gesonnen gewesen. Es war Ella, die mir diese Zeit geschenkt hatte und es machte mich traurig, dass ich ihr nicht mehr helfen konnte. Hoffentlich war alles nicht so schlimm und sie war bereits zu Hause, trank ihren verzuckerten Kaffee und wartete auf mich. Leider vergebens, denn ich würde nicht mehr zurückkehren. Das sagte mir der Blick in diese gefühlskalten Augen. Tränen sammelten sich in meinen, nicht wegen mir, sondern wegen meiner besten Freundin. Wer würde sie jetzt beschützen? Meine zitternden Hände legte ich in meinen Schoß.
»Tu es einfach«, forderte ich ihn mit leiser, kraftloser Stimme auf. Ich würde nicht um mein Leben betteln. Nie wieder würde ich betteln. Denn jedes Flehen, Betteln und Bitten, würde sowieso nichts bringen. Nicht in der Vergangenheit und heute ganz bestimmt auch nicht. Also konnte ich es gleich sein lassen. Je eher er abdrücke, desto schneller hatte ich es hinter mir.
Dante
»Tu es einfach.« Ihre Worte hallten in meinem Kopf wider und machten mich neugierig. Neugierig auf die Fassade hinter dieser jungen Frau vor mir. Wer war sie? Wieso heulte sie nicht, schrie nicht oder bettelte, wie es jeder andere getan hätte? Nein, sie kniete vor mir, sah mich mit diesen wütenden, ozeanblauen Augen an und schien in mich hineinzublicken. Es schimmerten zwar Tränen darin und das Zittern ihrer Hände war mir auch nicht entgangen, aber sie strahlte eine tödliche Ruhe aus. Ich bewunderte ihren Mut. Wie alt mochte sie sein? Anfang zwanzig und schon so abgebrüht? Sie sah weder wie eine billige Crackhure noch wie eine Nutte aus. Sie war schön. Zart, mit sanften Gesichtszügen. Ihre Haare lockten sich wild durcheinander und sie wirkte wie das Mädchen von nebenan, in ihrer Jeans und ihrem Hoodie. Aber in ihren Augen waren eine Tiefe und Traurigkeit, die mir erzählten, dass sie schon mehr gesehen oder erlebt hatte, als gut für sie war.
Während ich meine Waffe auf ihren Kopf gerichtet hielt, kamen Gregor und einer meiner Männer mit dem Verräter an. Pelle, der Mann aus unseren Reihen, der sich mit den Rigg-Brüdern verbündet hatte und nun seiner gerechten Strafe ins Auge sehen musste. Keiner hinterging mich oder den Don. Jeder Verrat wurde verfolgt und geahndet. Ohne Ausnahmen. Pelle hing zwischen ihnen, unfähig noch einen Schritt mit seinen kaputten Knien zu gehen. Blut lief ihm über das Gesicht und aus dem Mund. Kein schöner Anblick.
»Sollen wir es gleich hier erledigen oder willst du ihm noch eine Lektion erteilen?«, fragte Gregor. Pelle könnte sich glücklich schätzen, wenn ich ihm an Ort und Stelle eine Kugel in die Stirn verpasste und nicht noch ein Exempel an ihm statuierte. Denn dann würde er noch ein paar Höllenqualen mehr erleiden müssen als Hiebe und zwei zertrümmerte Kniescheiben.
»Dante, bitte … bitte«, flehte er sabbernd um sein Leben.
Wirklich erbärmlich. Ich konnte meinen Blick nicht von dieser zarten Schönheit vor mir abwenden. Sie bettelte nicht. Sie wimmerte nicht. Nein, sie sah dem Tod mit einer Stärke entgegen, die ich bestaunte.
»Knall ihn ab und dann lasst uns ein bisschen mit der Schlampe spielen, bevor wir sie auch verschwinden lassen«, schlug Killian vor. Ein gefährliches Knurren entwich meiner Brust.
Keiner würde dieses Mädchen anrühren.
Nickend gab ich Gregor das Zeichen, dass er Pelle ins Jenseits befördern sollte, denn ich hatte keine Verwendung mehr für ihn. Das Mädchen zuckte zusammen, als der Schuss ertönte. Sie schloss die Augen und merkwürdigerweise störte mich das, weil sie mir damit den Blick in diese entzog. Ihre Hände zitterten noch mehr, dennoch kam kein Ton über ihre Lippen.
»Steh auf!«, befahl ich ihr.
»Sie gehört mir, Dante. Ich habe sie gefunden«, sagte Killian und ich musste an mich halten, ihn nicht auch gleich von Gregor erschießen zu lassen oder es sogar selbst zu tun. Wäre da nicht der Don, sein Onkel, hätte ich es wahrscheinlich getan, aber Killian stand leider unter dessen Schutz.
»Halt die Klappe, Killian.« Ich wandte mich an zwei meiner Männer. »Bringt die Leiche zu den anderen und macht hier sauber.« Die Kleine hatte sich immer noch nicht gerührt und kniete weiterhin vor meinen Füßen. »Steh auf, habe ich gesagt.« Ohne auf ihre Reaktion zu warten, griff ich nach ihrem Oberarm und zerrte sie auf die Beine. Sie ging mir gerade mal bis unters Kinn, sah mich nicht an, sondern starrte auf einen imaginären Punkt auf meiner Brust.
»Wie heißt du?«, fragte ich. Keine Antwort. Ich steckte meine Waffe weg und zog sie noch ein Stückchen näher an mich heran. Ein Duft von Orangen mit einem Hauch Vanille umhüllte mich. Sie roch gut. Zu gut. Ich beugte mich zu ihr herunter, sodass mein Kinn ihre Wange streifte, und flüsterte ihr ins Ohr: »Stell meine Geduld nicht auf die Probe und antworte mir. Wer bist du?«
»Jule«, wisperte sie.
»Jule und weiter?«
Sie schüttelte kurz den Kopf. Entweder war sie außerordentlich mutig oder einfach zu naiv, um zu glauben, dass ich nicht jede Antwort aus ihr herauspressen konnte. Was machte sie um diese Uhrzeit hier in dieser verlassenen Gegend? War sie vielleicht eine Angestellte des Clubs, die jetzt erst Feierabend machte? Aber wo war dann ihr Auto? Oder hatte sie sich ein Taxi gerufen? Dann hätten wir gleich das nächste Problem.
»Halt sie fest.« Sie rührte sich kein bisschen, als Killian hinter sie trat und ihre Oberarme packte. Meine Hände wanderten über diesen zierlichen Körper und ich konnte nicht verhindern, mir vorzustellen, wie sich ihre nackte Haut unter der Kleidung wohl anfühlen mochte. Aus ihrer Hosentasche fischte ich einen Schlüssel und ein bisschen Bargeld. Mehr hatte sie nicht dabei. Kein Handy, keinen Geldbeutel, keinen Ausweis.
»Jule«, sagte ich betont sanft, »du warst leider zur falschen Zeit am falschen Ort.«
Mittlerweile hielt Killian ihre Hände auf dem Rücken zusammen und presste seinen Oberkörper an ihre Hinterseite. Etwas daran störte mich gewaltig. Ich wollte nicht länger, dass er seine Finger auf ihr hatte … sie anfasste … sich an sie presste.
Sie gehört mir. Nur mir.
Dieser Gedanke kam unerwartet, aber übermächtig. Diese Jule löste etwas in mir aus. Gefühle, die ich seit Ewigkeiten nicht mehr empfunden hatte: Verlangen und Besitzgier.
»Hilf den anderen und ruf den Reinigungstrupp an. Ich kümmere mich um sie«, wies ich Killian an. Murrend stieß er das Mädchen in meine Richtung und wandte sich zu den anderen. Jule stolperte in meine Arme und keuchte kurz auf, als ich sie grob packte und mit mir zerrte.
An meinem Auto angekommen, reichte mir Gregor Kabelbinder, mit denen ich ihre Handgelenke vor ihrem Körper zusammenband.
Ich umfasste ihr Kinn und drückte ihren Kopf nach oben, um sie zu zwingen, mich anzusehen. Die Ader an ihrem Hals pulsierte heftig und die Furcht in ihren Augen war deutlich zu erkennen. Fast konnte ich ihre Angst riechen unter ihrem betörenden Duft. Aber ansonsten zeigte sie keinerlei Regung.
»Du wirst jetzt schön brav mit mir kommen. Mach keine Dummheiten, sonst …«, drohte ich ihr und nickte zu der letzten Leiche hinüber, die meine Männer gerade in den Kofferraum eines Fahrzeuges warfen. Unsanft beförderte ich sie auf die Rückbank, setzte mich daneben und überließ Gregor das Fahren. Dieser zog schmunzelnd eine Augenbraue hoch und startete den Motor.
Ich packte sie im Nacken und drückte sie nach unten. Die ganze Fahrt über hielt ich sie in dieser Position. Ihre Stirn ruhte auf meinem Oberschenkel und sendete unaufhaltsam Signale an meine Leistengegend. Sie weinte stumm und ihre Tränen durchnässten meine Hose. Sanft strich ich mit meinem Daumen über ihren Haaransatz. Unweigerlich versteifte sich ihr Körper, während ihre weichen Locken meinen Handrücken kitzelten. So zerbrechlich wie ein Kolibri, lag sie vor mir.
Ich ließ sie erst wieder los, als Gregor das Fahrzeug in unsere Tiefgarage lenkte und das Rolltor hinter uns herunterfuhr.
Hier in unserem Reich würde sie mir die Antworten liefern, die mich so brennend interessierten. Von hier konnte sie nicht mehr fliehen. Ihr Leben lag jetzt in meinen Händen.
Alles von ihr gehörte von nun an mir!