Leseprobe Unkraut vergeht nicht

Queen of Night

„Du hast Glück“, sagt Heckenschütze. Er erwischt dich, wenn du damit überhaupt nicht rechnest. Immer todernst. Ich und Glück? Bald der zweite Sommer im Knast? Und da will er mir einreden, ich hätte Glück? Was soll ich ihm auf diesen Schwachsinn sagen? „Hast du schon von Herrn Samper gehört?“, fragt der Knastleiter, wartet aber mein ‚Nein‘ nicht ab. „Herr Samper ist der Vorsitzende eines Fördervereins für jugendliche Strafgefangene. Er nimmt dich bei sich auf.“

„He?“, sage ich. Mein erstes Wort hier.

„Wir entlassen dich im Rahmen eines Resozialisierungsprogramms auf Bewährung, und du bekommst im Geschäft von Herrn Samper in München eine Ausbildungsstelle. Du bist doch aus München, oder?“

„Welches Geschäft denn?“

„Ein Blumenladen!“

Ein Blumenladen? „Ich will nicht in einem Blumenladen arbeiten“, sage ich. „Ich hasse Blumen!“

„Warum denn?“

„Blumen haben meine Mutter gekillt!“

Heckenschütze wühlt in den Papieren auf seinem Tisch. „Hier steht, deine Mutter ist bei einem Autounfall umgekommen.“

„Mutter hat sich an einer Kreuzung in ein Rosenbeet verguckt und das Rot an der Ampel übersehen.“

„Das weiß niemand, wie es genau war.“

„Ich schon!“

„Wie dem auch sei. Hast du noch Kontakt zu deinem Vater? Er hat dich hier kein einziges Mal besucht.“

„Mein Vater lebt seit drei Jahren in einem Ashram in Indien.“

„Was macht er dort?“

„Muss den Tod meiner Mutter verarbeiten.“

Heckenschütze raschelt wieder in seinen Papieren. „Dein Vater kommt aus Altötting, oder?“

„Ja!“

„Dann ist alles klar!“, sagt er. „Da ist die Adresse von Herrn Samper.“ KLOPF, KLOPF an die Tür. Sepp, der Hammer trottet herein. Wenn seine Hände nicht Hämmer wären, könnte man sie auch als Baggerschaufeln bezeichnen. „Da sind seine Entlassungspapiere, sein Ausweis und der Rest!“, sagt Heckenschütze und reicht dem Knastwärter einen Stapel Wische.

Und schon stehen wir in seiner Tür – die erste der Türen, die in die Freiheit führen. „Leon!“ Ich drehe mich wieder um, erwarte Schlimmes. Jetzt sagt der Knastleiter, ‚es geht doch nicht‘, und ich muss wieder in meine Zelle. „Wenn du draußen etwas anstellst, bist du ruck zuck wieder bei uns“, sagt Heckenschütze. „Und dann gibt’s keine Bewährung mehr.“ Ich nicke. Noch bevor die Tür hinter uns ganz zugeht, höre ich seinen letzten Satz: „Wer wird sich jetzt um unsere Computer kümmern?“ Seufzer. Tür zu. Die anderen Jungs hatten Computerverbot. Ich war eine Ausnahme. Was IT angeht, hat man mich hier gebraucht.

Im Flur taucht Lutz auf, mein Psychologe. „Leon! Halte draußen die Ohren steif!“

„Mach ich, Lutz! Danke für alles!“ Klar wusste ich, dass ich irgendwann auf Bewährung rauskommen würde. Nur so früh? Lutz hat alles klar gemacht, einen guten Anwalt aufgetrieben. Hab mich dagegen nicht gewehrt. Salami hat hier jetzt auch andere Freunde als mich, nicht wie am Anfang, er kommt durch. Aber ein Blumenladen? Na ja. Auch egal! Was sollte ich sonst tun? Ins Kinderheim wollte ich nicht mehr zurück. Immer wenn ich in meine Vergangenheit blicke, sehe ich Martins enttäuschtes Gesicht. Martin war mein Betreuer im Heim.

Sepp, der Hammer treibt mich vor sich hin aus dem Knast. Meine Sachen haben wir schon abgeholt. Das Leben rollt wieder mal in einem krassen Tempo an mir vorbei. „Schneller, Junge!“ Im Hof schiebt Sepp mich zu einer Bullenwanne. „Man bringt dich nach München“, sagt er. „Schade! Na ja! Ich bin ein Optimist. Sicher bist du in ein paar Tagen wieder bei uns!“ Er zeigt mir seine krasse Faust. „Weißt du, wie man mich nennt?“

„Der Hammer.“ Sepp nickt zufrieden, guckt sich um und flüstert mir ins Ohr: „Merk’s dir, Junge! Die Freiheit ist 'ne Nutte, die sich teuer bezahlen lässt. Gut, oder! … He, he, he! …“ Sepp heult vor Lachen, er röchelt sich die Lunge aus dem Leib. Mann, oh, Mann! Höchste Zeit, hier rauszukommen.

Draußen schiebt mich ein Schnittlauch, den ich nicht kenne, in eine Bullenwanne auf den Rücksitz, ein zweiter schlüpft auf den Beifahrersitz. Der Motor brummt auf, aber Herbert Grönemeyer aus dem Autoradio heult alle Geräusche weg. Es kann nur besser werden. Denke ich mir. Ich habe nicht recht.

 

Zuerst schaut der Weg in die Freiheit aber supergemütlich aus. Von Weitem winken mir die zwei Türme der Frauenkirche zu. In die hat mich Mutter schon geschleppt, als ich ganz klein war. Zum Beichten. Sie verdiente ihr Geld auf dem Strich … Quatsch! Sie wollte in der Kirche ‚nur ein bissl die Füße strecken‘, wie sie immer sagte. Eine Stadtführerin war sie. Deswegen kenne ich die Stadt. Nur die Leute darin kenne ich nicht mehr. Wen sollte ich hier noch anrufen? Nach über zwei Jahren Heim auf dem Land und einem Jahr Jugendknast. Hey! München! Meine Heimatstadt! Bin ich echt frei? Sicher treiben die einen derben Scherz mit mir. Nein! Ich bin nicht wichtig genug für einen Scherz, der die Bullen so viel Zeit kosten würde.

Die Bullenwanne hält am Wettersteinplatz an. „Du kannst aussteigen“, sagt der Fahrer. Nichts wie weg hier, bevor die Typen sich’s anders überlegen. Einsteigen geht meist leichter als Aussteigen.

„Dort ist die U-Bahn!“, ruft mir der Beifahrer nach. Ich gucke zum großen weißen U auf blauem Hintergrund über der Kreuzung, dann in den blauen Himmel. Die Sonne hat sich auf die Stadt gehockt. Nee, Leute! In ein dunkles Loch kriegt mich jetzt keiner rein. No Underground! Ich drehe mich nicht um, gebe keine Antwort, laufe weiter. Wenn du draußen bist, musst du einem Schnittlauch nicht immer antworten, oder?

Die Wirtschaftskrise zeigt ihre üblen Auswirkungen: Die Stoffe gehen aus – die Mädchen tragen viel kürzere Röcke als im letzten Frühjahr. Zumindest kommen sie mir viel kürzer vor. Ansonsten bleibt aber alles beim Alten. Der Pommes-Tempel steht immer noch unweit vom 1860er-Stadion. Meggie! Bin sofort in Partystimmung. Was sollst du dir schon sonst reinschieben nach einem Jahr Nudeln und Reis? Langsam lasse ich die Pommes in den Magen wandern. Ganz langsam, Leon, du hast alle Zeit der Welt. Der Blumenladen läuft dir nicht davon! Im Knast ist jedes Essen Party – wenn du Geld hast und dir etwas dazu kaufen kannst, dann kochst du. Den halben Tag. Alles nacheinander in einem kleinen Topf, mehr steht dir nicht zu: Zuerst die Soße, dann Kartoffeln … Geld hat mir mein Vater hin und wieder geschickt. Hmm … Lange werde ich’s hier nicht genießen können, oder? Ob ich im Bau noch Salami erwische? „Salam aleikum, Leon!“

„Wa aleikum salam!“ Salami hat mir etwas Arabisch beigebracht. Kannst du in Munich gut gebrauchen.

***

Der Blumenladen schlummert in einer leeren Straße unweit der Isar. Giesing. In den zwei Schaufenstern blümelt’s wie auf dem Friedhof. Drinnen rührt sich nichts. Mittagspause? Ich drücke die Klinke, die Tür geht auf. „Hallo!“, rufe ich hinein. „Der Einbrecher ist da!“, will ich hinzufügen, kichere aber nur und trotte in den Laden. Jemand muss hier sein, wenn die Tür nicht abgesperrt ist, oder? Ich gehe weiter ins Dunkle hinein. Mist! Was war denn das? Bin über irgendwas gestolpert. Ich heb’s auf, will’s angucken, doch etwas anderes bannt meinen Blick. „Scheiße!“, sage ich laut. „Was macht die Leiche da?“ Auf dem Tisch links vor mir, zwischen blühenden Blumentöpfen, liegt eine tote Frau. Gibt’s doch nicht, oder? Auch im Tod ist sie schön. So muss Schneewittchen ausgesehen haben. Ein paar Jahre älter als ich. Etwas über zwanzig? Viel älter wird sie aber nicht mehr werden, so tot wie sie ist. Ihr weißes Kleid rot gesprayt. Alle meine Alarmglocken läuten. Weg hier! Warum starre ich trotzdem die schwarze Tulpe auf der rotgefärbten Brust der Toten an? Wie ein Wachhund liegt die Tulpe da und frisst die Lichtstrahlen. Unter der Tulpe lugt ein blutverschmierter Zettel. Verdammt! Worüber bin ich eigentlich gestolpert? Was halte ich in der Hand? …

„Lass den Unkrautstecher fallen und dreh dich um“, sagt eine Stimme hinter mir. „Aber langsam! Sonst erschieße ich dich!“ Ach so! Unkrautstecher heißt das Ding in meiner Hand: Ein kleiner langer spitzer Spaten. Die Klinge rot. Auch wenn ich im Bau ziemlich langsam geworden bin, checke ich gleich, wo das Ding noch vor Kurzem gesteckt hatte. Na, wenn das keine Überraschung ist? Nur ein kleiner Spaziergang in der Freiheit, und schon stehe ich mit einer blutigen Mordwaffe in der Hand in einem Blumenladen, und jemand will, dass ich die Hände hochhebe. Besser hätte’s keiner hingekriegt, oder? Klar könnte ich losstürmen und mich jetzt gleich abknallen lassen, damit Ruhe ist, aber so würde ich nie wieder bei Salami im Bau landen und Sepps Prophezeiung erfüllen. Am besten lasse ich den Unkrautstecher fallen, oder? Mag das Mordding sowieso nicht mehr halten. Was hat die Stimme noch gesagt? Ach ja, Hände hoch! Warum denn nicht? Ich hebe die Hände. Was soll’s! Auch mit erhobenen Händen kann mich die Welt am Arsch lecken. Ich drehe mich um. Und starre: Braunes glattes Haar, auf eine krass Abi-mäßige Art hübsch, dieses Mädchen würde einen Proleten wie mich auf der Straße nicht mal angucken, und jetzt zielt sie gleich mit einer Knarre auf mich. Super! Schwarzes T-Shirt, rote Jeans-Shorts, bauchfrei, auch Beine nackt, das rechte Knie etwas aufgeschürft, wohl vom Fußball, he, he, schwarze Chucks ohne Socken. Die Bonnie würde im Jugendknast schon einen kleinen Aufstand verursachen. Zumal die Knarre in ihrer Hand ziemlich echt ausschaut.

„Wo hast du die her?“, frage ich, um etwas Konversation in Gang zu bringen.

„Von meinem Vater! Er hat die Waffe als Schutz gegen Einbrecher.“

Plötzlich plappert sie, als ob ich kein Mörder wäre und wir zusammen gleich Hausaufgaben machen würden. Das Blümchen ist etwa gleich alt wie ich, also sechzehn. „Als Kinder haben wir uns die Waffe immer heimlich ausgeliehen“, redet sie weiter, „und damit Räuber und Gendarm gespielt. Einmal …“ Plötzlich stutzt sie. „Warum erzähle ich dir das?“, fragt sie.

„Weil du Vertrauen zu mir hast?“, sage ich. Kein schlechter Spruch für einen Mörder, oder? Gleich schießt sie mich wegen der Frechheit in die Kniescheibe. Wieder falsch gedacht! Die Frau kichert. Ist das nicht morbide? Aber wart mal! Vielleicht … vielleicht ist das ganze hier nur ein Scherz! Vielleicht bin ich kein Mörder! Vielleicht ist das auf dem Tisch keine Leiche. Sondern die große Schwester der Frau mit der Knarre. Und die beiden spielen mir einfach einen Streich. Ich gucke mich um. Doch kein Scherz! Die Leiche liegt immer noch da. Nur ein bissl toter als vorher ist sie – mausetot.

„Ich hab sie nicht umgebracht!“, sage ich.

Sie kichert wieder. Ach was, kichert! Einen Lachanfall kriegt sie. Die Knarre schlottert ihr dabei in der Hand wie ein Zitteraal. Wenn sie jetzt anfängt zu ballern, bin ich ein Sieb. Ist die bescheuert?

„Was gibt’s da zu lachen?“, frage ich.

„So was Blödes habe ich noch nie gehört“, sagt sie. „Du stehst hier mit einer Mordwaffe in der Hand. Überall Blut. Neben dir liegt eine Leiche … statt aber in dich zu gehen und dich wie ein Mörder mit Würde zu benehmen, redest du nur dummes Zeug: ‚Ich hab sie nicht umgebracht, ich hab sie nicht umgebracht …‘ Ja, wer hat sie denn dann umgebracht? Der Heilige Nikolaus? Der kommt erst im Dezember, Mann! Schämst du dich nicht für deine Lügen?“

„Ich hab sie echt nicht umgebracht“, sage ich noch mal, auch wenn sich’s blöd anhört. „Ich bin der neue Lehrling.“

„Der neue Lehrling?“ Sie kreischt vor Lachen. „Hör auf! Sonst bringst du mich mit deinen Sprüchen um!“ Die Pistole hüpft in ihrer Hand wie ein ungehorsames Tier. Soll ich noch weiter warten, bis sie mir aus Versehen eine Kugel in den Blinddarm jagt? Sie krümmt sich vor Lachen, ich springe, ich schlage zu. Mein Kung-Fu-Training im Knast hat doch was gebracht. Eine Sekunde später steht sie ohne die Knarre da und reibt sich das Handgelenk. Die Pistole halte jetzt ich. Ha, da glotzt du, Jenny, was? Ihr Lachen vergeht sofort, sie kriegt große Augen. „Bringst du mich jetzt um?“ Mann! Sie sagt das, als ob sie sich drauf freuen würde.

„Nee“, sage ich, „ich wollte nur nicht, dass du mich damit umbringst.“ Ich reiche ihr die Knarre. Ja, ich weiß, keine kluge Idee. Ich neige manchmal zu spontanen Handlungen. Eine davon hat mich in den Knast gebracht.

Doch anscheinend hab ich bei ihr durch meine Tat Punkte gesammelt. „Bist du wirklich der neue Lehrling?“, fragt sie. „Warte! Also, wenn du weißt, dass mein Vater einen neuen Lehrling erwartet, dann musst du Leon sein. Du warst aber in der Jugendstrafanstalt, oder? Und bist nur auf Bewährung rausgekommen. Wegen eines Resozialisierungsprogramms und weil sich Papas Förderverein für dich eingesetzt hat. Wie blöd musst du denn sein? Du gehst schnurstracks zu deiner neuen Arbeitsstelle und bringst dort die Kundinnen um?“ Sie dreht sich zur Leiche. „Wenn’s eine Kundin war.“

„Ich hab sie nicht umgebracht!“ Langsam wiederhole ich mich öfter, als mir lieb bist.

Sie guckt mich an und seufzt. „Ich glaube dir! So bescheuert wäre kein Mörder, mir die Pistole zurückzugeben.“

Sie runzelt die Stirn. „Wer hat sie aber dann umgebracht? Wer ist sie?“

„Das ist voll wurscht, wer sie umgebracht hat“, sage ich. „Man wird’s so oder so mir ins Ausbildungszeugnis schreiben. Ich bin auf Bewährung raus und am ersten Ort, wo ich auftauche, passiert gleich ein Mord. Wer würde mir schon glauben? Der erste Schnittlauch, der hier auftaucht …“

„Schnittlauch?“

„Ein Bulle!“

„Warum aber Schnittlauch?“

„Na, außen grün und innen hohl.“

„Ein dummer Witz“, sagt sie. „Nicht einmal in Bayern tragen Polizisten grüne Uniformen mehr. Sie tragen jetzt blau!“

„Echt?“, frage ich. „Ich war so lange eingesperrt, dass ich’s nicht mitbekommen habe.“ Sie kullert vor gespielter Verzweiflung mit den Augen. Langsam nerve ich sie mit meinem super Humor. So bremse ich mich besser: „Der erste Polizist, der hier auftaucht, brezelt mich zusammen …“

„Brezelt?“

„Na, gibt mir die Handschellen. Hast du kein Deutsch gelernt? Hand-schel-len!“

„Unverschämt bist du auch“, sagt sie.

„Bin halt als frischgebackener Mörder etwas durcheinander.“

„Keine Angst“, sagt sie. „Wir bügeln das schon aus.“

„Was?“

„Wir finden den Mörder!“

„Scheiße!“, sage ich. Was willst du auch sonst sagen? Wenn du in einem Blumenladen neben einer Leiche und einer Verrückten stehst? „Wie denn?“, frage ich.

„Na, wie wohl“, sagt sie. „Durch Zusammenarbeit natürlich. Viele große Detektive haben zu zweit gearbeitet: Sherlock Holmes und Dr. Watson, Nero Wolfe und Archie Goodwin … einer ist immer der Kopf und der andere …“

„… ist der Vollidiot!“, füge ich hinzu. „Cool! Und wer ist bei uns der Kopf?“

Sie guckt mich wieder mit ihren Spiegeleier-Augen an. „Na, ich! Wer sonst? Hast du überhaupt einen Hauptschulabschluss?“

„Neee!“, sage ich. „Ich muss noch schreiben und lesen lernen.“ Blöde Tusse!

„Das überrascht mich nicht“, sagt sie und schickt sich an, nach dem Zettel zu grabschen, der auf der Brust der Leiche unter der schwarzen Tulpe liegt.

„Nicht ohne Handschuhe“, sage ich.

„Was?“

„Du sollst nichts an der Leiche ohne Handschuhe anfassen.“

„Stimmt!“, sagt sie. „Man sieht, du hast viel kriminelle Erfahrung.“

Was labert sie da? Sie holt aus der Schublade am Kassentisch leichte weiße Baumwollhandschuhe. „Die lasse ich dann verschwinden. Wir haben viele davon. Damit wir uns nicht an den Rosen stechen.“ Sie hebt den Zettel von der Brust der toten Frau. „Das ist komisch! Ein Gedicht!“

Sie fängt an zu rezitieren:

„Die drei Spatzen

In einem leeren Haselstrauch,

da sitzen drei Spatzen, Bauch an Bauch.

Der Erich rechts und links der Franz

und mittendrin der freche Hans.

Sie haben die Augen zu, ganz zu,

und obendrüber, da schneit es, hu!

Sie rücken zusammen dicht an dicht,

so warm wie Hans hat’s niemand nicht.

Sie hör’n alle drei ihrer Herzlein Gepoch.

Wie lange sitzen sie hier noch?

Nicht mehr zu lange, Feder rot!

Der kleine Erich ist jetzt tot.

Drei Spatzen haben keine Wahl,

die Drei ist ihre Todeszahl.“

„Besser, du legst den Zettel jetzt wieder zurück!“

„Schade, dass mein Bruder nicht hier ist“, sagt sie. „René liest nur Gedichte. Jedes Gedicht kennt er. Ich lese nur Krimis.“

„Das glaube ich dir aufs Wort“, sage ich.

Sie hebt den Unkrautstecher und wischt seinen Griff ab. Der ist zum Glück nicht mit Blut bekleckert. „Was hast du hier noch angefasst?“

„Nur die Türklinke!“, sage ich. Sie lugt vorsichtig aus dem Laden und wischt die Türklinke ab.

„Jetzt hast du wohl auch die ganzen Fingerabdrücke des echten Mörders abgewischt?“

„Glaube ich nicht“, sagt sie. „Kein Mörder ist so blöd wie du und fasst die Mordwaffe mit bloßen Händen an.“

„Na, hör mal! Woher sollte ich wissen, dass das Ding eine Mordwaffe war?“

„So was weiß man einfach.“ Sie kommt zur Leiche zurück. „Hat dich draußen jemand gesehen?“

„Glaube nicht! Eure Straße war ganz verlassen.“ Ich klopfe ihr auf die Schulter: „Auch an der Pistole solltest du deine Fingerabdrücke abwischen …“

„Die Pistole ist kein Problem“, sagte sie. „Ich schieße oft auf meinen Papa damit.“

„Ein hübsches Spiel“, sage ich.

„Nur als ob!“, sagt sie. „Ich bringe die Pistole sowieso wieder nach oben in unsere Wohnung. Du solltest jetzt schleunigst verschwinden! Ich laufe mit der Pistole hoch, komme aber sofort zurück und entdecke die Leiche noch einmal. Mein Vater hält oben in der Wohnung sein Mittagsschläfchen. Mutter ist in Frankreich, und Tante Marta geht mittags immer heim. In einer Stunde kommst du wieder und tust, als ob du nie da gewesen wärest.“

Hmm … diesen Vorschlag von ihr finde ich gar nicht so schlecht. Abhauen! Klar würde ich nicht in einer Stunde wieder kommen. Ich würde nie wieder kommen. Bin doch nicht ganz so blöd, wie sie meint. Von mir aus kann sie hier allein den Sherlock spielen! Ohne mich! Klar? Bevor ich aus dem Laden latsche, drehe ich mich noch einmal um:

„Wie heißt du?“

„Laura!“

„Ich bin Leon!“

„Das weiß ich doch. Hmm … Laura & Leon! L & L! Kein schlechter Name für ein Detektivduo.“ Oh, Gott! Die ist echt reif für die Klapse. Und hat überhaupt keinen Sinn für Lautmelodie: Laura & Leon? Klingt doch voll bescheuert, oder? Leon & Laura klingt viel besser!

Eine Sache muss ich aber noch wissen: „Was macht die schwarze Tulpe auf ihrer Brust? Sind schwarze Tulpen nicht selten?“ Sie kichert wieder. Was sonst? „Wegen dieser Blumen haben Menschen früher gemordet.“ Wohl kichert sie immer, wenn sie an Mord denkt.

„Nicht nur früher“, sage ich.

„Das stimmt!“, sagt sie. „Der Mord muss etwas mit Blumen zu tun haben. Mit Tulpen. Mit Queen of Night!“

„Was?“

„So heißt die schwarze Tulpe: Queen of Night!“

„Ein seltenes Stück, oder?“

„Nicht unbedingt“, sagt Laura. „Vor ein paar Jahren wurde die Queen of Night in Holland zur Zwiebel des Jahres gekürt.“

„Zwiebel des Jahres?“ Mann, oh, Mann. So was Perverses habe ich noch nie gehört.

Doch Laura findet das normal. „Tulpen sind gefährlich. Im 17. Jahrhundert ist Holland wegen Tulpen Pleite gegangen. Hast du noch nie von der Tulpenmanie gehört?“

„Neee!“, sage ich, und bin plötzlich recht glücklich, dass ich Blumen nicht ausstehen kann.

Sie seufzt. „Das war mir sowieso klar.“

„Die schwarze Tulpe ist also …“

Sie unterbricht mich. „Es ist noch nie jemandem gelungen, eine vollkommen schwarze Tulpe zu züchten.“

„Die da auf der Leiche ist doch schwarz.“

„Eigentlich nur dunkelviolett mit Stich ins Schwarze. Wie die Tulpe erscheint, hängt nur von dir ab …“

„Ach so! Magie!“

„Nein!“, sagt die Klugscheißerin. „Physik!“

„Und die tote Frau?“

„Was meinst du?“

„Sie war noch vor Kurzem ein Mensch!“

„Wenn wir herausbekommen, was für ein Mensch sie war, haben wir den Mörder.“

„Wieso?“

„Zu jedem Mord gibt es ein Motiv.“

Besser sage ich nichts mehr, gucke vorsichtig aus der Ladentür und latsche hinaus. Hier sieht man mich nie wieder. Das schwöre ich! Queen of Night? Sherlock Holmes? L & L? ‚L m. L‘ wäre viel besser – Leck mich, Laura!

Auf der Flucht

Dienstag Nachmittag, Tag des 1. Mordes

Ihre Schreie höre ich noch eine Straße weiter. Gerade hat meine Komplizin zum zweiten Mal die Leiche entdeckt. Eine Schauspielerin vor Gott! Was soll ich jetzt machen? Na, was? Weglaufen! Bis ans Ende der Welt, hinter die Milchstraße, per Anhalter durch die Galaxis! Trotzdem mache ich drei Straßen weiter einen kleinen Abstecher in ein Internet-Café. Statt am Bahnhof auf einen ICE zu warten, der mich aus München und Deutschland rausbringt, oder besser, statt eine Zeitmaschine zu klauen, klimpere ich auf der Tastatur in einem Internetcafé unweit vom Tatort. Kann nicht anders. Lauras Augen schwirren in meinem Hirn herum wie zwei Leuchtkäfer und beleuchten meine komischsten Gedanken. Egal! Dann surfe ich halt etwas und haue erst danach ab. Also. Was haben wir da? Aha! Google zufolge ist der Autor des krassen Mordgedichts gar nicht so unbekannt. Gleich die Suche nach ‚In einem leeren Haselstrauch‘ spuckt seinen Namen aus: ‚Christian Morgenstern.‘ Komisch ist aber: Das Original-Gedicht endet anders als das auf dem blutgetränkten Zettel:

Sie hör'n alle drei ihrer Herzlein Gepoch.

Und wenn sie nicht weg sind, so sitzen sie noch.

Wenn ich mich richtig erinnere, ging das Gedicht auf der Leiche aber so zu Ende:

Sie hör’n alle drei ihrer Herzlein Gepoch.

Wie lange sitzen sie hier noch?

Nicht mehr zu lange, Feder rot!

Der kleine Erich ist jetzt tot.

Drei Spatzen haben keine Wahl,

die Drei ist ihre Todeszahl.

Oder? Jemand hat Morgensterns Gedicht umgedichtet. Jemand? Der Mörder! Klar! Jetzt muss die Sherlocka mit der Knarre nur noch einen Dichter finden. Davon gibt’s heutzutage sicher nicht viele. Ich stütze mich am Computertisch ab, dehne meinen Rücken. Uaah! Warum bringt jemand eine schöne junge Frau um? Wer war sie? … Okay, Mann! Du hast dich genug gebildet, und jetzt nichts wie zum Bahnhof. Dort kannst du in einen Zug nach Rumänien steigen. Im Schloss von Graf Dracula in Transsilvanien kriegst du sicher einen Unterschlupf. Besser sich das Blut aussagen lassen, als nach ein paar Stunden Freiheit wieder im Knast zu landen. Für den Rest des Lebens.

Warum ich dann eine Stunde später zum Blumenladen zurück trotte, ist mir überhaupt nicht klar! Ich Hirngeschädigter! Inzwischen ist die Straße in Giesing zum Marienplatz geworden. Menschenauflauf wie beim Sommerschlussverkauf. Überall blaue Polizeiautos, – als ob der bayerische blaue Himmel hier in der Straße gelandet wäre. „Was willst du hier?“, fragt mich ein Uniformierter, als ich versuche, mich in den Laden zu schleichen.

„Na, den Mörder zieht’s an den Ort seines Verbrechens zurück!“, antworte ich cremig, aber klar in meinen Gehirngiftschrank hinein. Laut sage ich nur: „Ich bin der neue Lehrling!“ Der Bulle geht in den Laden, mit einem Typ in Zivil kommt er wieder heraus. Ein Schnurrbartträger? Heute passieren nur unbglaubliche Sachen: Einen Schnurrbart habe ich zuletzt in einem Film gesehen. „Hauptkommissar Hauptmeister“, sagt er zu mir. He? Macht er sich lustig über mich? Ein Polizist hinter ihm fängt an zu kichern. Hauptkommissar Hauptmeister dreht sich blitzschnell um und fährt ihn an. „Warum lachen Sie?“

„Ich lache nicht, Herr Hauptkommissar!“

„Doch! Sie haben gelacht!“

„Nö, habe ich nicht!“

„Doch! Das schreibe ich mir gleich auf. Ihren Vorgesetzten können Sie nicht straffrei verspotten! Sie … sie … sie Komödiant!“

„Ich habe wirklich nicht gelacht.“

„Doch, doch …“

Hmm. Was ziehen die beiden hier für eine Show ab? Aus dem Eingang neben dem Laden taucht ein etwa 50-jähriger Mann auf. Seine Schulter hängt bis zum Boden. „Ich bin der Ladenbesitzer, Samper“, sagt der Typ. Mein neuer Boss. „Wer führt die Untersuchung?“, fragt er.

„Hauptkommissar Hauptmeister!“, sagt der Schnurrbart noch mal und streckt Herrn Samper seine Hand hin. Der Bulle, der vorhin kicherte, schreit auf vor Lachen. Der Schnurrbart läuft rot an und dreht sich wieder zu ihm. Der Bulle lacht wie ein Lachsack, ruft aber in seine Lachsalven hinein ‚ich lache nicht, ich lache nicht!‘ und hüpft davon.

Der Schnurrbart dreht sich wieder zum Vater von Laura. Endlich Shake Hands:

„Samper.“

„Hauptkommissar Hauptmeister“, sagt Schnauzer noch mal und glotzt Samper abwartend an.

Stille. Herr Samper überlegt. Alle uniformierten und nicht uniformierten Bullen gucken zu Samper und zu ihrem Boss. „Hauptkommissar oder Hauptmeister?“, fragt Samper. Ein zweiter Bulle schreit vor Lachen und läuft davon.

„Ich bin Hauptkommissar“, sagt der Schnurrbart. „Mein Name ist Hauptmeister! Ist der Junge hier ihr neuer Lehrling?“

„Ah, du bist Leon?“, sagt Herr Samper und streckt mir die Hand entgegen. „Geh nach oben! Meine Tochter zeigt dir dein Zimmer. Sie heißt …“

Bevor ich selbst ‚Laura‘ sage, reiße ich mich mit aller Kraft zusammen. „Moment mal!“, sagt Hauptmeister. „Zuerst rede ich mit dem Jungen.“

„Ich warte oben“, sagt Lauras Vater. „Schicken Sie bitte Leon zu uns, wenn sie fertig sind.“

„Ich komme dann mit“, sagte Hauptmeister. „Mit Ihnen muss ich auch reden. Mit allen, die im Haus wohnen oder im Laden arbeiten. Wenn die Tote weg ist, müssen Sie sich den Tatort genau anschauen. Vielleicht fällt ihnen etwas Ungewöhnliches auf.“

„Gut“, sagt mein neuer Boss und schlurft zum Eingang neben dem Laden. Seine hängenden Schultern ziehen ihn noch mehr zu Boden. Ich gucke hinauf. In einem der Fenster steht Laura und winkt mir zu. Zum Glück ist jeder Polizist in der Gegend gerade beschäftigt, keiner schaut nach oben. Spinnt die Detektivin, oder was? Wenn sie nicht aufpasst, werden wir viel schneller entlarvt als der Mörder. Mein Blick flitzt noch höher. Am Münchner Himmel malt ein Flugzeug weiße Linien ins Blaue hinein. Hmm … ein Vogel zu sein, das wäre jetzt am schönsten. Mein Magen knurrt. Sind die Pommes schon verdaut? Vielleicht sollte ich jetzt sagen, dass ich schon vor einer Stunde hier war – dann würde ich noch das Abendessen im Knast schaffen.

Aus dem Laden läuft ein Gorilla in Zivil. Etwa zwei Meter lang und genauso breit. „Die Spurensicherung braucht no a bisserl, Herr Hauptkommissar.“ Aha! Schnurrbarts Hiwi.

„Geht, Herr Brummla“, sagt der Hauptkommissar. „Eeh, bleiben Sie da! ‚Gut‘ wollte ich sagen. Der Doktor soll die tote Frau ordentlich unter die Lupe nehmen.“ Brummla heißt sein Hiwi also? Krass! „Und jetzt zu dir, Junge!“ Der Hauptkommissar glotzt mich streng an und wartet auf mein Geständnis. Klar schlottert sein Schnauzer vor Aufregung, als er erfährt, dass ich gerade aus dem Jugendknast entlassen wurde. Gleich feuert er Atombomben: „Hast du den Mord verübt?“

„Nein!“, sage ich. „Ich hab sie nicht umgebracht.“

„Jetzt habe ich dich erwischt!“, sagt Hauptmeister. „Die Falle ist zugeschnappt! Was? Woher hast du gewusst, dass der Tote eine Frau war?“

„Sie haben’s gesagt!“, sage ich.

Hauptmeister dreht sich zu seinem Gorilla: „Habe ich’s gesagt?“

„Ja, Herr Hauptkommissar?“, sagt Brummla mit vollem Mund. Hinter seinem Rücken versucht er, eine angebissene Leberkäsesemmel zu verstecken.

„Na gut!“, brummt Hauptmeister. Er telefoniert mit dem Leiter der Strafanstalt, dann mit den Bullen, die mich nach München gefahren haben. Die Sonne muss ihm ziemlich zu schaffen machen. Trotzdem hängt an ihm ein dickes Jackett. Er holt einen kleinen Notizblock aus der Brusttasche und kritzelt darin. „Ein Einbrecher bist du also“, sagt er endlich. „Einen Tresor im Waisenheim geknackt, in dem du gelebt hast. Das ist doch ziemlich blöd, oder?“

Ich antworte nicht, obwohl ich damals, nach dem Einbruch vor einem Jahr, was Ähnliches zu meinem Freund Salami gesagt habe.

Der Hauptkommissar kratzt sich mit dem Kuli am Ohr, hat aber vergessen, die Mine einzufahren. Sein Ohr wird blau wie die Autos um uns herum. „Du bist schon seit über zwei Stunden in München“, sagt er. „Wo hast du dich rumgetrieben?“

„Ich war bei Meggie.“

„Meggie? Du warst bei einer Frau. Mit 16? Eine Prostituierte, was?“

„McDonalds.“

„Eeeh … das ist kein gutes Alibi.“

„Dann habe ich in einem Internetcafé gehockt.“

„Wir prüfen’s nach!“, sagt der Hauptkommissar.

„Sie san blau, Herr Hauptkommissar!“, sagt Brummla.

„Na, was erlauben Sie sich, Herr Brummla? Ich trinke nie im Dienst!“

„Naa, i moan … Ihr Ohr is blau.“

„Wirklich? Blaues Ohr? Wo ist der Doktor?“

„Das ist nur Tinte“, sage ich. „Vom Kuli!“

„Tinte? Hat mich jemand mit Tinte beschmiert? Na, wenn ich den erwische …“. Er dreht sich wieder zu mir. „Also, Junge, dir müssen wir keine Fingerabdrücke nehmen, die haben wir schon.“

Tja! Das Netz um mich zieht sich immer mehr zusammen. Vom Knast bin ich jetzt nur durch einen winzig kleinen Fingerabdruck getrennt, den Laura abzuwischen versäumte.