Kapitel 1
Wenn die anderen nicht endlich aufhörten, über ihr Leben zu bestimmen, würde sie schreien – jetzt und auf der Stelle, Familienfeier hin oder her.
Abigail Linton wunderte sich selbst, wie wütend sie war, und sie holte tief Luft, um sich wieder abzuregen. Der Drang, ihre Angehörigen wie eine Irre anzubrüllen, sah ihr gar nicht ähnlich. Noch dazu, während sie ihren neugeborenen Neffen auf dem Arm hielt.
Sie stand am offenen Fenster und wiegte Freddie sanft in den Armen. Der Blick in sein süßes kleines Gesicht beruhigte sie allmählich. Zum Glück war das Kind in einen unruhigen Schlaf gefallen, nachdem es an diesem ereignisreichen Morgen hatte hinnehmen müssen, dass man ihm kaltes Wasser aus dem Taufbecken über den Kopf goss.
Abby, ihre vier Geschwister und deren Ehepartner hatten sich für die Tauffeier im Salon eingefunden. Der Vater des Säuglings, Abbys Bruder James, war der Dorfpfarrer. Da im Pfarrhaus nicht genügend Platz war, hatte sich die vielköpfige Familie zum Elternhaus der Geschwister begeben, das etwa eine Meile entfernt lag. Nach dem Tod der betagten Eltern im Jahr zuvor befand sich Linton Manor nun im Besitz des ältesten Bruders Clifford.
Abby, die jüngste der fünf Geschwister, hatte sich über die Gelegenheit gefreut, Neuigkeiten mit ihren beiden Schwestern und Brüdern auszutauschen und mit der Schar ihrer Neffen und Nichten zu plaudern. Vergnügt hatte sie dem Lachen der kleineren Kinder gelauscht, die an diesem schönen Sommernachmittag draußen spielten, und lächelnd zugesehen, wie die älteren sich um die siebzehnjährige Valerie scharten, die am Klavier ein Stück zum Besten gab.
Abby war es, als hüllte die Wärme der Familie sie ein. Zumindest bis zu dem Augenblick, als die Rede auf ihre Zukunft kam.
„Es gehört sich einfach, dass Abby hier im Heim ihrer Kindheit bleibt“, verkündete Clifford von seinem Platz am Kamin. Er war ein stattlicher Mann Anfang fünfzig und leitete als Familienoberhaupt die Zusammenkunft. „Jetzt, da unsere Kinder verheiratet sind“, fuhr er fort, „braucht Lucille eine Freundin.“
„Allerdings“, sagte seine füllige Ehefrau leise und schenkte ihm aus der silbernen Teekanne nach. „Du hast so viel zu tun, seit du das Anwesen geerbt hast, mein Lieber, da wäre es angenehm, Gesellschaft zu haben, wenn du nicht zu Hause bist.“
Abbys ältere Schwester Rosalind stellte mit einem Klirren die Teetasse ab. Mit vierzig Jahren hatte sie sich ihre jugendliche Figur bewahrt, auch wenn das familientypisch kupferrote Haar bereits von Silberfäden durchzogen war. „Aber Abby muss mit mir zurück nach Kent kommen! Ich habe mich darauf verlassen!“
„Und warum, bitteschön?“, fragte Clifford pikiert.
„Valerie wird bald in die Gesellschaft eingeführt, und ihr wisst doch, wie ungebärdig das Mädchen manchmal sein kann.“ Rosalind warf einen liebevollen Blick auf die rotblonde Schönheit am Klavier, die mit ihren älteren Cousins flirtete. „Ich wage zu behaupten, dass sie in der kommenden Saison im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen wird. Da kann sie durchaus zwei Anstandsdamen gebrauchen.“
„Um Himmels willen, wir haben erst August.“ Mary, die Zweitälteste der Geschwister, riss sich von der Betrachtung der Kuchenplatte los und wandte sich ihrer Schwester zu. „Ihr werdet frühestens im Februar nach London aufbrechen.“
„Aber ihre Aussteuer muss fertig werden! Sie muss tanzen lernen und den Hofknicks üben!“
„Pah!“, machte Mary wegwerfend. „Mir würde Abby viel nützlicher sein. Die Zwillinge kommen bald zu mir, wenn George und Caroline nach Italien in die Sommerfrische fahren. Die arme Caro findet kein Kindermädchen, das die beiden Jungs im Zaum halten könnte. Ist es nicht so, Ronald?“
„Was denn?“ Ihr nahezu kahlköpfiger Mann blickte von den neuesten Programmen der Pferderennen auf, die er zusammen mit Peter, Rosalinds Ehemann, studierte. „Ja, mein Schatz, wie du meinst.“
„Seht ihr?“ Mary bedachte ihre Geschwister mit einem triumphierenden Blick. „Abby wird in Suffolk dringend gebraucht. Und immerhin bin ich die Frau eines Baronets. Da kann ich nicht hinter zwei Dreijährigen herjagen. Das schickt sich nicht.“
„Ach was!“ Rosalind wedelte abfällig mit der Hand. „Dein Titel macht dich auch nicht zu etwas Besserem. Und deine Wünsche sind nicht wichtiger als meine.“
Clifford runzelte die Stirn. „Trotzdem hat Mary recht, du brauchst Abby erst im Frühjahr. Und du, Mary, solltest für die paar Monate lieber noch ein Kindermädchen einstellen, anstatt Abby durch das halbe Land zu schleifen. Schließlich ist das hier ihr Zuhause, und hier sollte sie auch bleiben.“
„Ein zweites Kindermädchen einstellen!“ Die Vorstellung brachte Mary aus der Fassung. Sie konnte sehr angenehm im Umgang sein, außer wenn es ums Geld ging; dann kam ihre geizige Ader zum Vorschein. „Wenn ich nur an die Kosten denke ...“
„Ich muss Clifford recht geben“, wandte sich James an Rosalind. Er war ein schlanker Mann mit dem weißen Kragen eines Geistlichen, der auf sanfte Art seine Gemeindeschäfchen im Griff hatte. „Ich fürchte, es gibt wichtigere Bedürfnisse als die deinen. Jetzt, da unser Baby auf der Welt ist, ist es geradezu ein Segen, Abby in der Nähe zu wissen. Mit der Pflege unserer anderen drei Kinder und den Pflichten einer Pfarrersfrau ist Daphne so ausgelastet, dass sie kaum zum Luftholen kommt.“
„Es war wirklich schwierig“, stimmte ihm Daphne zu und bewegte gemächlich den Fächer aus Elfenbein vor ihrem hübschen Gesicht hin und her. „An manchen Tagen wächst mir alles über den Kopf, dann ist Abbys Hilfe ein Geschenk des Himmels. Freddie kann sich weiß Gott glücklich schätzen, eine solch treusorgende Tante zu haben.“
Als habe er die Stimme seiner Mutter erkannt, rührte sich der Säugling unruhig im Schlaf, und Abby schritt mit ihm auf und ab, um ihn zu beruhigen. Sie musste dankbar sein, dass sie gebraucht wurde, sagte sie sich selbst. Dankbar, dass ihre Geschwister ihre Hilfe suchten. Dankbar, dass sie bei dem einen oder anderen von ihnen immer ein Zuhause haben würde.
Trotzdem hatte sie vor Wut einen Kloß im Magen.
Sie redeten über ihre Zukunft, als sei sie gar nicht anwesend. Was sie selbst sich für ihr Leben wünschte und vorstellte, interessierte die anderen keinen Deut.
Vielleicht war sie so gereizt, weil ihr Geburtstag näher rückte. In zwei Wochen wurde sie dreißig – dreißig! – und hatte weder einen Ehemann noch Kinder vorzuweisen.
Als unverhoffter Nachzügler war sie sieben Jahre nach dem letzten ihrer Geschwister geboren, als ihre Mutter bereits Mitte vierzig war. Während ihre Geschwister heirateten und eine Familie gründeten, war Abby die Aufgabe zugefallen, für ihre alternden Eltern zu sorgen. Anstatt in ihren jungen Jahren die Saison in London zu verbringen und von einer Schar begehrenswerter Junggesellen umworben zu werden, war sie in Hampshire geblieben, da sich ihre Mutter bei einem Sturz vom Pferd die Hüfte gebrochen und niemals ihre volle Beweglichkeit wiedererlangt hatte. Und ihr Vater hatte sich bei den Recherchen für sein Buch über die Geschichte des Mittelalters zunehmend auf Abbys Hilfe gestützt. Über all diesen Aufgaben waren ihre zwanziger Jahre dahingegangen, bis schließlich vor knapp einem Jahr beide Eltern der Grippe zum Opfer gefallen waren.
Ihr Tod war ein Schock für Abby gewesen, die ihr ganzes Leben bei ihnen verbracht hatte. Die ganzen Monate trug sie nun Trauer, nur heute, zu diesem frohen Anlass, hatte sie statt des schwarzen ein taubengraues Kleid gewählt. Der Rest der Familie kleidete sich schon seit Wochen wieder in fröhlichere Farben. Aber natürlich hatte auch keines von ihren Geschwistern den Eltern so nahe gestanden wie sie.
Und keiner von ihnen konnte ermessen, welche Opfer Abby gebracht hatte. Nicht, dass sie es bereute. Keineswegs! Sie hatte Mama und Papa innig geliebt, und sich um sie zu kümmern, war ihr nie lästig geworden. Doch wenn sie jetzt über ihr zukünftiges Leben nachdachte, empfand Abby eine Unruhe, die an Panik grenzte.
Sollte so ihre Zukunft aussehen – hin und her geschoben zwischen ihren Geschwistern, ohne ein eigenes Zuhause? Und wenn sie dann alt und grau war, würden sich ihre Nichten und Neffen darüber streiten, wer sie aufnehmen musste?
Als sie mit der Fingerspitze über die zarte Wange des Babys strich, wurde Abby schlagartig klar, dass das Leben an ihr vorübergegangen war. Die romantischen Träume ihrer Jugend waren zu Asche zerfallen. Sie war eine alte Jungfer, die höchstwahrscheinlich nie ein Leben als Ehefrau und Mutter kennenlernen würde.
Oh, ein paar Verehrer hatte sie im Laufe der Jahre durchaus gehabt, einen sogar erst vor Kurzem. Im letzten Frühling hatte Mr. Babcock, ein Gutsbesitzer, um ihre Hand angehalten, doch sie hatte höflich abgelehnt. Dennoch wollte er nochmals vorsprechen, sobald ihr Trauerjahr vorüber wäre.
Abby spielte mit dem Gedanken, ihn zu nehmen. Mr. Babcock war ein anständiger Mann, solide und respektabel; allerdings würde sie mit einer zänkischen Schwiegermutter und einem frömmelnden Vater unter einem Dach leben müssen. Und war sie wirklich verzweifelt genug, jemanden zu heiraten, der sich nur für Kühe und Schafe interessierte? Der in ihrem Herzen nicht den winzigsten Funken zu entfachen vermochte? Konnte sie tagein tagaus, Monat für Monat, Jahr um Jahr seine trübsinnige Gesellschaft ertragen, nur um nicht wie eine Heimatlose in ihrer Verwandtschaft herumgereicht zu werden?
Tief in ihr wehrte sich etwas gegen eine solche Verzweiflungstat. Andererseits erschien es ihr auch wenig verlockend, den Rest ihres Lebens als unbezahltes Dienstmädchen ihrer Verwandten zu verbringen.
Vielleicht gab es ja noch einen anderen Weg.
Gerade an diesem Morgen hatte sie von ihrer besten Freundin im Dorf etwas Interessantes erfahren. Lizzie Pentwater hatte es ihr während der Taufe in der Kirche zugeflüstert und Abby damit auf eine Idee gebracht. Eine verlockende, kühne Idee. Eine Idee, die mit Sicherheit zum Streit mit ihren Geschwistern führen würde.
Das Wickelkind sicher im Arm ging Abby zur Tür. Sie musste alleine sein, um nachzudenken und die möglichen Folgen abzuwägen.
„Wo willst du mit meinem Sohn hin, Abby?“
Sie drehte sich zu ihrer Schwägerin Daphne um, die auf ihrem Ehrenplatz im Zentrum des Geschehens thronte. Da ihrem Vater der Stoffladen im Dorf gehörte, sah Daphne immer aus wie einem Modejournal entstiegen, auch wenn sie die Frau des Pfarrers war. Heute umhüllte ein Kleid aus zartrosa Musselin ihre zierliche Gestalt, und ihre schwarzen Locken wurden von einem goldenen Kamm gehalten.
„Ich wollte in die Kinderstube“, sprach Abby gegen die laute Klaviermusik und das Lachen der Kinder an. „Der Lärm stört Freddie.“
„Aber mein kleiner Liebling muss hierbleiben. Schließlich ist es sein Ehrentag, da kann man ihn doch nicht wegbringen.“ Mit einem gewinnenden Lächeln wandte sich Daphne an ihren Mann: „Sag du es ihr doch, James.“
„Babys brauchen ihren Schlaf“, sagte er, und seine Gesichtszüge wurden ganz weich, als er seine Frau anblickte. „Andererseits ist heute wirklich ein besonderer Tag, da würde ich eine Ausnahme machen.“
„Dann solltest du ihn vielleicht auch tragen“, erwiderte Abby.
Sie trat zu ihrem Bruder und legte ihm das schlafende Kind in die Arme. Seine braunen Augen wurden vor Überraschung ganz groß. Zwar war er ein durchaus liebevoller Vater, doch wie die meisten Männer überließ er die Kinderpflege im Allgemeinen den Frauen.
Behutsam und umständlich presste er das Bündel an seinen schwarzen Anzug. „Ähm ... Ich weiß nicht, ob das klug ist. Was, wenn er wach wird und zu brüllen anfängt?“ Er warf einen Hilfe suchenden Blick auf Daphne, die in ihrem feinen Kleid wenig geneigt schien, das Kind zu nehmen. Daraufhin wandte er sich wieder an Abby: „Vielleicht wärst du so freundlich, ihn wieder zu halten.“
„Nein, wäre ich nicht.“
Abby war die Antwort einfach herausgerutscht. Sie hatte auch gar nicht vorgehabt, ihm das Baby so forsch in die Hand zu drücken. Normalerweise war sie nicht aufsässig, sondern tat immer, was man von ihr erwartete.
Doch jetzt wollte sie einfach keinen Rückzieher machen.
Alle starrten sie an. Cliffords Hand mit der Teetasse verharrte auf dem Weg zum Mund in der Luft. Lucille hielt sich an ihrem Kuchenteller fest. Rosalinds Augenbrauen schossen in die Höhe, während Daphne und James Abby missbilligend ansahen, als habe sie ein unflätiges Wort benutzt. Selbst Ronald und Peter rissen ihren Blick von den Rennprogrammen los.
Sie wirkten allesamt so entsetzt, dass Abby sich kaum das Lachen verkneifen konnte. Dabei war die Situation keineswegs komisch. Es war einfach so, dass Abby sich stets den Wünschen der anderen gefügt hatte, und jetzt, da sie ihnen zum ersten Mal Widerstand leistete, empfand sie eine ungeheure Erleichterung.
Mary stieß hörbar den Atem aus. „Abigail Jane Linton! Das ist höchst ungebührlich. Nimm das Kind und entschuldige dich auf der Stelle.“
Statt einer Antwort verschränkte Abby die Arme vor der Brust. Ihre Schuhe schienen wie festgeklebt an dem alten Teppich mit dem Rosenmuster, abgetreten von den Füßen zahlloser Lintons. Eine innere Stimme flüsterte, dass sie vielleicht nie wieder den Mut finden würde, sich zu behaupten, wenn sie jetzt nachgab.
„Nun gut“, sagte Rosalind mit aufgesetzter Munterkeit. „Man kann es unserer Schwester kaum verdenken, wenn sie nicht wie ein Kindermädchen behandelt werden will. Umso besser ist es, wenn sie mit zu mir nach Hause kommt. Dann können wir gemeinsam Valeries Garderobe zusammenstellen und im Adelsverzeichnis nach den geeignetsten Junggesellen suchen. Das wird eine nette Abwechslung für Abby sein.“
„Die Sache ist bereits geregelt“, erklärte Clifford. „Da sowohl James als auch ich sie brauchen, muss sie bis auf Weiteres hier bleiben.“
„Seit dem Tod unserer Eltern hast du Abby für dich springen lassen und dabei keinen Gedanken daran verschwendet, dass wir anderen ihre Gesellschaft vielleicht genauso nötig hatten. Nicht ein einziges Mal war sie bei mir in Kent!“, entgegnete Rosalind.
„Es reicht!“ Mit einer schneidenden Handbewegung beendete Clifford die Debatte. „Da gibt es nichts mehr zu bereden. Sie bleibt hier.“
„Nein, das werde ich ganz sicher nicht“, erwiderte Abby.
Erneut richteten sich aller Augen auf sie. Bei ihrem Gezänk schienen die anderen ihre Anwesenheit völlig vergessen zu haben. War sie denn nur ein Mauerblümchen, das auf Abruf bereitstand, bis man es brauchte? Oder, noch schlimmer, ein Gebrauchsgegenstand, der immer dem zugeschoben wurde, der am lautesten danach verlangte?
Abby hatte sie alle herzlich lieb – ihre Geschwister mitsamt den Nichten und Neffen. Immer schon war die Familie Abbys ganze Welt gewesen, der Mittelpunkt ihres Daseins. Doch nun war es an der Zeit, sich von ihren erdrückenden Forderungen zu befreien. Ihre Geschwister mussten begreifen, dass sie einmal ihren Weg selbst wählen wollte.
Wenigstens ein einziges Mal. Nur, bis sie die Erfahrung gemacht hatte, wie es sich an einem Ort lebte, wohin der Einfluss der anderen nicht reichte.
Immerhin war sie beinahe dreißig und noch nie weiter als zwanzig Meilen von zu Hause fortgekommen. Nie zuvor hatte sie woanders gelebt als in diesem alten Herrenhaus mit seinen verblichenen Tapeten und den beschädigten Porzellanhunden auf dem Kaminsims, die dort schon standen, seit sie denken konnte.
Clifford starrte seine Schwester entgeistert an. „Ich kann mir deine plötzliche Aufsässigkeit gar nicht erklären“, sagte er. „Ist dir unsere Gegenwart denn so zuwider?“
„Natürlich nicht“, widersprach Abby. „So etwas darfst du nicht denken.“
„Was soll ich denn sonst denken, da du es offenbar nicht erwarten kannst, mein Heim und meine Obhut zu verlassen?“
Vor seinem bohrenden Blick verließ sie fast der Mut. Aufgrund ihres großen Altersunterschiedes hatten sich Abby und ihr ältester Bruder nie sehr nahe gestanden. Er hatte Lucille im Jahr vor Abbys Geburt geheiratet, und mit nunmehr dreiundfünfzig hätte er ihr Vater sein können.
Trotzdem ging es nicht an, dass er über sie bestimmte.
„Du könntest denken, dass es allein meine Entscheidung sein sollte, was ich tue oder lasse“, entgegnete sie mit fester Stimme. „Aber niemand von euch hat sich die Mühe gemacht, mich nach meinen Wünschen zu fragen.“
Lucille blickte gequält zwischen ihrem Gatten und Abby hin und her. „Hast du Kopfschmerzen, Liebes?“, fragte sie schließlich. „Das liegt bestimmt an diesem wechselhaften Wetter. Einmal ist es kühl und dann wieder brütend heiß. Vielleicht möchtest du ja nach oben gehen und dich ein wenig hinlegen?“
„Danke, aber ich fühle mich ausgezeichnet. Ich möchte lediglich ein Wörtchen mitreden, wenn es um meine Zukunft geht.“
Rosalind sprang auf, hakte sich bei Abby unter und sagte triumphierend zu Clifford: „Siehst du? Unsere Schwester will nicht unter deiner Fuchtel stehen. Sie muss selbst ihre Entscheidung treffen dürfen und schöne Ferien bei mir in Kent verbringen.“
Abby entzog der Schwester ihren Arm. „Das wäre deine Entscheidung, nicht meine, Rosie. Ich habe mich nämlich entschieden, mich um die Stelle als Gouvernante von Lady Gwendolyn Bryce auf Rothwell Court zu bewerben.“
Einen Augenblick lang hörte man nur das Klimpern des Klaviers und das Geschrei der Kinder, die draußen vor den geöffneten Fenstern des Salons beim Blindekuhspiel herumtobten. Dann plötzlich redeten alle Erwachsenen durcheinander.
„Als Gouvernante?“, fragte Clifford verblüfft. „Wie bist du denn auf diese verrückte Idee gekommen? Dein Platz ist bei deiner Familie!“
„Du meine Güte“, murmelte Lucille entrüstet, „du kannst doch nicht für Geld arbeiten. Was sollen denn die Nachbarn denken?“
„Du wurdest ja noch nicht einmal in die Gesellschaft eingeführt“, bemerkte Mary unverblümt. „Lady Gwendolyn muss doch beinahe alt genug für eine Debütantin sein. Was verstehst du schon davon, die Schwester eines Duke auf ihre Vorstellung bei Hofe vorzubereiten?“
Das hatte sich Abby auch schon gefragt, doch sie ging einer Antwort aus dem Weg. „Lady Gwendolyn ist gerade fünfzehn geworden. Es dauert noch drei Jahre bis zu ihrer Einführung in die Gesellschaft.“
„Das ist doch jetzt egal“, sagte Rosalind, und ihre Augen funkelten vor Aufregung. „Warum hat mir denn niemand erzählt, dass sich der Duke of Rothwell auf seinem Landsitz aufhält? Als Nachbarn müssen Valerie und ich ihm unbedingt morgen einen Besuch abstatten. Schließlich ist er der begehrteste Junggeselle in England.“
„Er ist auch der schlimmste Wüstling in England“, erwiderte Clifford schroff, während er ruhelos auf und ab schritt. „Unzucht, Prügeleien, Glücksspiel – er ist der Inbegriff des Lasterhaften. Ihr könnt euch nicht vorstellen, welche Geschichten man sich in London über ihn erzählt! Ich kann und will es nicht dulden, dass meine Schwester sich seinem Haus auch nur auf eine Meile nähert.“
„Seine Durchlaucht hält sich nicht auf Rothwell Court auf“, erklärte Abby. „Du weißt so gut wie ich, dass er schon seit Jahren nicht mehr dort war.“
Seit fünfzehn Jahren genauer gesagt. Seit sein verstorbener Vater nach dem Tod seiner Frau, der Mutter des jetzigen Duke, überraschend mit der Familie fortgezogen war. Die Duchess war kurz nach Lady Gwendolyns Geburt am Kindbettfieber gestorben.
Rothwells ausgedehnte Ländereien, die an den Besitz der Lintons grenzten, stellten den größten Grundbesitz in diesem Teil des ländlichen Hampshire dar. Mochte sein Ruf sein, wie er wollte, die Ankunft des Duke auf seinem Anwesen hätte für beträchtliche Aufregung bei allen im Dorf und in der gesamten Umgebung gesorgt.
Bei allen außer Abby. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte Maxwell Bryce, der Duke of Rothwell, nie wieder die Nachbarschaft mit seiner abscheulichen Gegenwart besudelt.
Rosalind ließ sich wieder in ihren Sessel sinken. „Das verstehe ich nicht“, sagte sie. „Warum lebt die Schwester Seiner Durchlaucht dort ohne ihn?“
„Sie ist schon vor einigen Jahren hierher gezogen“, erklärte Lucille, während sie herumging und die Teetassen nachfüllte. „Ich glaube, Lady Hester, die Tante Seiner Durchlaucht, liebt die Gartenanlagen sehr.“
„Dann soll sich doch Lady Hester um das Mädchen kümmern“, blaffte Clifford gereizt. „Es gibt keinen Grund, warum Abby dort arbeiten sollte!“
Das Baby auf James' Schoß stieß ein Wimmern aus. „Sprich doch leiser!“, zischte James. „Du brauchst nicht so zu schreien.“
„Hat Lady Gwendolyn nicht schon eine Gouvernante?“, erkundigte sich Daphne in lautem Flüsterton. „Ihr Name ist, glaube ich, Miss Herrington. Die beiden besuchen ab und zu den Sonntagsgottesdienst.“
Abby war aufgefallen, wie bemerkenswert jung und hübsch Miss Herrington war, auch wenn sie einander nur vom Grüßen kannten. „Lizzie Pentwater hat mir erzählt, dass Miss Herrington wegen eines Krankheitsfalles in der Familie plötzlich abreisen musste. Und ich habe vor, mich um die offene Stelle zu bewerben.“
Lucille stellte die Teekanne ab. „Aber warum nur, mein Schatz?“, fragte sie. „Fühlst du dich bei uns nicht mehr willkommen? Ach, ich weiß, es ist nicht leicht für eine unverheiratete Frau. Aber wir möchten wirklich, dass du dich bei uns zu Hause fühlst, das versichere ich dir.“
„Und hier gehört sie auch hin“, bekräftigte Clifford. „Keine meiner Schwestern wird jemals einem Broterwerb nachgehen. Am Ende heißt es noch, ich sei verarmt und würde sie zwingen, Geld zu verdienen.“
„Es wird mit Sicherheit eine Menge üblen Klatsch geben“, pflichtete Mary ihm bei und warf Abby einen durchtriebenen Blick zu. „Der Name Linton darf einfach nicht durch Gerüchte und Anspielungen in den Schmutz gezogen werden. Womöglich erzählt man sich noch hinter vorgehaltener Hand, dass es mit unserer Familie bergab geht.“
Rosalind blickte sie groß an. „Daran habe ich gar nicht gedacht. Ein Skandal könnte Valeries Aussichten auf eine erstklassige Partie zunichtemachen. Viele Gentlemen würden sich hüten, ein Mädchen mit einem Haufen armer Verwandter zu heiraten!“
„Und was noch wichtiger ist, du bist unsere geliebte Schwester, Abby“, sagte James, während er unbeholfen versuchte, seinen strampelnden Sohn wieder in den Schlaf zu wiegen. „Wir brauchen dich hier bei uns so dringend.“
Alle blickten Abby an, als würde ihr Weggang sie in tiefste Verzweiflung und Not stürzen. Der Säugling leistete seinen Beitrag mit einer Reihe spitzer Schreie.
Für einen Augenblick geriet Abbys Entschluss ins Wanken. Sie fühlte sich schrecklich selbstsüchtig, weil sie ihre Familie verlassen und ihren eigenen Weg gehen wollte. Es wäre so leicht gewesen, zu sagen, dass sie im Unrecht war, sich dem Willen ihrer Familie zu beugen und ihr Verlangen nach einem Leben jenseits dieser Mauern zu unterdrücken.
Doch Abby wusste, dass die anderen ein Spiel mit ihr trieben.
Ihre Argumente waren nur vorgeschoben. Es musste ihnen klar sein, dass irgendwelche Gerüchte über eine unbedeutende Familie des niederen Landadels niemals bis nach London dringen oder die Heiratschancen ihrer Nichte gefährden würden. Nein, ihre Geschwister wollten sie aus selbstsüchtigen Gründen bei sich behalten.
„Tut mir leid“, sagte Abby bestimmt. „Ich liebe euch alle, aber mein Entschluss steht fest. Ich gehe auf der Stelle hinüber nach Rothwell Court und spreche mit Lady Hester.“
Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ das Zimmer.
Das Gebrüll des Babys folgte Abby durch den Flur bis in die Eingangshalle mit der Standuhr und dem alten Schirmständer in der Ecke. Fast rechnete sie damit, dass jemand ihr nachgelaufen käme, um sie aufzuhalten. Doch es kam keiner. Wahrscheinlich vertrauten sie darauf, dass sie die Stelle ohnehin nicht bekam.
Das konnte durchaus sein, doch es war nicht so sehr ihre mangelnde Erfahrung, die Abby Sorgen machte.
Sie fürchtete vielmehr, Lady Hester könnte die Erlaubnis des Duke einholen, bevor sie eine neue Gouvernante für seine Schwester einstellte. Das musste Abby auf jeden Fall verhindern, denn Rothwell würde es niemals zulassen, dass sie die Stelle bekam. Ehrlich gesagt hätte auch sie sich lieber anderswo eine Arbeit gesucht, wenn sie nur gewusst hätte, wo.
Abby nahm ihre Strohhaube vom Wandhaken, setzte sie auf und befestigte die blauen Bänder unter ihrem Kinn. Noch niemals in ihrem Leben hatte sie etwas so Tollkühnes getan. Nie hatte sie ihre Rolle als Helferin und Pflegerin ihrer Angehörigen in Frage gestellt oder sich den Wunsch erfüllt, ihr eigenes Geld zu verdienen. Die Aussicht darauf, der Enge ihres Elternhauses zu entkommen, erschien ihr verlockend und beängstigend zugleich.
Doch ihre Familie konnte ja nicht ahnen, warum ihr so beklommen zumute war. Schließlich wusste keiner, dass sie und Maxwell Bryce vor fünfzehn Jahren eine heimliche Liebesaffäre gehabt hatten. Und dass er sie für die Freuden des Lebens in London hatte sitzenlassen.
Kapitel 2
Ein zufälliger Beobachter hätte bei Seiner Durchlaucht, dem Duke of Rothwell, nicht das leiseste Zeichen von Anspannung erkennen können oder bemerkt, dass sein Unbehagen mit jeder zurückgelegten Meile größer wurde. Der Duke wirkte wie der Inbegriff aristokratischer Lässigkeit.
Wie hingegossen saß Max an die blauen Polster seiner Reisekutsche gelehnt und blickte unter halb geschlossenen Lidern nach draußen, wo der Regen an die Fensterscheiben trommelte. Er trug einen burgunderroten Gehrock mit einer mattgoldenen Weste und dazu Hirschlederhosen und auf Hochglanz polierte schwarze Stiefel. In den gestärkten Falten seines Halstuchs funkelte eine perlenbesetzte Schmucknadel. Sein dunkler Haarschopf, der ihm bis knapp auf den Kragen reichte, wirkte so kunstvoll zerzaust, dass jede Frau ihn beim Aufwachen gerne neben sich auf dem Kissen erblickt hätte.
Doch die Frau, die tatsächlich neben ihm in der Kutsche saß, schien eher verdrossen als lüstern.
„Müssen Sie sich denn so breitmachen?“, wandte sich Elise, Lady Desmond, an den dritten Passagier der Kutsche. „Sie trampeln ja mit Ihren Riesenschuhen auf meinem Kleidersaum herum.“
Auf der Bank gegenüber saß ein massiger Mann in grellfarbigem Aufzug, bestehend aus einer orange-braun karierten Jacke, einem grünen Halstuch, das unter dem kantigen Kinn hervorleuchtete, und dazu passenden grünen Hosen, die der Schneider den gewaltigen Ausmaßen ihres Trägers angepasst hatte. Auf seinem wuchtigen kahlgeschorenen Schädel balancierte verwegen ein flacher Hut mit schmaler Krempe. Eine gezackte Narbe, die sich quer über seine Wange zog, zusammengekniffene blaue Augen und eine formlose Nase unterstrichen das derbe Aussehen des Mannes, der als Goliath bekannt war.
Goliaths breites Grinsen verriet, dass er im Jahr zuvor bei einem Kampf einen Vorderzahn eingebüßt hatte. Jetzt rutschte er mit den Füßen näher zur Tür, fort von Lady Desmonds feinem Musselinkleid. „Verzeihung, Mylady. Meine Mama hat sich auch immer über meine Quadratlatschen gemeckert.“
„Nun ja, sorgen Sie dafür, dass es nicht wieder vorkommt.“ Mit einem Ruck brachte sie ihren cremefarbenen Rocksaum vor dem ungeschickten Tölpel in Sicherheit und fügte hinzu: „Ich bin immer noch der Meinung, dass Sie mit den übrigen Dienstboten im Packwagen hätten fahren sollen.“
„Na hör’n Sie mal, ich bin doch kein Diener! Ich bin der englische Champion. Genau der bin ich!“
Max, dem es nicht recht war, dass man seinen Faustkämpfer kränkte, riss sich vom Anblick der verregneten Landschaft los und sagte: „Stimmt. Und deshalb will ich auch nicht, dass du dir bei dem Wetter eine Erkältung holst. Für den Kampf gegen Wolfman musst du in Topform sein.“
„Den mach ich fertig“, knurrte Goliath und fuchtelte mit den gewaltigen Fäusten. „Darauf können Sie Ihr ganzes Vermögen verwetten, Durchlaucht.“
„Davon bin ich überzeugt. Ums Wetten geht es ja schließlich dabei.“
„Aber der Boxkampf ist doch erst Ende der Woche“, wandte Elise ein. „So ein kleiner Sommerschauer schadet dem Mann bestimmt nicht.“
„Nichts da, er bleibt hier. Falls es Sie stört, können Sie ja mit den anderen in Pettibones Kutsche fahren.“ Max griff nach seinem Spazierstock aus Ebenholz und machte Anstalten, mit einem Stoß gegen die Wagendecke dem Kutscher das Zeichen zum Anhalten zu geben.
Elises herablassende Miene wich einem gewinnenden Lächeln. „Aber nicht doch! Sie wissen doch, dass ich Ihre Gegenwart jeder anderen vorziehe.“
Max klemmte sich den Stock zwischen die Beine. Er war nicht der Mann, der seine Entscheidungen in Frage stellen ließ. Und außerdem tanzte er nicht nach der Pfeife einer Frau. Dafür war er zu lange sein eigener Herr gewesen. Hätte er nicht vorgehabt, Elise zu verführen, säße sie jetzt gar nicht hier in seinem Wagen.
Ihm war sein Preisboxer wichtiger als jede Frau, mochte ihre Figur auch noch so ansehnlich sein. Elise legte ihm ihre kleine Hand auf den Arm. „Seien Sie bitte nicht böse mit mir, Durchlaucht“, sagte sie leise. „Ich finde es ja nur bedauerlich, dass wir uns nicht ein wenig ... vertraulicher unterhalten können.“
Ihr Verhalten erregte ihn. Sie war wirklich hinreißend, von ihrem rosigen Schmollmündchen, den grün-goldenen Augen, um die sich weiche flachsblonde Locken ringelten, bis zu ihrer verführerischen Figur mit dem ausladenden Busen und der Wespentaille. Seiner Meinung nach machten ihre Vorzüge ihren Hang zum Nörgeln wett. Immerhin erwartete man von einer Geliebten, dass sie sich ein wenig launisch gab. Mit den Tricks, mit denen Frauen einem Mann Schmuck und andere Gefälligkeiten aus den Rippen leierten, kannte er sich aus.
Das Problem war nur, dass Lady Desmond mehr von ihm erwartete als heimliche Besuche in ihrem Schlafzimmer. Seit Monaten kokettierte sie mit ihm und hielt ihn gleichzeitig hin. Statt ihre Röcke für ihn zu heben, spielte sie die scheue Jungfer. Dabei hatte sie als ehemalige Schauspielerin die Bühne gegen einen Baronet eingetauscht, der dann prompt in den Flitterwochen einem Herzinfarkt erlegen war.
Und jetzt war sie wild entschlossen, Duchess zu werden.
Doch Max dachte gar nicht daran, sich vor den Altar schleifen zu lassen. Dank eines pflichtbewussten Cousins, der für den Fortbestand der Familie gesorgt hatte, brauchte Max keinen Erben zu zeugen. Und ältere Verwandte, die ihn zwingen konnten zu heiraten, besaß er auch nicht. Mit einunddreißig Jahren hatte er sich in seinem Junggesellendasein behaglich eingerichtet. Sein eigener Vater war der lebende Beweis dafür gewesen, dass die Ehe einen Mann nur schwach und unglücklich machte.
Daher war er immer entschlossen gewesen, nie zu heiraten.
Nun ja, vielleicht nicht immer. In seinen jungen Jahren hatte es diese kurze Episode gegeben, doch zum Glück war er rechtzeitig nach London entkommen, wo er sein wundes Herz mit einer endlosen Reihe von hübschen Dämchen und munteren Opernsängerinnen tröstete. Seit dieser unbedarften Jugendzeit hatte er so einiges über die Frauen gelernt, unter anderem, dass Elise nicht als einzige Katz und Maus spielen konnte.
Er strich mit dem Daumen über ihre Handfläche im Glacéhandschuh. „Geduld, Mylady, schon bald werden wir Zeit genug für Vertraulichkeiten haben.“
Sie schmiegte sich so eng an ihn, dass ihr Busen sich gegen seinen Oberarm presste. Mit einem Seitenblick auf Goliath flüsterte sie: „Das klingt wirklich verlockend, Mylord. An was hatten Sie dabei gedacht?“
„Sie wissen genau, was ich will.“ Er küsste ihre Fingerspitzen und blickte ihr dabei tief in die Augen. „Und vergessen Sie bitte nicht, dass meine Geduld Grenzen hat.“
„Oho!“, hauchte sie atemlos. „Wir haben eine ganze Woche, um uns auf Rothwell Court zu amüsieren. Ich freue mich schon sehr darauf. Sind Sie nicht auch froh, dass Sie Ihre Pläne ändern mussten?“
Der Gedanke an das Ziel ihrer Reise ernüchterte ihn derart, dass er ihre Hand losließ. „Noch weitere fünfundzwanzig Meilen zu fahren, ist wohl kaum ein Vergnügen.“
„Aber ich stelle es mir sehr behaglich vor in einem Haus, das so luxuriös eingerichtet ist, wie man es von Rothwell Court behauptet. Und Sie müssen zugeben, dass es von dort aus nicht weit bis zum Ort des Boxkampfes ist.“
Das ließ sich nicht leugnen. Max schwieg und ließ Elise weiterplappern: „Außerdem konnten wir ja unmöglich auf dem Pettibone-Anwesen bleiben, wo die ganze Dienerschaft die Masern hat. Die Krankheit ist ja furchtbar ansteckend! Pusteln von Kopf bis Fuß – was für eine schreckliche Vorstellung!“
„Ja, mit Fieber und Juckreiz könnte mein Champion nicht boxen.“
„Hab nie einen Kampf ausgelassen“, sagte Goliath stolz, „und auch nie einen verloren.“
Elise blickte den riesenhaften Mann strafend an, weil er es gewagt hatte, sich in ihr Gespräch einzumischen. Dann wandte sie sich wieder mit seelenvollem Augenaufschlag Max zu. „Machen Sie sich nicht über mich lustig, Durchlaucht. Natürlich habe ich mich selbst gemeint. Wenn ich mich schon zu Bett lege, dann nicht wegen irgendwelcher scheußlichen Pusteln, sondern aus anderen Gründen.“
Unter normalen Umständen hätte Max ihre Anspielungen genossen. Er liebte erotisches Geplänkel so sehr wie jeder andere Mann. Doch nicht gerade jetzt. Heute war ihm eine Laus über die Leber gelaufen.
„Darüber reden wir später“, entgegnete er kurz angebunden.
Ihre Finger spielten mit der schmalen Rüsche an seiner Manschette. „Dann erzählen Sie mir stattdessen von Rothwell. Ich habe gehört, Sie halten sich selten dort auf.“
„Ich ziehe die Vergnügungen Londons dem rustikalen Landleben vor.“
„Aber Sie sind doch auf dem Anwesen aufgewachsen, oder? Dann müssen Sie doch schöne Erinnerungen damit verbinden. Es heißt, es sei das imposanteste Wohngebäude in ganz England. Wenn es wirklich so schön ist, warum laden Sie dann nie Ihre Freunde dorthin ein?“
„Meine minderjährige Schwester lebt dort mit meiner Tante.“
„In dem großen Haus werden wir uns bestimmt nicht oft über den Weg laufen“, sagte Elise. „Es hat doch sicher mehrere Flügel und zahllose Zimmer, nicht wahr?“
„In einer halben Stunde sind wir da, dann können Sie sich selbst ein Bild von dem Haus machen. Bis dahin sollten wir nicht mehr davon sprechen.“
Er bedachte Elise mit dem strengen Blick, mit dem er Untergebene zum Schweigen brachte – und jeden, der sich zu sehr in sein Privatleben einmischte.
Elise zog ihre Hand zurück und legte sie in ihren Schoß. Sie zog einen Schmollmund, sagte jedoch nichts mehr aus Furcht, ihn noch mehr zu verärgern.
Max richtete seinen Blick wieder auf das regennasse Fenster der Kutsche. Als das Gefährt einen Schlenker machte, um einem Schlagloch auszuweichen, kehrte seine Anspannung zurück, doch er verbarg sie hinter einer lässigen Pose. Er war auf diesen ungeplanten Umweg nicht vorbereitet. Als Max und seine Freunde auf dem Landsitz der Pettibones eingetroffen waren, mussten sie feststellen, dass das gesamte Personal an Masern erkrankt war. Daher brauchte die Reisegesellschaft kurzfristig eine andere Unterkunft, und kein Gasthaus weit und breit war groß genug, um sie alle für eine Woche zu beherbergen.
Außerdem wollte Max, dass Goliath einen Ort hatte, wo er geschützt vor neugierigen Blicken trainieren konnte. Damit sollte verhindert werden, dass Spione des Gegners Schwachstellen in der Kampftechnik seines Boxers ausspähten.
So blieb als einzige Möglichkeit Rothwell Court. Der Vorschlag war von Lord Pettibone gekommen und von Lord Ambrose Hood beifällig aufgenommen worden. Auch Elise und Mrs. Chalmers waren begierig darauf, das Anwesen kennenzulernen. Max hätte sich also unmöglich weigern können, denn das wäre unvernünftig gewesen.
Er bildete sich viel auf seine Vernunft ein und darauf, dass er sich niemals von Gefühlen leiten ließ. Nur ein rückgratloser Weichling traf Entscheidungen aus dem Bauch heraus.
Dennoch hätte er am liebsten dem Kutscher befohlen, auf der Stelle umzukehren und nach London zurückzufahren. Abgesehen von einem ganz kurzen Aufenthalt vor zehn Jahren, als sein Vater in der Privatkapelle beigesetzt wurde, war es das erste Mal in fünfzehn Jahren, dass er seinen Familiensitz aufsuchte. Fünfzehn Jahre lang war es ihm gelungen, den Ort so vieler unerfreulicher Kindheitserinnerungen zu meiden.
Stattdessen hatte er sich in die zahllosen Freuden der Großstadt gestürzt. Und für den Fall, dass er sich nach dem Landleben sehnte, standen ihm drei weitere Anwesen zur Verfügung, von denen ihm The Ridings bei Oxford am liebsten war. Tante Hester und Gwendolyn verbrachten dort regelmäßig die Ferien mit ihm.
Bei dem Gedanken an seine Schwester besserte sich seine schlechte Laune ein wenig. Zwar hatten sie Briefe gewechselt, sich jedoch seit Ostern nicht mehr gesehen. Er wollte gerne wissen, wie es ihr ging, besonders nach der überstürzten Abreise ihrer Gouvernante vor einer Woche. Max hatte beschlossen, keine Einstellungsgespräche mit möglichen Bewerberinnen zu führen, bis er nach dem Boxkampf wieder in London war. Seine Schwester hatte ein paar freie Wochen ohne Schulunterricht verdient.
Die Kutsche fuhr über eine Kuppe, und da lag das Dorf Rothcommon, ausgebreitet wie eine Juwelenkette entlang des Flusses. Hinter seiner gleichgültigen Fassade machte Max’ Herz einen Sprung. Alles erkannte er wieder, jedes Wäldchen, jeden Hügel und jedes Tal, jede Biegung der Landstraße. Durch diese Wälder war er als Junge gestreift. Er hätte am liebsten die Tür aufgerissen und wäre in den Wald gerannt, geradewegs zu ...
Nein. Die geheime Lichtung war der letzte Ort, den er hätte wiedersehen wollen. Bei dem bloßen Gedanken an Erinnerungen, die man besser ruhen ließ, zogen sich ihm förmlich die Eingeweide zusammen.
Als die Kutsche um eine Kurve fuhr, boten sich ihm weitere vertraute Anblicke: Der Kirchturm der St. John Baptistenkirche schimmerte durch die Bäume, strohgedeckte Häuschen reihten sich aneinander, und über den Fluss spannte sich der Bogen der steinernen Brücke. Kurz darauf verlangsamte der Wagen seine Fahrt und rollte gemächlich die Dorfstraße entlang, vorbei an der Apotheke, der Schmiede, dem Metzgerladen. Alles war so, wie Max es in Erinnerung hatte, als sei die Zeit stehengeblieben.
Fußgänger hielten inne und starrten ihnen nach. Ladeninhaber traten vor die Türen ihrer Geschäfte, um die schwarze Kutsche mit dem Wappen des Duke, den goldenen Erdbeerblättern, auf den Türen vorüberfahren zu sehen. Ein paar kleine Rangen rannten neben dem Wagen her, und ihr aufgeregtes Geschrei ging im Rumpeln der Räder auf dem Kopfsteinpflaster unter.
Das hier waren seine Leute, für die er die Verantwortung trug, durchfuhr es Max. Aber das war absurd. Schließlich lebten sie nicht mehr im feudalen Mittelalter, sondern in modernen Zeiten.
„Wie kurios“, bemerkte Elise mit einem Blick aus dem Fenster. „Sehen Sie nur den winzigen Stoffladen und das Kurzwarengeschäft daneben. Ich bin immer wieder erstaunt, mit wie wenig diese Dörfler auskommen.“
Er nahm ihre Worte kaum wahr, so sehr war er in Gedanken versunken. Dabei erfüllte ihn ein sonderbar intensives Gefühl. Ihm war, als käme er nach Hause. Als gehörte er hierher.
Unwillig schüttelte er die Empfindungen ab. Dieses Nest in Hampshire war nicht mehr sein Zuhause. Von hier war er schon vor langer Zeit als halberwachsener Junge fortgegangen. Um die Pachthöfe und das Weideland kümmerte sich ein Gutsverwalter. Das Gut selbst bedeutete Max nichts, es war für ihn lediglich eine Einnahmequelle, um sein Leben in der Stadt zu finanzieren. Und noch nicht einmal das hätte er nötig gehabt, da seine anderen Besitzungen genug abwarfen. Wäre Rothwell nicht Teil seines unveräußerlichen Erbes gewesen, hätte Max es verkauft.
Und dennoch, als die Kutsche das Dorf hinter sich gelassen hatte und das steinerne Torhaus in Sicht kam, hinter dem das Land der Rothwells begann, fiel es ihm schwer, seine gleichgültige Pose zu wahren.