Kapitel 1
Susan
Der laute und herzhafte Fluch passte überhaupt nicht in die Idylle am Monte Bignone. Susan zuckte erschrocken zusammen und blickte sich suchend um. Bis eben hatte sie geglaubt, allein zu sein. Aufmerksam schweifte ihr Blick über das satte Grün, das von unzähligen bunten Blütentupfen unterbrochen wurde. Vor ihr flüchtete ein Hase in weiten Sprüngen und ein schwarzer Milan kreiste über ihr. Doch von einem menschlichen Wesen fehlte jede Spur.
„Hallo, ist da jemand?“
In New York, ihrer alten Heimat, hätte sie jetzt aus mehr als einer Kehle einen spöttischen Ruf vernommen, einen anzüglichen Spruch. Doch hier? Einzig der Wind antwortete ihr.
Sie erhob sich von ihrem gemütlichen Sitzplatz, schnappte sich Rucksack und Jacke und folgte dem Pfad, der zwischen Ginster und vereinzelt stehenden Pinien entlangführte.
„Hallo, ist hier jemand?“, rief sie und wartete gespannt darauf, ob sie Antwort erhielt.
„Endlich hört mich jemand! Bitte helfen Sie mir.“
Sie hatte sich nicht getäuscht, eine Person benötigte ihre Hilfe. Kurz entschlossen joggte Susan den Trampelpfad entlang, der vor ihr eine leichte Biegung machte. Rucksack und Jacke schlugen im Takt gegen ihren Rücken. Kaum war sie um die Kurve, erblickte sie eine Person, die auf dem Boden saß. Sie war mit einem leuchtend roten Shirt bekleidet und winkte hektisch mit beiden Armen.
Vom flotten Lauf außer Atem blieb Susan stehen, verfluchte ihre Unsportlichkeit und hielt sich die Seite. Deutlich langsamer ging sie weiter, während sie darauf wartete, dass sich ihr Herzschlag beruhigte.
Warum rief er um Hilfe? Lauerte er ihr womöglich auf? War es vielleicht eine Falle? Nein, äußerst unwahrscheinlich. Schließlich hatte sie heute Morgen niemandem außer Evelina verraten, wohin ihre Wanderung führte.
„Moment, ich komme.“ Wieder bei Atem legte sie die letzten Meter zurück. Blickte dabei mehrfach prüfend nach hinten, ob nicht vielleicht doch … Sie schüttelte ihren Kopf. Auch wenn ihr Ex-Mann Frederic sie täglich mit seinen Anrufen belästigte, passte es nicht zu ihm, ihr auf einem Wanderweg aufzulauern.
„Was für ein Glück. Danke, dass Sie kommen.“ Mit einem erleichterten Gesichtsausdruck sah der fremde Mann sie an. „Und ich hatte schon die Befürchtung, dass ich heute allein unterwegs bin. Seit gut einer Stunde warte ich hier und hoffe auf Hilfe.“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht veränderte der Unbekannte seine sitzende Position.
Susan legte Jacke und Rucksack neben einem üppig wuchernden Lavendelbusch ab. Hier würde sich niemand an ihrem Eigentum vergehen. Obwohl … Sie sah prüfend zum Himmel, beobachtete die Möwen misstrauisch, die über ihrem Kopf kreisten. Unbewachte Lebensmittel waren ein gefundenes Fressen für diese frechen Vögel. Doch ihr Sandwich ruhte sicher verpackt im Rucksack und an Bargeld oder ihrem Handy hatten die gefiederten Gesellen garantiert kein Interesse.
„Was ist passiert? Hatten Sie einen Unfall?“ Unmittelbar vor dem Mann blieb sie stehen und musterte ihn neugierig. Der Unbekannte hatte ein sympathisches Gesicht mit markanten Zügen, sein Blick war offen und freundlich. Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig. Er trug eine graue, eng sitzende Hose, ein neonrotes T-Shirt und Laufschuhe. Ohne Zweifel, es handelte sich um hochwertige Sportkleidung. Sein Gesicht und die Arme waren von der Sonne gebräunt. Unverkennbar saß da jemand vor ihr, der viel und gern an der frischen Luft war und sich sportlich betätigte.
„Ja, bitte. Ich benötige Ihre Hilfe!“
Susan schluckte, musterte verlegen ihre Wanderschuhe und wusste nicht weiter. Ihr Herz klopfte aufgeregt und es rührte nicht vom raschen Lauf, sondern von etwas völlig anderem. Liebend gern wäre sie einfach weitergewandert und hätte den Mann seinem Schicksal überlassen.
„Ich bin, so wie jedes Mal, hier entlanggejoggt. Doch heute bin ich gestolpert.“ Der Fremde holte sie mit seiner Erklärung unsanft aus ihren Gedanken und Susan hob den Kopf. Sie beobachtete interessiert, wie er seinen Knöchel betastete. Selbst aus der Entfernung erkannte sie sofort, dass der Fuß geschwollen war.
„Das sieht äußerst schmerzhaft aus“, sagte sie mitfühlend und betrachtete den unebenen Pfad. „Garantiert sind Sie über eine der vielen Wurzeln, die hier überall wie Fußangeln verteilt sind, gestolpert. Wie kann man hier nur joggen?“ Sie kam einen Schritt näher und kickte prüfend gegen das Wurzelgeflecht. Es zeigte sich von ihren Bemühungen völlig unbeeindruckt. „Können Sie aufstehen?“
Abwartend stand sie da, wusste nicht, was sie tun sollte. Alles in ihr sträubte sich dagegen, den Mann anzufassen, ihm aufzuhelfen.
„Moment. Ich versuche es noch einmal.“ Er zog das linke Bein näher heran, beugte sich vor und belastete den verletzten Fuß. Er seufzte verhalten und verzog vor Schmerzen das Gesicht. Dann sank er zurück auf den Boden.
„Ich würde gern. Aber ich habe mir den Knöchel verstaucht, jede Bewegung schmerzt. Mit ein bisschen Pech ist er sogar gebrochen. Bitte helfen Sie mir.“
Abwehrend verschränkte Susan die Arme vor ihrem Oberkörper. Verflixt, warum musste dieser attraktive Jogger ausgerechnet hier stürzen? Suchend sah sie sich um. Doch so sehr sie sich umblickte, die Landschaft war weiterhin unverändert schön und völlig einsam. Außer den unzähligen Möwen, die über ihnen ihre Kreise zogen, gab es in der Nähe kein einziges Lebewesen.
Sie holte ihr Handy aus der Hosentasche, entsperrte es und steckte es umgehend wieder zurück. Ein leiser Fluch schlüpfte über ihre Lippen. Das Schicksal hatte sich gegen sie verschworen – kein Netz!
Und da sie den Unbekannten hier nicht seinem Schicksal überlassen konnte … Susan zuckte mit den Schultern und trat näher an ihn heran.
„Natürlich, es bleibt mir ja nichts anderes übrig.“ Verflixt, das klang schroffer, als sie eigentlich wollte. Ihre Lippen verzogen sich zu einem bemüht höflichen Lächeln. Sie reichte ihm die Hand und er packte zu. Seine Finger umschlossen die ihren. Ungewollt zuckte sie zusammen, musste sich beherrschen, den Griff nicht gleich wieder zu lösen.
Dieser Mann war umwerfend, aber bei seinem Gewicht hatte sie sich völlig verschätzt. Susan ging in die Knie und kämpfte mit dem Gleichgewicht. Das fehlte noch, dass sie stürzte! Sie musste alle ihre Kraft aufwenden, um dem Jogger den Halt zu geben, den er zum Aufstehen benötigte.
„Geschafft. Vielen Dank.“ Er ließ ihre Hand sofort los, wie Susan erleichtert feststellte.
„Können Sie gehen?“ Während sie die Frage stellte, war ihr klar, dass er auf ihre Hilfe angewiesen war.
„Nein, machen Sie Witze? Es ist ausgeschlossen. Der Fuß schmerzt selbst, wenn ich ihn nicht belaste.“ Demonstrativ tat er zwei Hüpfer, die sehr kläglich ausfielen. „Ich bin weiterhin auf Ihre Hilfe angewiesen.“
Er streckte ihr seine Hand entgegen. Abwehrend schüttelte Susan den Kopf. „Nein, ausgeschlossen! Fassen Sie mich nicht an!“
Über ihren eigenen heftigen Ausbruch erschrocken, schlug sie die Hand vor den Mund.
Der Jogger zeigte sich unbeeindruckt über ihre Weigerung. „Ich heiße Samuel. Und nein, das ist keine neuartige Masche, um Frauen abzuschleppen. Ich benötige Ihre Hilfe wirklich.“
„Natürlich.“ Susan ballte ihre Hände zu Fäusten. Wie ein Blitzlichtgewitter tauchten vor ihrem inneren Auge die Erinnerungen an ihren ehemaligen Ehemann Frederic auf. Wie sie gemeinsam Ausflüge in die Berge unternahmen. Die romantischen Nächte in seinem New Yorker Appartement. Seine innigen Küsse, die das Feuer in ihr entfachten und ihre prickelnden Nächte. Jahre später die abgrundtiefe Enttäuschung, als sie herausfand, dass er sie seit Monaten mit einer anderen betrog. Der brennende Schmerz, der tief in ihrer Brust wütete und alles zerstörte, was ihr bisher wichtig gewesen war.
Ein dezentes Husten holte sie zurück in die Wirklichkeit. Die Erinnerungen schwanden, das Gesicht von Frederic löste sich in Wohlgefallen auf. Dafür lachte sie nun ein attraktiver Mann an. „Bei Ihnen alles in Ordnung?“
„Ja, danke. Es ist nur …“, zögernd trat sie näher an ihn heran. Sein Arm war einladend angehoben, er wartete nur darauf, sie zu umarmen. Umarmen! Körperliche Nähe, auch wenn mehrere Schichten Kleidung dazwischenlagen. Wie oft hatte Frederic sie in kalten Nächten warmgehalten, ihr liebevolle Worte ins Ohr geflüstert, aber gleichzeitig eine Beziehung mit einer anderen gehabt?
Nein, sie würde sich nie, nie wieder in einen Mann verlieben! Diese Umarmung würde die letzte in ihrem Leben sein! Kurz entschlossen trat sie näher an ihn heran, und biss die Zähne so fest zusammen, dass es schmerzte.
„Danke.“ Seine Hand lag schwer auf ihrer Schulter, sie nahm einen leichten Hauch nach Schweiß wahr. Sein Gesicht lag dicht neben ihrem, Susan erkannte unzählige Sommersprossen auf der Nase sowie eine kleine Narbe am Nasenflügel. Intime Details, die sie eigentlich nicht wissen wollte. Angestrengt starrte sie auf den Boden. Seine Berührung erinnerte sie unangenehm an eine Python, die auf ihrer Schulter ruhte.
„Wir müssen es langsam angehen lassen“, sagte er und hüpfte, von ihr gehalten, los.
Susan kämpfte mit ihrem Gleichgewicht, kämpfte gegen die Angst an, den steilen Abhang hinunterzurutschen. „Wir haben ein gutes Stück Weg vor uns, bis wir den Parkplatz erreichen.“
„Ja, leider. Aber das schaffen wir schon.“ Sie hörte es Samuels Stimme an, dass er sich um einen zuversichtlichen Tonfall bemühte. „Allerdings sollten sie Ihren Rucksack nicht in der Wildnis liegen lassen.“
Wenigstens einer, der den Überblick behielt. Peinlich berührt bückte sie sich, um ihren Rucksack und die Jacke einzusammeln.
Das verfilzte Gestrüpp und der schmale Pfad machten es ihnen schwer voranzukommen. Eigentlich hätte hier eine Person locker und entspannt laufen können. Doch zwei Wanderer nebeneinander, das war mühsam. Bei jedem Meter, den sie zurücklegten, musste sie erst mit ihrem linken Fuß einen Halt im niedrigen Gestrüpp suchen. Dann hüpfte Samuel einen Schritt vor. Dabei kam er ihr jedes Mal nahe. Viel näher, als es ihr eigentlich lieb war. Susan hielt den Kopf gesenkt und hoffte inständig, dass sie bald den Parkplatz erreichten.
„Ist alles in Ordnung?“ Samuel riss sie aus ihren Gedanken. „Haben Sie noch Kraft oder sollen wir eine kleine Pause machen?“
Eine kleine Pause. Warum nicht? Ihrem Gefühl nach waren sie schon stundenlang über das Gelände gewandert. Doch ein Blick auf ihr Handy belehrte sie eines Besseren. Sie seufzte und trank einen Schluck Wasser. Warm und abgestanden rann es ihre Kehle hinunter und doch erfrischte es sie angenehm.
„Möchten Sie auch etwas trinken?“ Sie bot ihm ihre Flasche an und blickte dabei haarscharf an seinem Gesicht vorbei. Sie kam sich unhöflich vor, doch bei jeder etwas persönlicheren Geste wurde sie schmerzlich an die Zeit mit Frederic erinnert. Nein, das Thema Liebe war für sie abgehakt. Ein für alle Mal.
„Danke, nicht nötig, ich habe selbst etwas dabei“, sagte Samuel und holte seine Trinkflasche hervor.
Susan förderte aus ihrem Rucksack zwei Äpfel zutage und bot ihm einen an. Einträchtig nebeneinanderstehend stärkten sie sich. Lag es an der salzigen Luft oder an der Aufregung? Jedenfalls schmeckte dieser Apfel so ungewohnt süß wie ein liebevoller Kuss.
„Wollen wir weiter?“ Susan kreiste ihre Schultern, reckte sich einmal. Verdrängte die aufdringlichen Gedanken und stützte Samuel. Weiter ging es Schritt für Schritt.
Susan blickte die Küstenlinie entlang. Mit jedem Meter, den sie gingen, veränderte sich die zauberhafte Landschaft. Doch im Augenblick hatte sie nur ein Ziel – wohlbehalten den Parkplatz zu erreichen.
***
Endlich, endlich sahen sie die im Sonnenlicht glänzenden Fahrzeuge. Susan atmete tief durch. Geschafft. Nur noch wenige Meter, und sie würde Samuel nie wieder begegnen!
Seit ihrem Aufbruch am frühen Vormittag waren mehr Besucher unterwegs und das Gelände mit unzähligen Fahrzeugen zugeparkt. Suchend drehte sie den Kopf einmal von links nach rechts.
„Wo steht Ihr Wagen?“, erkundigte sich Susan und blieb unmittelbar vor der ersten Reihe der abgestellten Fahrzeuge stehen.
„Wir haben es gleich geschafft. Sehen Sie das kleine rote Etwas? Das ist meiner.“
Schweigend hüpfte Samuel weiter. Susan war unendlich froh darüber, gleich die Verantwortung abgeben zu können. Ein kleiner bösartiger Gedanke stach wie ein Blitz in ihr Gehirn.
„Können Sie überhaupt fahren?“
„Wahrscheinlich nicht. Wenn Sie einverstanden sind, probiere ich es, sobald wir bei meinem Wagen sind. Ich bezweifle allerdings, dass ich meinen Fuß überhaupt bewegen kann.“
Die letzten Meter kamen ihr wie eine Unendlichkeit vor. Ihr Mund war ausgetrocknet und die Schulter schmerzte von der ungewohnten einseitigen Belastung. Die Sonne schien mit aller Kraft vom Himmel, und Susan musste ständig blinzeln, weil sie sie blendete.
Wenn sie endlich wieder in ihrem Rustico war, würde sie duschen und sich ein Nickerchen gönnen.
„Da sind wir. Danke für die Hilfe.“ Samuel löste sich aus der Umarmung und suchte nach seinem Autoschlüssel.
Er schloss auf, öffnete die Tür und ließ sich auf den Sitz sinken. Kritisch beobachtete Susan ihn, wie er seinen verletzten Knöchel hin- und herbewegte. Oder es zumindest versuchte. Nach wenigen Augenblicken schüttelte er den Kopf.
„Das wird nichts. Jede Bewegung schmerzt, das Gelenk ist steif und geschwollen.“
Dieser fragende Blick, diese Inbrunst, die sie in seinen dunklen Augen entdeckte. Susan lief ein weiterer Schauer über den Rücken. Verstärkte das unangenehme Gefühl.
„Könnten Sie mich noch zum Arzt fahren? Bitte.“
***
Unzählige Nachrichten auf ihrem Smartphone. Susan schüttelte den Kopf und schimpfte leise vor sich hin. Sie wusste genau, wer sie da erreichen wollte.
Sie entsperrte ihr Handy und löschte kurz entschlossen alle nervigen Mitteilungen. Sollte Frederic doch bleiben, wo er war.
Vor ihrem inneren Auge tauchten unliebsame Erinnerungen auf. Ihr Herz klopfte ein paar Takte schneller. Ahnungslos war sie damals gewesen. Total ahnungslos, als sie an einem Nachmittag früher nach Hause kam und ihre gemeinsame Wohnung betrat. Die Jacke einer anderen Frau hing an der Garderobe. In der Küche zwei benutzte Sektgläser und eine Handtasche, die ihr bekannt vorkam.
„Frederic, ich bin zu Hause.“ Keine Antwort. Sie blickte ins Wohnzimmer, alles aufgeräumt und verlassen. Ebenso die winzige Terrasse mit den schmiedeeisernen Möbeln. Die Rosen, die in farblich passenden Blumenkübeln blühten, nickten sacht vor sich hin.
Wo steckte ihr Mann? Der Besuch? Sie stieg die steile Treppe zum Schlafzimmer hoch, eine ungewisse Ahnung in der Brust. Es passierte eigentlich nur in Romanen, dass die treusorgende Ehefrau ihren Mann in flagranti erwischte.
Fest umklammerte ihre Hand das Geländer, oben am Fuß der Treppe blieb sie stehen und lauschte. Flüstern, verstohlenes Lachen und das Gestöhne ihres Mannes, das ihr so vertraut war.
Nein! Nie und nimmer! Sie tat zwei Schritte, dann öffnete sie die Schlafzimmertür und erstarrte. Denn die Situation war mehr als eindeutig. Zwei nackte Menschen, innig umschlungen. Unzählige Kleidungsstücke nachlässig auf den Boden geworfen.
Die beiden hielten in ihrem Treiben inne. Blickten erschrocken auf. Und Susan? Sie stand da, fühlte sich verraten und verkauft. In ihr eine schmerzhafte Leere. Nie hätte sie gedacht, dass ihr charmanter und liebevoller Frederic ihr DAS antun würde!
Auf dem Absatz drehte sie um, murmelte etwas von: Lasst euch nicht stören, schloss die Zimmertür und stieg die Treppe hinunter.
Was sollte sie nur tun? Diese schmerzhafte Leere in ihrem Inneren, die zitternden Knie, die Wut, die sie verspürte.
Mit einem lauten Knall schloss sie die Wohnungstür und stieg in ihr Auto.
Und nun weilte sie seit Kurzem in Italien, an der zauberhaften Küste Liguriens, und leckte ihre Wunden. Eine gute Entscheidung, wie sie fand. In der ehemaligen Ferienwohnung ihrer Eltern konnte sie Abstand von den Ereignissen gewinnen und ihre nächsten Schritte planen. Ohne, dass Frederic ständig bei ihr auf der Matte stand und sie anflehte, zurückzukommen.
***
Müde ließ sich Susan in den Sessel sinken, legte den Roman Oliven von Simon Ceo beiseite und schloss für einen Moment die Augen.
Was für ein Tag. Sie hatte nicht gedacht, dass sie zur Sanitäterin taugte. Und nun das: die Rettung eines verletzten Joggers. Nicht nur ihre Füße schmerzten von der ungewohnten Belastung, sondern auch der Rücken. Vorsichtig tastete sie über ihre Wangen. Ihr Gesicht glühte vor Hitze. Offenbar war zu allem Übel auch noch ein Sonnenbrand im Anmarsch. Der lange Aufenthalt an der Frühlingssonne hatte seine Spuren hinterlassen. Nun rächte es sich, dass sie in New York viel zu wenig an die Luft gegangen war und noch seltener ein Sonnenbad genommen hatte.
Meistens saß sie in ihrem Büro und suchte für einsame Herzen den passenden Partner. In vielen Fällen mit Erfolg. Über ihrem New Yorker Schreibtisch hing eine große Pinnwand mit Fotos von den unzähligen glücklichen Kunden, die geheiratet hatten. Sogar ein paar Bilder von Babys in rosa oder hellblauen Strampelanzügen fand man, wenn man etwas genauer hinguckte.
Unerwartet und völlig überraschend tauchte vor Susans innerem Auge das Gesicht von Samuel auf, überlappte die Erinnerungen an erfolgreiche Tage.
Susan setzte sich auf, zog die Wanderschuhe aus und schleuderte sie von sich. Nein! Nie wieder würde sie sich in einen Mann verlieben!
Ob im Büro alles glattlief? Sie musste dringend Melli anrufen und sich nach dem Stand der Dinge erkundigen.
Doch bevor sie nach ihrem Handy greifen konnte, tauchte erneut der dankbare Blick von Samuel auf, seine dunklen Augen, die vollen Lippen, die zum Küssen einluden.
Müde erhob sich Susan, reckte und streckte die steifen Glieder. Verdrängte die Erlebnisse so gut es ging.
Die Fliesen unter ihren Füßen fühlten sich angenehm kühl an, eine Wohltat nach den vielen Stunden in den beengenden Wanderschuhen.
Gedankenverloren schweifte ihr Blick durch das Wohnzimmer, und ob sie es wollte oder nicht, die Erinnerungen überwältigten sie.
Ihre Eltern hatten das Haus in Poggio vor zehn Jahren gekauft. Es sollte ihr Altersruhesitz werden. Das Gebäude war ein Traum für alle, die es liebten, ein verlassenes, dem Verfall ausgeliefertes Haus zu retten. Für Menschen, die nichts lieber taten, als ununterbrochen zu werkeln und zu basteln. Bei Susans ersten Besuch war das Dach noch undicht gewesen, der angrenzende Garten verwildert. Von fließendem Wasser und Strom ganz zu schweigen.
Bei jedem ihrer folgenden Besuche hatten ihre Eltern ihr stolz die Baufortschritte gezeigt. Nachdem sie dem Haus ein neues Dach spendiert hatten, kamen Küche und Wohnzimmer an die Reihe. Ihre Eltern hatten mit viel Liebe und Umsicht das Gebäude renoviert. Die alten Fliesen und Balken erhalten, wo immer es nur ging. Der Kamin, der die äußere Wohnzimmerwand dominierte, wurde neu gemauert und verputzt. Die blinden Fensterscheiben ausgetauscht und die Rahmen repariert.
Ebenso hatten sie sich voller Elan an das Schlafzimmer im Dachgeschoss und das Atelier gemacht. Der lichtdurchflutete Raum, in dem ihre Mutter in jeder freien Minute gemalt hatte.
Das ganze Haus glich inzwischen einem wohnlichen Schmuckstück. Ein Ort zum Wohlfühlen und Träumen. Nur – jeder Winkel erinnerte sie an ihre Eltern. Riss immer wieder die gerade erst verheilende Wunde namens Familie auf.
Unruhig wie ein gefangener Tiger wanderte Susan im Wohnzimmer umher. In ihr kämpften die widerstrebenden Gefühle. Was sollte sie nur tun?
Susan ging in die Küche. Sie musste auf andere Gedanken kommen. Wie im Wohnzimmer waren hier nur Kleinigkeiten wie Herd und Kühlschrank völlig neu und modern. Der alte Schüttstein dagegen war blank gescheuert, die Arbeitsplatte aus poliertem Marmor wartete auf den nächsten Einsatz.
Susan setzte Wasser auf und kochte sich einen Espresso. Den hatte sie mehr als nötig. Mit der Tasse in der Hand inspizierte sie den Kühlschrank. Viel im Angebot hatte sie nicht, wie sie aufseufzend feststellte. Nur eine Flasche Öl, Parmesan, ein paar Eier und eingelegte Oliven. Susan verdrehte die Augen und schloss die Kühlschranktür wieder. Morgen musste sie dringend einkaufen.
Lust, sich etwas zu kochen, hatte sie nicht, aber ihr Magen knurrte unüberhörbar. Und gemäß ihrer Freundin Melli war sie eh viel zu dünn. Bevor sie vor lauter Schwäche zusammenklappte, musste sie etwas essen. Entschlossen kippte sie den Espresso auf ex herunter, hustete kurz, weil er stärker war als gedacht und im Rachen brannte.
Sie stellte die Tasse in die Spüle und musterte die Anrichte, auf der die unterschiedlichsten Kräuter in einem Glas standen. Ihre Nachbarin hatte sie zusammen mit ein paar reifen Tomaten vorbeigebracht. Während Susan die Pflanzen mit dem abgestandenen Wasser aus ihrer Trinkflasche versorgte, entschied sie sich für einen erfrischenden Salat.
Aus der Keramikschale nahm sie ein paar Tomaten sowie eine Zwiebel und öffnete die Besteckschublade.
Die Erinnerungen trafen sie gänzlich unvorbereitet und mit aller Wucht. Sie glaubte, ihre Mutter lachen zu hören. Ihr Vater, ebenfalls glücklich grinsend, betrat mit erdverschmierten Händen, schmutziger Hose und sandigen Gartenschuhen das Haus. Er hinterließ eine Drecksspur von der Küche bis in den Flur, bis er endlich im Bad verschwand.
Susan schüttelte ihren Kopf, versuchte die Geister der Vergangenheit zu vertreiben.
In das Rustico war sie zwar nicht oft, aber regelmäßig gereist. Und nun, nach dem tödlichen Unfall ihrer Eltern, wohnte sie in dem Paradies auf Erden.
Schwindel überfiel sie. Für einen Augenblick wurde ihr schwarz vor Augen. Haltsuchend lehnte Susan sich an die Arbeitsfläche und presste die heiße Stirn an die kühle Schrankwand. Sie konzentrierte sich auf eine bewusste tiefe Ausatmung, bis sich ihr Puls beruhigt hatte.
Nun waren ihre Eltern seit gut einem Jahr tot, doch noch immer belasteten sie die Erinnerungen stärker als gedacht.
Als sie wieder zur Ruhe gekommen war, nahm sie das Messer und das Holzbrett und schnitt die Tomaten in Scheiben. Der süßliche Duft stieg in ihre Nase und sie versuchte sich ausschließlich auf die Zubereitung des Salats zu konzentrieren.
Ein energisches Klopfen holte sie aus ihren Gedanken. Die Geister der Vergangenheit schwanden und zurück blieb nur die Küche im hellen Licht des Nachmittags.
„Susa, bist du hier?“, fragte Evelina. Die Terrassentür schwang auf und ihre Nachbarin kam herein. Susan schob die inzwischen geschnittenen Zwiebeln in die Schüssel und tupfte sich die Augen trocken.
„Hallo Evelina, schön, dich zu sehen.“
„Mia cara!“ Evelina legte mehrere große fleischige Zitronen auf die Arbeitsfläche, drehte sich zu Susan um und umarmte sie. Dabei drückte sie sie an ihren mächtigen Busen, strich ihr wie ein kleines Kind über den Kopf. Sah Evelina noch die Spuren der Tränen und dachte sich ihren Teil oder hatte sie einfach nur einen untrüglichen Instinkt?
„Das sind die Zwiebeln, ich habe nicht geweint.“
„Schon klar, mia cara“, antwortete sie. „Du warst heute Vormittag lange fort, dafür, dass du nur beim Monte Bignone wandern wolltest.“
„Stimmt, es kam etwas dazwischen.“ Susan fasste ihre Erlebnisse kurz zusammen.
„Dann passt es ja perfekt, dass ich meine berühmte Minestrone fertig habe!“ Evelinas rötliches Gesicht mit den unzähligen Falten wurde noch roter, ihre rehbraunen Augen blitzten vergnügt. Wie alt Evelina wohl war? Susan wusste es nicht, schon immer war ihr die Nachbarin mit dem großen Herzen als alt und runzelig erschienen. Auch ihre ausladende Figur, die sie in weite, wallende Kleider hüllte, war stets unverändert geblieben. „Moment, ich hole sie!“
Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand sie durch die Küchentür in den hinteren Teil des Grundstücks.
Der Garten! Seit Susans Ankunft vor drei Tagen hatte sie ihm noch keinen Blick gegönnt. Susan zuckte zusammen, als sie die Erkenntnis wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Es half nichts, auch die Terrasse sowie das angrenzende Areal gehörten zu ihrem Erbe. Sie atmete einmal tief ein und tat ein paar zögerliche Schritte, bevor sie die Schwelle überquerte.
Bei der Grünanlage handelte es sich um das Heiligtum ihrer Eltern. Damals hatten sie versucht, die überbordende Pflanzenpracht in geordnete Bahnen zu lenken. Doch die früheren Jahre, in denen sich niemand um dieses Haus gekümmert hatte, hatten ihre Spuren hinterlassen. Bevor ihr Vater mit der Motorsäge und der Sense angerückt war, war das Gestrüpp undurchdringlich gewesen.
Und nun? Die ehemals gebändigte Wildnis hatte sich im vergangenen Jahr ihr Reich zurückerobert. Die Pflanzen wucherten ungehindert und Susan ahnte nur noch, wo ihre Eltern früher einmal die Wege und Beete angelegt hatten. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. Es lagen noch unzählige Stunden Arbeit vor ihr.
Doch im Augenblick war es ihr völlig egal. Sie bewegte die Zehen, der Boden unter ihren Füßen strahlte eine angenehme Wärme ab. Sie fühlte sich frei und ungebunden, so wie die Schwalben, die über ihrem Kopf weite Kreise zogen.
Langsam drehte sie sich um ihre Achse und betrachtete die Passionsblume auf der anderen Seite.
Die Pflanze mit ihren unzähligen Trieben und lilafarbenen Blüten dominierte die Terrasse. Die geschmiedete Sitzecke, früher ein beliebter Treffpunkt ihrer Familie, verschwand unter Laub und Sand. Niemand hatte sie in den letzten Monaten gereinigt.
Ein paar kupferfarbene Echsen, die sich in ihrer Beschaulichkeit gestört fühlten, flüchteten in eine dunkle Ecke, als sie näherkam.
Ein angenehmes Plätzchen, wie Susan feststellte. Entschlossen ging sie in die Küche und kam wenig später mit einem Besen zurück.
Staub und Laub wirbelten durch die Luft, als sie anfing zu fegen. Immer energischer bewegte Susan den Besen, versuchte so nicht nur die trüben Erinnerungen, sondern auch den Dreck zu entfernen.
Als Evelina wenig später mit einer Schüssel voll mit dampfender Minestrone zurückkehrte, hatte Susan die Terrasse soweit hergerichtet, dass sie draußen essen konnte.
***
Wieder fand sie unzählige SMS und Anrufe auf ihrem Handy. Entschlossen löschte Susan alles, was von Frederic war. Sofort fühlte sie sich besser und gönnte ihrem Smartphone einen grimmigen Blick. So schnell ließ sie sich nicht mehr von ein paar billigen Liebesschwüren beeindrucken.
Nachdem sie alle seine Nachrichten gelöscht hatte, blieben zwei SMS übrig. Eine davon war von einer unbekannten Nummer. Neugierig, wenn auch ein wenig misstrauisch, tippte sie sie an.
Liebe Retterin, vielen Dank für Ihre unkomplizierte Hilfe. Darf ich Sie zum Dank auf ein Abendessen einladen?
Der verunglückte Jogger. Spontan schüttelte Susan den Kopf. Dabei meinte sie immer noch, seinen Duft wahrzunehmen und seinen Arm zu spüren, mit dem er sich bei ihr abstützte. Sie löschte die Nachricht umgehend. Jetzt bereute sie es, seinem Drängen nachgegeben und ihm ihre Nummer anvertraut zu haben. Erneut hatte sie sich von einem Mann überreden lassen, war ihrer Intuition gefolgt.
Sie lehnte sich in ihrem gemütlich gepolsterten Sessel zurück und blickte aus dem Fenster. Der Sonnenuntergang an der ligurischen Küste war umwerfend. Rote und goldene Lichter am Horizont, vereinzelt huschten Wolken über den Himmel. Das Mittelmeer spiegelte die Farben der versinkenden Sonne. Wie anders das Leben in Italien war. Viel ruhiger und entspannter. Fast war sie versucht zu sagen, langweiliger.
In New York hatte sie selten mitbekommen, wie das Wetter war. Ob überhaupt Wolken am Himmel standen oder ob die Sonne zu sehen war. Von romantischen Augenblicken wie einem Sonnenuntergang ganz zu schweigen. Wobei … Sie belog sich selbst. Frederic hatte sie mehr als einmal nobel ausgeführt und dann hatten sie händchenhaltend dagesessen und das Himmelsspektakel bewundert. Doch diese Erinnerungen zählten nicht mehr!
Ihr Handy bimmelte leise und Susan blickte auf das Display. Melli meldete sich pünktlich auf die Minute, wie gestern verabredet.
„Hey Susan, wie geht’s? Hattest du einen schönen Tag?“ Die fröhliche Stimme ihrer Partnerin erklang an ihrem Ohr.
„Danke, inzwischen geht es mir wieder etwas besser. Die Wanderung am Morgen war äußerst anstrengend und deutlich mühsamer als geplant.“
„Erzähl, was ist passiert? Haben Diebe deine Handtasche geklaut oder bist du einer giftigen Schlange begegnet?“
„Nein, zum Glück bin ich keiner Schlange begegnet, die sind alle abgehauen, bevor ich über sie stolpern konnte. Dafür traf ich auf unzählige freche Möwen und einen Jogger, der sich den Knöchel verstaucht hat.“
Susan nahm einen Schluck vom Sciacchetra, dem regionalen Wein, und spürte, wie der Alkohol ihre Gedanken beruhigte.
„Na dann, es klingt total spannend, was du da erzählst. Den Typen hätte ich gern kennengelernt.“ Melli kicherte vielsagend. Susan sah sie vor sich, wie sie sich mit den Fingern durch die gefärbten Haare strich und musste ebenfalls lächeln.
„Und wie läuft es mit unserer Agentur More Honey and Love? Laufen die Vorbereitungen für die Nacht der Schmetterlinge? Stimmen die Buchungszahlen?“
„Mach dir keine Sorgen, alles läuft wie am Schnürchen.“ Susan hörte, wie ihre Freundin und Mitinhaberin ihrer Partneragentur Papier hin- und herschob. „Die Anfragen gehen durch die Decke. Das hätte ich nicht gedacht. Wahrscheinlich muss ich einen weiteren Termin im folgenden Monat anbieten.“ Die Stimme von Melli überschlug sich regelrecht. „Und auch auf der Homepage melden sich frisch verliebte Pärchen ohne Ende. Glücklich darüber, endlich den passenden Partner gefunden zu haben. Mit unseren Themen-Tagen haben wir offenbar den Nerv der Zeit getroffen. Allein gestern lagen zwei Einladungen zur Hochzeit in der Post. Wer weiß, vielleicht nehme ich sie an und gehe hin. Es gibt ja keine bessere Bestätigung für unsere Arbeit.“
Wieder kicherte sie und Susan vermutete stark, dass Melli an diesem Abend schon mehr als einen Schluck Sekt getrunken hatte. Vielleicht wartete ihr aktueller Lover nur darauf, dass sie endlich das Telefonat beendete, damit sie sich anderen Dingen widmen konnten.
„Das freut mich. Unter diesen Umständen muss ich also keinen Flug buchen, um dir zu helfen, oder?“
„Nein, bleib, wo du bist. Ich komme hier bestens zurecht. Nutze die Auszeit, erhole dich von deinem treulosen Mann und komm auf die Füße.“
Samuel
„Darf ich stören?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, kam Vittore ins Zimmer und setzte sich ungefragt auf einen Hocker. Samuel verdrehte die Augen und legte sein Handy beiseite. Gerade hatte er es sich auf dem Sofa bequem gemacht und seinen Fuß auf einem Stapel Kissen gelagert. Nun der Besuch seines Chefs. Mit einem spöttischen Lächeln deutete Vittore auf seinen Fuß. „Blöde Sache. Tut’s sehr weh?“
Demonstrativ schüttelte Samuel den Kopf und biss die Zähne zusammen. Vorsichtig nahm er den Fuß vom Sofa und setzte sich auf. Warum musste Vittore gerade jetzt kommen und stören? Noch immer pochte der verletzte Knöchel schmerzhaft und sein Stolz hatte einen gewaltigen Knacks bekommen. Einmal nicht aufgepasst beim Laufen und dann das!
Ob er wollte oder nicht, die Erinnerungen an Susan ließen sich nicht verdrängen. Ihre samtweiche Haut, ihr sinnlicher Duft. Ständig kehrten seine Gedanken zu ihr zurück. Ihr wunderschönes Gesicht. Die Stupsnase und der nachdenkliche Blick hatten sich regelrecht auf seine Bindehaut eingebrannt. Schade nur, dass sie sich bis jetzt noch nicht auf seine Nachrichten gemeldet hatte.
„Hörst du mir überhaupt zu?“ Der Hotelier ließ seine Fingergelenke knacken. Eine Unart, die Samuel hasste. Er kniff die Augen zu. Wollte Vittore ihn provozieren?
„Natürlich höre ich dir zu.“ Brav wiederholte er die letzten Worte seines Arbeitgebers. „Der Knöchel ist nur verstaucht. Zum Glück ist nichts gerissen oder gebrochen. Die Ärztin meinte zwei bis drei Tage Ruhe, dann bin ich wieder fit.“
„Das wäre schön. Ich brauche einen gesunden und arbeitsfähigen Hausmeister. Keinen kranken. Die Fenster benötigen einen frischen Anstrich, bei zwei Badezimmern müssen die Fliesen erneuert werden. Abgesehen davon ist die Gartenanlage äußerst ungepflegt. Den Sträuchern fehlt der letzte Schliff und das, wo die Hauptsaison vor der Tür steht! Abgesehen davon, auf den Wegen wuchert das Unkraut.“
„Nun übertreibe nicht! Ob die Fenster nun heute oder in drei Wochen ihren Anstrich erhalten oder der Garten einem Dschungel gleicht – das kann alles warten!“
Samuel belastete seinen Fuß vorsichtig und konnte es nicht lassen, eine kleine Spitze anzubringen. „Schließlich hat sich seit Monaten wenig getan. Weil dein vorheriger Hausmeister ein begnadeter Trinker, aber kein Handwerker war.“
Er stand auf, stützte sich am Polster ab, bis er seinen Fuß voll belasten konnten. „Das Einzige, worauf du hoffen solltest, ist, dass es zu keinem Notfall kommt. Denn dann muss ein auswärtiger Handwerker ran. Und nun entschuldige mich.“
Er hinkte zum Bad, den unwilligen Blick Vittores im Nacken.
***
Unruhig wälzte sich Samuel einige Stunden später in seinem Bett hin und her. Nicht so sehr, weil sein Fuß schmerzte, sondern weil die Erinnerung an Susan ihn wachhielt. Ihre hilfsbereite Art und das gleichzeitige Bemühen, ihm ja nicht zu nahzukommen.
Susan hatte auf ihn wie ein verletztes Reh gewirkt, stets darauf bedacht, Abstand zu halten. Bis jetzt hatte sie nicht auf seine SMS reagiert. Hatte er sie vielleicht mit seiner Frage nach der Nummer zu sehr bedrängt? Dabei hätte er sich gern noch einmal in aller Form bei ihr bedankt.
Er unterdrückte den Impuls, nach seinem Handy zu greifen und sie anzurufen. Eine solche Aktion führte meistens zur Verweigerung, besonders wenn sie mitten in der Nacht erfolgte.
Aber morgen Vormittag, da würde er sie anrufen.
Er warf die Decke beiseite und setzte sich auf. Er musste sich dringend um seinen Wagen kümmern, der noch immer auf dem Parkplatz stand. Sollte er Susan um den Gefallen bitten? Gedankenverloren schüttelte er seinen Kopf. Sie hatte die Wartezeit in der Notaufnahme mit ihm verbracht und ihn anschließend zum Hotel gefahren. Nein, sie wollte er nur ungern erneut belästigen.
Das fahle Mondlicht erhellte sein Zimmer nur schwach, doch reichte es völlig, um sich zu orientieren, und so tappte er Schritt für Schritt ans Fenster. Dabei kreisten seine Gedanken ununterbrochen um Susan.
Wind kam auf, drückte das nachlässig geschlossene Fenster auf. Entschlossen riss Samuel die Flügel ganz auf. Ein kühler Lufthauch streifte seine erhitzten Wangen. Er starrte in die Dunkelheit und beobachtete einen Kauz, der mit klagenden Rufen vorbeiflog. Die Büsche und Bäume wurden vom Wind zerzaust. Hinter den rasch vorbeiziehenden Wolken verschwand der Mond für wenige Atemzüge und tauchte die Landschaft in Dunkelheit. Als das Wolkenband vorbeigezogen war, erschien der fahl leuchtende Trabant erneut, als ob nichts geschehen sei, und warf sein Licht auf die verlassene Landschaft.
Eigentlich eine äußerst romantische Stimmung. Doch war Samuel nicht danach. Er ballte seine Hand zur Faust, bohrte die Fingernägel in die weiche Haut. Der kurze Schmerz half ihm, zur Ruhe zu kommen.
Zum Garten hatte er mittlerweile eine Hassliebe entwickelt. Eigentlich kümmerte sich Luca um Hotel und Garten, doch sein Alkoholkonsum war inzwischen größer als sein Pflichtbewusstsein. Und so sorgte Samuel dafür, dass nicht nur im Hotel alles rundlief, sondern auch die Grünanlage nicht völlig verwahrloste.
Ein überraschender Regenschauer ging nieder. Samuel trat vom Fenster zurück und schloss es.
Dabei streifte sein Blick den Schreibtisch, auf dem ein Laptop sowie zwei Schreibblöcke lagen. Eine Woche Zeit hatte er noch. Eine Woche, um die perfekte Idee für seinen Roman abzuliefern.
Nicht heute! In seinen Gedanken fand der Druck, einen brauchbaren Text zu liefern, keinen Platz. Viel lieber dachte er an seine Retterin. Sobald sein Fuß mitspielte, würde er sie zum Essen einladen.
Kapitel 2
Samuel
„Bist du wach?“
Samuel blinzelte verschlafen, brummte etwas vor sich hin und sah, wie sich seine Zimmertür öffnete. Ein Tablett schwebte herein, gehalten von Vittore. Er blickte ihn freudestrahlend an, schien sich nicht daran zu stören, dass er noch im Bett lag.
„Ja, jetzt bin ich wach.“ Samuel warf die Decke beiseite, schwang die Beine aus dem Bett. Und war froh darüber, zumindest eine Boxershorts zu tragen. „Notgedrungen. Und wie du siehst, bin ich relativ fit.“ Er griff nach dem Shirt, das er nachlässig auf den Stuhl gehängt hatte und zog es über. So fühlte er sich nicht ganz so nackt.
„Also, welchen Hintergedanken hast du, wenn du mir das Frühstück bringst?“
„Keinen, überhaupt keinen. Ich wollte dir das Leben erleichtern. Schließlich ist das Treppensteigen heute nicht so dein Ding.“
„Wie wahr.“ Samuel griff nach einem Brötchen, musterte verwundert das Angebot an Köstlichkeiten. Von Pflaumen im Speckmantel, Feigenmarmelade über hauchdünn geschnittenen Schinken: Alles, was sein Herz begehrte, war dabei.
Nun gut. Samuel grinste still vor sich hin. Als Inhaber eines Nobelhotels fiel es Vittore nicht schwer, großzügig zu sein. Doch ihn als Angestellten so zu umsorgen? Sie kannten sich seit ein paar Jahren, der augenblickliche Job eine Gefälligkeit, ein Unterfangen, von dem beide profitierten.
Dennoch, wenn Vittore so plump daherkam, steckte etwas dahinter.
Samuel nahm sich ein paar Trauben, genoss die Süße der Früchte, trank anschließend einen Schluck heißen Kaffee. Ganz bewusst ließ er sich Zeit, sollte Vittore doch ruhig ein Weilchen schmoren.
Während er in eine der weichen Feigen biss, hob er sein Bein hoch und wackelte demonstrativ mit den Zehen. „Die Ärztin in der Notaufnahme sagte mir, mindestens zwei Tage Ruhe, kühlen und das Bein hochlagern. Von unter verstopften Duschen krabbeln oder auf wackeligen Leitern stehen, war nicht die Rede.“
Diese Worte saßen. Bis eben hatte Vittore recht entspannt ausgesehen. Doch nun … Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich, die Lippen wurden ein Hauch schmaler. Erregt ließ er seine Fingergelenke knacken.
Samuel unterdrückte ein schadenfreudiges Grinsen.
Garantiert hatte der nächtliche Regen seine Spuren hinterlassen. Vielleicht waren ein paar Schindeln auf dem Dach verrutscht und Wasser war eingedrungen. Prüfend sah er zur Decke. Zumindest in seinem Zimmer konnte er keine verdächtigen Flecken erkennen.
„Meinst du wirklich?“ Vittore beugte sich vor, bediente sich ungefragt am Tablett und aß die letzte Feige.
Samuels Handy meldete sich mit einem dezenten Gebimmel. Und dennoch schoss ihm der Schreck in die Glieder. So früh am Morgen rief nur einer an! Schließlich war sein Agent dafür bekannt, ein Frühaufsteher zu sein. Und sein Bedürfnis mit ihm zu sprechen, tendierte gegen null.
Er schubste das Handy vom Nachttisch auf sein Bett, legte sein Kopfkissen darüber.
„Du willst nicht rangehen?“ Es sollte wie eine Frage klingen, doch es war eher eine Feststellung.
„Nein, es ist nicht wichtig.“ Samuel wusste genau, dass Vittore ihn durchschaute und ihm nicht glaube. Es handelte sich um eines der wichtigsten Gespräche seiner beruflichen Laufbahn seit langem! „Meine Mutter, sie ruft jeden Tag an, sie möchte wissen, wie es mir geht.“
Er spürte, wie sich in ihm alles verkrampfte und ihm das Atmen schwerfiel. Sein Handy verstummte, der Anrufer hatte aufgelegt.
„Kommen wir zurück zu deinem Anliegen: Du kennst die Antwort. Einen Tag Schonung brauche ich. Die Schwellung lässt nach, ebenso wie die Schmerzen.“
„Bitte, es ist dringend.“ Vittore rieb sich die Hände, rutschte ein Stück auf dem Sitz vor. „Nur ein halbes Stündchen.“
„Nein.“ Samuel wusste genau, wenn er nicht konsequent blieb, würde er den ganzen Tag treppauf, treppab laufen. Und das tat seinem verstauchten Knöchel garantiert nicht gut.
Diesmal erklang das Gebimmel gedämpft, dennoch äußerst eindringlich. Samuel seufzte und verfluchte das Schicksal. Warum wollten alle gleichzeitig etwas von ihm?
Vittores Blick wurde lauernd. „Nun komm schon, schließlich bist du mein Angestellter.“
„Genau und damit offiziell krankgeschrieben.“ Treffer, versenkt. Samuel lehnte sich in seinem Bett zurück, schielte zum Kissen. Das Läuten nahm – scheinbar – an Dringlichkeit zu. Aufseufzend hob er das Kissen hoch. „Vittore, ich muss telefonieren. Meine Mutter.“
Vittore nickte, griff nach dem Tablett und verließ das Zimmer. „Wir sehen uns!“ Lautstark zog er die Tür hinter sich zu. Dass Samuel mit dem Frühstück noch nicht fertig gewesen war, interessierte ihn nicht.
War das eine Drohung? Samuel zuckte mit den Schultern und nahm das Gespräch an.
„Hallo, Samuel.“ Die Stimme seines Agenten Michael Töteberg klang freundlich und zuvorkommend. „Lange nichts von dir gehört.“
„Hallo.“ Samuel stand vorsichtig auf, verlagerte probeweise das Gewicht auf seinen verletzten Fuß. Unbeholfen wankte er zum Fenster, ignorierte den PC und die dort liegenden Notizen. „Ich hatte einen Unfall.“
Schweigen am anderen Ende der Leitung. Garantiert überschlug Michael die Möglichkeiten und deren Folgen. Samuel frohlockte. Gab ihm die Verletzung noch ein bisschen Spielraum? Ein paar Wochen mehr Luft und ein paar Freiheiten, bis er seinen Entwurf für den neuen Roman abliefern musste?
„Ist es schlimm? Bist du im Krankenhaus?“ Das war typisch Michael. Er wollte immer bis ins Detail informiert sein. Um Samuels Lippen spielte ein Lächeln. Dennoch hielt er sich zurück. „Nein, zum Glück nicht. Ich habe mir den Knöchel verstaucht.“
Das Aufatmen, die Erleichterung seines Agenten verspürte er fast körperlich. „Dann ist ja gut. Ein verstauchter Knöchel hält dich nicht vom Denken und Schreiben ab.“
Schweigen. Samuel blickte aus dem Fenster, sah den Hotelgästen zu, die im Park flanierten und sich einen schönen Tag machten. „Nein, vom Denken hält es mich nicht ab.“
Liebend gern hätte er alles hingeschmissen, seinen Agenten angebrüllt und den Vertrag aufgekündigt. Wenn es doch nur so einfach wäre.
„Ich bin fleißig dabei, die ersten Ideen zu sammeln. Ich denke …“ Er sah einem älteren Ehepaar zu, das Arm in Arm den Kiesweg entlangflanierte. „Ja, bis Freitag oder Samstag sollte ich einen ersten Entwurf fertig haben.“
„Das klingt gut. Ich zähle auf dich!“ Damit beendete Michael das Gespräch.
Susan
Miau! Das Miauen klang so fordernd, dass Susan in der Arbeit innehielt und aufblickte. Wieder maunzte es eindringlich und das Kratzen an der Tür zeigte ihr, dass sie sich nicht getäuscht hatte.
Da begehrte offenbar ein haariger Vierbeiner um Einlass. Neugierig darauf, den Störenfried kennenzulernen, rappelte Susan sich auf und lief auf Socken hinüber in die Küche. Tatsächlich, als sie die Terrassentür einen Spalt öffnete, schob sich ein kleiner grau getigerter Kopf dazwischen.
„Wer bist denn du?“ Susan öffnete die Tür ganz und das Kätzchen huschte in die Küche.
Ohren und Schwanz hatte es neugierig gereckt und maunzte ununterbrochen vor sich hin. Dabei schnupperte es in jeder Ecke, gönnte besonders dem Besen einen zweiten, prüfenden Blick. Als es auf dem Boden nichts Interessantes fand, sprang es auf die Anrichte und schnupperte an den Resten ihres Frühstücks.
Eine kleine, rosafarbene Zunge fuhr über einen Klacks Butter und bevor Susan überhaupt begriff, was geschah, hatte die Katze den Teller sauber geleckt. Selbst der Knust vom Baguette verschwand ruckzuck im Bauch der Samtpfote.
Verwundert sah Susan dem Treiben zu. Sie hatte nie ein Tier besessen und wusste überhaupt nicht, wie sie reagieren sollte. Vielleicht konnte sie dem Unhold Herr werden, indem sie ein Küchentuch nahm und die Katze hinausscheuchte? Suchend drehte sie sich um, doch fand sie auf der Schnelle nichts Geeignetes.
Endlich sprang das graue Fellbündel wieder zurück auf den Boden und Susan lief zuversichtlich zur Tür. Vielleicht erledigte sich das Problem von allein.
„Komm Mietzi, komm.“
Leider nicht, wie sie feststellte. Das graue Fellbündel wanderte stattdessen schnurstracks durch den Flur ins Wohnzimmer und reagierte nicht auf ihre Rufe. Notgedrungen ließ Susan die Terrassentür offenstehen und eilte hinterher. Wehe, wenn der ungebetene Gast die Unterlagen und Fotos durcheinanderbrachte!
Sie schnappte sich auf dem Weg ins Wohnzimmer den Besen. Das perfekte Hilfsmittel, um den Kobold auf schnellstem Weg wieder an die Luft zu befördern!
Doch machte ihr der vierbeinige Eindringling einen Strich durch die Rechnung. Statt über die Dokumente zu tanzen und mit den Bildern Fangen zu spielen, machte es sich die Katze in Susans Lieblingssessel bequem. Inmitten der Lichtfülle lag sie da, schien jeden einzelnen Strahl mit ihrem Fell aufzusaugen. Mit großen grünen Augen musterte sie Susan, blinzelte ihr zu, so als ob sie jeden Tag dort ihren Schönheitsschlaf hielt.
Susan stellte den Besen in die Ecke und unterdrückte mit Mühe einen Lachanfall. Jetzt, da das Kätzchen so entspannt und glücklich aussah, konnte sie es nicht fortscheuchen. Und das schien der Vierbeiner zu wissen. Notgedrungen kehrte Susan in die Küche zurück und schloss die Tür. Hoffentlich würde die Katze später freiwillig wieder gehen!
Doch als sie zwei Stunden später die Stapel an Papieren durchgesehen und sortiert hatte, lag das Tier noch immer auf seinem Platz. Es schien tief und fest zu schlafen. Erst als Susan aufstand, blinzelte es kurz und schloss anschließend die Augen wieder.
Die Gesellschaft der Katze hatte ihr gutgetan. Zwischendurch war sie einmal bei ihr gewesen und hatte neugierig an den Dokumenten geschnuppert. Die Ruhe der Katze hatte sich auf sie übertragen. Und ihr die Kraft gegeben, die Unterlagen zu sichten. Die unzähligen alten Briefe, Verträge und andere persönliche Dokumente ihrer Eltern hatten Erinnerungen an schöne Zeiten in ihr wachgerufen. Schmerzhafte Erinnerungen, die weiterhin in ihr nachhallten.
Doch nun musste sie einen Schlussstrich ziehen und nach vorn blicken! Susan nahm sich ein Taschentuch und putzte sich die Nase. Das zerknüllte Tempo landete neben den vielen anderen, die auf dem Boden lagen.
Entschlossen hob sie den größeren der beiden Stapel auf und trug ihn zum Müll. Einen Augenblick verharrte sie, bevor sie alles in der Tonne versenkte. Der Schmerz war kurz, aber heftig. Doch es half alles nichts. Auch in dieser Hinsicht musste sie konsequent sein.
Das graue Kätzchen hob interessiert den Kopf, als Susan wieder eintrat. Sie ging zu ihr und setzte sich zu ihr auf die Sesselkante. Dabei beobachtete sie jede Bewegung des Stubentigers misstrauisch. Sie hatte oft genug gelesen, dass Katzenbisse zu schwersten Verletzungen führen konnten. Und dennoch, sie wollte das Tier einmal streicheln.
Zumindest es versuchen. So, als ob die Katze ahnte, was Susan vorhatte, legte sie sich auf die Seite und blinzelte ihr zu. Ein Lächeln huschte über Susans Gesicht, sie betrachtete die Geste als Einladung. Vorsichtig strich sie mit dem Zeigefinger über das weiche Fell am Kopf. Ein leises Schnurren erklang, eindringlich und intensiv. Minutenlang fuhr sie über den Kopf der Katze und die schien es zu genießen. Etwas mutiger geworden, streichelte Susan ihr wenig später über den Rücken.
„Du hast gewonnen. Bis heute Abend darfst du bleiben, dann möchte ich dort sitzen, verstehen wir uns?“
Grüne Augen blickten sie an. Für Susan schien es, als ob die Katze jedes ihrer Worte verstand. Blinzelte sie ihr nicht zustimmend zu?
***
„Susa? Wo bist du?“ Schwungvoll wie immer wirbelte Evelina in die Küche. Die wallenden Stoffe umschmeichelten ihren Körper, verwischten gekonnt die üppigen Rundungen. Diesmal hatte sie ein Kleid in knalligen Gelb- und Rottönen angezogen. In ihren Armen hielt sie wie jeden Tag eine großzügige Portion an Salat und Gemüse.
Susan nahm die Hände aus dem Spülwasser und trocknete sie ab. Das schmutzige Geschirr konnte sie später noch abwaschen. Es gab zu ihrer Erleichterung niemanden, der Wert auf eine aufgeräumte Küche legte. Nur kurz dachte sie an Frederic und seine ständigen Nörgeleien. Ihm hatte sie es nie recht machen können.
Der Duft nach Basilikum, Rucola und Minze erfüllte den Raum. Schon allein der Geruch sorgte dafür, dass sie sich besser fühlte. Das brummende Handy im Flur überhörte sie ganz bewusst. Bei ihrer Freundin Melli würde sie sich am Abend melden. Und Männer, egal ob ihr Ex oder ein verletzter Jogger, die durften ewig auf einen Rückruf warten.
„Hier, mein Kind.“ Evelina legte die Sachen auf die Anrichte, ihr rötliches Gesicht glänzte vor Freude. „Du weißt ja, in meinem Garten wächst alles wie Unkraut. Ich bin froh, wenn du mir etwas abnimmst.“
„Danke, du weißt doch, ich freue mich immer.“ Wobei … Susan schmunzelte vor sich hin. Vieles kam nicht aus dem Garten ihrer Nachbarin, sondern vom Markt. Evelina kaufte stets mehr, als sie benötigte. Eine indirekte Art der Unterstützung, damit Susan sich regelmäßig etwas kochte und gesund lebte. Abgesehen davon hatte ihre Nachbarin so eine perfekte Ausrede, um täglich vorbeizuschauen.
„Darf ich dir dafür zumindest ein kleines Dankeschön geben?“
„No, no. Das ist nicht nötig, Susa. Ich bin doch so froh, dass du meine Nachbarin bist. Und ich die Ehre habe, mich während deiner Abwesenheit um dein Haus kümmern zu dürfen.“ Evelina holte tief Luft, bevor sie weiterredete. „Außerdem vermisse ich deine Eltern, wahrscheinlich ebenso heftig wie du.“
Spontan drückte Evelina sie an sich und es dauerte eine Weile, bis Susan sich aus der Umarmung befreien konnte. Verlegen ob dieser vertrauten Geste nahm sie ein Glas, füllte es mit Wasser und stellte die Kräuter hinein. Den größten Teil vom Gemüse räumte sie in den Kühlschrank, froh über die Ablenkung. Wann sollte sie das alles nur essen?
Susan blinzelte mehrfach heftig und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Die Trauer um ihre Eltern überwältigte sie wieder. Ihre Mutter hätte mit Freude ein Kräuterrührei zubereitet und aus den Zucchini eine perfekte Pastasoße gezaubert.
„Schon gut, mia cara.“ Evelina kam näher, strich ihr liebkosend über den Rücken. Susan schloss die Kühlschranktür wieder, lehnte sich mit der Stirn dagegen. Sie fühlte sich ausgelaugt und kraftlos.
„Der Schmerz wird bleiben, aber du wirst es schaffen, damit zurechtzukommen.“ Weise Worte, doch im Augenblick fiel ihr es schwer, daran zu glauben.
„Madre dios!“ Der laute Aufruf zerstörte die intime Atmosphäre. Susan drehte sich erschrocken um. War unbemerkt eine Schlange eingedrungen oder warum war Evelina so aufgebracht?
Nein, nur das kleine graue Kätzchen war in der Küche erschienen und untersuchte neugierig die Schuhe ihrer Nachbarin.
„Mein ungebetener Gast.“ Susan schmunzelte, rieb sich mit einem Taschentuch über die Augen. Was für einen Anblick sie mit ihrem verquollenen Gesicht bot? „Sie ist heute Vormittag einfach in die Küche marschiert und hat ihre Siesta in meinem Sessel gehalten. Hoffentlich hat sie keine Flöhe!“
„Wie nett, du hast Gesellschaft bekommen. Das ist eine schlaue Katze. Sie weiß, dass hier gut leben ist.“
„Hast du eine Ahnung, von wo sie stammt? Nicht, dass sie einen Besitzer hat, der sie vermisst?“
Evelina schüttelte den Kopf. „Mit Sicherheit nicht. Hier in der Gegend gibt es viele halbwilde Katzen. Aber wenn du möchtest, höre ich mich in den nächsten Tagen einmal um.“
Susan nickte dankbar.
„Katzen wissen, wer ihre Unterstützung und Kraft braucht. Sie suchen sich ihre Menschen aus, nicht die Menschen die Katze." Evelina bückte sich und streichelte der Grauen über den Rücken. Diese schien zu ahnen, dass sie von ihr sprachen. Maunzend strich sie ihnen um die Beine, mit ihrem Schwanz berührte sie abwechselnd Evelina und Susan.
„Lass sie bei dir. Du wirst es nicht bereuen. Sie wird dir helfen und dich unterstützen. Da bin ich mir sicher.“
Susan schluckte. Manchmal schien ihre Nachbarin zu ahnen, was in ihr vorging. Sie nickte. Ja, wenn die Katze hier einziehen sollte – warum nicht? Solange Susan hier wohnte, war es kein Problem. Nur wenn sie das Haus verkaufte, was dann?
Egal. Darüber machte sie sich Gedanken, sobald es nötig war.
„Dann kannst du mir sicher auch verraten, wo ich den nächsten Tierarzt finde. Denn garantiert hat die Kleine Flöhe. Und etwas Artgerechtes zu futtern braucht sie auch. Mäuse hin oder her!“ Susan nahm die Katze auf den Arm. „Inzwischen habe ich auch einen Namen für ihn gefunden – Saphir!“
Samuel
Der Cursor blinkte, schien ihn spöttisch anzulachen. Die ganze Computerseite noch leer, außer dem heutigen Datum stand da nichts.
Samuel trommelte mit seinen Fingerspitzen auf der Schreibtischoberfläche herum, ein flotter Galopp, der ihn sonst immer motivierte. Doch heute half es ihm nicht. Seine Gedanken stockten und die Idee, die seine schriftstellerische Zukunft retten sollte, blieb weiterhin in seinen Gehirnwindungen stecken.
Ihm musste endlich etwas einfallen. Er musste endlich produktiv sein.
Samuel nahm ein paar Weintrauben, legte damit gedankenverloren kleine Muster auf dem Teller und aß sie dann.
Nur Sekundenbruchteile später schob er den Stuhl zurück, erhob sich ungelenk und griff nach seinem Handy. Er scrollte sich durch die Nachrichten, informierte sich über die letzten Fußballergebnisse.
Anschließend studierte er die neuesten Rezensionen zu seinem Roman Oliven. Nicht nur die Fans überschlugen sich mit begeisterten Bewertungen, sondern auch die Zeitschriften-Redaktionen, die Töteberg mit Rezensionsexemplaren eingedeckt hatte, äußersten sich mehr als euphorisch.
Und nun musste die Fortsetzung her, auf die alle sehnsüchtig warteten.
Ein Seufzer schlüpfte über Samuels Lippen und frustriert warf er sein Handy auf das Bett.
Draußen im Flur hörte er hastige Schritte, kurze Anweisungen. Vermutlich waren es die Zimmermädchen, die sich zum Einsatz bereit machten.
Er ignorierte den schmerzenden Fuß und humpelte zur Tür. Er musste raus an die Luft, etwas anderes als dieses Zimmer sehen, das ihn im Augenblick mehr an eine Gefängniszelle erinnerte als an ein behagliches Quartier.
Ein prüfender Griff an die Hosentasche, seinen Zimmerschlüssel hatte er dabei. Und sein Handy? Nachdenklich betrachtete er es und entschied, dass er mal ein paar Stunden gut ohne den digitalen Aufpasser zurechtkam. Nur noch ein paar Euro einstecken, damit er sich zwischendurch eine Erfrischung gönnen konnte.
Samuels Laune stieg. Eine kleine Auszeit in der Altstadt von Sanremo würde ihm guttun. Er lächelte, öffnete die Tür und stieß mit Vittore zusammen.
Seine Mine erstarrte. Auf diese Begegnung hätte Samuel nur zu gern verzichtet. Zumindest in diesem Augenblick.
Vittores Aussehen war wie immer makellos, so wie er es sich auch tagtäglich von seinen Angestellten wünschte. Sein Anzug versteckte gekonnt den ausgeprägten Bauch und den Rundrücken. Sein bleiches Gesicht war grobporig und er hatte seine nachtschwarzen Haare in der Mitte gescheitelt. Samuel wusste, dass er Ende fünfzig war. Doch wirkte er auf ihn deutlich älter. Nur seine sonst ständig zur Schau gestellte Freundlichkeit war gerade auf Abwegen, was Samuel sofort an den zu Schlitzen verengten Augen und den unzähligen Falten auf der Stirn erkannte.
„Wie geht es dir?“ Vittore trat einen Schritt zurück und musterte interessiert Samuels rechten Fuß.
Samuel unterdrückte ein Schmunzeln, erleichtert darüber, dass er den Verband noch trug. Und nicht dem Impuls nachgegeben hatte, ihn zu entfernen. Demonstrativ lehnte er sich gegen die Wand und schloss die Tür ab. „Nun ja, er schmerzt immer noch. Das Gelenk ist geschwollen und ich kann den Fuß nur mit Mühe bewegen. Die Salbe gegen Sportverletzungen hilft leider auch nur bedingt. Kurz gesagt, ich bin noch arbeitsunfähig.“
„Sicher?“ Der joviale Gesichtsausdruck schwand. Prüfend sah Vittore sich im Flur um, so als ob er sich vergewissern wollte, dass ihn niemand beobachtete. „Du sollst hier arbeiten und den Betrieb am Laufen halten. Und nicht krank auf dem Sofa liegen.“
„Nun ja, wie du siehst, liege ich nicht auf der faulen Haut. Ich wollte ein bisschen frische Luft schnappen.“
„Wie lange gedenkst du, krank zu spielen? Bist du der Meinung, dass das Romanschreiben wichtiger ist als der Job?“
„Bitte?“ Samuel blickte den Hotelchef entsetzt an. „Was willst du mir damit sagen?“
Er schüttelte den Kopf und zwängte sich an Vittore vorbei. Mit seinem Rücken streifte er die hellgelb gestrichene Wand. Das ließ er sich nicht bieten. „Ich habe mir den Fuß verstaucht und soll mich schonen. Die Ärztin sagte etwas von zwei bis drei Tagen. Wenn ich mich morgen wieder einsatzbereit melde, dann kannst du dich freuen. Und nun entschuldige.“
Bedächtig ging er den langgestreckten Flur entlang, der zum Aufzug führte.
„Warte!“
Unwillkürlich blieb Samuel stehen, drehte sich um, seine Stirn gekraust. Vittore kam mit steifen Bewegungen auf ihn zu, das Deckenlicht funkelte bei jedem Schritt auf seinen polierten Lederschuhen.
„Dein Auto, wo steht es noch einmal? Beim Monte Bignone? Richtig?“
Samuel nickte und überlegte, was für eine Überraschung Vittore nun aus dem Hut zaubern würde.
„Machen wir doch einen Deal. Du stehst morgen wieder auf der Matte und ich helfe dir dafür nach Feierabend, den Wagen zu holen. Einverstanden?“
Daher wehte also der Wind. Garantiert würde Samuel jemand anderen finden, der ihn zum Parkplatz fuhr. Doch so war es für ihn deutlich leichter und unkomplizierter. Warum nicht.
„Okay, ich denke, morgen früh bin ich wieder einsatzbereit.“
„Das hör ich gern. Die Arbeit läuft nicht davon, das solltest gerade du wissen.“ Vittore bewegte demonstrativ seine Finger so, als ob er etwas tippen würde. Samuel knirschte mit den Zähnen. In diesem Augenblick bereute er es, Vittore von seiner Schaffenskrise erzählt zu haben.
„In Zimmer Fünf ist die Dusche verstopft, bitte erledige das gleich nach Dienstantritt. Die neuen Gäste ziehen am späten Nachmittag ein und bis dahin muss alles perfekt sein!
Abgesehen davon habe ich im Pool unzählige Blätter schwimmen gesehen und das Wasser schimmert grünlich. Also stimmt der Chlorgehalt nicht mehr. Du siehst, als Hausmeister geht dir die Arbeit nicht aus. Falls du keine Lust mehr auf das Schreiben hast …“
Bevor Vittore die Chance nutzen konnte und ihm weitere Aufgaben aufs Auge drückte, betätigte Samuel den Knopf des Aufzugs. „Du weißt ja, die Liste mit den dringenden Aufgaben hängt unten an meinem Spind. Da kannst du es gern eintragen. Und jetzt entschuldige mich.“
***
Die Piazza lag im hellen Sonnenlicht, die Temperaturen waren am späten Vormittag schon ungewöhnlich hoch. Samuel krempelte die Ärmel seines Hemdes um und rieb sich mit dem Unterarm über die Stirn.
Langsam ging er über die gepflasterte Straße. Bei jedem seiner Schritte achtete er darauf, dass er seinen verstauchten Knöchel nicht mehr als nötig beanspruchte. Hier, in den engen Gassen von Sanremo, zu Füßen der Kathedrale San Siro, hatte sein erster Roman Stein gespielt. Ein Krimi, der anfangs wenig Beachtung fand. Dies änderte sich erst nach Erscheinen des Folgeromans Sand.
Beinahe über Nacht erreichten seine Bücher Kultstatus und die Auflage ging durch die Decke. Alle sechs Monate erhielt er inzwischen einen Scheck, der seine kühnsten Träume übertraf. Eigentlich hätte er von den Honoraren gut leben können, doch drängten nicht nur sein Agent Töteberg und der Verlag nach einem neuen Roman, sondern auch die Leser. Und dieser unerwartete Leistungsdruck lag ihm schwer im Magen. Bis nächste Woche sollte er den Entwurf für den vierten Roman vorlegen. Doch auf Befehl funktionierte er zu seinem Leidwesen nicht, er fand keine brauchbare Idee. Besonders nicht unter der Herausforderung, dass der vierte Band noch besser sein sollte als die vorherigen.
Ein ungeahnter Druck lastete auf ihm. In seinem Haus in Dublin, wo er sonst Tag und Nacht an seinen Romanen schrieb, war ihm die Decke auf den Kopf gefallen und er hatte spontan die Koffer gepackt. Er wollte zurück an den Ort reisen, an dem alles angefangen hatte.
Eines Abends, als er mal wieder in der Bar des Hotels La Passony saß, hatte er Vittore sein Leid geklagt. Und Vittore hatte ihm den Job im Hotel angeboten, da ihm gerade ein handwerklich geschickter Mann fehlte. Für Samuel, ungewohnt weinselig an diesem Abend, war es perfekt gewesen. Die Arbeit mit den Händen und der direkte Kontakt zu den Gästen halfen ihm dabei, den Kopf freizubekommen.
***
Das Café lag etwas versteckt und abgelegen am Rande der Piazza. Die mehrstöckigen Häuser, in denen sich im Erdgeschoss Geschäfte und Restaurants befanden, umzingelten den Platz regelrecht. In der Mitte standen einige schön gewachsene Palmen und ein Brunnen, in dem das Wasser plätscherte.
Nicht nur die eierschalenfarbenen Sonnenschirme flatterten im Wind, sondern auch die Palmen bogen sich unter der Brise, die vom Meer kam. Im Außenbereich seines Lieblingscafés waren alle Sitzplätze belegt, wie Samuel auf den ersten Blick feststellte. Selbst im Inneren des Gastraums herrschte reger Betrieb. Die Kellner eilten hin und her, bemühten sich redlich, ihren Kunden die Wünsche von den Augen abzulesen. Manchmal verweilten sie auch einen Moment am Tisch und scherzten mit den Gästen.
Samuel war das Treiben nur recht. Er liebte es, wenn er in die Menschenmenge eintauchen und den Gesprächen lauschen konnte. An Tagen wie diesen war er froh darüber, dass es weder in seinen Büchern noch auf der Autorenseite ein Foto von ihm gab. So konnte er unerkannt die Plätze aufsuchen, die er beschrieben hatte.
Da sein Fuß schmerzte, lehnte er sich an die Hauswand und wartete geduldig, bis ein Platz frei wurde. Endlich sah er drei elegant gekleidete Signore, die ununterbrochen aufeinander einredeten, zahlten und aufstanden. Bevor ein anderer Tourist auf den Gedanken kam, ihm den Platz wegzuschnappen, hinkte er so schnell wie möglich hin. Das schmutzige Geschirr, die zerknüllten Papierservietten und der verschmierte Tisch störten ihn überhaupt nicht.
Er setzte sich mit dem Rücken zur Fensterfront, so dass er das Kommen und Gehen der Einheimischen und der Touristen beobachten konnte. Ob Susan heute Vormittag ebenfalls unterwegs war? Er betrachtete jede Person aufmerksam, die an ihm vorbeiging. Immer in der unsinnigen Hoffnung, sie vielleicht zu erblicken.
Nun bereute er es doch, sein Handy im Zimmer gelassen zu haben. Sonst hätte er sie jetzt angerufen. Ob sie sich inzwischen auf seine Nachricht gemeldet hatte?
Ein Tablett schwebte scheinbar schwerelos in sein Blickfeld, landete wenig später auf dem Tisch. Das Geschirr klapperte lautstark, während vom Kellner abgeräumt wurde.
„Prego, was darf ich Ihnen bringen?“
Samuel überlegte nicht lange. Eigentlich durfte er im Hotel etwas essen. Doch für heute Vormittag war ihm die Lust auf Gesellschaft vergangen. Ganz besonders auf die seiner Arbeitskollegen. Ob die wohl vermuteten, dass er blau machte?
Kurz entschlossen bestellte er sich einen Salat und ein großes Glas Wasser mit Zitrone.
Trotz des Andrangs musste er nicht lange warten. Nur wenige Augenblicke später stand das Gewünschte vor ihm.
***
War sie das? Wie elektrisiert hielt Samuel inne, beobachtete die Frau, die mit einem Einkaufskorb vor ihm vorbeilief. Diese schlanke, grazile Figur, die anmutige Haltung und das seidig glänzende Haar. Er sprang auf, sein Zitronenwasser schwappte gefährlich im Glas und seine Gabel fiel klirrend zu Boden. Mehrere Gespräche verstummten, verwundert blickte ein Gast auf und schüttelte mit dem Kopf.
In diesem Augenblick war es Samuel egal. So schnell wie möglich, den schmerzenden Fuß ignorierend, folgte er der Frau.
„Signora, bitte warten Sie!“ Er beschleunigte seine Schritte, in der stillen Angst, sie aus den Augen zu verlieren. „Signora!“
Er streckte den Arm aus, berührte sie an der Schulter. Endlich blieb die Frau stehen und drehte sich um.
So eine Schande! Samuel stockte in der Bewegung, rang die Enttäuschung nieder. Nein, er hatte sich geirrt. Sich von dem hellen Shirt und der Frisur täuschen lassen und sich nun blamiert.
Eine ihm völlig unbekannte Frau sah ihn an, die Stirn wütend gekraust. Bevor sie ihn beschimpfte und womöglich noch mit dem Korb nach ihm schlug, hob er die Hände und entschuldigte sich wortreich. Sein Herz klopfte heftig und er spürte, wie ihm abwechselnd heiß und kalt wurde. Wie gut, dass zwar seine Romane weltberühmt waren, aber niemand die Person dahinter kannte. In diesem Augenblick wusste er die Anonymität sehr zu schätzen. Gab es doch für ihn nichts Schlimmeres, als über jeden seiner Schritte in der Zeitung zu lesen.
Geknickt und zu Boden starrend kehrte er zurück zum Tisch. Sehr zu seiner Erleichterung hatten die Gäste sich zwischenzeitlich wieder ihren Gesprächen zugewandt und kümmerten sich nicht um ihn. Nur der Kellner, der ihm den Salat gebracht hatte, musterte ihn misstrauisch. Samuel verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck Zitronenwasser. Vermutlich hatte der Cameriere Angst vor Zechprellerei.
Vorbei an weiteren gut besuchten Restaurants und Souvenirläden mit Postkarten, mehr oder weniger hübschen Hüten und unzähligen Sonnenbrillen schlenderte Samuel wenig später zum Piazza San Siro. Die Kathedrale San Sari, erbaut aus hellem Sandstein, lud zum Gedenken und Gebet ein. Geschützt durch einen schmiedeeisernen Zaun, der mit Zacken bestückt war, befand sich das Portal mit seinem bogenförmigen Eingangsbereich. Samuel stellte sich direkt unter den spitz zulaufenden Bogen, starrte nach oben und betrachtete das Bauwerk, das unglaublich filigran und zierlich auf ihn wirkte.
Entschlossen öffnete er die Tür und schauderte, als er in das kühle Kirchenschiff trat. Wie außen so schlicht, zeigte sich auch das Innere der Kathedrale eher spartanisch. Die Ruhe und Würde des Gebäudes gingen auf ihn über, halfen ihm dabei, sich zu erden. Auf den Bänken, die links und rechts des Ganges standen, saßen zwei alte, gebeugt sitzende Frauen mit Kopftuch. Sie schienen ins Gebet versunken. Andächtig ging Samuel zum Marienaltar, auf dem viele kleine Kerzen brannten. Er warf ein paar Euros in die Kasse, nahm sich ein neues Licht und zündete es an. Nachdem er es in die Halterung gesteckt hatte, verschränkte er die Hände und verharrte mehrere Augenblicke.