Leseprobe Verführerische Täuschung einer Lady

Eins

Irland, Januar 1816

Miles Cavanagh blickte von der Gerichtsurkunde auf, die er in der Hand hielt, und krauste die Stirn. „Es scheint, dein Vater war nicht mehr klar bei Verstand, Colum. Wer, wenn nicht du, käme als Vormund für das Mädchen in Frage?“

Sein neuer Stiefvater setzte eine betuliche Miene auf. „Einem Mann, der sich anschickt, aus dem Leben zu scheiden, steht es durchaus zu, dass er sich von seinen guten Geistern verabschiedet.“

„Um sich stattdessen einen Floh ins Ohr setzen zu lassen?“

Colum Monahan war ein Mann mittleren Alters. Er trug immer noch seine Reisegarderobe und drohte schalkhaft mit dem fleischigen Zeigefinger. „Versuche nicht, mir die Schuld zu geben, Miles. Vater war tot und das Testament besiegelt, Stunden bevor ich in Foy angekommen bin.“

Miles musste ihm im Stillen Recht geben, doch es war typisch für Colum, dass er sich vor einer unbequemen Pflicht drückte. Er war ein charmanter, aber träger Mann, der es sich gut gehen ließ und stets das Beste vom Leben erwartete, was ihm erstaunlicherweise auch meist geboten wurde, einschließlich der hübschen Mutter von Miles.

Und nun der glückliche Umstand, von einem lästigen Mündel verschont zu bleiben.

Er stand offenbar mit Kobolden im Bunde.

„Was zum Teufel mag in ihn gefahren sein?“, fragte Miles. „Wie kann jemand, der im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist, einem Fünfundzwanzigjährigen die Vormundschaft über seine Enkelin anvertrauen, eine junge Frau von zwanzig Jahren?“

„Ich weiß es nicht …“

„Dabei kennt er mich kaum.“

„Mein lieber Junge, Vater ist außer Reichweite, und es hat keinen Zweck, deine Wut an mir auszulassen.“

Miles raufte sich die Haare. „Entschuldige, aber dass mir eine solche Bürde auferlegt wird, ist kaum zu ertragen.“

„Ruhig Blut. Es trifft dich am Ende noch selbst der Schlag, wenn du deine cholerische Art nicht im Zaum hältst.“

„Ich bin nicht cholerisch.“

Colum füllte zwei Gläser mit Weinbrand und reichte Miles eines davon. „Alle Rothaarigen neigen zu Wutausbrüchen.“

„Meine Haare sind nicht rot, und ich bin der Ruhigsten einer.“ Miles öffnete die aufeinander gepressten Lippen, um einen Schluck aus seinem Glas nehmen zu können. „Es passt mir nicht, für eine junge Frau Verantwortung zu tragen, schon gar nicht für Felicity, die du, wie ich mich erinnere, als einen ‚wahren Unband‘ bezeichnet hast.“

Colum machte es sich in seinem Lieblingssessel bequem. „Das gute Kind wird mit den Jahren schon noch zahm werden. Während der Trauerfeierlichkeiten hat sie sich durchaus anständig betragen.“ Er zwinkerte Miles auf eine Weise zu, die ihm selbst Ähnlichkeit mit einem stämmigen Kobold verlieh. „Und hübsch ist sie allemal. Dunkle Haare, dunkle Augen und eine sehr vorteilhafte Figur.“

„Herrje, auch das noch! Wenn es denn sein muss, dass ich mich um ein Mündel zu kümmern habe, wär’s mir lieber, es sähe unauffällig aus. Ich weiß schließlich, wie junge Männer sind.“

„Kein Zweifel, das weißt du, mein Junge.“ Colum schaute empor auf das prächtige Stuckwerk unter der Decke und lächelte.„Übrigens, ihr fällt ein stattliches Erbe zu.“

Miles starrte ihn an. „Ein Erbe? Dein Vater wird ihr doch nicht viel hinterlassen haben.“

Colum senkte seine hellen Augen. „Du vergisst ihren Großvater mütterlicherseits, Miles.“

In der Tat. An die Verwandtschaft der Nichte seines Stiefvaters hatte Miles nie einen Gedanken verschwendet, zumal er der Ansicht war, dass sie ihn nichts anging.

Im vergangenen Sommer, kurz nach der Trauung seiner Mutter und Colum, war Miles mit dem glücklichen Paar nach Foy Hall gefahren, dem Familiensitz seines Stiefvaters. Felicity Monahan hatte sich zu dieser Zeit in England aufgehalten, zu Besuch bei der Familie ihrer Mutter, von der ihr eine unverhoffte Erbschaft in Aussicht gestellt worden war.

„Ist dieses Erbe denn überhaupt der Rede wert?“

Colum kicherte vergnügt. „Wenn ich daran denke, wie sich Vater aufgeregt hat über Patricks Brautwahl … Es passte ihm ganz und gar nicht, dass er die Tochter ‚dieses Bergknappen aus Cumberland‘ zur Frau wollte. Doch dann kaufte dieser Knappe seine eigenen Gruben und schürfte ein Vermögen daraus.“ Er hob sein Glas und prostete Miles zu. „Zwanzigtausend im Jahr, mein Junge.“

Zwanzigtausend!“

„Eine gute Partie, die kleine Felicity.“

„Ein Unband“, erinnerte Miles und nahm einen stärkenden Schluck Weinbrand zu sich. Zwanzigtausend. Sein eigenes Einkommen war deutlich geringer. Hölle und Verdammnis. Sämtliche Erbschleicher Europas würden diesem Mädchen nachstellen.

Wäre seine Mutter nicht auf den abwegigen Einfall gekommen, noch einmal zu heiraten, hätte er die Monahans nie kennen gelernt, und der ganze Ärger wäre ihm erspart geblieben.

„Beruhige dich, mein Junge. Wer Pferde liebt wie du, sollte es doch zu schätzen wissen, wenn ein Füllen Feuer hat.“

„Zum Henker, Colum, wir sprechen über eine Frau, nicht über eine Stute.“

„Am Ende sind sich alle gleich“, antwortete Colum und zwinkerte verschmitzt mit den Augen.

Miles schenkte sich neu ein. Es behagte ihm nicht, einen Stiefvater zu haben, und dass dieser an seiner Mutter ganz offenbar ein recht sinnliches Vergnügen hatte, stellte seine Duldsamkeit auf eine allzu große Probe.

Die beiden berührten sich ständig und warfen einander Blicke zu, die Bände sprachen. Auch am helllichten Tag, und nicht selten zogen sie sich dann unter irgendeinem Vorwand eilig zurück.

Anständig war ein solches Verhalten wahrhaftig nicht.

Seine Mutter aber schien glücklich zu sein, und darum behielt Miles seine Meinung für sich. Er war froh, bald aufbrechen und nach England reisen zu können, und hoffte, dass sich der Überschwang des frisch verheirateten Paares bei seiner Rückkehr gelegt haben würde und die beiden ein Verhalten an den Tag legten, das ihrem Alter angemessen war.

Falls es denn zu der Reise tatsächlich noch kommen sollte. Unglückseligerweise hatte er sich im Oktober, ausgerechnet kurz vor Eröffnung der Jagdsaison, das Schultergelenk ausgekugelt, woran er immer noch laborierte. Nicht in den Shires sein und jagen zu können stieß ihm bitter auf, doch er hatte sich seiner Mutter gefügt, die verlangte, dass er zu Hause blieb und seine Genesung nicht dadurch gefährdete, dass er eines seiner Rassepferde zu bändigen versuchte.

Dann war auch schon die Weihnachtszeit angebrochen, und weil er seit Jahren die Festtage nicht zu Hause verbracht hatte, hatte er sich vorgenommen zu bleiben. Und nun, da er endlich abreisen wollte, wurde ihm dies vorgelegt.

„Zu dumm, dass du noch nicht verheiratet bist, mein Junge“, sagte Colum. „Wenn du eine Frau hättest, würde sie sich um das Mädchen kümmern können.“

„Ich habe aber keine Frau, ja, nicht einmal die Absicht, zu heiraten. Ich bin noch nicht bereit, mich häuslich niederzulassen.“

„Aber, aber“, sagte Colum, „du bist der Erbe der Kilgoran und trägst als solcher Verantwortung.“

Miles bewegte seine Schultern wie unter einer schweren Last. Tatsächlich hatte er an dieser Bürde zeit seines Lebens zu tragen, denn sein Vater war Cousin und Nachfolger des Grafen von Kilgoran gewesen. Seit dem Tod des Vaters drohte der Ernstfall von heute auf morgen einzutreten und seinem unbekümmerten Leben ein Ende zu machen, da der alte Graf immer hinfälliger wurde.

„Wenn mein verehrter Onkel diese Verantwortung ernst genommen und beizeiten geheiratet hätte, wäre mir dieses Problem erspart geblieben.“

„Zugegeben, aber nun stellt sich die Frage deiner Vermählung umso dringlicher. Du bist der letzte Stammhalter, Miles. Es wäre doch allzu traurig, wenn ein ehrwürdiger, alter irischer Adelstitel in Vergessenheit geriete.“

„Ich habe einen Bruder.“

„Der als Offizier der Marine dient. Unter einer gesicherten Existenz stelle ich mir etwas anderes vor.“

Miles musterte seinen Stiefvater mit nachdenklichem Blick. „Es ist schon seltsam, dass ausgerechnet du mir den Pfad der Tugend weisen willst, Colum.“

Colums übertriebene Unschuldsmiene bestätigte Miles’ Verdacht, dass dieser etwas im Schilde führte. „Deine Mutter sähe es gern, wenn du dir eine Frau nehmen würdest, und was meiner Aideen gefällt, gefällt auch mir.“

„Gut so, denn ich bin mir sicher, dass es meiner Mutter nicht gefiele, wenn ich diese Vormundschaft antreten würde. Darum werde ich Leonard für unmündig erklären lassen. Und wenn der Nachtrag des Testaments gestrichen ist, wirst du das Mädchen in deine Obhut nehmen müssen.“

Colum schüttelte den Kopf. „Ach, Miles, dazu wird es wohl nicht kommen. Der Nachtrag wurde von Leonards Leibarzt und Kammerdiener mit unterzeichnet, und beide bezeugen, dass er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war.“

„Verflucht. Es muss trotzdem einen Ausweg für mich geben.“

„Auf die Schnelle allerdings nicht.“ Colum machte einen ernsten Eindruck, was ihm nur selten gelang. „Ich kenne die Dubliner Gerichte zur Genüge, Miles, und kann nur jedem raten, ihnen aus dem Weg zu gehen. In gut sechs Wochen wird Felicity volljährig sein. Ein Gerichtsverfahren nähme mindestens ebenso viel Zeit in Anspruch, und am Ende hättest du mit einem solchen Verfahren allenfalls erreicht, dass sich die Beutelschneider in den Kanzleien die Hände reiben. Nein. Es wäre leichter für dich, die Bürde auf dich zu nehmen und zu tragen.“

Miles schaute sich in dem behaglich eingerichteten Zimmer hektisch um. „Ich wittere eine Verschwörung, Colum. Es muss ein Haken an dieser Sache sein, aus der du dich so eifrig herauszuhalten versuchst.“

„Ein Haken? Ach was …“

„Ich musste bereits auf zwei Monate der Jagdsaison verzichten, und diese Angelegenheit raubt mir nun noch mehr Zeit.“

„Es war nicht meine Schuld, dass du dir fast den Arm abgerissen hättest, Miles. Im Gegenteil. Habe ich dir nicht schon vor Monaten gesagt, dieses störrische Pferd zum Schlachter zu bringen?“

„Banshee hat Qualitäten, die ich nicht verschwendet wissen möchte. Leider sind meine anderen Pferde in Melton. Darum sitze ich hier fest. Wie dem auch sei, falls ich doch noch dazu bereit sein sollte, die Vormundschaft zu übernehmen, will ich das Mädchen vorher wenigstens gesehen haben.“

„Gewiss. Mehr wird auch nicht von dir verlangt werden. Es scheint, sie fühlt sich wohl in Foy Hall, und sie versteht sich gut mit meiner Schwester Annie. Felicity lässt sich durch einen Dubliner Anwalt vertreten und hat zwei Treuhänder, die ihr Vermögen verwalten …“

In diesem Moment betrat Miles Mutter, Lady Aideen Monahan, das Zimmer – wie immer mit strahlenden Augen, heiterem Lächeln und sprühend vor Energie.

Obwohl sie der hochherrschaftlichen Familie der Fitzgeralds entstammte, machte sie sich nicht viel aus Pomp und Etikette. Auf ihren Titel jedoch legte sie Wert, zumal der bürgerlichen Bezeichnung „Mrs“, wie sie sagte, etwas allzu Hausfräuliches anhaftete.

Drall und hübsch in ihrer blauen Wollrobe anzusehen, die sandfarbenen Locken unter ein Spitzentuch gesteckt, das als Haube kaum zu bezeichnen war, gab sie ihrem Mann einen herzhaften Willkommenskuss.

„Wer hat hier ein Vermögen, um das sich Treuhänder kümmern?“, fragte sie interessiert. Durchaus bereitwillig verwaltete sie den Clonnagh’schen Besitz, der es ihrem Sohn Miles ermöglichte, ein ganz und gar sorgloses Leben zu führen.

„Colums Nichte Felicity“, antwortete Miles.

„Ah ja! Sie hat es von ihrem Großvater mütterlicherseits geerbt. Gibt es ein Problem damit?“ Wären ihre Ohren dazu imstande gewesen, hätten sie wohl zwei neugierige Spitzen ausgebildet. „Jetzt erinnere ich mich. Du bist ihr Vormund, Colum.“

„Nein“, entgegnete Miles. „Das bin ich. Der alte Leonard Monahan hat seinen letzten Willen entsprechend abgeändert.“

Aideen fuhr herum; ihre blauen Augen funkelten. „Was du nicht sagst! Warum?“

„Das weiß allein der Teufel.“

„Im Ernst“, bemerkte Colum, „es war davon die Rede, dass Felicity in Gefahr schwebt …“

„In Gefahr?“, fragte Miles. „Durch wen oder was?“

„Dazu hat Leonard nichts gesagt. Vielleicht wusste er es selber nicht. Aber ich vermute, er fürchtete, dass es manche Männer nur auf ihre Mitgift abgesehen haben könnten.“

„Mag sein, aber gleich von Gefahr zu reden zeugt doch davon, dass er ernstlich verwirrt war.“

Aideen nahm ihren Sohn eingehend ins Visier. „Du bist arg verstimmt, mein Lieber, nicht wahr?“

„Was wohl meinen Haaren anzusehen ist, die zweifellos zu Berge stehen.“ Er schmunzelte.

Sie streckte den Arm aus und fuhr ihm mit der Hand über den Kopf, um die Haare zu glätten. „Es wird schon nicht so schlimm sein, sie zum Mündel zu haben. Und solange du auf Reisen bist, werden wir uns um sie kümmern. Die Wünsche eines Sterbenden sollten respektiert werden, Miles.“

Die Worte seiner Mutter hatten das Gewicht eines Befehls. Miles seufzte. „Na schön. Ich werde morgen nach Foy reiten und mich dem Mädchen vorstellen. Vielleicht bleibe ich ein paar Tage. Aber dann muss ich weiter nach Melton.“

 

Am darauf folgenden Nachmittag trieb Miles sein Pferd Argonaut im Galopp durch ein saftig grünes Flusstal. Die schweren Hufe schleuderten Schmutz auf, der Stulpstiefel und Lederhose besprenkelte. Es war ein herrlicher Ritt, der ihn fast schon versöhnte mit dem Zweck seiner Reise.

Er lenkte den Hengst auf eine lang gezogene Anhöhe. Obwohl es schon an die dreißig Meilen zurückgelegt hatte, schien das Pferd völlig unbeeindruckt von der Steigung zu sein und sprengte unvermindert schnell voran.

Auf dem Hügelkamm angekommen, zügelte Miles das Pferd und tätschelte lachend den schweißnassen Hals. „Ah, mein Prachtstück, du bist unübertrefflich. Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, von dir Abschied nehmen zu müssen.“

Der große Rotbraune warf den Kopf zurück und quittierte das Lob mit huldvollem Schnauben.

„Aber ich werde dich jemandem überlassen, der dich zu schätzen weiß, mein Freund. Keine Sorge.“

Im leichten Trab folgte er nun der Straße und dankte dem Himmel, dass er nicht des Geldes wegen Pferde züchtete, was allzu viele irische Landsleute taten. Sie hatten kein Herz mehr für ihre Tiere und verkauften an den Meistbietenden, auch an grobes Gesindel oder ungeschickte Tölpel, die keinerlei Rücksicht auf ein Pferd nahmen.

Miles dagegen konnte sich seine Kunden aussuchen. Meist führte er, wenn die Jagdsaison begonnen hatte, eine kleine Auswahl nach Melton Mowbray, wo er seine Pferde entweder selbst ritt oder einem vertrauten Freund auslieh, ehe er sie schließlich im privaten Handel verkaufte. Die Meltonier – allesamt begeisterte Jäger – wussten um den guten Ruf der Clonnagh’schen Jagdpferde; sie würden sich auch unbesehen für eines entscheiden, hatten aber wie alle Männer ihr Vergnügen daran, die Tiere in Aktion zu sehen.

Im Verlauf einer Jagdsaison nahm Miles mehr Anträge entgegen als der Vater einer reichen Erbin aus der Familie der Almacks.

Der Gedanke erinnerte ihn an die Aufgabe, die vor ihm lag, und er betete im Stillen, dass es ihm erspart bleiben möge, über Bewerber, die um Miss Monahans zarte und vermögende Hand anhielten, entscheiden zu müssen.

Mit dem Druck seiner Knie trieb er Argonaut voran und orientierte sich an der untergehenden Sonne. Die Landschaft bot ihm keine Anhaltspunkte, doch war er allem Anschein nach auf dem richtigen Weg und wohl nur noch wenige Meilen von Foy entfernt.

Schade, dass das Mädchen bei seinem letzten Besuch in Foy Hall nicht zu Hause gewesen war und dass er darum keine Vorstellung davon hatte, was ihn erwartete. Von Colum wusste er nur, dass sie ein ungezogener Flederwisch war, der wie ein Mann im Sattel saß und kam und ging, wann es ihm beliebte.

Ihr wildes Wesen konnte kaum überraschen. Schon mit zehn Jahren zur Vollwaise geworden – ihre Eltern waren auf der Schiffsreise nach England ums Leben gekommen –, hatte man sie der Obhut ihres Großvaters anvertraut. Miles schätzte den alten Leonard Monahan als ebenso charmant ein wie seinen Sohn Colum, aber auch als doppelt so träge und müßig.

Ein nachlässiger Verwalter kümmerte sich mehr schlecht als recht um Leonards Ländereien, während in seinem Haus seine nicht minder müßige Tochter Annie herrschte, für die das Wichtigste im Leben ihre Katzen waren. Für etwas anderes rührte sie sich kaum.

Ja, es konnte nicht verwundern, dass Felicity verwildert war, doch Miles hatte kein Interesse daran, sie zu zähmen. Er hoffte lediglich, dass sich sein ungewünschtes Mündel während der nächsten ein, zwei Wochen halbwegs gesittet aufführte.

An einer Weggabelung zeigte ein Wegweiser an, dass Foy in zwei Meilen erreicht sein würde. Als Miles sein Pferd in die angegebene Richtung lenkte, galoppierte ein anderer Reiter herbei und schloss grüßend zu ihm auf.

„Rupert Dunsmore von Loughcarrick“, stellte sich der Fremde vor und hob die mit einem Silberknauf veredelte Gerte an seine glänzende Biberfellkappe, die er gewollt verwegen auf den blassgoldenen Haaren trug. Sein auffälliger Grauschimmel konnte Miles nicht sehr beeindrucken, wohl aber seine Kleidung, die ihn als Gentleman auswies, zum Reiten aber viel zu elegant war. Miles kam um eine Erwiderung des Grußes nicht umhin.

„Miles Cavanagh von Clonnagh.“

Er konnte sich selbst nicht erklären, warum ihm dieser Mr Dunsmore auf Anhieb unsympathisch war. Vielleicht lag es an der verächtlichen Miene, die sein bleiches, schmales Gesicht zur Schau trug, oder auch am englischen Tonfall, den er anschlug. Entweder er war Engländer oder aber er gab sich als solcher auf übertriebene Weise aus; möglich auch, dass er als Ire die Eindringlinge nachzuäffen versuchte.

„Ihr seid einen weiten Weg geritten von zu Hause, Mr Cavanagh.“ Dunsmore musterte ihn, als argwöhnte er unlautere Absichten auf Seiten von Miles. Pferdediebstahl etwa?

In England ausgebildet, konnte Miles, wenn ihm der Sinn danach stand, so englisch auftreten wie ein Mitglied der Krone, doch er wählte bewusst den Akzent seiner Heimat. „Soweit ich weiß, Mr Dunsmore, gibt es kein englisches Gesetz, das mich daran hinderte. Noch nicht.“

Die beiden ritten im Schritttempo Seite an Seite, aber alles andere als einvernehmlich, denn Dunsmore schien der Überzeugung zu sein, dass Miles seiner Gesellschaft unwürdig sei. Miles hätte den Mann hinter sich zurücklassen können, wollte seinem Pferd aber eine Verschnaufpause gönnen. Außerdem wurde es allmählich dunkel.

„Ich bin auf dem Weg nach Foy, Sir. Und Ihr?“, fragte er in der Hoffnung, dass Dunsmore einen anderen Weg einzuschlagen gedachte.

„Loughcarrick liegt ganz in der Nähe von Foy.“

Verflucht. „Ein schöner Landstrich.“

„Allerdings.“

Womöglich hätten sie die Unterhaltung auf diese Weise fortgesetzt, bis einer von ihnen an Langeweile gestorben wäre, doch plötzlich lebte Dunsmore auf. Er warf Miles einen scharfen Blick zu und sagte: „Cavanagh! Ihr seid doch nicht etwa …? Ausgeschlossen, der Enkel des alten Leonard Monahan von Foy seid Ihr doch wohl nicht, oder?“

„Nein, der bin ich nicht.“ Und noch bevor sich Erleichterung auf Dunsmores Gesicht breit machen konnte, fügte Miles hinzu: „Ich bin sein Stiefenkel, falls es einen solchen Verwandtschaftsgrad überhaupt gibt.“

„Aber … aber dann seid ihr ja der Erbe von Kilgoran!“ Sichtlich verdutzt musterte Dunsmore Miles’ hirschlederne Reithose und den abgewetzten braunen Rock.

„Für einen weiten Ausritt ziehe ich mir keine feinen Kleider an, Mr Dunsmore“, erklärte Miles und betrachtete mit ähnlich abschätziger Miene die stutzerhafte Aufmachung des anderen.

Dunsmore fasste sich und setzte ein leutseliges Lächeln auf. „Dann wollt Ihr wohl Euer Mündel Miss Monahan besuchen.“

Miles hatte für Leute nichts übrig, die nur höher gestellten Personen gegenüber freundlich sein konnten, doch es erschien ihm zwecklos, einen Streit anzufangen. „So ist es“, antwortete er. „Seid Ihr mit Miss Monahan bekannt?“

„Sehr gut sogar. Wir sind Nachbarn. Sie und meine verstorbene Gattin standen sich sehr nahe.“

Ein Prickeln im Nacken warnte Miles, dass hinter diesen Worten mehr stecken mochte. „Mir ist das Mädchen noch nie zu Gesicht gekommen.“

„Sie ist eine vortreffliche junge Frau. Verzeiht, wenn ich darauf hinweise, Sir, aber dass ein solch junger Mann wie Ihr es seid als ihr Vormund eingesetzt wird, muss doch sonderbar erscheinen. Sie ist eine Erbin. Ihre Freunde werden besorgt sein.“

Du betrachtest dich also als ein Freund von ihr. Oder ist es mehr als Freundschaft? Der Mann war offenbar Witwer. Hatte er womöglich die Absicht, wieder zu heiraten? Eine reiche Frau?

„Ihre Freunde haben keinen Grund zur Sorge, Mr Dunsmore“, entgegnete Miles. „Wenn sich Miss Monahan bis zum kommenden März alle Mitgiftjäger vom Hals hält, werden wir gut miteinander zurechtkommen.“

Das ohnehin schmale Gesicht von Dunsmore wirkte noch eine Spur verkniffener. „Verzeiht, wenn ich indiskret erscheine, Mr Cavanagh, aber mir drängt sich der Eindruck auf, als …“

Bevor er den Satz zu Ende brachte, wurde er plötzlich von einem riesigen Hahn aus dem Sattel gezerrt. Tatsächlich waren unversehens aus einem nahen Gebüsch mehrere Tiere hervorgebrochen. Gans, Widder, Pferd, Bulle …

Miles schnappte nach Luft und bemerkte, dass es in Wirklichkeit kein Vieh war, das ihnen da aufgelauert hatte, sondern eine Gruppe junger Burschen in Masken und Kostümen. Ein Schwein hatte sich hinter ihn aufs Pferd geschwungen, stieß wüste Flüche auf Gälisch aus und versuchte, ihn zu Fall zu bringen.

Miles rammte ihm einen Ellbogen vor die Brust und wirbelte sein Pferd so jählings herum, dass der Mann hinter ihm über die Kruppe rutschte und zu Boden stürzte. Vier Männer hatten sich, wie er sah, über Dunsmore hergemacht und prügelten erbarmungslos mit den Fäusten auf ihn ein. Miles sprengte hinzu, um die Meute zu vertreiben.

Zwei Angreifer aber bekamen rechts und links je ein Hosenbein von ihm zu fassen und hielten daran fest, was Argonaut in Panik versetzte. Er riss die Augen auf, bockte und schlug mit den Hinterläufen aus. Miles hieb mit der Gerte auf einen der Kerle ein, doch dem anderen gelang es, ihn vom Pferde zu reißen und auf den Boden zu werfen.

Zwei weitere Männer stürzten herbei und hatten ihn im Handumdrehen gefesselt. Argonaut bäumte sich auf, und Miles musste mit ansehen, wie einer sein Pferd mit der Keule traktierte.

„Gottverdammtes Pack!“, wütete Miles und wehrte sich nach Kräften, musste aber hinnehmen, dass ihm ein Knebel in den Mund gezwängt wurde. Argonaut stürmte mit lahmender Hinterhand auf der Straße davon.

An Händen und Füßen gebunden, wand sich Miles am Boden und schwor lautstark, sich an jedem einzelnen dafür zu rächen, dass sie sein Pferd verletzt hatten.

Fürs Erste aber war er schachmatt gesetzt. Die vier Männer eilten den dreien zur Hilfe, die auf Dunsmore eindroschen. Weshalb?, fragte sich Miles und zerrte vergeblich an den Fesseln. Hatten sie persönliche Gründe oder politische? Derzeit war in Irland das eine ebenso wahrscheinlich wie das andere.

Malträtiert und voller Wut sah er die Gans mit einem klobigen Knüppel auf Dunsmore einprügeln, der am Boden kauerte. Die Hiebe sollten offenbar weh tun, aber keinen dauerhaften Schaden anrichten. Anscheinend wollten ihm die Kerle eine Lektion erteilen, doch wer einen Engländer so behandelte, konnte nicht recht bei Trost sein. Schon morgen würde es in der ganzen Gegend von Soldaten wimmeln.

Die Männer hievten den Geprügelten, nachdem sie ihm die Biberfellkappe auf den Kopf gedrückt hatten, in den Sattel zurück und versetzten seinem Pferd einen Schlag in die Flanke, worauf es die Straße entlangpreschte. Vornüber gebeugt, klammerte sich Dunsmore krampfhaft an der Mähne fest.

Miles fand nun Gelegenheit, sich Gedanken darüber zu machen, welches Schicksal ihm wohl blühen mochte. Ein Großteil der seltsamen Tiergestalten machte sich aus dem Staub. Nur das Pferd und die Gans blieben zurück.

Die Gans hielt immer noch den Knüppel in der Faust.

„Was zum Teufel machen wir jetzt mit dem?“, fragte sie das Pferd auf Gälisch.

„Wir lassen ihn da, wo er liegt. Früher oder später kommt irgendjemand vorbei.“

„Es wird gleich regnen.“

„Was soll’s? Glaubst du etwa, er könnte einlaufen?“

„Conners Cottage ist gleich da drüben.“

„Jesus und Maria, du willst doch wohl nicht, dass ich ihn dorthin schaffe? Er ist ein kräftiger Bursche. Wenn du Mitleid mit ihm hast, schlage ich vor, wir binden ihn los. Dann kann er wieder auf eigenen Füßen stehen.“

„Er ist bestimmt einer, der leicht aufbraust. Sieh dir seine roten Haare an. Aber wenn man ihm Zeit lässt, abzukühlen, wird er vielleicht zur Vernunft kommen.“

Verrechne dich nicht, dachte Miles voller Rachsucht.

Er versuchte, genau hinzuschauen, um die Männer später wiedererkennen zu können, doch es war schon recht dunkel geworden. Das Pferd hatte eine stämmige Statur und überragte die Gans um Haupteslänge, obwohl diese selbst durchaus groß gewachsen war. Die Umhänge verhüllten fast gänzlich, was sie am Leib trugen, und was darunter zu erkennen war, hatte keinerlei besondere Merkmale. Die Tierköpfe maskierten ihre Gesichter und dämpften die Stimmen.

Das Pferd kam näher. „Ich werde dir die Fessel von den Füßen nehmen, damit du dich aus eigener Kraft fortbewegen kannst. Solltest du aber Ärger machen, werde ich dir eins auswischen und dich dann hinter mir her schleifen.“

Miles glaubte ihm aufs Wort. Das Pferd half ihm auf die Beine und führte ihn über die Straße auf ein Cottage zu. Es nieselte und fing schließlich heftiger zu regnen an, als sie die Hütte erreichten, einen armseligen Lehmbau mit unverglasten Fensterluken und einer ramponierten Tür, die aus den Angeln zu kippen drohte. Im Innern aber war es trocken. Miles wurde zu Boden gestoßen und wieder an den Füßen gefesselt.

„Es wird bald jemand kommen, der dich freilässt. Wenn du klug bist, machst uns weder jetzt noch später irgendwelche Schwierigkeiten.“

Im Moment hätte Miles jedem, der sich in Reichweite befand, mit bloßen Händen die Kehle zugedrückt, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Dass die Kerle vorsichtig waren, verstand er nur zu gut. Womöglich hatten sie auch Recht mit der Vermutung, dass er sich später ein wenig abkühlt haben würde. Jetzt aber schickte er ihnen stumme Flüche nach, als sie ihn auf dem verdreckten Lehmboden zurückließen und das Weite suchten.

Er lehnte sich neben der leeren Feuerstelle an die gemauerte Wand und zählte seine blauen Flecken. Allzu viele waren es nicht. Wahrscheinlich hatte er nur Pech gehabt, diesem Dunsmore zufällig begegnet zu sein, denn die Kerle waren vergleichsweise schonend mit ihm umgegangen.

Vermutlich handelte es sich um Aufständische aus den Reihen der so genannten Farmyard Boys. In den östlichen Grafschaften kam es seit einigen Jahren immer wieder zu Unruhen, wenn sich Pächter gegen ungerechte Gutsherren zur Wehr setzten oder Vergeltung an Landsleuten übten, die sich mit den Engländern gemein gemacht hatten. Das englische Joch lastete tatsächlich schwer auf der irischen Insel. Seine harschen Gesetze wurden von fünfundzwanzigtausend Soldaten erzwungen, doch die Rebellen verschärften die kritische Lage nur.

Wie dem auch sei, Miles war geneigt, den Zwischenfall auf sich beruhen zu lassen, wenn denn nur Argonaut unbeschadet geblieben war.

Die Dämmerung ging in dunkle Nacht über, und seine Nachsicht verwandelte sich wieder in zunehmenden Groll. Die Fesseln scheuerten an den Gelenken. Während sich in manchen Gliedern Taubheit breit machte, gerieten andere in Krämpfe. Der Knebel spannte die Lippen und ließ den Mund austrocknen. Er fing zu zittern an, denn es war eine kalte Januarnacht.

Miles fluchte und versuchte unter großen Schmerzen, die Fesseln zu lockern und seine Hände zu befreien.

Als er Geräusche von draußen vernahm, hielt er inne. Endlich, dachte er.

Sogleich aber stellten sich Zweifel ein. Konnte er wirklich Hilfe erwarten? Immerhin war er Zeuge einer verbrecherischen Tat.

Knarrend öffnete sich die aus den Angeln geratene Tür. Eine schwarze Gestalt zeigte sich im Ausschnitt vor dem Hintergrund der dunkelgrauen, nebelverhangenen Nacht. Langsam schlich sie näher, und es war nur zu hören, wie der Saum des Umhangs über den Boden streifte.

Etwas wurde darauf abgelegt, was ein Klicken verursachte.

Eine Waffe?

Obwohl wehrlos und ohnmächtig, machte sich Miles auf einen Kampf gefasst.

Zwei

Es war eine Laterne. Als eine der Blenden geöffnet wurde, strömte Kerzenlicht durch den Raum und umkränzte die verhüllte Gestalt, die die Laterne nun auf ein wurmstichiges Bord an der Wand stellte, mit goldenen Strahlen.

Die Silhouette und die Form der Hände verrieten Miles, dass sich unter dem Umhang eine Frau verbarg.

Erleichtert stieß er einen Schwall Luft aus. Clever, dachte er, dass man ihn auf diese Weise befreite, denn wenn er auch noch so wütend war, würde er sich doch nie an einer Frau vergreifen. Womöglich war sie auch noch hübsch und gefällig. Wetten?

Sie streifte die Kapuze zurück, und es zeigte sich, dass er richtig geraten hatte. Dunkelrote Locken, ein schmales Gesicht und wunderschöne dunkle Augen voll warmherziger Besorgnis.

„Oh, welch ein bedauerlicher Anblick!“, rief sie aus und schlug die Hände vor der fülligen Brust zusammen, was ihr den Anschein einer barmherzigen Madonnenfigur verlieh. Ihre Stimme war die einer Magd, aber darum nicht weniger angenehm.

Er wollte etwas Höfliches sagen, woran ihn aber der Knebel im Mund hinderte. War sie etwa schwachsinnig? Sie stand reglos da und betrachtete ihn mitleidsvoll.

Als er sich mit kehligen Lauten bemerkbar machte, schnappte sie nach Luft und sagte: „Oh, Euer Mund ist verstopft, Sir! Herrje. Gleich werdet Ihr befreit sein, Sir. Macht Euch nur keine Sorgen.“

Sie eilte herbei, um ihm den Knebel aus dem Mund zu nehmen, doch anstatt sich von hinten zu nähern – was nur vernünftig gewesen wäre, da der Knebel im Nacken verknotet war –, trat sie vor ihn hin und beugte sich so tief herab, dass ihr Busen bis auf wenige Zoll an sein Gesicht heranreichte. Er war geradezu begraben unter weichem, warmem Fleisch, das einen süßen Duft verströmte.

„Oh, das Tuch ist schrecklich fest verknotet. Diese Bestien! Wie kann man nur so grausam sein?“

Sie rückte noch näher.

Gütiger Himmel, was ihm da entgegendrängte, war ein wahrhaft stattliches Gepränge. Sie trug ein altmodisches Mieder, das allein den unteren Teil der Brüste schürzte und diese nach oben drückte. Darüber lag nur der Stoff des Unterrocks, der vom häufigen Waschen dünn und fadenscheinig geworden war.

Miles war zwar nicht in Stimmung für amouröse Gefühle, doch sein Körper reagierte ganz von allein auf diese Pracht.

Für ein Mädchen vom Lande duftete sie betörend süß in einer warmen, weiblichen Note, die an Rosen erinnerte. Allerdings schien sie wirklich recht einfältig zu sein, denn noch immer machte sie sich an dem Knoten des Knebels zu schaffen und griff umständlich mit den Händen um seinen Kopf herum.

Er versuchte, ihr einen Tipp zu geben, stieß aber nur würgende, unverständliche Laute hervor.

Sie nestelte an dem Knoten im Nacken und schaute aus wunderschönen Augen auf ihn herab. Die langen Wimpern waren so dunkel und dick, als seien sie mit Ruß geschwärzt worden. Welche Farbe ihre Augen hatten, ließ sich im schwachen Kerzenlicht nicht erkennen, aber auch sie schienen pechschwarz zu sein, was ihnen den Ausdruck innigen Mitgefühls verlieh.

Ach was, dachte er und sah sich vom Anschein getäuscht. Wohl eher war sie, wie schon vermutet, stumpfsinnig und gestört. Er murmelte wieder, herrschte sie an.

„Oh je. Armer, armer Mann. Tut es so weh? Ich weiß nicht weiter. Oder doch? Mal sehen, ob ich von hinten besser an den Knoten herankomme.“

Sie trat um ihn herum und drückte seinen Oberkörper nach vorn. Wenig später war Miles vom Knebel befreit.

Er bewegte den schmerzenden Kiefer und sammelte Speichel, um den Mund zu befeuchten. „Zu trinken?“, ächzte er.

„Oh, ja. Natürlich, Sir!“ Aus einer Tasche ihres altmodischen, weiten Überrocks zog sie eine Flasche hervor. „Das wird Euch im Nu wieder zu Kräften bringen, Sir“, sagte sie und führte ihm die Flasche an die Lippen.

Gierig trank er daraus, fuhr aber plötzlich mit dem Kopf zurück, sodass sich ein Teil des Inhalts über seinen Rock ergoss.

„Was habt Ihr, Sir? Es ist bester irischer Whisky. Ich schwör’s beim Grab meiner Mutter.“

Miles hustete. „Keine Frage, gute Frau. Aber es ist nicht das, was mir jetzt gut täte. Gibt es kein Wasser?“

Sie sprang auf und drückte die Flasche mit beiden Händen an den Busen. „Wie dumm von mir! Augenblick, ich bin gleich wieder zurück, Sir.“

Sie stürzte zur Tür, blieb aber nach wenigen Schritten jählings stehen und erstarrte wie vor einem schrecklichen Dilemma. Ihr Blick ging zwischen der Flasche und Miles, der immer noch am Boden kauerte, hin und her, bis sie schließlich einen Entschluss fasste und den Whisky über dem Boden ausschüttete.

Miles sah sich bestätigt. Sie war einfältig, daran konnte kein Zweifel bestehen. Vielleicht hatte sie tatsächlich kein anderes Behältnis für Wasser zur Hand, aber warum zum Teufel war es ihr nicht in den Sinn gekommen, ihm die Fesseln abzunehmen, sodass er sich selbst auf den Weg zum Bach hätte machen können.

Er seufzte und wähnte wiederum jemanden im Hintergrund, der geschickt die Fäden hielt, denn noch viel unwahrscheinlicher als im Fall einer Frau war es, dass er, Miles, sich an einer Schwachsinnigen vergreifen würde. Andere dagegen mochten nicht lange zögern, wenn sich ihnen ein solch verlockender Anblick bot.

Hatten die Hintermänner auch daran gedacht?

Vielleicht war es Teil des Plans.

Wenig später war sie wieder zur Stelle und ließ ihn aus der Flasche trinken, diesmal frisches, kühles Wasser, wonach sein ausgetrockneter Mund lechzte.

„Vielen Dank, gute Frau“, sagte er und versuchte, möglichst behutsam zu sein, denn er wollte sie nicht erschrecken. „Vielleicht könntest du mir jetzt Hände und Füße losbinden.“

Sie ging in die Hocke und legte wie ein Kind einen Finger an die Lippen. „Nun ja, Sir, ich will offen sein. Man hat mir geraten, dass ich mich vor Euch in Acht nehmen soll. Ihr könntet womöglich gewalttätig werden.“

„Dann hätte dich vielleicht einer dieser kräftigen Lümmel begleiten sollen.“

„Darüber ist tatsächlich nachgedacht worden“, gestand sie und knabberte dabei an den Fingerknöcheln. „Dass auch Ihr verletzt wurdet, war nicht beabsichtigt, Sir.“

Miles schmerzte der Kiefer, so sehr presste er die Zähne aufeinander, doch er ahnte, dass dieses arme Mädchen Reißaus nähme, wenn er seine Wut erkennen ließe. „Verstehe“, sagte er, um sie zu beruhigen. „Ich verspreche, dich in Frieden zu lassen. Binde mich bitte los. Diese Stricke tun mir weh.“

Sie kaute immer noch an einem der Knöchel, stand dann aber auf und lupfte die Röcke. Darunter zeigten sich weiße Strümpfe und feste Schuhe, die zu einem einfachen Bauernmädchen, für das er sie gehalten hatte, nicht zu passen schienen. Und was zum Teufel tat sie da?

Der Saum der Röcke rutschte langsam höher, über wohl geformte, in Strümpfe gehüllte Waden, an einem einfachen Strumpfband unterm Knie vorbei und bis hinauf zum cremefarbenen, nackten Schenkel. Verwundert fragte er sich, wie weit diese Reise noch gehen mochte, als sie über einem Ledergurt endete, an dem ein Messer in einer Scheide steckte. Sie zog die Klinge, die so lang und gefährlich aussah, dass er unwillkürlich zurückschrak.

Lächelnd und das im Kerzenlicht blinkende Messer fest im Griff sprang sie auf ihn zu. Miles fluchte und versuchte, ihr auszuweichen, doch sie langte nach dem Strick zwischen seinen Füßen und hielt ihn zurück.

„Rührt Euch nicht!“, sagte sie heiter und setzte die Klinge an. Er spürte, wie sie den Strick durchtrennte, mit einer Leichtigkeit, die ihm bestätigte, dass die Schneide so scharf war wie vermutet.

Sie stellte sich hinter ihn. „Oh, Eure armen Handgelenke, aufgescheuert wie sie sind! Moment, gleich seid Ihr frei.“

Die Fessel fiel von ihm ab. Er brachte die Hände nach vorn und massierte, vor Schmerzen wimmernd, die wunden Stellen. Er versuchte aufzustehen, war aber so steif in den Beinen, dass er sich auf die Knie wälzte und an den rauen Steinen der Feuerstelle hoch hangelte. Mit wüsten Flüchen auf alles mehr oder weniger nützliche Stallvieh hinkte er durch den kleinen Raum und versuchte, Steifheit und Schmerzen von sich abzuschütteln.

Das Mädchen kauerte am Boden und hielt das Messer an den Busen gedrückt. Die nach oben gerichteten Spitze forderte den Gedanken an einen Phallus geradezu heraus.

Miles’ Schmerzen waren wie weggeblasen …

„Wollt Ihr, dass ich Euch die Beine massiere, Sir?“ Sie streckte eine Hand in seine Richtung aus, doch es war die Hand, die das Messer hielt.

Miles sprang entsetzt zurück, knickte im linken Bein ein und landete unsanft auf dem harten Boden. „Um Himmels willen, Mädchen, steck das Ding weg!“

Mit betroffener Miene stand sie auf, hob wieder die Röcke bis über den Schenkel an und ließ die Klinge langsam und andeutungsvoll in der Scheide verschwinden. Sie hatte mit Sicherheit mehr im Sinn als seine Befreiung von den Fesseln. Was Miles zu Gesicht bekam, wirkte mit Macht auf gewisse Körperteile, doch er fühlte sich nicht imstande, ihren Wünschen zu entsprechen.

Er mühte sich auf und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass die Schmerzen in den Beinen spürbar nachgelassen hatten. „Wo ist mein Pferd, Mädchen?“

„Der prächtige rotbraune Hengst, Sir? Vorm Shamrock. Das ist die Schänke im Dorf Foy.“

„Geht es ihm gut?“

„Oh ja, Sir. Er strotzt vor Kraft.“

Von der größten Sorge befreit, reckte Miles seinen Körper und betrachtete die Metze mit wachem Blick. Und bei Gott, sie war ein wahrhaft ansehnliches Wesen, recht groß für eine Frau, mit üppigen Rundungen ausgestattet und einem lieblichen, vollwangigen Gesicht.

Und wunderschönen, langen Beinen.

Wohl aber nicht ganz klar im Kopf.

Schimpf und Schande über diese Lümmel, dass sie ein so einfältiges Mädchen vorgeschickt hatten, um deren schmutzige Arbeit zu tun. Er berührte ihre Wange. „Was hast du mit diesen seltsamen Viechern zu schaffen? Sprich!“

Sie senkte die langen Wimpern. „Erwartet Ihr wirklich eine Antwort darauf, Sir?“, fragte sie und schmiegte sich, die dunklen Augen auf ihn gerichtet, wie ein Kätzchen an seine Hand. „Ihr werdet doch hoffentlich keine Klage einreichen, oder, Sir?“

Himmel. Deutlicher konnte es kaum gesagt sein. Sie bot sich ihm an, damit er Stillschweigen bewahrte.

Er war versucht, sehr versucht …

Er tippte mit dem Daumen an ihre Unterlippe und wünschte, dass sie den weichen Mund ein wenig für ihn öffnen würde. „Darauf werde ich dann verzichten, Schätzchen. Dir zuliebe sage ich nichts. Allerdings wird Mr Dunsmore inzwischen das Militär verständigt haben. Es sei denn, ihr habt ihn umgebracht.“

Sie sah ihn mit großen Augen voller Unschuld an. „Umgebracht? Bei den Heiligen Patrick und Bridget, er ist längst zu Hause und in Sicherheit. Ein bisschen gerupft vielleicht, aber beileibe nicht tot. Oh, nein.“

„Dann wird er spätestens morgen die Soldaten auf deine Freunde hetzen. Und du solltest dich besser irgendwo verstecken.“

Sie senkte den Kopf und zuckte mit den Lippen. „Das wird nicht nötig sein, Sir. Mr Dunsmore ist zwar ein Engländer und hat ein dunkles Herz, doch er wird sich hüten, die Soldaten in unsere Gegend zu schicken. Wenn Ihr keinen Ärger macht, wird es ruhig bleiben.“

Er hob ihr Kinn mit einem Finger an und suchte in ihren entwaffnenden Augen nach einem Hinweis auf Wahrhaftigkeit. „Du scheinst dir recht sicher zu sein, dass er schweigt. Warum? Und ich frage mich auch, wie ihr, du und deine Freunde, erreichen wollt, dass ich keine Klage einreichen werde.“

„Wir haben Euch doch kein Haar gekrümmt, Sir. Außerdem seid Ihr ein Ire. Und ich sehe Eurem lieben Gesicht an, dass Ihr von dem englischen Tyrannen ebenso wenig haltet wie wir.“

Erst jetzt bemerkte Miles, dass das Mädchen ihm etwas vormachte. Er trat einen Schritt zurück, um sie in Augenschein zu nehmen. „Ich halte nichts von Rohlingen, egal, ob sie irisch oder englisch sind.“

Sie krauste die Stirn und legte ihm eine Hand auf die Brust. „Würdet Ihr denn zulassen, dass man mich verhaftet und deportiert, Sir? Ich bin zu Euch gekommen, ohne Maske.“

Er ergriff ihre Hand, nicht nur, um sie zu kontrollieren, sondern auch, weil er sie an sich drücken und nicht wieder freigeben wollte. „Vielleicht war das ein Fehler von dir.“

„Wirklich?“ Sie berührte sein Gesicht mit der anderen Hand und gab ihm, die Lippen verführerisch geöffnet, einen flüchtigen Kuss auf die Wange, führte dann die Hand, die er mit der seinen umschloss, an ihre Brust, rieb sie über den Busen und sprach mit lächelnden Blicken eine Einladung aus.

Vielleicht aus Erleichterung darüber, dass er nicht länger in Gefahr schwebte, war ihm mit einem Male nach einer Frau zumute, besonders nach dieser. Er schlang ihr den Arm um die Taille. „Erstaunlich, wie du dir Sicherheit erkaufst, mein Schatz. Ich bin bereit, den Handel einzugehen, würde es aber vorziehen, mein Liebchen beim Namen nennen zu können. Wie heißt du?“

Sie zauderte. „Wäre es nicht töricht, Sir, Euch meinen Namen zu nennen?“

Mit seinen Lippen streifte er die ihm zugekehrte Wange. „Nur zu. Es würde mir ohnehin nicht schwer fallen, dich zu finden.“

Ihre Lippen suchten seinen Mund, und nach kurzem Zögern flüsterte sie: „Joy. Ich heiße Joy.“

Er schmunzelte. „Das bezweifle ich, aber der Name passt zu dir. Ich bin sicher, dass du vielen Männern Freude bereitest.“

Sie versteifte sich plötzlich. „Was? Wie könnt Ihr …?“

„Hast du nicht erst vorhin diesen blasierten Dunsmore auf ähnliche Weise bezirzt?“

„Ihr seid ein Schuft. Das habe ich nicht!“

Er widerstand ihrem halbherzigen Ringen. „Aber vermutlich ist er dazu noch nicht in der Lage.“

Er küsste sie sanft, schmeckte ihre Haut und erspürte mit der Hand, was ein Gefühl von heißer Erwartung in ihm aufleben ließ. Sie entspannte sich wieder und hieß ihn mit ihren Lippen willkommen. Gleichwohl glaubte er spüren zu können, dass sie ihm nicht aus freien Stücken zuflog, sondern ein Opfer zu bringen bereit war.

Seufzend und voller Bedauern rückte er von ihr ab. Als Vormund von Felicity Monahan hatte er in der hiesigen Dorfgemeinschaft einen besonderen Stand, und es würde ihn nur in Verruf bringen, wenn er von Joy annähme, was sie ihm anbot, ohne es wirklich selbst geben zu wollen.

Sie wusste nichts von seinen familiären Verpflichtungen und glaubte wahrscheinlich, dass er nur auf der Durchreise sei, dass sie ihn bestechen könnte und nie wiedersehen würde. Wenn er sich auf ein Geplänkel mit ihr einließe, erntete er damit womöglich die Feindschaft einer Familie, wenn nicht sogar des ganzen Dorfes. Und die konnte in Irland, was Dunsmore am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte, sehr gefährlich werden.

Er gab Joy einen Kuss auf die Hand. Mit einer solchen Geste ließen sich fast alle Frauen beschwichtigen, vor allem die der unteren Schichten. Falls sie tatsächlich zu den leichteren Mädchen der Ortschaft zählte, würde er vielleicht später noch einmal auf ihr Angebot zurückkommen, denn sie war so betörend wie kaum eine andere. „Ich fürchte, ich bin ebenso wenig wie Dunsmore imstande, dir gerecht zu werden, jedenfalls nicht heute Nacht, mein Schatz. Vielleicht ein anderes Mal.“

Sie protestierte nicht, hielt aber an seiner Hand fest. „Und Ihr werdet die Sache nicht zur Anzeige bringen, Sir?“

„Wenn Dunsmore nichts sagt, will auch ich schweigen.“

Sie küsste seine Hand mit fast religiöser Inbrunst. „Ah, danke, Sir, vielen Dank! Jesus und Maria mögen Euch beschützen.“

Sie übertrieb wieder. „Jesus, Maria und Joseph mögen dich beschützen“, antwortete er, wie es üblich war. „Wenn du mich jetzt bitte zu meinem Pferd führen würdest, süße Joy … Ich könnte dann endlich meinen Weg fortsetzen.“

„Ihr wollt weiter? Es ist schon spät, Sir. Ihr solltet in der Herberge übernachten. Dort ist auch Euer Pferd.“

„Ich dachte, es würde dir nicht gefallen, wenn ich länger in der Gegend bliebe.“

Der Blick, den sie ihm zuwarf, war alles andere als einfältig und zeugte davon, dass sie die Situation sehr genau einzuschätzen wusste. „Unsere Gesetzeshüter verfahren nicht gerade freundlich mit denen, die nachts unterwegs sind, Sir.“

Interessant. Wahrscheinlich fürchteten Joys Freunde, dass er, falls er den Soldaten in die Hände fiele, ausplaudern könnte, was ihm widerfahren war. Sie konnten natürlich nicht wissen, dass seine Reise schon bald zu Ende sein würde, denn Foy Hall lag gleich außerhalb der Ortschaft.

Er beschloss, auf Zeit zu spielen, neugierig darauf, was sonst noch zu erfahren sein mochte.

„Nun denn, süße Joy, bring mich zum Shamrock Inn.“

Sie nahm die Laterne vom Bord und klappte die Blende wieder zu, ehe sie die Tür öffnete und ihn auf den Weg zur Straße nach Foy führte. Es schien, dass sie fürchtete, einer Patrouille zu begegnen. Für Licht sorgte nur eine dünne Mondsichel, und Miles musste Acht geben, wohin er seine Füße setzte.

„Womit hat Dunsmore seine Abreibung eigentlich verdient?“, fragte er, als sie in die Straße einbogen.

„Womit hätte er verdient, dass er ungeschoren bliebe?“, entgegnete sie.

„Damit bin ich überfragt. Ich kenne ihn nicht. Er scheint ein Ehrenmann zu sein, vielleicht ein bisschen hochmütig.“

„Hochmütig. Ja, das trifft auf ihn zu. Bevor er Kathleen Craig geheiratet hat, war er ein kleiner, unbedeutender Hauptmann der englischen Streitkräfte.“

„Er hat also Geld geheiratet? Und ist englischer Herkunft. Nun, das sind wahrhaftig schlimme Verfehlungen.“

Sie warf ihm einen verärgerten Blick zu. „Der Kerl hat sich am Geld seiner Frau vergriffen, bis nichts mehr übrig war, und jetzt, da sie tot ist, bereichert er sich am Grundbesitz seines Sohnes und quetscht aus den Pächtern den letzten Penny heraus, ohne Rücksicht und Erbarmen.“

Die Ortschaft war erreicht. „Es soll häufiger vorkommen, dass Gutsherren das einfache Landvolk bluten lassen, mein Schatz. Aber vielleicht hat er wirklich eine Tracht Prügel dafür verdient. Ich würde allerdings gern erfahren, warum du dir so sicher bist, dass er den Vorfall nicht meldet.“

Sie blieb unter dem Schild der Herberge stehen, das quietschend im Wind schaukelte. In der Schankstube fiedelte jemand. Die Fensterläden waren jedoch zugezogen, sodass nur ein Lichtschimmer nach draußen drang. „Er hat Geheimnisse, die er nicht gelüftet wissen will.“

Miles bemerkte, dass sie ihre Kapuze über den Kopf gezogen hatte. Womöglich war sie am Ende doch nicht das leichte Mädchen der Ortschaft.

Er setzte sich auf den Rand einer steinernen Pferdetränke. „Wenn es dir gelingt, ihn an der Meldung eines Verbrechens zu hindern, könntest du ihn doch auch von seinen erpresserischen Machenschaften abhalten, oder?“

„Wohl kaum. Er ist ein Spieler, und solchen Leuten lässt sich nicht gut zureden. Bei denen ziehen nur schlagkräftige Argumente – wie die von heute Abend.“ Sie legte ihre Hand auf seinen Unterarm. „Glaubt mir, er ist ein schlechter Mensch. Bitte, verratet uns nicht.“

Sie war ein wahrhaft bezauberndes Wesen, und sein Körper erholte sich rasch. Er ergriff ihre Hand und erschreckte sie damit, doch sie wehrte sich nicht. „Du hast mir für mein Schweigen eine Belohnung versprochen, süße Joy.“

Er hob ihre Hand und küsste die Kuppe des Zeigefingers.

„Es ist spät geworden, Sir“, sagte sie und versuchte zaghaft, ihre Hand zurückzuziehen. „Ich müsste längst zu Hause sein.“

Er liebkoste den nächsten Finger und saugte daran. „Wissen deine Eltern nicht, was du treibst? Oder lebst du als Angestellte im Haus deines Herrn? Sag mir, wo ich dich erreichen kann –“, er steckte den Finger tief in den Mund und ließ ihn dann langsam wieder herausgleiten, „– wenn ich wieder zu Kräften gekommen bin.“

Sie wehrte sich, doch er ließ sie nicht los. „Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr nur dann Stillschweigen bewahrt, wenn ich mit Euch schlafe?“

Ihre Empörung ließ erkennen, dass sie nie daran gedacht hatte, ihn mit der Hingabe ihres Körpers zu bestechen. Vielleicht hatte sie geglaubt, dass er ihr in seinem zusammengestauchten Zustand nicht gefährlich werden konnte. Was für eine sonderbar naive Vorstellung für eine so tolldreiste Metze! Es reizte ihn zu erfahren, wie weit sie gehen würde und was dahinter steckte.

Er umfasste sie mit dem freien Arm und zog sie zwischen seine Beine. „Mit dir zu schlafen war nicht meine Absicht, alannah. Ich will dich schließlich nicht die ganze Nacht in Beschlag nehmen.“

Er hörte, dass ihr Atem stockte, denn ihr Gesicht war nur wenige Fingerbreit von dem seinen entfernt. „Nicht hier, Sir. Es würde sich herumsprechen …“

„Hast du einen guten Ruf zu verteidigen?“ Er gab ihre Hand frei und tat, wozu es ihn schon vom ersten Augenblick an gedrängt hatte. Er berührte eine ihrer Brüste. Ah, wie köstlich – so voll, warm und fest. Er beugte sich über sie und küsste die wogende Wölbung. „Ich werde dir nicht schaden. Mein Wort darauf, Joy. Bist du einem dieser Tiere versprochen? Ist er einverstanden damit, dass du für ihn und seine Kumpane bezahlst? Oder wird er mir nachstellen, um Rache zu üben?“ Sein Daumen fand und streichelte ihre Brustwarze, die sich bereits aufgerichtet hatte.

Zitternd wich sie zurück. „Ich bin keinem Mann versprochen.“ Sie gab ihren Widerstand auf. „Aber ich werde tun, was nötig ist, um ihnen zu helfen.“

Eine wahre aufopferungsbereite Patriotin. Und sehr verführerisch dazu. Wie sie auf seine Berührungen reagierte, ließ keinen Zweifel, dass auch sie ihre Lust daran hatte. Es sei denn, er redete sich in seiner Verzückung nur ein, dass sie willens war und nicht nur opferbereit.

„Mit Freude?“ Er reizte ihre empfindliche Haut.

Sie hielt seine Hand fest. „Sir, bitte! Nicht hier vor aller Augen.“

Er schaute sich auf der Straße um. „Vor aller Augen? Es ist keine Menschenseele zu sehen und außerdem stockdunkel. Wir könnten es hier miteinander treiben, ohne dass irgendjemand etwas davon mitbekäme. Wir könnten uns wenigstens küssen.“

Diesmal zeigte sie sich weniger anschmiegsam, doch er hob ihr Kinn an, küsste sie und brachte dabei all seine Erfahrungen ins Spiel in der Hoffnung, sie für sich zu gewinnen. Zum Teufel mit allen Fragen und mutmaßlichen Geheimnissen. Joys Küsse waren unwiderstehlich verlockend.

Endlich entspannte sie ihre Lippen und öffnete sie für ihn. Er flüsterte ihr aufmunternde Worte zu und erkundete streichelnd die wundervollen Kurven, während er ein wenig nachhalf, dass sie den Mund weiter öffnete. Er küsste sie innig, fand das Versprechen der süßen Kost bestätigte und spürte, dass sie auf sein Verlangen ansprach.

Dass seine Hand unter ihren Rock glitt, wurde ihm selbst erst bewusst, als sie einen spitzen Schrei ausstieß und sich von ihm löste.

Daran erinnert, dass er an diesem Ort kein Aufsehen erregen wollte, legte er ihr rasch die Hand auf den Mund. „Um Himmels willen, süße Joy, sei still!“

Als er sicher sein konnte, dass sie nicht schreien würde, zog er seine Hand zurück. „Zeig mir, wo mein Pferd steht, Liebes. Wenn ich es sehe, bin ich zufrieden und lasse meine blauen Flecken klaglos verheilen.“

Sie aber ergriff seine Hand, drückte fest zu und hinderte ihn daran, zu gehen. „Ihr braucht nicht nach Eurem Pferd zu sehen, Sir. Michael Flaherty kümmert sich darum, und er ist der beste Stallknecht weit und breit.“

Er riss sich von ihr los. „Um meine Pferde kümmere ich mich grundsätzlich selbst, vor allem, wenn es sich um ein so kostbares Pferd handelt wie Argonaut. Ich nehme an, der Stall ist hinten im Hof.“

Miles schickte sich an zu gehen, doch sie hielt ihn an seiner Jacke zurück. „Sir, bitte. Lasst mich jetzt nicht allein!“, flehte sie und warf sich ihm an die Brust. „So grausam könnt Ihr doch nicht sein, dass Ihr mich verrückt nach Euch macht und dann einfach im Stich lasst.“

Sie hatte ihn mit dem Gewicht ihres Körpers an den Rand der Pferdetränke zurückgestoßen, so wuchtig, dass ihm der Rücken schmerzte. „Liebchen, ich habe noch nie eine Lady verzweifelt zurückgelassen. Lass mich nur schnell einen Blick auf Argonaut werfen. Danach will ich dir gern gefällig sein.“

„Ich kann nicht warten. Nach Eurem Pferd könnt Ihr auch morgen sehen.“

Er ergriff ihre Hände und befreite sich aus der Umklammerung, was ihm schwerer fiel als gedacht, denn sie war für ihre Größe überraschend stark. „Genug“, herrschte er sie an. „Oder ich werfe dich zur Abkühlung in den Trog – was allerdings jammerschade wäre.“

Ihr Atem ging so schwer, dass es schien, als schluchzte sie. „Bitte …“

So flehentlich umworben, hätte er seine Selbstbeherrschung fast verloren und nachgegeben, aber Argonaut … Er musste nach ihm sehen.

Er legte ihr einen Arm um die Schulter und lenkte sie auf den Weg, der um die Schänke herumführte. „Geduld, a muirnín, gleich erfülle ich dir alle deine Wünsche. Komm. Leuchte mit der Laterne, damit wir den prächtigen Burschen finden.“

Sie schien sich ein wenig beruhigt zu haben und öffnete die Blende vor der brennenden Kerze. Der Stall war in mehrere Boxen unterteilt. In zweien standen schwere Kaltblüter. Gleich daneben fand er Argonaut.

Das Pferd wieherte zum Gruß und drückte Miles die Nüstern an die Brust. Er tätschelte es liebevoll. „Dir ist es offenbar besser ergangen als mir, nicht wahr?“ Dann sah er, dass der Hinterlauf verbunden war, nicht etwa mit einer Bandage, sondern mit einem feuchten Umschlag …

Seine Erregung war wie weggeblasen. Er sprang in die Box und untersuchte den Schaden, führte das Pferd nach draußen und sah, dass es lahmte. „Zum Teufel noch eins!“

Wütend packte er die Frau bei den Schultern. „Du und deine Vasallen, ihr habt mein bestes Pferd ruiniert.“

„Wir wollten ihm kein Leid zufügen.“

„Kein Leid zufügen? Ich habe gesehen, wie einer von euch mit einer Keule draufgeschlagen hat. Falls Argonaut einen bleibenden Schaden davonträgt, werde ich dafür sorgen, dass ihr alle nach Botany Bay kommt.“

Brüskiert richtete sie sich zur vollen Größe auf. „Verstehe. Wir zählen nicht. Euch geht es nur um Pferde und den Preis, den sie in England einbringen“, sagte sie mit verächtlicher Miene, die auch einer irischen Königin des Altertums gut zu Gesicht gestanden hätte.

Er stieß sie von sich. „Die meisten Pferde sind in der Tat wertvoller als die meisten Menschen, als Huren allemal.“

„Huren! Verflucht sei Eure schwarze Seele! Ich bin keine Hure.“

„Du hättest doch ohne zu zögern die Beine breit gemacht, um zu verhindern, dass ich das hier sehe. Dass ich eure Possen zur Anzeige bringe. Für mich ist das Hurerei.“

Sie stieß ein zorniges Lachen aus. „Ihr hattet keine Bedenken, ein solches Angebot anzunehmen. Ist das etwa nobler?“

Er wandte sich seinem Pferd zu. „Bete, dass es wieder gesund wird, süße Joy. Wenn nicht, wird jemand dafür büßen.“

„Mick sagt, dass es nichts Ernstes ist und morgen schon alles sehr viel besser aussieht. Wenn Ihr doch nur so lange gewartet hättet. Uns beiden wäre viel Ärger erspart geblieben. Warum zum Teufel seid Ihr auf mein Angebot nicht eingegangen?“

Als er sich wieder zu ihr umdrehte, war er von ihrem Anblick überwältigt. Das vom Kerzenlicht beschienene dunkelrote Haar schien Feuer gefangen zu haben, und der zornige Stolz machte sie groß und erhaben. Verflucht, er begehrte sie immer noch.

„Es tut weh, nicht wahr? Mein Schatz, du hättest mich nicht davon abhalten können, nach Argonaut zu sehen, auch nicht als Helena von Troja, als die keltische Deirdre oder die Schwestern Gunning in einer Person. Zugegeben, mir sind meine Pferde wichtiger als die meisten Menschen, insbesondere diejenigen, die wehrlose Männer überfallen.“

Bevor sie darauf antworten konnte, ging er zu seinem Pferd in die Box. In diesem Moment öffnete sich die Tür zur Schänke. Licht und Gesang fluteten über den Hof. „Wer da? Oh, Ihr seid es, Miss Felicity. Wo ist der Fremde?“

Miles erstarrte. Nach kurzem Zögern trat er ins Licht. „Hier ist er.“ Und an die junge Frau gewandt: „Felicity?“

Sie zuckte mit den Achseln. „Ein anderes Wort für Joy.“

„Ich bin sicher, du bist allen, die dich kennen, eine große Freude. Felicity Monahan, wenn ich mich nicht irre.“

Sie sagte nichts, aber ihre dunklen Augen zeigten sich beunruhigt.

„Du bist wahrhaftig eine sehr interessante junge Frau. Gestatte, dass ich mich vorstelle. Ich bin Miles Cavanagh, dein rechtmäßiger Vormund.“