Kapitel 1
Hadrian Ames, der achte Duke of Clayton, schloss die Tür zur lauten Gaststube und blickte sich übellaunig in dem engen Privatsalon um. Diese Zwangspause brachte seinen ganzen Zeitplan durcheinander. Er war im Morgengrauen von London weggefahren, um pünktlich zum Dinner bei der Familie seiner zukünftigen Braut zu sein.
Doch ein Eissturm hatte ihn gezwungen, in diesem heruntergekommenen Gasthof zu übernachten. Auch für den Postillion und die Vorreiter wäre es zu gefährlich gewesen, bei Nässe und eisglatten Wegen die letzten zwölf Meilen durch die Hügel des südlichen Warwickshire zurückzulegen. Und so hatten sie nach einem langen Tage mit mehreren Pferdewechseln hier Halt gemacht.
Während der Eisregen gegen die Fenster des kleinen Salons prasselte, zog Hadrian seinen durchnässten Mantel aus und hängte ihn an einen Wandhaken. Dann nahm er auf einem knarrenden Holzstuhl am Kamin Platz, um auf das Abendessen zu warten. Im Zimmer roch es muffig und verraucht. Er streckte die Beine aus und versuchte, seine in Stiefeln steckenden Füße am schwachen Kaminfeuer zu erwärmen.
Um sich die Zeit zu vertreiben, holte er sich eine Zeitung von einem Tisch. Das Lokalblättchen war mehrere Wochen alt, doch ihn interessierten alle örtlichen Nachrichten, da er seine Kindheit in dieser Gegend verbracht hatte. Er überflog gerade einen Bericht über die Ernteerträge des vergangenen Jahres, als es klopfte.
Noch bevor er Herein sagen konnte, schwang die Tür auf, und ein Mann mit einem runzligen Gesicht trat ein. Er war tiefschwarz gekleidet und trug die spärlichen weißen Haarsträhnen über den fast kahlen Schädel gekämmt. In einer Hand hielt er ein Tablett mit mehreren zugedeckten Schüsseln.
Hadrian warf einen Blick über den Rand der Zeitung. „Ah, Chumley. Sie bringen mir bestimmt meinen Kaffee.“
„In diesem nichtswürdigen Etablissement war keiner zu bekommen, Durchlaucht. Daher habe ich eigenhändig einen Krug Glühwein zubereitet, denn das Küchenpersonal hier ist von bestürzender Unfähigkeit.“
„Sag nicht, du hast eine von den Flaschen mit Burgunder vergeudet, die ich aus meinem Weinkeller mitgebracht habe.“
„Aus gesundheitlichen Gründen war es notwendig“, erwiderte der Kammerdiener und stellte das Tablett ab. „Sie dürfen bei diesem scheußlichen Wetter keine Erkältung riskieren, Durchlaucht. Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass man sich vor Ostern nicht in den Norden wagen sollte.“
Hadrian störte sich nicht an dem verdrießlichen Ton. Chumley hatte schlechte Laune, seit er vom Zweck dieser Reise erfahren hatte. Hadrian drängte sich sogar der Verdacht auf, der Diener könnte aus Trotz den Wein gepanscht haben. Doch er übte Nachsicht mit dem Mann, der schon vor Hadrians Geburt Kammerdiener des alten Duke gewesen war. Seit Hadrian dann im Alter von fünf Jahren die Erbfolge angetreten hatte, stand Chumley in seinen Diensten. Es war sehr unwahrscheinlich, dass er auf seine alten Tage noch die Griesgrämigkeit ablegen würde.
Der Duke ließ sich einen Becher Glühwein reichen und ertrug tapfer den Kräutergeschmack. „Wir haben schon die zweite Märzwoche. Da hätte doch niemand mehr mit einem Eissturm gerechnet.“
Chumley schnaubte nur, entfaltete ein weißes Leinentuch und breitete es über den zerschrammten Holztisch. Für unvorhergesehene Aufenthalte nahm der Kammerdiener derartige Dinge immer mit auf die Reise, doch den Kaffee hatte er offensichtlich vergessen. Mit penibler Sorgfalt legte er die Serviette und das Silberbesteck zurecht, bevor er die Gerichte auf den Tisch stellte und die Servierhauben abnahm.
„Abscheulich!“, murmelte er.
„Was ist denn nun schon wieder?“, fragte Hadrian und blickte von seiner Zeitung auf.
„Die Wirtin hatte kein Brathühnchen und noch nicht einmal ein Beefsteak anzubieten. Während all der Jahre im Dienst musste ich einem Duke of Clayton noch nie so einen Schweinefraß vorsetzen.“
Vom köstlichen Duft angelockt, nahm Hadrian am Tisch Platz und warf einen Blick in eine der Schüsseln. Darin befanden sich dicke Kartoffelstücke und Fleisch in einer sämigen braunen Sauce. Bei dem Anblick knurrte ihm der Magen. „Das wäre aber was für verwöhnte Schweine“, scherzte er.
„Pah! Dieses Wirtshaus ist wohl kaum das Richtige für jemanden von Ihrem Stand, Durchlaucht. Die Dienstboten hier sind schlampig, und die übrigen Gäste kann man beim besten Willen nur als Gesindel bezeichnen. Wenn Sie dem Wunsch Ihrer Mutter nachgekommen und in London geblieben wären …“
„Das hatte meine Mutter nicht zu entscheiden.“
„Ohne Ihre Stellung als Oberhaupt der Familie anzweifeln zu wollen, Durchlaucht, darf ich mir erlauben zu bemerken, dass die Duchess nur Ihr Bestes will.“
Während er einen Happen des schmackhaften Hammeleintopfs probierte, dachte Hadrian, dass die Vorstellung seiner Mutter von dem, was das Beste für ihn sei, den albernen Liebesromanen entsprang, für die sie so schwärmte. Als sie von seinen Heiratsplänen erfuhr, hatte sie geschmollt und gefleht. Sie hatte ihm vorgeworfen, die Liebe mit Füßen zu treten und genauso hartherzig zu sein wie sein Vater. Sie war sogar in Tränen ausgebrochen, was ihm besonders nahegegangen war. Nur ungern hatte er ihr empfindsames Herz verletzt, doch er musste fest bleiben und ihr klarmachen, dass sein Entschluss, Lady Ellen zu heiraten, unumstößlich war.
Anscheinend hatte sie jedoch Chumley zu ihrem Sprachrohr gemacht.
Die wohlschmeckende warme Mahlzeit hatte Hadrians Stimmung gehoben. Als er die gerunzelte Stirn des Kammerdieners bemerkte, sagte er: „Na los, Mann, spucken Sie es aus und fertig. Ich möchte nicht, dass Sie meinetwegen Magenschmerzen bekommen.“
Chumley schnaufte kurz und erwiderte: „Ich bin nun einmal der gleichen Auffassung wie die Duchess. Nach Meinung Ihrer Mutter sind Sie nicht mehr an die alte Vereinbarung zwischen Ihrem Vater und seinem Cousin, Lord Godwin, gebunden. Dynastische Ehen waren früher gang und gäbe, doch in unserer modernen Zeit sind sie überholt.“
„Aber praktisch, denn sie ersparen einem Mann die Mühe, sich durch ein Meer von ehrgeizigen Müttern mit ihren dümmlich grinsenden Töchtern zu kämpfen.“
Der alte Diener schüttelte betrübt den Kopf, während er Brot und Käse auf einem Teller anrichtete. „Wie dem auch sei, die Heirat wurde vereinbart, als Sie und Lord Godwins älteste Tochter noch Säuglinge waren. Und als Lady Audrey vor zehn Jahren mit diesem Prediger durchbrannte, wurden damit Ihre Verpflichtungen hinfällig.“
Hadrian war nicht traurig darüber gewesen, dass die Heirat mit Audrey, seiner Cousine zweiten Grades, nicht zustande gekommen war. Sie war zwar hübsch, aber auch sehr ernsthaft gewesen, und wenn sie nicht gerade die Nase in ein Gebetbuch steckte, schimpfte sie mit ihm, weil er so gar nicht nach geistlicher Vollkommenheit strebte. Wenigstens hatte sie keine Ahnung von den diskreten Affären gehabt, die einen Großteil seiner Studienzeit in Oxford in Anspruch nahmen. Mit achtzehn war er noch nicht bereit gewesen, sich die ehelichen Fesseln anlegen zu lassen.
Jetzt sah das anders aus. Er hatte sich die Hörner abgestoßen und war reif genug, um solide zu werden.
Hadrian brach einen Kanten Brot ab und bestrich ihn mit Butter. „Man sollte doch meinen, Sie wären froh, dass ich den Wunsch meines Vaters erfüllen möchte. Jedenfalls wird es Zeit, dass ich eine Familie gründe, und Lady Ellen ist als Ehefrau ebenso gut wie jedes andere wohlerzogene Mädchen.“
„Dann hätten wir doch auf diese lange Reise verzichten können“, beharrte Chumley. „Lord und Lady Godwin kommen ohnehin mit ihrer Tochter für die Saison nach London. Dort könnten Sie ihr ausgiebig den Hof machen.“
„Es ist aber besser, wenn das fern von neugierigen Blicken geschieht. Lady Ellen könnte unsicher sein, weil sie noch nicht in die Gesellschaft eingeführt wurde. Außerdem war sie erst zwölf, als wir uns das letzte Mal gesehen haben.“
Der Diener füllte Hadrians Becher nach. „Ihre Mutter befürchtet, dass Lady Ellen die Rolle einer Duchess nicht ausfüllen kann, weil sie ja fast noch ein Schulmädchen ist.“
„Meine Mutter hat auch mit achtzehn geheiratet.“
„Wenn ich mir gestatten darf, genau das ist einer der Gründe, warum sie Ihnen von der Heirat abrät, Durchlaucht.“
Hadrian wischte sich den Mund mit der Serviette ab und warf dem Kammerdiener, der sich stocksteif neben dem Tisch postiert hatte, einen durchtriebenen Blick zu. „Aha, da sind wir also beim Kern der Sache. Meine Mutter hat nichts gegen das Alter meiner Braut, sondern gegen deren Vater. Sie hegt noch immer einen Groll gegen Cousin Godwin.“
„Können Sie ihr das verdenken, Durchlaucht? Sie hat nicht nur ihren Mann, sondern auch Sie verloren. Im zarten Alter von fünf Jahren hat man Sie ihren zärtlichen Armen entrissen und unter die Vormundschaft Lord Godwins gestellt. Sie haben Ihre Kindheit in einem ganz anderen Teil des Landes verbracht.“
„Vierundneunzig Meilen sind doch nicht die Welt. Und ich habe sie zweimal im Jahr besucht.“
Jeweils für eine Woche zu Ostern und im August hatte Lord Godwin Chumley damit beauftragt, Hadrian zu einem Besuch seiner Mutter nach London zu begleiten. Für Hadrian waren viele schöne Kindheitserinnerungen damit verbunden: Zirkusvorstellungen, Bootsfahrten auf der Themse, ein Besuch der Menagerie mit Löwen und Bären im Tower. Sie hatte ihn mit so viel Spielzeug, Büchern und anderen Geschenken überhäuft, dass er bei seiner Rückkehr nur eines davon behalten durfte. Der Rest wurde für mildtätige Zwecke gespendet, da Godwin Verzicht und Sparsamkeit als Tugenden betrachtete.
Hadrian hatte sich oft über diese Unnachgiebigkeit geärgert, doch heute wusste er den Wert seiner strengen Erziehung zu schätzen. Während andere Adlige ein Vermögen beim Glücksspiel verloren oder sich duellierten, hatte er sich den Ruf eines bedachtsamen Mannes erworben. Er vermehrte lieber seinen Wohlstand als ihn zu vergeuden.
„Wenn ich bei meiner Mutter aufgewachsen wäre“, fuhr er fort, „hätte sie mich genauso verhätschelt wie Lady Elizabeth. Ich hätte mich zu einem trägen Müßiggänger entwickelt, der keine Ahnung davon hat, wie man Güter verwaltet. Nun sehen Sie mich nicht so böse an, Chumley. Sie wissen genauso gut wie ich, dass meine Schwester ebenso hohlköpfig ist wie meine Mutter.“
„Mir scheint eher, Durchlaucht, dass Sie gut daran täten, auf die Stimme der Erfahrung zu hören. Die Duchess weiß genau, wie es ist, als junge, naive Lady vom Vater in eine Ehe gezwungen zu werden.“
„Sie irren sich, wenn Sie annehmen, Lord Godwin habe seine Tochter gezwungen“, entgegnete Hadrian ziemlich unwirsch. „Ich bin in seinem Haushalt aufgewachsen, und auch wenn Lady Ellen zehn Jahre jünger ist als ich, weiß sie, dass ich kein übler Kerl bin.“
„Fast zwölf Jahre jünger, und sie war noch ein Kind, als Sie volljährig wurden und fortgezogen sind.“
„Ja, nun gut, aber ich habe sie seitdem ein- oder zweimal gesehen. Oft genug, um zu wissen, dass sie alle Eigenschaften mitbringt, die ich mir vorstelle.“
Der Diener blickte ihn zweifelnd an. „Alle, Durchlaucht? Darf ich mir die Bemerkung erlauben, dass für die Duchess Liebe der wichtigste Beweggrund wäre. Sie glaubt, dass eine tiefe Zuneigung für eheliches Glück unerlässlich ist …“
„Es reicht! Die Entscheidung liegt nicht bei meiner Mutter – und auch nicht bei Ihnen“, erwiderte Hadrian und blickte den Diener ungehalten an. Er hatte genug von diesem fruchtlosen Gespräch. „Mit der Zeit wird sie erkennen, dass es so am besten ist. Und Sie auch. Und jetzt müssen Sie sich gewiss Ihren Pflichten widmen.“
„Sehr wohl, Durchlaucht.“
Mit zusammengepressten Lippen verbeugte sich Chumley, bevor er Hadrians Mantel vom Haken nahm. Als er zur Tür hinausschlurfte, wirkte er eher besorgt als gekränkt.
Das ärgerte Hadrian. Warum zum Teufel glaubten Chumley und die Duchess, er würde sich durch ihre Argumente beeinflussen lassen? Für einen Mann seines Formats war die Ehe ein Zweckbündnis und keine Fantasterei wie in einem Frauenroman.
Liebe, was für ein Blödsinn!
Um sich abzuregen, ging er die Eigenschaften durch, die für eine ideale Ehefrau unverzichtbar waren. Natürlich musste sie attraktiv und von makelloser blaublütiger Abstammung sein. Wünschenswert wäre eine bescheidene, nicht zu schwatzhafte junge Dame. Schließlich hatte er nicht die Absicht, eine scharfzüngige Xanthippe zu ehelichen.
Lady Ellen schien in vollkommener Weise seinen Vorstellungen zu entsprechen, und bei diesem Aufenthalt wollte er seine Vermutungen überprüfen, bevor die Saison begann. Er war froh, dass Lord Godwin ihn in einem Brief um den Besuch gebeten hatte.
Begleitet vom Knacken des Feuers und dem Prasseln des Eisregens gegen die Fensterscheiben beendete Hadrian zufrieden seine Mahlzeit. Er freute sich darauf zu heiraten, da er seit Jahren als beste Partie der feinen Gesellschaft galt und auf Bällen, Abendgesellschaften und Festen von Horden weiblicher Wesen bedrängt wurde, die glaubten, sein Herz mit alberner Koketterie gewinnen zu können. Er war es leid, all die eifrigen Debütantinnen abzuwehren, die hofften, die Duchess of Clayton zu werden.
Zwar hatte er nichts gegen eine Liebelei einzuwenden, die ihm die Tür zum Schlafzimmer einer schönen Frau öffnete, doch im Allgemeinen betrachtete er die Damen der Gesellschaft als oberflächliche Geschöpfe, die nichts anderes als Mode und Klatsch im Kopf hatten. Daher hatte er beschlossen, den Nachstellungen ein Ende zu setzen und zu heiraten. Es lohnte sich nicht, auf die eine Ausnahmefrau zu warten, die es doch nicht gab. Sobald er den Ring am Finger hatte, wäre er sicher vor ehrgeizigen Müttern, die ihm ihre langweiligen Töchter aufdrängten.
Zufrieden widmete sich Hadrian wieder der Zeitung. Er war gerade in den Bericht über eine örtliche Bürgerwehr vertieft, als sich der Türknopf knarrend drehte.
„Sie schon wieder, Chumley? Ich bin jetzt nicht in der Stimmung, zu …“
Er blickte auf und verstummte mitten im Satz. Ein etwa sechs bis sieben Jahre alter Junge kam hereingesaust und drückte die Tür hinter sich zu. Er trug ein Hemd und Hosen aus handgewebtem Stoff, hatte einen strohblonden, zerzausten Schopf und einen Schmutzfleck auf der sommersprossigen Wange. Aus seiner Hosentasche ragte eine Schleuder.
Er blickte Hadrian mit seinen blauen Augen an und sagte: „Hallo, Mister.“
Hadrian zog eine Augenbraue hoch. Seiner groben Kleidung nach zu urteilen, gehörte der Junge zu einem der Dienstboten.
„Du hast hier nichts zu suchen, das ist eine Privatstube“, sagte er nicht unfreundlich.
„Och, ich störe Sie auch ganz bestimmt nicht! Ich muss mich nur irgendwo verstecken.“
Ohne Hadrians Erlaubnis abzuwarten, begann der Junge den Raum nach einem geeigneten Versteck abzusuchen, doch in dem sparsam möblierten Zimmer gab es weder geeignete Vorhänge, noch eine Truhe, in die er hätte kriechen können. Nachdem er seine Runde gedreht hatte, blieb er stehen und beäugte nachdenklich den Tisch.
Dann verschwand er plötzlich mit einem triumphierenden Lächeln unter dem Tischtuch und kauerte sich zu Hadrians Füßen zusammen.
„He, Kumpel, das ist der allerbeste Platz!“, kam seine gedämpfte Stimme von unten.
Was zum Teufel …?
Verdutzt ließ Hadrian die Zeitung sinken. Er war es gewöhnt, dass man ihm gehorchte, doch dieser Bengel drückte sich gegen seine Beine, wobei er wahrscheinlich schmutzige Fingerabdrücke auf Hadrians gewienerten Stiefeln hinterließ.
Er hob eine Ecke des Tischtuchs, um dem Jungen einen strafenden Blick zuzuwerfen. Unter dem kleinen Tisch war nur wenig Platz, und das lange Tischtuch hing wie ein Zelt bis fast auf den Boden. Unversehens musste er daran denken, wie er sich im selben Alter vor seinem Kindermädchen versteckt hatte.
Die Erinnerung amüsierte Hadrian, doch er durfte nicht lachen, wenn er seine Autorität wahren wollte. Mit strenger Stimme sagte er: „Du kannst hier drin nicht spielen. Geh nach draußen.“
Das sommersprossige Gesicht nahm einen flehenden Ausdruck an. „Aber wir spielen doch Verstecken, und hier findet sie mich nie.“
„Wer? Ich wünsche nicht, dass eine ganze Horde Kinder hier hereinplatzt.“
„Ganz bestimmt nicht, Mister, das verspreche ich Ihnen!“, versicherte der Junge und legte in einer drolligen Geste die Hand aufs Herz.
„Rede kein dummes Zeug“, erwiderte Hadrian in bestimmtem Ton, ohne sich seine Belustigung anmerken zu lassen. „Ich sage es jetzt zum letzten Mal. Wenn du nicht auf der Stelle verschwindest, muss ich …“
Es klopfte an die Tür. Hadrian blickte kurz auf und richtete seinen Blick dann wieder auf den kleinen Übeltäter unter dem Tisch. Der Junge schaute ihn mit großen Augen an, und sein ganzer kleiner Körper zitterte vor Aufregung. Er machte sich noch kleiner und bat: „Bitte, Sie dürfen mich nicht verraten! Es ist nur für eine Minute. Und jetzt psst!“ Mit diesen Worten zog der Junge das Tischtuch wieder herunter. Hadrian war versucht, ihn beim Ohr zu packen und zur Tür hinauszubefördern. Doch es war zu spät, die Tür ging auf, und eine Frau trat ins Zimmer.
Bei ihrem Anblick stockte ihm der Atem, und die Welt schien zu versinken.
Das Wort hübsch traf es nicht annähernd. Sie war etwa Mitte zwanzig, hatte einen offenen Blick und eine ganz besondere Ausstrahlung, die sie von allen Damen, die er kannte, unterschied. Sie war groß und gertenschlank und trug den Kopf so hoch, als wäre sie stolz auf ihre hochgewachsene Erscheinung. Im Schein des Kaminfeuers sah er, dass sich einige pechschwarze Strähnen aus ihrem Haarknoten gelöst hatten und das Gesicht mit dem kecken Näschen und den rosigen Lippen umspielten. Ihr Teint besaß einen gesunden Schimmer, als hätte sie sich oft ohne Sonnenschirm an der frischen Luft aufgehalten. Gemessen an der Londoner Mode hätte sich ihr langärmeliges zimtbraunes Kleid mit dem schlichten runden Ausschnitt armselig ausgenommen, doch es unterstrich ihre weiblichen Kurven auf eine natürliche Art und Weise.
Hadrian überlegte, was an ihr ihn so in den Bann schlug. Er hatte im Laufe der Zeit viele schöne Frauen gesehen, doch ihr Anblick hatte ihn niemals derart im Innersten berührt. Vielleicht lag es an ihren Augen. Sie waren von einem dunklen, leuchtenden Grün und funkelten wie Smaragde in der Sonne, wenn sie lächelte.
So wie jetzt. „Verzeihen Sie mein Eindringen, Sir, aber ich suche nach einem kleinen Jungen.“
Ihre melodiöse Stimme besaß einen leicht fremdartigen Akzent, den er nicht sofort einordnen konnte. Es war weder Walisisch oder Irisch, noch Schottisch, und auch nicht der Tonfall Cornwalls. Er war so geheimnisvoll und bezaubernd wie die Frau selbst.
Als sie ihn fragend ansah, bemerkte Hadrian, dass er noch immer dasaß und sie wie ein Tölpel anglotzte. Sofort sprang er auf. Falls der schmuddelige kleine Kerl zu ihr gehörte, war sie bestimmt keine Angehörige der High Society. Dennoch fühlte er sich einer Dame gegenüber zu Höflichkeit verpflichtet.
Er verbeugte sich. „Ma’am.“
Sie schaute ihn kurz an, dann trat sie näher und blickte sich im Zimmer um. „Leo? Ich weiß, dass du hier drin bist. Ich habe dich hineingehen sehen, als ich die Treppe hinunterkam.“
Hadrian war sich unschlüssig. So sehr er dieses herrliche Geschöpf auch bewunderte, war er doch der Meinung, dass ein Gentleman niemals petzte oder die Geheimnisse eines anderen verriet. Besonders nicht gegenüber einem weiblichen Wesen.
Oder galt diese Regel nicht für ungehorsame Rangen wie Leo? Zum Glück blieb ihm die Entscheidung erspart, denn plötzlich sprang sie mit einem kleinen Schrei vor, hob das Tischtuch an und spähte darunter.
„Da bist du ja, du ungezogenes Kind!“, sagte sie lachend. „Da hast du dir aber ein gutes Versteck ausgesucht.“
„So gut war es auch wieder nicht. Schließlich haben Sie mich ja gefunden“, murrte Leo.
„Also komm jetzt sofort da raus“, sagte sie und sah zu, wie er unter dem Tisch hervorkrabbelte. „Und achte beim nächsten Mal darauf, dass deine Füße nicht herausgucken. Und jetzt entschuldige dich bitte bei dem Herrn dafür, dass du ihn beim Essen gestört hast.“
„Tut mir leid, Mister.“
„Ist schon gut“, sagte Hadrian, der schon vergessen hatte, dass er kurz zuvor mit dem Jungen geschimpft hatte.
„Manchmal denkt Leo nicht nach, bevor er etwas tut“, sagte die Frau entschuldigend. „Aber das versuchen wir gerade zu ändern. Jedenfalls danke ich Ihnen für Ihr Verständnis, Sir.“
Mit einem reizenden Lächeln beugte sie sich über den Tisch und streckte Hadrian die Hand entgegen.
Zu seinem Entsetzen wurde ihm klar, dass sie von ihm erwartete, ihr die Hand zu schütteln wie einem Mann. Einen solchen faux pas würde sich noch nicht einmal die vornehmste Dame der feinen Gesellschaft einem Mann seines Ranges gegenüber erlauben. Eine Dame reichte einem Herrn allenfalls die behandschuhte Hand zum Kuss, jedoch nicht ohne zuvor einen Knicks zu machen. Dennoch ergriff er ihre Hand und spürte die Wärme ihrer schlanken Finger.
„Es war mir ein Vergnügen“, murmelte er.
Die Berührung der seidenweichen Haut ihrer Hand brachte ihn völlig durcheinander, und ihm war zumute wie einem Schuljungen, der zum ersten Mal ein hübsches Mädchen trifft. Und das, obwohl er sich nicht ohne Stolz als einen Mann betrachtete, der seine Gefühle fest im Griff hatte und für die Reize des schöneren Geschlechts nicht allzu empfänglich war.
Seine Reaktion war ihr offensichtlich nicht entgangen, denn ihre Augen weiteten sich ein wenig, und eine leichte Röte überzog ihre Wangen. Dabei blickte sie ihn offen und mit einem gewissen Interesse an, als hätte auch sie die Anziehungskraft zwischen ihnen gespürt. Sie schauten einander für, wie es schien, eine Ewigkeit an, bis Hadrian das Gefühl hatte, in diesen herrlichen Augen zu versinken. Er verspürte den Drang, ihr Haar zu lösen und zuzusehen, wie ihr die schwarzen Locken auf Schultern und Busen fielen.
Erst als er einen Ruck spürte, merkte er, dass er noch immer ihre Hand hielt. Er ließ los, und sie trat einen Schritt zurück, wobei die Wärme ihres Lächelns sich zu einem Ausdruck formeller Höflichkeit wandelte. Sie sah den Jungen an, der an den Kamin getreten war und mit einem Reisigstöckchen im Feuer stocherte.
„Leg das weg und komm mit, Leo. Dein Bad wird kalt.“
Er warf das Stöckchen weg, blieb aber störrisch stehen. „Will nicht baden!“
„Sag es bitte richtig: Ich will nicht baden. Und außerdem musst du baden, weil du morgen deinen Großvater triffst.“ Sie nahm Leo bei der Hand und führte ihn weg, nicht ohne Hadrian noch ein atemberaubendes Lächeln über die Schulter hinweg zu schenken. „Guten Abend, Sir. Und entschuldigen Sie bitte nochmals die Störung.“
Gleich darauf traten sie auf den Korridor hinaus, und die Tür schloss sich hinter ihnen. Langsam verklang Leos Gemaule.
Hadrian brauchte einen Augenblick, um zu sich zu kommen. In der Luft lag noch ein Hauch ihres verführerischen weiblichen Dufts. Jetzt, da sie fort war, schien es ihm unerhört, dass eine Fremde ihn derart aus dem Gleichgewicht bringen konnte.
Ihre Haltung passte nicht zu einer Frau der unteren Klassen, also hatte er sich geirrt, als er den Jungen für das Kind von Dienstboten hielt. Wahrscheinlich war auch sie eine Reisende, die durch die Unbilden der Witterung gezwungen war, hier zu übernachten. Er hatte zwar keinen Ehering an ihrer Hand bemerkt, aber vermutlich wartete ihr Ehemann oben im Zimmer.
Mit logischen Erwägungen zerstreute er die Reste seiner seltsamen Verzauberung. Die Frau entsprach in keiner Weise seinen normalen Vorlieben, denn er mochte zierliche, elegante Frauen. Vielleicht war sie ihm so anziehend erschienen, weil er vor zwei Wochen seiner letzten Geliebten den Laufpass gegeben hatte und nun nach einer neuen Frau, die ihn interessieren könnte, Ausschau hielt. Doch er beschränkte seine Wahl strikt auf willige Witwen und diskrete Kurtisanen. Und nicht auf Mütter mit kleinen Kindern.
Er setzte sich wieder an den Tisch und nahm die Zeitung zur Hand, doch er konnte sich nicht mehr auf die Worte konzentrieren. Stattdessen blickte er nachdenklich in das verlöschende Feuer, während er über die faszinierende Begegnung nachgrübelte. Trotz ihres leichten Akzents verfügte sie über eine gute Ausdrucksfähigkeit, besaß natürliche Anmut und konnte ganz entzückend erröten.
Doch die Sache mit dem Handschlag war wirklich seltsam gewesen. Offenkundig war sie mit den Benimmregeln nicht vertraut, die vorschrieben, dass eine Frau vor einem Gentleman knickste. Selbst wenn sie nicht wusste, dass er der Duke of Clayton war, hätte sie ihn als bedeutenden Mann erkennen müssen. Er war deswegen nicht beleidigt, doch fragte er sich, was das über ihre Herkunft aussagte.
Ach, zum Teufel! Sie musste eben ein Geheimnis bleiben. Morgen würden sie beide in unterschiedliche Richtungen fahren und sich nie wieder über den Weg laufen. Und er würde keinen weiteren Gedanken an die flüchtige Begegnung mit der namenlosen Schönen verschwenden. Umso weniger, als er auf dem Weg zu seiner vollkommenen Braut war.
Kapitel 2
Am folgenden Morgen war Natalie Fanshawe gerade damit beschäftigt, alles für die Abreise vorzubereiten, als sie bemerkte, dass Leo aus dem kleinen Kämmerchen unter dem Dach verschwunden war. Gerade eben war er noch da gewesen und hatte mit seinem Miniatursegelschiff gespielt, und eine Minute später war er fort.
Vielleicht war es auch mehr als eine Minute gewesen. Wie lange hatte sie sich in Tagträumen verloren?
Nachdem sie einen Blaubeermarmeladenfleck auf seinem besten Hemd entdeckt hatte, schrubbte sie im ersten Morgenlicht vor dem einzigen Fenster daran herum. Leo musste ordentlich aussehen, wenn sie zum Haus seines Großvaters kamen, denn es hing so viel von diesem Zusammentreffen ab. Obwohl sie zuvor einen Brief geschickt hatte – genau genommen zwei, wenn man den vom letzten Sommer mitzählte -, wusste Natalie nicht, welcher Empfang sie erwartete. Sie hatte es nicht für klug gehalten, monatelang auf eine Antwort zu warten, denn für die Post war es eine lange und gefahrvolle Reise über den Atlantik, auch wenn der zweite Krieg zwischen England und Amerika vor Kurzem zu Ende gegangen war.
Die Zimmertür stand einen Spalt breit offen.
Sie ließ ihre Arbeit ruhen und spähte hinaus in den engen Korridor. Von Leo war nichts zu sehen. Der Duft nach frisch gebackenem Brot und gebratenen Zwiebeln driftete von unten herauf, und sie fragte sich, ob er ohne sie zum Frühstück gegangen war. Das hätte dem kleinen Schlingel ähnlich gesehen. Er hatte eine freiheitsliebende Ader, die sie abwechselnd amüsierte und entnervte.
Natalie ging ins Zimmer zurück, um sich ein warmes Umschlagtuch zu holen. Dabei schalt sie sich selbst, weil sie nicht besser auf den Jungen aufgepasst hatte. Sie war für ihn verantwortlich, und das war auch der Grund, warum sie die sechswöchige Reise über das Meer unternommen hatte. Sie hätte sich nicht in Gedanken mit einem Fremden beschäftigen dürfen, von dem sie nicht einmal den Namen kannte.
Seit sie dem Herrn am Abend zuvor begegnet war, ging ihr die Erinnerung an seine ausdrucksvollen grauen Augen und den festen Händedruck nicht mehr aus dem Sinn. Das war wirklich lächerlich, denn er war für ihren Geschmack viel zu geschliffen und hochfahrend, wie die arroganten britischen Aristokraten, von denen sie in ihrer Jugend gehört hatte. Dennoch hatte seine männliche Ausstrahlung ihr das Gefühl gegeben, als würde sie gleich dahinschmelzen. Sie hatte kaum Luft holen können, solange ihre warmen Hände einander berührt hatten.
Warum nur hatte sie ihm die Hand hinstrecken müssen?
An seiner hochgezogenen Braue war deutlich zu erkennen gewesen, dass sie irgendeine alberne Benimmregel verletzt hatte. Sie durfte nicht vergessen, dass es hier anders zuging als in Amerika. Sowohl ihr verstorbener Vater als auch ihre Freundin Audrey hatten sich häufig lebhaft über das Klassensystem in England ereifert, in dem die Stellung eines Menschen in der Gesellschaft durch die Geburt festgelegt wurde.
Wer war der Mann überhaupt?
Eine hochgestellte Persönlichkeit, daran bestand angesichts seiner vorzüglich sitzenden Kleidung und der überlegenen Haltung kein Zweifel. Wahrscheinlich hatte er erwartet, dass sie vor ihm knickste. Aber selbst wenn sie mit den entsprechenden Regeln vertraut gewesen wäre, hätte sie es nicht getan. Schließlich war sie nicht weniger wert als er. Ein höfliches Händeschütteln war völlig angemessen in Pennsylvania, und damit hatte es sich!
Lautes Gelächter aus dem unteren Stockwerk brachte Natalie wieder in die Gegenwart zurück. Schon wieder hatte sie vergessen, dass es ihre wichtigste Aufgabe war, sich um Leo zu kümmern. Es sah ihr gar nicht ähnlich, sich so ablenken zu lassen.
Sie zog die Tür ins Schloss und eilte die schmale Treppe hinunter, die zum vorderen Bereich des Gasthofes führte. Der Schankraum war voller Gäste, die an groben Holztischen ihr Frühstück einnahmen. Ein abgehetztes Dienstmädchen lief mit verrutschter Haube hin und her, schleppte Platten herbei und füllte Tassen nach. Durch den Sturm am Vortag war die Herberge bis unter das Dach besetzt, und Natalie konnte sich glücklich schätzen, wenigstens eine Dachkammer ergattert zu haben.
Sie blickte sich um, doch Leos flachsblonder Schopf war nirgendwo zu sehen. Ob er wieder in den Privatsalon gelaufen war? Die Vorstellung beunruhigte sie. Obgleich die Meinung eines Fremden sie eigentlich nicht zu bekümmern brauchte, wäre es ihr doch sehr peinlich gewesen, in seinen granitgrauen Augen als jemand dazustehen, der nicht auf ein Kind aufpassen konnte.
Einige Schritte am Empfangstisch vorbei und sie stand vor dem Privatzimmer. Durch die geöffnete Tür sah sie, dass es dort wesentlich ruhiger zuging als in der lärmerfüllten Gaststube. Außerdem war der Aristokrat zum Glück nicht anwesend. Nur ein älterer Diener in einem adretten schwarzen Anzug legte Silberbesteck auf dem weißen Tischtuch zurecht.
„Guten Morgen, Sir. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.“
Als er aufblickte, bemerkte sie, dass sein Gesicht so runzlig wie eine Backpflaume war. „Dieser Salon ist reserviert“, sagte er. „Und falls Sie gekommen sind, um Seiner Durchlaucht schöne Augen zu machen, werden Sie ebenso enttäuscht sein wie die anderen fünf plappernden Mädchen. Ich lasse es nicht zu, dass man ihn beim Frühstück stört.“
Seine Durchlaucht? In Amerika wurde allenfalls ein Erzbischof derart hochtrabend angeredet. Und da sie ihren letzten Penny darauf verwettet hätte, dass der hochnäsige Gentleman vom Vorabend kein Geistlicher war, wurde das Privatzimmer vielleicht heute von einem anderen Gast benutzt. Sie mochte nicht näher darüber nachdenken, warum sie bei dieser Vorstellung so enttäuscht war.
Mit den Worten: „Ich suche jemand anderen“, machte sie einen Schritt und hob das lange Tischtuch hoch, um einen Blick darunter zu werfen. Sie wusste nicht, ob sie verärgert oder erleichtert darüber sein sollte, dass Leo sich nicht dort versteckte.
Aber wo war er dann?
„Hören Sie, Miss, Sie dürfen den Tisch seiner Durchlaucht nicht anfassen.“
„Verzeihung. Haben Sie vielleicht einen sechsjährigen Jungen mit sandfarbenem Haar gesehen?“
„Wenn es so wäre, hätte ich das ungezogene Kind fortgeschickt. Und nun hinaus mit Ihnen!“
Der mürrische alte Herr kam mit einer Serviette wedelnd auf sie zu, um sie aus dem Zimmer zu scheuchen. Er zog ein so unglaublich saures Gesicht, dass Natalie es sich nicht verkneifen konnte, sich an der Tür noch einmal umzudrehen und ihm ein strahlendes Lächeln zu schenken. „Es tut mir leid, dass ich Sie belästigt habe, Sir. Ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Tag.“
Die Tür wurde ihr vor der Nase zugeschlagen. Was für ein Miesepeter! Nur gut, dass Leo nicht hierhergekommen und dem hochnäsigen Diener begegnet war. Noch immer überlegte sie fieberhaft, wo der Junge stecken mochte. Sie musste ihn finden, bevor die Postkutsche ankam, die sie an ihr Ziel bringen sollte. Seit ihr Schiff einige Tage zuvor in Southhampton angelegt hatte, war ihr klar geworden, dass die Königliche Post sich strikt an den Fahrplan hielt und auf niemanden wartete.
Ein rascher Blick auf ihre Taschenuhr zeigte ihr, dass noch nicht so viel Zeit vergangen war, wie sie befürchtet hatte. Ihr blieb noch mehr als eine Stunde, um Leo zu finden, zu frühstücken und ihr Gepäck nach unten zu befördern. Allerdings hatte sie die Erfahrung gemacht, dass mit einem Kind alles länger dauerte. Und wenn sie nicht rechtzeitig zur Abfahrt der Kutsche fertig waren, saßen sie womöglich noch einen weiteren Tag in diesem Gasthof fest. Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief wie gegen eine massive Wand. Während sie erschrocken nach Luft schnappte, bemerkte sie beinahe gleichzeitig, dass die Wand in Wahrheit die Brust eines Mannes war, dass er einen edlen blauen Gehrock und ein schneeweißes Halstuch mit einer Diamantnadel trug, und dass sein reiner männlicher Duft ihr auffallend vertraut vorkam.
Mit einem Blick nach oben erkannte sie, dass er es war. Der Gentleman vom vorherigen Abend.
Er packte sie bei den Oberarmen, um sie zu stützen, während ihre Hände unversehens auf seinen Schultern landeten. Natalie musste den Kopf ein wenig in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu sehen, was ungewöhnlich war, da sie ebenso groß wie die meisten Männer war. Von Nahem gesehen wirkten seine Augen noch faszinierender. Sie waren so grau wie der stürmische Atlantik im Winter, auch wenn Natalie im Augenblick einen warmen Schimmer darin ausmachen konnte.
Sein unbewegtes, markantes Gesicht war ein Muster an Männlichkeit, vom festen Kinn und den glattrasierten Wangen bis zu den dunklen Augenbrauen und der reichlich hochmütigen Nase. Er hatte karamellbraunes Haar, das ebenso gut gepflegt war wie der ganze Mann. An seinen Körper gepresst spürte sie den kräftigen Herzschlag an ihrer Brust und den Druck der langen muskulösen Beine.
Wieder hatte sie das Gefühl dahinzuschmelzen. Es durchdrang ihren Körper bis ins Innerste und machte sie ganz benommen. Dabei gehörte es sich für eine Frau von sechsundzwanzig Jahren ganz und gar nicht, in den Armen eines Fremden zu liegen, als seien sie ein Liebespaar.
Natalie machte sich von ihm los und trat ein paar Schritte zurück. Mit ein wenig Glück würde er nicht merken, wie rot sie geworden war. „Ich bitte um Verzeihung, Sir. Ich war in Eile und habe nicht auf den Weg geachtet. Es ist allein meine Schuld.“
„Lassen Sie mich raten. Ist Leo wieder entwischt?“
Sein angedeutetes Lächeln war entwaffnend. „Ja, leider“, antwortete sie. „Ich dachte, er würde sich vielleicht im Salon verstecken, aber dort war er nicht.“
Eigentlich sollte sie einem Fremden nicht ihr Herz ausschütten, dachte sie, doch sie konnte sich nicht mehr bremsen. „Ich habe ihn oben für ein paar Minuten aus den Augen gelassen, und als ich mich umdrehte, war er weg. Ich muss ihn finden, sonst verpassen wir die Postkutsche.“
„Ich verstehe. Wo ist denn Ihr Ehemann? Kann er Ihnen nicht suchen helfen?“
„Ehemann? Oh nein, ich bin nicht verheiratet, ich …“ Natalie verstummte, ärgerlich über sich selbst, weil sie verraten hatte, dass sie alleine mit einem kleinen Kind unterwegs war. Der Unbekannte betrachtete sie prüfend. Dass ein Mann sie mit unerwünschter Aufmerksamkeit belästigte, war das Letzte, was sie wollte. „Ich kümmere mich um Leo. Und nun entschuldigen Sie mich bitte, ich muss mich beeilen“, fügte sie hinzu.
Sie wollte an dem Mann vorbeischlüpfen, doch er vertrat ihr den Weg. „Haben Sie eine Idee, wohin er gelaufen sein könnte?“
„Wie ich Leo kenne, könnte er überall sein. Aber da er noch nichts gegessen hat, wollte ich in der Küche anfangen zu suchen.“
„Erlauben Sie, dass ich ihnen helfe.“
Die Vorstellung, dass dieser elegante Herr sie begleitete, missfiel Natalie. Es würde sie nur ablenken, wo sie es doch so eilig hatte. „Vielen Dank, aber das wird nicht nötig sein“, sagte sie bestimmt. „Ich bin sicher, Sie wollen sich auch auf den Weg machen.“
„Ich habe Zeit. Suchen Sie im Gasthof, dann werde ich mich bei den Stallungen umsehen. Die meisten Jungen mögen Pferde. Wir treffen uns in zehn Minuten draußen.“
Er machte kehrt und ging durch die überfüllte Gaststube davon. Das Stimmengemurmel wurde deutlich lauter, als er vorüberging, und einige Gäste blickten ihm nach. Besonders jüngere Frauen starrten ihn an, und ein stämmiges Mädchen sprang sogar auf und machte einen Knicks. Er nickte ihm höflich zu, bevor seine breitschultrige Gestalt durch die Tür verschwand.
Natalie spitzte die Lippen. Er strahlte wirklich eine Autorität aus, die Aufmerksamkeit erregte. Allerdings war es schon unverschämt, so zu tun, als hätte er hier das Sagen. Andererseits war es nett von ihm, dass er in den Ställen suchen wollte. Es würde sie nicht überraschen, wenn Leo sich hinausgeschlichen hatte, um den Stallknechten bei der Arbeit zuzusehen. In Amerika war der Junge oft in der Schmiede zu finden gewesen, wo er beim Beschlagen der Pferde zugeschaut hatte.
Sie eilte durch den engen Korridor zu der winzigen Küche auf der anderen Seite des Hauses. Dort mühte sich die Frau des Wirts damit, gleichzeitig Eier zu braten und Kartoffeln und Zwiebeln anzuschwitzen, während sie einem halberwachsenen Mädchen, das Brotscheiben auf dem Herd röstete, Anweisungen gab, um danach eilig den Tisch mit Steingutgeschirr zu decken. Natalie musste warten, bis die Wirtin die heißen Speisen aufgetischt hatte, bevor sie sich nach Leo erkundigen konnte.
„Der hat ‘n Stück Wurst gemopst, das will ich Ihnen nur sagen“, erklärte sie und fuchtelte mit dem Pfannenwender in der Luft herum. „Sie sollten besser auf den Schlingel achtgeben!“
„Setzen Sie es bitte mit auf meine Rechnung. Haben Sie zufällig gesehen, wohin er gelaufen ist?“
„Zur Hintertür raus, als ich ihn angeschrien hab. So einer braucht mal ‘ne richtige Tracht Prügel.“
Mit einer gemurmelten Entschuldigung verließ Natalie die Küche und lief in die Richtung, die Leo eingeschlagen hatte. Sie hätte ihn niemals aus den Augen lassen dürfen! Aber nun war sie ihm ja auf der Spur, und mit ein bisschen Glück war er bald wieder in ihrer Obhut.
Und in Zukunft würde sie besser auf ihn aufpassen.
Sie öffnete die Tür und trat auf den Hof, wo die Stallungen lagen. Nach dem Eissturm am Tag zuvor hatte sich das Wetter beruhigt. Die Sonne schien und hatte bereits die Eisschicht auf Dach und Bäumen abgetaut und den Boden in einen Morast verwandelt. Stallburschen spannten Pferde vor verschiedene Kutschen und Wagen. Von der Tür aus ließ Natalie ihren Blick schweifen, konnte Leo jedoch nirgendwo entdecken.
Ein kalter Tropfen fiel von der Dachrinne und landete auf ihrer Wange. Fröstelnd zog sie ihr Umschlagtuch enger um sich und überlegte, ob sie zum Stall hinübergehen sollte. Sie hatte keine große Lust, durch den Schlamm zu waten, der bei der morgendlichen Betriebsamkeit aufgewühlt worden war. Aber konnte sie sich wirklich darauf verlassen, dass dieser piekfeine Herr gründlich suchen würde?
Nein.
Mit geschürzten Röcken ging sie los und hielt sich dabei am Rand des Hofes, wo sie auf einem Streifen von niedergedrücktem Gras laufen konnte, ohne sich die Stiefeletten allzu sehr zu beschmutzen. Am Stall angekommen öffnete sie die Doppeltüren, trat ein und nahm den vertrauten Geruch nach Heu und Pferden wahr. Es dauerte einige Sekunden, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Mehrere Pferde reckten den Hals aus ihren Boxen, um an ihr zu schnuppern.
Links von ihr stieg gerade ein Mann eine Leiter herunter. Ihr Herz schlug schneller, als sie die hochgewachsene, attraktive Gestalt in den gelbbraunen Hosen und den schwarzen Stiefeln erkannte. Er sprang von der vorletzten Sprosse auf den Boden und wischte sich den Staub von den Händen.
Leider war er allein.
Rasch ging sie zu ihm hinüber und sagte kurz und bündig: „Die Köchin hat gesehen, dass Leo vor Kurzem durch die Hintertür hinausgelaufen ist. Konnten Sie ihn hier nicht finden?“
„Nein. Dabei habe ich in jeden Winkel geschaut, auch oben auf dem Heuboden.“ Indem er sich ein wenig Heu von seinem makellosen Gehrock bürstete, fügte er hinzu: „Ich habe auch die Stallburschen gefragt. Von denen hat keiner den kleinen Bengel gesehen.“
„Leo ist kein Bengel!“, entgegnete Natalie empört. „Er ist ein sehr lieber Junge und ungeheuer wissbegierig.“
Er zog eine Braue hoch. „Wie auch immer seine persönlichen Neigungen sein mögen, wenn er Ihnen einfach wegläuft, ist er ein Bengel.“
„Na schön. Guten Tag, Sir. Sie brauchen sich meinetwegen keine Mühe mehr zu machen.“
Wutentbrannt drehte sie sich um und stürmte hinaus. Ihr war so heiß geworden, dass sie die Kälte nicht mehr spürte. Der Teufel sollte diesen arroganten Mann holen! Sie hatte nicht um seine Hilfe gebeten; vielmehr hatte er sich ungefragt in ihre Angelegenheiten gemischt. Nun sollte er sich gefälligst um sich selbst kümmern.
Sie unterdrückte die leisen Gewissensbisse, die ihr wegen ihres harschen Urteils kamen, und konzentrierte sich wieder auf die Suche. Sie wollte keine Zeit auf Nebensächlichkeiten verschwenden.
Die Herberge lag am Rand eines Dorfes. Falls Leo auf Entdeckungstour gegangen war, konnte er in den zwanzig Minuten nicht sehr weit gekommen sein. Vielleicht wollte er sich die Geschäfte im Ort ansehen.
Ohne in die morastigen Wagenspuren in der Mitte der Straße zu treten, machte sich Natalie eilig auf den Weg ins Dorf. Sie kam an einer steinernen Rundmühle und mehreren strohgedeckten Häuschen vorbei und hielt stetig Ausschau nach Leos flachsblondem Schopf. Aus den Schornsteinen stieg Rauch auf, doch an dem kühlen Morgen war niemand auf der Straße, den sie nach dem kleinen Jungen hätte fragen können. Sie hatte den Dorfanger erreicht, wo sich eine Schar Enten am Ufer des vereisten Teiches zusammendrängte, als sie plötzlich Schritte hinter sich hörte.
„Miss!“
Den Befehlston kannte sie doch. Mit wirbelnden Röcken fuhr sie herum und erblickte den Fremden aus dem Gasthof, der mit langen, schnellen Schritten auf sie zukam. Er war ohne Hut aus dem Haus gegangen, und die leichte Brise zerzauste sein hellbraunes Haar auf sehr ansehnliche Weise. Dieser arrogante Kerl hatte nicht das Recht, so gut auszusehen. Was mochte er jetzt schon wieder wollen?
Eine leise Hoffnung ließ ihr Herz schneller schlagen, und sie eilte ihm entgegen. „Haben Sie Leo endlich gefunden?“
Er schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Ich wollte mich nur für meine Unhöflichkeit entschuldigen. Bitte verzeihen Sie mir, dass ich Sie gekränkt habe.“
Natalie betrachtete ihn mit Zurückhaltung. Ihr Ärger, das wusste sie, hatte seinen Grund in der Sorge um den Jungen. Normalerweise war es nicht ihre Art, jemanden vor den Kopf zu stoßen, der ihr behilflich sein wollte. Daher war es nur gerecht, wenn sie jetzt nachgab.
„Entschuldigung angenommen“, sagte sie. „Vermutlich benimmt sich Leo wirklich zuweilen daneben. Ich höre es nur nicht gerne von einem Fremden.“
„Dann sollten wir uns wohl miteinander bekanntmachen, wenn wir ihn weiterhin gemeinsam suchen wollen. Unter den besonderen Umständen können wir wohl die Förmlichkeiten beiseitelassen. Ich bin Clayton. Und Sie?“
„Miss Fanshawe. Natalie Fanshawe. Aber Sie hätten mir wirklich nicht nachzukommen brauchen, Mr. Clayton. Ich kann Leo durchaus alleine finden.“
Sie setzte ihren Weg auf der Dorfstraße fort, nicht ohne zu registrieren, dass Mr. Clayton den Mund geöffnet hatte, als wolle er etwas entgegnen. Er schritt neben ihr her und zwar auf der Straßenseite, was bedeutete, dass er mit seinen schwarz glänzenden Stiefeln durch den Schlamm stapfen musste. Als er schließlich sprach, schien es ihr nicht das zu sein, was ihm ursprünglich auf der Zunge gelegen hatte.
„Ich möchte Ihnen gerne dabei behilflich sein, wenn Sie gestatten“, sagte er. „Ich habe bereits meinen Stallburschen zum Suchen in den nahen Wald geschickt. Mein Diener ist im Gasthof geblieben und wird sich um Leo kümmern, falls der Junge zurückkommt.“
Natalie war so froh über seine Hilfe, dass sie ihm die Eigenmächtigkeit verzieh. Mit dankbarem Lächeln sagte sie: „Vielen Dank, Sir. So habe ich wenigstens eine Sorge weniger.“
„Ich nehme an, Sie wollten in den Geschäften nach ihm suchen. Aber er scheint nicht dort zu sein.“
Sie blickten sich auf der einzigen Straße des winzigen Dorfes um, in dem es nichts gab außer einem Lebensmittelkrämer, einer Schusterwerkstatt und einer Kurzwarenhandlung, die allesamt zu dieser frühen Stunde noch geschlossen hatten. Nirgendwo war ein kleiner Junge zu sehen, der seine Nase an einem Schaufenster platt drückte.
„Ob er vielleicht einem Hund oder Kaninchen hinterhergerannt ist?“, fragte Mr. Clayton.
„Möglich wäre es.“ Sie ging langsamer und spähte die leere Straße entlang. „Ach, er könnte überall hingelaufen sein! Zu Hause kannten ihn alle und brachten ihn zurück, wenn er auf Wanderschaft ging. Aber hier kennt ihn doch keiner.“
„Keine Angst, er kann ja nicht weit sein. Was tat er, als Sie ihn das letzte Mal gesehen haben?“
„Er spielte mit seinem Segelschiff.“ Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund. „Ich frage mich …“
„Was denn? Sagen Sie es mir.“
„Vielleicht wollte er nach Southampton. Gestern Abend beim Zubettgehen sagte er mir, er wolle seinen Großvater heute nicht treffen, und bat mich, ihn wieder auf das Schiff zu bringen, damit wir nach Amerika zurückfahren könnten.“
„Amerika?“
In Gedanken an Leo versunken, nickte Natalie nur. Es war herzzerreißend gewesen zu sehen, wie seine Unterlippe bebte, denn normalerweise war er ein fröhlicher Junge mit einem sonnigen Gemüt. Sie hatte seinen Anfall von Traurigkeit der Tatsache zugeschrieben, dass sie nach der wochenlangen Bewegungsfreiheit an Bord des Schiffes für mehrere Tage in einer überfüllten Kutsche eingesperrt gewesen waren. Heute Morgen dann war er ungewöhnlich still gewesen, doch sie hatte angenommen, dass er einfach Zeit brauchte, um sich an die vielen Veränderungen in seinem jungen Leben zu gewöhnen. Heute warteten wieder neue Umstände auf ihn, nachdem er sich kaum vom Tod seiner Eltern vor einem Jahr erholt hatte.
Allmählich wurde ihre Vermutung zur Gewissheit. Ja, höchstwahrscheinlich war er weggelaufen.
Mr. Clayton blickte sie entgeistert an. „Southampton ist mehr als hundert Meilen entfernt. So weit will er doch wohl nicht laufen.“
„Sie kennen Leo nicht.“ Vor Kälte zitternd zog sie das Tuch enger um sich. „Er ist ja erst sechs und hat wahrscheinlich aus einer Laune heraus gehandelt.“
„Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, in welche Richtung er gehen musste.“
„Doch, das wusste er wahrscheinlich schon. Er kann sich seine Umgebung sehr gut einprägen.“
Furcht schnürte ihr die Kehle zu. Unwillkürlich griff sie nach Mr. Claytons Arm und spürte die festen Muskeln unter dem Stoff der Jacke. „Leo ist so unschuldig und vertrauensvoll. Er weiß nichts von der Schlechtigkeit der Welt. Was, wenn ihn nun jemand entführt hat?“
Wieder bedachte Mr. Clayton sie mit seinem eindringlichen Blick und bedeckte für einen Augenblick ihre Hand mit der seinen. Da er keine Handschuhe trug, spürte sie die tröstliche Wärme seiner Haut. „Er kann noch nicht weit sein“, sagte er. „Ich nehme nicht an, dass Sie hier auf mich warten möchten, Miss Fanshawe. Nein? Dann kommen Sie mit, wenn Sie wollen.“
Mit diesen Worten setzte er sich in Bewegung und ging mit raschen Schritten die Straße entlang zum Dorf hinaus. Natalie folgte ihm eilig, entschlossen, mit ihm Schritt zu halten, selbst wenn sie dafür beinahe rennen musste. Doch da ihn weder Röcke noch Unterröcke behinderten, konnte er längere Schritte machen, und als sie das Dörfchen hinter sich gelassen hatten, war er ihr schon weit voraus und nur noch als spielzeugkleine Silhouette in der Ferne zu erkennen.
Vom eiligen Lauf durch die hügelige Landschaft wurde ihr bald warm, und während sie sich bemühte, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, nahm sie die Schönheit der Umgebung wahr. Sie kam an einem Bauernhof vorüber mit Feldern, die bereits gepflügt und für die Aussaat bereit waren, einer Weide voller wolliger Schafe und mehreren kleinen Steinhäusern, die sich in den Schutz kahler Baumgruppen schmiegten. Im Vergleich zum wilden amerikanischen Grenzland wirkte alles so zivilisiert. Unter anderen Umständen wäre sie gerne auf einer der Landstraßen gewandert, hätte dem Gesang der Vögel gelauscht und nach Anzeichen für den beginnenden Frühling Ausschau gehalten, wie sie es von zu Hause gewohnt war.
Für einen Augenblick erregte ein Farmer ihre Aufmerksamkeit, der Kühe aus einer roten Scheune trieb. Als sie ihren Blick von der ländlichen Idylle löste und wieder nach vorn schaute, stellte sie fest, dass Mr. Clayton stehengeblieben war. Die Arme in die Seiten gestützt stand er am Straßenrand und schaute nach unten. Überrascht erkannte Natalie die kleine Gestalt vor ihm.
„Leo!“
Mit gerafften Röcken flog Natalie geradezu auf die beiden zu, und ihre Stiefeletten zertraten das nasse Gras am Straßenrand. Es erschien ihr wie eine Stunde, bis sie sie erreicht hatte, doch es konnten nur ein oder zwei Minuten gewesen sein. Schließlich blieb sie stehen, und Tränen der Freude und Erleichterung brannten ihr in den Augen.
Sie beugte sich zu dem Jungen hinunter und nahm ihn in die Arme, als wolle sie sich davon überzeugen, dass es ihm gut ging. „Leo, du ungezogener Junge!“, sagte sie atemlos. „Ich bin so froh, dass wir dich gefunden haben.“
„Der Junge hat Ihnen etwas zu sagen, nicht wahr, Leo?“, bemerkte Mr. Clayton.
Sein Spielzeugschiff unter den Arm geklemmt warf Leo einen bangen Blick auf den großen Mann, der vor ihm stand. Dann wandte er sich an Natalie und sagte, während er mit seinen schmutzigen Schuhen im Matsch scharrte: „Tut mir leid, Miss Fanshawe, ich wollte Ihnen keinen Kummer machen.“
„Und?“, ermunterte ihn Mr. Clayton.
Leo überlegte kurz. „Und ich will es auch nicht wieder tun. Ich werde nirgendwo hingehen, ohne Ihnen Bescheid zu sagen. Großes Ehrenwort.“
Ihr zog sich das Herz zusammen. „Das will ich auch hoffen, du hast mich nämlich zu Tode erschreckt“, sagte sie.
Trotz des nassen Bodens sank sie auf die Knie und zog den Jungen an sich, überglücklich, ihn in Sicherheit zu wissen. Er war so zerknirscht, dass er noch nicht einmal protestierte, als sie ihm einen Kuss auf die Stirn drückte und ihm mit dem Zipfel ihres Taschentuchs einen Fettfleck von der Wange wischte, der vermutlich von dem stibitzten Würstchen stammte.
Es gab ihr einen Stich, als sie daran dachte, dass Leo die letzte Verbindung zu ihrer besten Freundin war. In den letzten Minuten ihres Lebens hatte Audrey Natalie gebeten, den Jungen zu seinen einzigen Verwandten nach England zu bringen. Natalie hatte sich dazu bereit erklärt, obwohl sich alles in ihr gegen die Vorstellung sträubte, die lange Reise in ein Land zu unternehmen, das sie verachtete. In den Monaten nach dem Tod seiner Eltern war Leo wie ein Sohn für sie geworden, und sie fürchtete den unvermeidlichen Augenblick, wenn sie beide sich für immer trennen mussten. Da ihr eigener Vater nicht mehr lebte, hatte sie nur noch Leo auf der Welt.
Doch es war ihre Pflicht, ihn loszulassen.
Sie schluckte, erhob sich und blickte auf ihre Uhr. Ihnen blieb noch eine halbe Stunde. Sie ergriff Leos kleines Händchen und sagte: „Komm, wir müssen uns beeilen, weil wir bald losfahren.“
Als sie sich schnellen Schrittes auf den Weg zurück ins Dorf machten, ging Mr. Clayton neben ihnen her. Sie betrachtete verstohlen seine fein gemeißelten Gesichtszüge und schämte sich, dass sie seine Hilfe zunächst zurückgewiesen hatte. Sie war ihm zu Dank verpflichtet, doch sie konnte die richtigen Worte nicht finden. Er blickte geradeaus, als hätte er ihre Anwesenheit ganz vergessen, und sein kühles, zurückhaltendes Benehmen ließ kein Gespräch aufkommen.
Stattdessen redete sie mit Leo. „Was hast du dir dabei gedacht? Bis nach Southampton muss man sehr lange laufen.“
„Ich wollte zurück auf das Schiff“, antwortete er niedergeschlagen. „Dort hat es mir viel besser gefallen.“
„Aber du hast doch kein Geld für die Überfahrt.“
„Ach, ich könnte doch als Schiffsjunge für den Käpt’n arbeiten. Ich würde ihm seinen Tee holen und seine Stiefel putzen.“
„Ich verstehe“, sagte sie mit unterdrücktem Lächeln. „Das war sehr einfallsreich von dir.“
„Was heißt ein… einfallsreich?“
„Es bedeutet, dass du stark und mutig bist und dass eines Tages ein sehr tüchtiger Mann aus dir wird.“
Leo tat, als segle sein Schiffchen durch die Luft. „Ich werde mal Seekapitän und dann habe ich das schnellste Schiff auf der ganzen Welt! Auf einem Schiff ist es viel schöner als in einer engen Kutsche.“
„Nun, wir haben es ja nicht mehr weit. Wenn alles gut geht, kommen wir heute noch ans Ziel.“
Aber es ging nicht gut.
Als sie den Rand des Dorfes erreichten, hörten sie hinter sich das Rumpeln von Rädern und dröhnenden Hufschlag. Natalie zog Leo auf den Grasstreifen am Straßenrand, und Mr. Clayton stellte sich neben sie. Aufmerksam blickte sie dem ankommenden Fahrzeug entgegen.
Mit hoher Geschwindigkeit raste die vierspännige Kutsche durch die Pfützen auf der Straße, dass ein kalter Sprühregen sich über die drei Fußgänger ergoss. Doch Natalie nahm die Spritzer auf ihrem Rock kaum wahr. Entgeistert erkannte sie das auffällige Rotbraun der Türen und Räder, die gewölbte Form des Kutschkastens und den Wachmann, der in einem leuchtend roten Mantel auf seinem Platz am hinteren Ende der Kutsche stand.
„Oh nein“, keuchte sie erschrocken, „das ist die Königliche Post!“