Kapitel 1
British Institution for Promoting the Fine Arts in The United Kingdom – Alte Meister. Diese alljährlich stattfindende Ausstellung ist ein Paradebeispiel für die engstirnige Gesinnung, mit der unsere Grandseigneurs ihre Bilder der Öffentlichkeit vorenthalten – und die Veranstaltung somit im Grunde zu einer Art geschlossener Gesellschaft machen.
The Athenaeum, 30. Mai 1835
British Institution, Pall Mall, London
Mittwoch, 8. Juli
Nackt bis auf ein Lendentuch lag er da, den Kopf nach hinten geneigt, die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet. Er schlief so tief, dass er nicht merkte, wie die Satyrn sich mit seiner Rüstung und seinen Waffen vergnügten und ihm mit einer Muschel ins Ohr trompeteten. Neben ihm ruhte eine Frau, einen Ellbogen auf ein rotes Kissen gestützt. Anders als der Mann war sie hellwach und vollständig bekleidet. Ihr Gewand war aus Leinen und mit Gold verbrämt. Sie betrachtete den Mann mit undurchdringlicher Miene. War das, was ihre Lippen umspielte, ein Lächeln oder ein unmutiger Ausdruck? Oder war sie in Gedanken gar ganz woanders?
Leonie Noirot fielen sechzehn mögliche Antworten ein, von denen keine befriedigend war. Zweifellos fest stand hingegen, was das Paar getrieben hatte, bevor der Mann – laut Ausstellungskatalog der römische Kriegsgott Mars – eingeschlummert war.
Falls Leonie noch etwas anderes beschäftigte – der Anlass beispielsweise, der sie heute hergeführt hatte, oder wo oder wer sie überhaupt war –, so hatte sie dies in einen fernen Winkel ihres Verstandes verbannt. Nichts außer dem Gemälde war von Belang oder existierte für sie.
Sie stand vor einem Werk Botticellis mit dem Titel „Venus und Mars“ und hätte sich ebenso gut auf einem fremden Planeten oder in einer anderen Zeit befinden können, so sehr war sie in das Bild versunken. Sie betrachtete es eingehend, ja, sie hätte jeden Pinselstrich zählen mögen, wenn sich ihr dadurch nur das Motiv erschlossen hätte. So gefesselt war sie, dass sie sich ihm nicht entziehen konnte.
Hätte jemand ihr die Sicht versperrt, hätte sie ihn wohl erdrosselt. Die alljährliche Sommerausstellung der British Institution zog nach wie vor viele Besucher an, darunter zahlreiche Künstler. Letztere stellten ihre Staffeleien in den Gängen auf, um eifrig ihre womöglich einzige Chance zu nutzen, die Werke alter Meister aus privaten Sammlungen zu kopieren.
Niemand jedoch kam Leonie in die Quere. Niemand baute sich hinter ihr auf, um über ihre Schulter hinweg über Kunst zu schwadronieren. Das fiel ihr allerdings nicht weiter auf, und so fragte sie sich auch nicht nach der Ursache. Sie war nicht der Kunst wegen hier, sondern aus einem ganz anderen Grund.
Aus einem gewichtigen Grund … der ihr entfallen war, als sie dieses Bild erblickt hatte.
Vielleicht hätte sie bis zum Jüngsten Tag so dagestanden oder bis einer der Aufseher sie hinauskomplimentiert hätte, wenn nicht …
Ein Krachen, jäh wie ein Donnerschlag, durchbrach die Stille des Raumes; eine der Staffeleien war umgestürzt.
Leonie fuhr zusammen und stolperte rückwärts.
Sie prallte gegen eine Wand, wo keine hätte sein dürfen. Nein, keine Wand.
Etwas Großes, Warmes und Lebendiges.
Dieses Etwas verströmte einen maskulinen Duft: Rasierseife, gestärktes Leinen und Wolle.
Zwei behandschuhte Männerhände packten Leonie sanft bei den Schultern, und sie wurde behutsam wieder aufgerichtet.
Sie fuhr herum und schaute auf – wobei sie den Kopf weit in den Nacken legen musste.
Ihr Götter!
Oder vielmehr ein Gott, nämlich Mars.
Er mochte kein exaktes Abbild sein. Zum einen war er bekleidet, und zwar edel. Aber Nase, Stirn, Mund und vor allem die Augen glichen jenen der Figur auf dem Gemälde. Wobei diese Augen jedoch geöffnet waren.
Sie waren grün und wiesen Sprenkel in dem gleichen Goldton auf wie die Lichtakzente in seinem dunkelblonden Haar, das lockig war wie das des Mars’ und reizvoll ungebändigt. Etwas Undefinierbares in seinem Blick und um seinen Mund deutete darauf hin, dass sich die Widerspenstigkeit auch auf andere Bereiche erstreckte: Um die Lippen spielte der Anflug eines Lächelns, die Augen waren ein wenig zu weit aufgerissen und der Blick eine Spur zu unschuldig. Oder war das schlicht geistige Beschränktheit?
„Dank des Trubels hier bin ich Ihnen offenbar unter die Füße geraten“, sagte der Mann. „Ich bitte vielmals um Verzeihung.“
Also doch nicht beschränkt.
Was Leonie allerdings weit mehr beschäftigte, war die Frage, wie er so dicht hinter ihr hatte stehen können, ohne dass ihr dies aufgefallen war. Gemeinhin achtete sie darauf, dass sich niemand an sie heranschlich. In Paris hätte eine solche Unachtsamkeit fatale Folgen, und selbst in London war sie riskant.
Doch Leonie hatte schon vor langer Zeit gelernt, sich keine Gefühlsregung anmerken zu lassen.
„Ich hoffe, ich habe Ihnen keine bleibenden Schäden zugefügt“, erwiderte sie, wobei sie den Blick abwärtsgleiten ließ. Seine Stiefel waren makellos. Sein Kammerdiener hatte sie dermaßen auf Hochglanz poliert, dass der Londoner Straßenstaub sich vermutlich gar nicht traute, daran haften zu bleiben.
Auch der Mann ließ den Blick seiner grünen Augen tiefer wandern bis hin zu ihren Schuhen.
„Wie sollte ein solch zierlicher Fuß, in einen Hauch von Satin und Leder gehüllt, Schaden anrichten? Überaus unwahrscheinlich, meinen Sie nicht auch?“
„Dieser Hauch von Satin und Leder nennt sich Halbstiefel. Und meine Füße sind keineswegs zierlich, auch wenn es galant von Ihnen ist, das zu sagen.“
„Unter den gegebenen Umständen schien mir ein höflicher Kommentar angebracht“, entgegnete er. „Zudem sollte ich mir wohl einen triftigen Grund dafür einfallen lassen, dass ich Ihnen derart nahe gekommen bin. Oder zumindest einen ritterlichen – dass ich Sie vor umstürzenden Staffeleien habe retten wollen, beispielsweise. Aber dann würden Sie mich nur für einen Trottel halten. Wie für jedermann ersichtlich, befindet sich der Stein des Anstoßes einige Schritte entfernt.“
Am Rande nahm sie wahr, dass jemand etwa drei Gemälde links von ihr fluchte. Das Geräusch von Holz, das über Holz schabte, drang zu ihr herüber, ebenso wie das Rascheln schweren Stoffes. Sie schaute nicht hin. Frauen, die nicht all ihre fünf Sinne beisammenhatten, wenn ihnen ein Gott über den Weg lief, gerieten in Schwierigkeiten. Da brauchte man nur Daphne, Leda oder Danaë zu fragen.
Die Sonne schien just in diesem Augenblick durch das Oberlicht und ließ die goldenen Locken des Mannes leuchten.
„Vielleicht hat das Bild Sie so sehr in seinen Bann gezogen, dass Sie Ihre Umgebung vergessen haben“, regte sie an.
„Ein feiner Vorwand. Aber da es sich um mein eigenes Gemälde handelt und ich somit hinreichend Gelegenheit hatte, es zu betrachten, ist er leider hinfällig.“
„Ihr Gemälde“, echote Leonie. Sie hatte nicht auf der Rückseite des Ausstellungskataloges nachgeschaut, wer der Besitzer der Leihgabe war. Für sie war es keine Frage, dass ein solches Meisterwerk dem König oder einem der Herzöge gehörte.
„Das heißt natürlich nicht, dass ich Botticelli bin; schließlich ist der Bursche bereits seit mehreren Jahrhunderten tot. Ich bin Lisburne.“
Leonie sammelte sich, bemühte sich um einen undurchdringlichen Gesichtsausdruck und ging im Geiste ihr privates Handbuch der Aristokratie Großbritanniens durch. Auch die bedeutsameren der pikanten Informationen, deren Quelle Klatschblätter und geschwätzige Kundinnen waren, durchstöberte sie innerlich.
Die entsprechende Passage kam ihr schnell in den Sinn, da sie das Handbuch erst vor wenigen Tagen aktualisiert hatte: Lisburne stand für Simon Blair, den vierten Marquess of Lisburne. Er war siebenundzwanzig Jahre alt und der einzige Abkömmling des verstorbenen und aufrichtig betrauerten dritten Marquess of Lisburne, dessen Witwe jüngst erneut geheiratet hatte und in Italien lebte.
Lord Lisburne, der die letzten fünf, sechs Jahre ebenfalls im Ausland verbracht hatte, war vor zwei Wochen gemeinsam mit seinem engen Freund und Cousin ersten Grades, Lord Swanton, vom Kontinent zurückgekehrt.
Letzterer war der Grund dafür, dass Leonie sich an einem Arbeitstag in dieser Galerie in der Pall Mall aufhielt.
Erneut schaute sie das Gemälde an, ehe sie sich – zum ersten Mal aufmerksam – umsah. Ihr dämmerte, weshalb sie das Bild für sich allein gehabt hatte. An den anderen Wänden des Raumes hingen Landschaftsbilder, mythologische oder historische Sterbe- und Schlachtszenen sowie Madonnen und andere religiöse Motive. Das Werk Botticellis hatte nichts mit ihnen gemein. Es wartete weder mit moralischen Belehrungen noch mit Gewalt auf und schon gar nicht mit pastoraler Unschuld.
„Interessante Wahl“, kommentierte sie.
„Jetzt, wo Sie es sagen, merke ich auch, dass es hervorsticht. Heutzutage hat offenbar kaum noch jemand etwas für Botticelli übrig. Meine Freunde haben mich bedrängt, eine Schlachtszene beizusteuern.“
„Stattdessen haben Sie sich für die Nachwehen einer Schlacht entschieden.“
Kurz blickte er zum Gemälde hinüber, ehe er wieder sie ansah. „Ich könnte schwören, die beiden hätten einander geliebt.“
„Und ich könnte schwören, dass sie ihn bezwungen hat.“
„Ah, aber er wird sich erneut erheben, um … nun … ein andermal weiterzukämpfen“, konterte er.
„Vermutlich.“ Sie wandte sich dem Gemälde zu und trat näher, obwohl ihr klar war, dass sie sich wieder darin zu verlieren drohte. Sie hatte durchaus schon vergleichbar herrliche Werke gesehen – im Louvre, zum Beispiel. Aber dieses hier …
Der Eigentümer des Bildes gesellte sich zu ihr. Einen Moment lang betrachteten sie es schweigend, und Leonie war sich seiner körperlichen Nähe überdeutlich bewusst.
„Der Ausdruck der Venus fasziniert mich“, bekannte sie. „Ich frage mich, was sie denkt.“
„Darin unterscheiden sich Männer und Frauen. Er schläft, und sie denkt.“
„Einer muss schließlich denken. Und oft scheint diese Aufgabe den Frauen zuzufallen.“
„Ich frage mich immer wieder, weshalb sie nicht auch einfach einschlafen“, sinnierte er.
„Keine Ahnung.“ Die hatte sie wirklich nicht. Was sie über den Liebesakt zwischen Mann und Frau wusste, beschränkte sich auf die durchaus detaillierten und klar umrissenen Ausführungen ihrer ältesten Schwester und war nicht im Mindesten auf eigene Erfahrung zurückzuführen.
Überdies ist es nicht der rechte Zeitpunkt, um sich den Akt auszumalen, ermahnte sie sich. Das Geschäft ging vor, in jeder Lebenslage. Vor allem jetzt. „Was mich interessiert, ist die äußere Erscheinung der Dame.“
Sie öffnete ihr Retikül, entnahm ihm eine kleine Karte und reichte sie Lisburne. Es war eine geschmackvolle Karte, so wie es sich für das führende Geschäft ihres Metiers in London gehörte. Schrift und Farbe wirkten elegant. Es handelte sich um eine Geschäftskarte der Maison Noirot, Schneideretablissement für modebewusste Damen, in der St James’s Street Nummer sechsundfünfzig.
Lisburne musterte die Karte eine Weile.
„Ich bin eine der Inhaberinnen“, erläuterte Leonie.
Er schaute auf. „Sie sind nicht zufällig diejenige, die meinen Cousin Longmore geehelicht hat?“
Es überraschte sie nicht, dass er ein Cousin ihres frischgebackenen Schwagers war. In der vornehmen Welt schienen alle miteinander verwandt zu sein, und die Familie Fairfax, der der Earl of Longmore angehörte, bestand aus einem kräftigen Hauptstamm mit zahllosen Verästelungen.
„Nein, das ist meine Schwester Sophy“, antwortete sie. „Sie ist die Blonde.“ Genau das waren sie, die drei Inhaberinnen der Maison Noirot, in den Augen der gehobenen Gesellschaft, wie sie wusste: die drei Schwestern – manchmal auch die drei Hexen oder französischen Flittchen –, die Brünette, die Blonde und der Rotschopf.
„Stimmt. Und eine von Ihnen ist mit dem Duke of Clevedon vermählt.“
„Meine Schwester Marcelline. Sie ist die Brünette.“
„Wie klug von Ihren Eltern, es so einzurichten, dass man Sie leicht voneinander unterscheiden kann. Und wie freundlich von Ihnen, mich aufzuklären. Würde ich, sagen wir, die Countess of Longmore mit Ihnen verwechseln und auch nur ansatzweise mit ihr flirten, so würde mir ihr Grobian von Gatte Gewalt antun, was meinem Krawattentuch zum Nachteil gereichen würde. Ich habe eine volle halbe Stunde damit zugebracht, es zu arrangieren.“
Leonie war eine gestandene Geschäftsfrau von einundzwanzig Jahren und keine behütete junge Dame. Sie begutachtete das Krawattentuch nüchtern – oder bemühte sich wenigstens um eine nüchterne Perspektive. Das erwies sich als weitaus schwieriger als gedacht.
Unterhalb seiner wie gemeißelt wirkenden, markanten Kieferpartie fand sich ein Tuch, das nicht nur schneeweiß, sondern auch so tadellos geschlungen und gefältelt war, dass es wie marmorn wirkte.
Auch seine übrige Kleidung war von geradezu überirdischer Perfektion. Gleiches galt für Gesicht und Statur.
Die Frau in Leonie spürte leichten Schwindel. Die Schneiderin in ihr betrachtete das Krawattentuch kritisch. „Die halbe Stunde war keine Zeitverschwendung“, befand sie.
„Im Grunde schon“, erwiderte er. „Niemand findet Beachtung, wenn er zugegen ist.“
„Er?“, wiederholte sie ratlos.
„Mein dichterisch veranlagter Cousin. Ich bin reichlich gesegnet mit Cousins. Oh, da sind sie ja schon!“
Leonie vernahm Stimmen von der Haupttreppe her.
Sie wandte sich um. Einen Augenblick lang herrschte sichtlich Unschlüssigkeit darüber, in welche Richtung man sich wenden sollte. Schließlich bewegte sich die Gruppe, die vornehmlich aus jungen Frauen bestand, auf den Gang der Galerie zu, in dem sich Leonie und Lisburne befanden. Dort blieb sie stehen. Die Schar teilte sich, um einen hochgewachsenen, schlanken, ästhetisch wirkenden Gentleman hindurchzulassen. Er trug sein flachsblondes Haar länger, als es Mode war, und seine Kleidung ließ auf einen Hang zur Theatralik schließen.
„Er“, sagte Lord Lisburne.
„Lord Swanton“, stellte Leonie fest.
„Wer könnte es sonst sein, mit zwei Dutzend jungen Damen im Schlepptau, die ihn allesamt anschmachten?“
Sie nahm die Frauen in Augenschein. Alle waren in ihrem Alter oder jünger, abgesehen von einer Handvoll Mütter oder Tanten, die als Anstandsdamen mit von der Partie waren. Unter Lord Swantons Verehrerinnen und deren missmutigen Begleiterinnen entdeckte sie Lady Clara Fairfax, die seit Kurzem Sophys Schwägerin war. Lady Clara sah gelangweilt aus und stand neben einer unscheinbaren jungen Frau, die schauderhaft gekleidet war.
Leonies Stimmung hob sich. Sie war hier, um Kundinnen für die Maison Noirot zu gewinnen.
Was sie sah, überstieg ihre Erwartungen.
Einen Moment lang hätte sie beinahe den Gott Mars und selbst das Gemälde vergessen.
Beinahe. Sie zügelte ihre Begeisterung und wandte sich wieder Lord Lisburne zu.
„Haben Sie Dank, Mylord, dass Sie mich davor bewahrt haben, zu stürzen. Und danke, dass Sie die Ausstellung um eben dieses Bild bereichert haben. Ich mache mir nichts aus Schlachtszenen, auch wenn sie derzeit populär sind. Und Heilige empfinde ich als ermüdend. Dieses Erlebnis hingegen war außergewöhnlich.“
„Welches Erlebnis meinen Sie? Unsere Bekanntschaft war kurz, aber ereignisreich.“
Sie war versucht, zu bleiben und den Flirt fortzusetzen. Lord Lisburne verstand sich aufs Flirten. Außerdem war er nicht nur äußerst gut aussehend, sondern ein Mann von Stand, der ein Gemälde sein Eigen nannte, das vermutlich unbezahlbar war. Zweifellos gehörten ihm mehrere Hundert weitere unerschwingliche oder zumindest horrend teure Objekte, dazu zwei, drei riesige Domizile. Falls – oder vielmehr: sobald – er sich eine Frau nahm und beziehungsweise oder sich eine Mätresse zulegte, würde er für deren Unterbringung, Dienerschaft, Kutsche, Pferde et cetera aufkommen müssen – und im Hinblick auf „et cetera“ interessierte Leonie vorrangig deren Kleidung.
Aber die Freundin von Lady Clara wirkte, als fühlte sie sich fehl am Platz und wäre drauf und dran, das Weite zu suchen. Eine solche Beute bot sich nicht alle Tage. Lord Lisburnes Aufmerksamkeit war ihr sicher; er würde – nach allem zu urteilen, was sie über Männer wusste – in Kürze in den Laden spaziert kommen.
„Das war sie in der Tat“, entgegnete sie. „Aber ich bin aus rein geschäftlichen Gründen hier.“
„Geschäftlich.“
„Damen“, erklärte sie. „Kleider.“ Mit einer knappen Geste wies sie auf ihre für diese Veranstaltung gewählte Garderobe, auf die sie weit mehr als eine halbe Stunde aufgewendet hatte.
„Werbung.“
Sie knickste flüchtig, ehe sie auf Lord Swanton und dessen Gefolge zuschritt. Hinter sich hörte sie einen gedämpften Laut, doch ihr blieb keine Zeit, sich umzudrehen. Die schauderhaft gekleidete junge Frau zupfte Lady Clara bereits am Ärmel.
Leonie beschleunigte ihren Schritt.
Den Blick auf Lady Claras Gefährtin gerichtet, sah sie den Segeltuchlappen nicht, der auf dem Gang lag.
Sie verfing sich mit der Spitze ihres Halbstiefels darin und stolperte.
Ein kollektives, mit Gekicher gespicktes Keuchen erhob sich, als sie, ungraziös mit den Armen rudernd, vornüberfiel.
Auch Lisburne hatte den Lappen des Künstlers nicht bemerkt. Zu sehr war er damit beschäftigt, Miss Noirots Rückansicht zu bewundern. Diese hatte er bereits ausgiebig genossen – aus der Ferne ebenso wie aus ungebührlicher Nähe –, als sie vor dem Werk Botticellis gestanden und weder ihn noch die restliche Welt wahrgenommen hatte. Als sie sich umgedreht und zu ihm aufgeschaut hatte, hätte es ihm fast den Atem geraubt, weil er gemeint hatte, Botticellis Venus wäre zum Leben erwacht: Sie hatte das gleiche – oder fast gleiche – herzförmige Gesicht und die gleiche betörend unvollkommene Nase … den gleichen vollen Mund, den etwas umspielte, das der Anflug eines Lächelns sein mochte oder auf tiefe Versunkenheit zurückzuführen war … das gleiche überraschend entschlossene Kinn.
Obwohl er gedanklich unanständigen Fantasien nachhing, reagierte er hellwach. Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung stürzte er nach vorn, fing Miss Noirot auf und hob sie hoch.
Die Damenmode war heute um einiges extravaganter und origineller als noch sechs Jahre zuvor, als er das letzte Mal in England gewesen war. Es war schwer zu sagen, was an einer Frau echt und was um des Effektes willen künstlich hinzugefügt worden war. Er wusste künstlerischen Effekt durchaus zu würdigen, war aber froh festzustellen, dass Miss Noirots prächtig geformte Figur nur oberflächlich geschönt worden war. Nach den warmen Körperregionen zu urteilen, mit denen er in Berührung kam, war sie so wohlgerundet, wie er vermutet hatte. Zudem duftete sie gut.
Er sah, dass sie die vollen Lippen leicht öffnete und die Augen weit aufriss – Augen von solch kräftigem Blau, dass Saphire und der toskanische Himmel dagegen verblassten.
„Nun haben Sie es geschafft“, raunte er ihr zu. „Jeder starrt uns an.“
Das war nicht übertrieben. Alle hatten innegehalten und gafften. Wer konnte es ihnen verübeln? Hinreißende Rotschöpfe fielen einem Mann nicht jeden Tag buchstäblich in die Arme.
Der Tumult lockte auch Menschen aus anderen Räumen herbei.
Dieser Tag gestaltete sich weit weniger langweilig, als Lisburne befürchtet hatte.
„Miss Noirot!“
Swanton schob sich durch seine Entourage – wobei er so manchem auf die Zehen trat – und eilte auf sie zu. Seine Verehrerinnen folgten. Selbst Lisburnes Cousinen Clara und Gladys Fairfax schlenderten hinterher, wenngleich keine von beiden von Swanton besonders hingerissen oder übermäßig enthusiastisch wirkte.
„Beim großen Zeus, was ist geschehen?“, wollte Swanton wissen.
„Die Dame ist ohnmächtig geworden“, meinte Lisburne.
Ihm war bewusst, dass einige die Schneiderin hatten stolpern sehen – die wenigen, die den Blick von Swanton hatten abwenden können. Lisburne sah sich provozierend um, doch keiner zweifelte an seinem Wort. Sogar die Schurken Meffat und Theaker hielten ausnahmsweise den Mund.
Zwar ließ Gladys einen abfälligen Laut vernehmen, aber wie üblich schenkte ihr niemand Beachtung – das tat man nur, wenn man den Wunsch verspürte, sich von ihr bis zur Weißglut reizen zu lassen. Auch Gladys war erst kürzlich nach Jahren der Abwesenheit wieder nach London gekommen, aber vermutlich hatte kaum jemand sie vergessen – ebenso wenig, wie man die Pest oder den Großen Brand von London vergaß.
„Merci“, erwiderte Miss Noirot leise.
„Je vous en prie“, gab er zurück.
„Mir war kurz schwindelig“, sagte sie lauter. „Sie können mich nun loslassen, Mylord.“
„Sind Sie sicher, Madame?“, erkundigte sich Swanton. „Ihnen scheint heiß zu sein. Kein Wunder bei dieser infernalischen Hitze. Kein Lüftchen regt sich.“ Er blickte zum Oberlicht hinauf, und seine Begleiter taten es ihm gleich. „So, wie die Sonne uns heute versengt, könnte man meinen, sie wäre auf dem Weg zur Sahara falsch abgebogen. Wäre irgendwer wohl so gut, Madame ein Glas Wasser zu holen?“
Madame? Da erinnerte sich Lisburne an die elegante Geschäftskarte. Modistinnen, insbesondere die kostspieligeren, ließen sich, unabhängig von ihrem Familienstand, mit „Madame“ anreden.
Und Swanton kannte Madame offensichtlich. Davon hatte er nie ein Wort verlauten lassen, der Heimlichtuer. Doch nein, Heimlichtuerei entsprach nicht seinem Charakter. Wahrscheinlicher war, dass er sie, von einer poetischen Anwandlung erfasst, bis zu dem Wiedersehen heute schlicht vergessen hatte. Typisch.
Swantons Vater war jung bei Waterloo gefallen, und der dritte Marquess of Lisburne hatte ihn unter seine Fittiche genommen. Dadurch war Lisburne zum beschützenden großen Bruder avanciert, eine Rolle, die er beibehalten hatte, weil Swanton eben Swanton war.
„Zu gütig von Ihnen, Mylord“, entgegnete sie. „Aber ich brauche kein Wasser, ich bin wohlauf. Es war nur ein kurzer Schwächeanfall. Lord Lisburne, wären Sie so freundlich, mich hinunterzulassen?“
Sie wand sich verstohlen in seinen Armen. Wie amüsant.
Da er ein gesunder Mann war, bei dem alles funktionierte, wie es sollte, war er keineswegs bereit, sie gehen zu lassen. Weil ihm aber nichts anderes übrig blieb, kostete er es aus, ließ sie Zoll um Zoll an sich hinuntergleiten und gab sie erst frei, als ihre Füße einen langen, berauschenden Moment später den Boden berührten.
Sie schloss die Augen und murmelte etwas, das er nicht verstand, ehe sie die Lider wieder aufschlug und ihn anlächelte. Ihr Lächeln war ebenso bezaubernd wie ihre Augen. Beides zusammen ließ ihn schwindeln.
„Madame, darf ich Ihnen, falls Sie sich kräftig genug fühlen, meine Freunde vorstellen?“, fragte Swanton. „Ich weiß, dass alle darauf brennen, Sie kennenzulernen.“
Die Herren zweifellos. Die dürften höchst erpicht darauf sein, mit einer attraktiven Frau bekannt gemacht zu werden, denn die Frauenschar, die Swanton umschwärmte, hatte nur Augen für diesen.
Aber die Damen? Würden sie einer Ladeninhaberin vorgestellt werden wollen?
Vielleicht war das in diesem Fall nicht allzu abwegig, befand Lisburne. Die drei Schwestern Noirot hatten Berühmtheit erlangt. Er hatte jüngst auf dem Kontinent von ihnen gehört. Ihre Werke, so wurde gemunkelt, stachen selbst die der gefeierten Victorine aus Paris aus – der Modistin, die sogar Königinnen nur mit Termin empfing und sie zu sich ins Geschäft kommen ließ.
„Sehr freundlich von Ihnen, Mylord“, meinte Miss Noirot. „Aber ich habe schon für genügend Aufregung gesorgt. Die Damen wissen, wo sie mich finden: gleich um die Ecke, in der St James’s Street Nummer sechsundfünfzig. Und wie Sie wissen, geht es mir in erster Linie um die Damen.“
Sie warf jemandem einen Blick zu. Cousine Clara? Madame knickste und schritt davon. Die Menge wandte sich ab, und Swanton fuhr fort zu poetisieren oder romantisieren oder was immer es war, das er tat. Die Gruppe wandte sich Veroneses „Triumph der Tugend über das Laster“ zu.
Lisburne hingegen sah Miss Noirot nach. Ihr Gang wirkte etwas unsicher, nicht so leicht und anmutig wie zuvor. Am oberen Treppenabsatz stützte sie sich aufs Geländer und zuckte zusammen, als hätte sie Schmerzen.
Es gelang Leonie nicht, unauffällig zu entschwinden.
Sie hörte den Marquess of Lisburne hinter sich. Dass er es war, wusste sie, ohne sich umzudrehen. Vermutlich lag dies daran, dass sie ihn wie einen zweiten Puls in sich spürte, seit er sie soeben auf äußerst unanständige Weise auf die Füße gestellt hatte. Noch immer hallte die Empfindung in ihr nach.
Vielleicht aber sandte er auch eine Art Schwingung durch den Raum, so wie gewisse Götter angeblich ihre Ankunft mittels seltsamer Lichterscheinungen, magisch anmutender Klänge oder himmlischer Düfte ankündigten.
„Sie sehen aus, als litten Sie Schmerzen“, sagte er. „Gestatten Sie mir, Ihnen zu helfen?“
„Ich hatte gehofft, in aller Stille entkommen zu können.“
„Das dürfte nicht schwer sein. Alle umschwirren meinen Cousin. Er schwafelt über den ‚Triumph der Tugend‘, und alle Welt glaubt an den Unsinn, den er von sich gibt.“ Während er redete, legte er sich ihren linken Arm über die Schultern und umfasste ihre Taille.
Leonie atmete scharf ein.
„Es muss teuflisch wehtun“, merkte er an. „Wenn ich es mir recht überlege, sollte ich mir Ihren Knöchel lieber erst anschauen. Womöglich ist die Verletzung schlimmer als gedacht.“
Sollte er ihren Knöchel berühren, würde sie die Besinnung verlieren – und das nicht wegen der Schmerzen.
„Ich habe ihn mir nur verstaucht“, wandte sie ein. „Wäre es schlimmer, würde ich auf der Treppe sitzen und vor Demütigung ebenso weinen wie vor Pein.“
„Ich kann Sie tragen.“
„Nein“, erwiderte sie und fügte verspätet ein „Danke“ hinzu.
Langsam nahmen sie die Stufen nach unten. Leonie versuchte sich mit Kopfrechnen von der Wärme abzulenken, die von Lisburne ausging. Das war nicht leicht. Sie hatte zu lange auf den Botticelli gestarrt, und im Geiste sah sie unwillkürlich Lisburnes kräftige Arme und muskulöse Brust entblößt vor sich.
Als sie den ersten Treppenabsatz erreichten, hatte sich ihr sonst so klarer Verstand auf seltsame Pfade verirrt; äußerst lebhafte Gefühle bestürmten sie.
Sie zwang sich zu sprechen. „Ich kann nur hoffen, dass die Leute annehmen, ich wäre von meiner kurzen Begegnung mit Lord Swanton geblendet gewesen.“
„Ich werde es verbreiten, sofern Sie es wünschen“, bot er an. „Aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie einander bereits kannten.“
„Aus Paris“, erklärte sie. „Das ist lange her.“
„So lange her kann es nicht sein. Sie mögen leicht indisponiert sein, aber gewiss nicht altersschwach.“
„Wir trafen uns während seines ersten Aufenthaltes in Paris.“
„Also vor über fünf Jahren“, stellte er fest.
Leonie war fast sechzehn gewesen und ganz in Arbeit und Familie aufgegangen, glücklich vor allem über ihre kleine Nichte und den Erfolg von „Emmeline“, Cousine Emmas erstklassiger Damenschneiderei.
Das war gewesen, bevor ihre Welt aus den Fugen geraten war.
„Lord Swanton kam in den Laden meiner Cousine, um ein Geschenk für seine Mutter zu erstehen“, erzählte sie. „Er war liebenswürdig und zuvorkommend. In Paris verwechseln Gentlemen eine Damenschneiderei gern mit einem Bordell.“
Diejenigen, die auf diesem Standpunkt beharrt hatten, waren leider kurz danach verunglückt. Einer der ersten Grundsätze, die Leonie verinnerlicht hatte, lautete: Männer wollen nur eines.
Cousine Emma hatte sie und ihre Schwestern nicht nur das Schneiderhandwerk gelehrt, sondern ebenso viel darüber beigebracht, wie man sich gegen aufdringliche Kerle zur Wehr setzte. Nicht beigebracht hatte sie ihnen, wie man mit römischen Göttern verfuhr. Eine sachliche Haltung zu wahren entpuppte sich als schwieriger als erwartet, obgleich Leonie die geschäftsmäßigste der drei Schwestern war. Das bedeutete nicht viel, wenn man es recht bedachte. Marcelline und Sophy hatten immer schon den Kopf voller Flausen gehabt: Sie träumten und schmiedeten Pläne und waren somit vollwertige Noirots und typische DeLuceys.
Wie sauber er roch, so wie die Luft nach einem Regenschauer! Wie stellte er das an? War es ein Parfüm? Eine wundersame neue Seife?
Als sie das Erdgeschoss erreichten, hatte sie das Gefühl, dass das Pochen in ihrem Knöchel ein wenig nachgelassen hatte.
„Ich denke, ich brauche Ihren Arm nicht länger“, sagte sie.
„Sind Sie sicher?“
„Meinem Fuß geht es besser. Es genügt, wenn ich mich leicht auf Sie stütze.“
Im Grunde brauchte sie sich gar nicht auf ihn zu stützen, weil er sie fest an sich gezogen hatte. Jeder Zoll seines muskulösen Armes war ihr bewusst, und sie spürte – durch all die Schichten von Chemise, Korsett, Kleid und Pelerine hindurch – jeden einzelnen seiner Finger unterhalb ihrer Brust.
Sie löste sich von seinen Schultern, und Lisburne ließ ihre Taille los und reichte ihr die Hand.
Sie legte ihre behandschuhten Finger in seine, und er hielt sie so fest, wie er zuvor ihre Taille umfasst hatte.
Dies war keine intime Geste, versuchte sie sich vorzumachen. Zumindest nicht so wie vorher, da er sie quasi mit seinem gesamten Körper berührt hatte. Tatsache war, dass kein Mann ihr in den letzten Jahren derart nahe gewesen war. Das allerdings erklärte nicht, weshalb sie gern davongerannt wäre. Schließlich wusste sie sich zu verteidigen, nicht wahr? Sie war klug genug, nicht dem Zauber eines ansehnlichen Gesichtes, einer schneidigen Figur und einer tiefen, verführerischen Stimme zu erliegen.
Sie durfte sich nicht von Panik überwältigen lassen. Ihrem Knöchel ging es in Wahrheit kaum besser. Ohne Hilfe würde sie den Weg zum Laden humpelnd zurücklegen müssen, und das bei brütender Hitze. Der Laden lag zwar nicht weit entfernt, doch das letzte Stück Weg verlief bergauf. Wenn sie endlich ankäme, würde sich ihre Verstauchung nur verschlimmert haben und sie selbst zu nichts mehr zu gebrauchen sein.
Das Geschäft ging vor, in jeder Lebenslage. Während sie durch das Portal hinaus auf die Pall Mall traten, errechnete sie Lisburnes Vermögen, führte sich die Gattinnen beziehungsweise Mätressen vor Augen, die derzeit ihre Kundinnen waren, und bekämpfte ungebetene Gefühle, wie so oft, mit Zahlen. Mit ihrer Ungeschicklichkeit dürfte sie Lady Claras Begleiterin verscheucht haben. Dabei war sie die einzige potenzielle Neukundin heute gewesen.
„Sie sagten etwas übers Geschäft“, bemerkte Lord Lisburne.
„Tatsächlich?“ Ihr Herz begann heftig zu klopfen. Sprach sie ihre Gedanken laut aus, ohne es zu merken? Hatte sie sich beim Sturz den Kopf angeschlagen?
„Vorhin, ehe Sie auf meine Cousine zugeeilt sind.“
„Oh, das meinen Sie! Ja. Gemeinhin finden sich jede Menge junge Damen in Lord Swantons Gefolge. Er hat gegenüber einer unserer Kundinnen erwähnt, dass er heute Nachmittag die British Institution aufzusuchen gedenke. Dies schien mir eine gute Gelegenheit zu sein, unsere Werke den Damen vorzuführen, die sie noch nicht kennen.“
„Dann hat Ihr Besuch nichts mit seiner Dichtkunst zu tun.“
Sie zuckte mit den Achseln, was einen schmerzhaften Stich im versehrten Knöchel nach sich zog. „Ich leite einen Laden, Mylord. Mir fehlt der Sinn für Romantik.“ Sie hatte von Kindesbeinen an gearbeitet. Die jungen Frauen, die Lord Swanton anhimmelten, hatten sich nicht in Paris durchschlagen müssen, während die Stadt in Chaos, Elend und Zerstörung versunken war.
Leonie sah nichts Romantisches in Kummer, Leid und Tod.
„Das romantische Element der Poetik entzieht sich auch mir“, gestand er. „Aber so geht es den meisten Männern. Diese Schwäche scheint sich auf junge Damen zu beschränken, mit wenigen Ausnahmen. Meine Cousine Clara beispielsweise wirkte trotz ihres zarten Alters angeödet. Und meine Cousine Gladys blickte säuerlich drein, wenngleich sie immer so ausschaut. Deshalb ist schwer zu sagen, ob sie nicht doch zu Swantons Bewunderern gehört.“
„Cousine Gladys. Etwa die junge Dame an Lady Claras Seite?“
„Lady Gladys Fairfax“, bestätigte er. „Die Tochter von Lord Boulsworth, Claras Großonkel, müssen Sie wissen. Der Kriegsheld. Ich weiß nicht genau, was Gladys nach London gelockt hat, aber ich habe da einen wenig schönen Verdacht. Hören Sie, Miss Noirot, ich sehe doch, dass es Ihnen nicht gut geht.“
Sie hatten das Ende der St James’s Street erreicht. Die extreme Hitze des Tages, die schon auf der Pall Mall kaum zu ertragen gewesen war, fegte ihnen nun als sengender Wind entgegen, in den sich der Staub mischte, den Wagen, Reiter und Passanten aufwirbelten.
Leonie schmerzte der Kopf mindestens ebenso sehr wie der Knöchel. Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie zuletzt den Namen Lady Gladys Fairfax gehört hatte, aber Schmerz, Hitze und Verwirrung hatten ihr Denkvermögen eingeschränkt.
„Jetzt reicht es“, sagte Lisburne entschieden. „Ich trage Sie.“
Er hob sie hoch, ehe sie protestieren konnte, und als sie ihren Protest nachholte, wurde der vom Krawattentuch gedämpft.
„Ja, jeder wird uns anstarren“, bestätigte Lord Lisburne. „Eine gute Werbung, finden Sie nicht? Wissen Sie, ich glaube, allmählich komme ich auf den Geschmack, was diese Geschäftssache angeht.“
Währenddessen in der British Institution
Sir Roger Theaker und der hochwohlgeborene John Meffat zählten zu den wenigen, die Lord Lisburne gemeinsam mit Miss Noirot hatten gehen sehen. Die zwei Männer waren zeitgleich mit Lord Swantons Entourage erschienen, gehörten dieser jedoch nicht an, auch wenn sie ehemalige Schulkameraden des Dichters waren.
Sie zählten nicht eben zu den alten Kumpanen, an die Lord Swanton gern zurückdachte. Ein Jahr lang hatten sie ihn gnadenlos schikaniert, bis sein Cousin Wind davon bekommen und sie verprügelt hatte. Mehrmals. Denn Theaker und Meffat waren schwer von Begriff. Noch langsamer waren sie, wenn es darum ging, zu vergessen.
Sie hatten sich einige Schritte von der Gruppe um Lord Swanton entfernt, nicht zuletzt deshalb, um einen Sicherheitsabstand zwischen sich und dessen garstigen Cousin zu bringen.
Theaker blickte nach wie vor zur Treppe. Sobald Lisburne und Miss Noirot außer Sicht waren, sagte er: „Wie ich sehe, ist Lisburne geliefert.“
„Wenn irgendwer geliefert ist, dann ja wohl diese französische Schneiderin“, wandte Meffat ein. „Darauf setze ich zehn Pfund.“
„Du hast gar keine zehn Pfund.“
„Du auch nicht.“
Theaker richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Dichter. Eine Weile beobachteten sie, wie die jungen Damen mehr oder weniger verstohlen versuchten, sich zu ihrem Schwarm durchzudrängeln. Swanton indes ließ sich ausgiebig über ein Werk Veroneses aus.
„Lästiger kleiner Dandy, oder?“, fragte Theaker.
„Immer schon gewesen.“
„Schreibt den reinsten Mist.“
„War nie anders.“
Niemand konnte ihnen vorwerfen, nicht bemüht gewesen zu sein, Swantons Leserschaft von ihrer Meinung in Kenntnis zu setzen. Bevor er nach England zurückgekehrt war, hatten sie diversen Journalen ein halbes Dutzend Schmähschriften über seine Dichtkunst sowie zwei zotige Limericks zukommen lassen. Die meisten Kritiker hatten ihnen beigepflichtet.
Doch eine junge Dame hatte die Kritiker ignoriert. Sie hatte Swantons Werk „Alcinthus and Other Poems“ erstanden – ein Sammelsurium schwermütiger Verse – und sich offenbar die Augen ausgeheult. Ihrem gesamten Bekanntenkreis hatte sie eröffnet, es handele sich um eine Art neuen Lord Byron. Und ehe man sichs versah, schafften es die Drucker kaum, die Nachfrage zu befriedigen.
Da es wenig unterhaltsam war, den kleinen Dandy zu beobachten, wandten sich Theaker und Meffat dem unglückseligen Künstler zu, über dessen Lappen Miss Noirot gestolpert war. Sie schlenderten näher, um spöttelnd Rat zu erteilen und dabei vermeintlich unbeabsichtigt Dinge umzustoßen, die er sorgsam an ihren Platz zurückgestellt hatte. Sie regten an, Gegenstände in seine Komposition zu integrieren, die mehr nach ihrem Geschmack waren, und stritten sich darüber, ob das in einer Ecke des Bildes Dargestellte eher einer Schute oder dem weiblichen Schoß glich. Jemanden zu quälen, der zu schwach, arm oder eingeschüchtert war, um zurückzuschlagen, war ihre Lieblingsbeschäftigung. So sehr waren sie darin vertieft, dass sie die Frau nicht bemerkten, bis diese um die Ecke gebogen war und direkt vor ihnen stand.
„Ich brauche Hilfe“, sagte sie, und die beiden Männer lachten nicht, wie sie es sonst taten, wann immer eine wehrlose Kreatur sie um Hilfe oder Schutz bat. Sie machten nicht einmal eine anzügliche Bemerkung, was seltsam war, denn die Frau war ungemein hübsch – blond, schlank und jung. John Meffat musterte sie einmal und ein weiteres Mal und wirkte verstört. Er sah seinen Kumpan fragend an, der kurz die Stirn runzelte, als wäre ihm etwas eingefallen.
Meffat warf er einen warnenden Blick zu, woraufhin Letzterer den Mund hielt.
Dann lächelte Theaker freundlich – was für ihn eher ungewohnt war. „Aber gewiss doch, Teuerste. Suchen wir uns einen Ort, an dem es nicht gar so betriebsam zugeht. Dort können wir reden.“
Kapitel 2
Obgleich die Toilette niemals so viel Zeit in Anspruch nehmen sollte, dass es die wichtigeren Alltagspflichten beeinträchtigt, ist die Kleidung einer jungen Dame – wie schlicht sie auch sein mag – als Maßstab für ihren Geschmack anzusehen und daher nicht zu vernachlässigen.
The Young Lady’s Book, 1829
Lord Lisburne trug Leonie in der Gluthitze die St James’s Street hinauf, an zahlreichen Gaffern vorbei. Die Räder zweier Fuhrwerke verhedderten sich ineinander, und ein Gentleman, der die Straße überquerte, lief gegen einen Bordsteinpoller.
Sophy hätte dies als einmalige Chance betrachtet, hielt Leonie sich vor Augen. Also ignorierte sie Kopfschmerz und pochenden Fußknöchel und setzte eine unbewegte Miene auf, als wäre es für sie das Normalste auf der Welt, zu ihrem Laden getragen zu werden. Von einem römischen Gott. Der nicht einmal außer Atem geriet.
Flüchtig schaute sie auf und bemerkte, dass die Andeutung eines Lächelns seine perfekt geschwungenen Lippen umspielte.
„Was für eine erfrischende Abwechslung“, äußerte er. „Welche Hausnummer war es gleich? Richtig, sechsundfünfzig. Oh, sieh an, wie berückend. Sehr französisch. Gehört der Junge in der ausgefallenen lila- und goldfarbenen Livree zu Ihnen?“
„Ja“, erwiderte sie, ohne hinzuschauen. „Das ist Fenwick, unser Bursche für alles.“
„Öffnet er einem auch die Tür, oder besteht seine Aufgabe schlicht darin, möglichst dekorativ auszusehen?“
„Zu seinen Pflichten gehört es auch, die Tür zu öffnen.“
Fenwick war ein Straßenjunge gewesen, ein kleiner Strauchdieb, um genauer zu sein, bis Sophy ihn auf einer ihrer Missionen aufgelesen hatte. Nachdem einige Schichten Schmutz entfernt worden waren, hatte sich sein Äußeres zur Verblüffung aller als engelsgleich entpuppt. Bei den Damen kam er hervorragend an, und er …
Siedend heiß fiel ihr ein, dass Sophy Fenwick an dem Tag aufgegriffen hatte, als sie selbst dabei war, eine Konkurrentin auszuspionieren. Um in Mrs. Downes’ Laden gelangen zu können, hatte sie sich als Lady Gladys Fairfax verkleidet. Oder zumindest so, wie sie sich Lady Gladys anhand von Lady Claras Schilderungen und ihrer eigenen lebhaften Fantasie ausgemalt hatte.
Leonie blieb keine Zeit, dem Gedanken an Lady Gladys nachzuhängen. Fenwick hatte die Tür geöffnet, und als Lord Lisburne eintrat, gerieten die Mädchen im Laden in helle Aufregung.
„Madame!“, riefen sie, kamen hinter den Ladentischen hervorgeeilt und scharten sich um Leonie und Lord Lisburne. „Nein, lasst ihr doch Luft zum Atmen!“, riefen sie sich zu und hasteten davon, um sogleich wieder kehrtzumachen. Sie wiesen einander an, Wasser, Arzt und Riechsalz zu holen, und gerieten sich darüber in die Haare. Derweil achtete niemand auf die Kundschaft, die sich mit dem halben Warenbestand und den Kleiderpuppen hätte davonstehlen können, während die Belegschaft außer Rand und Band war.
Glücklicherweise stürmte die Vorarbeiterin Selina Jeffreys in den Verkaufsraum. Harsch rief sie alle zur Ordnung und führte Lord Lisburne durch eine Tür in die hinteren Räumlichkeiten, wo Leonie ihm den Weg in ihr Büro wies.
Er setzte sie auf einem Stuhl ab, griff nach einem Schemel und ignorierte ihre Versicherungen, dass sie in der Lage sei, den Fuß zu bewegen. Nachdem er sich hingekniet hatte, legte er den verletzten Fuß behutsam auf den Hocker. Die Berührung seiner Finger schien sich mit geradezu magnetischer Kraft ihr Bein hinaufzuziehen und bis in Regionen vorzudringen, deren Vorhandensein so manche Frau nicht einmal sich selbst eingestand.
„Ich denke, eine Stärkung wäre angebracht“, sagte er, als er sich erhob. Er wirkte völlig gelassen, wohingegen sie ein eiskaltes Bad begrüßt hätte.
„Haben Sie etwas gegen Brandy einzuwenden?“, fragte sie.
„Ich dachte eher an eine Stärkung für Sie. Sie wirken ein wenig angegriffen.“
„Ich habe mich vor den Augen der angesagtesten Dichter-Ikone Londons blamiert. Ich bin gleich zweimal gestolpert, sodass jeder herumerzählen wird, ich wäre betrunken gewesen. Beim zweiten Mal bin ich so unglücklich gestürzt, dass ich mir den Knöchel verstaucht habe. Der Marquess of Lisburne hat mich die St James’s Street entlanggetragen, zum Ergötzen der Öffentlichkeit und auf Kosten der geistigen Gesundheit meiner Angestellten. Mir tut alles weh, und ich schwitze, obwohl ich nichts getan habe, als mich tragen zu lassen. Natürlich wirke ich angegriffen! Und gereizt bin ich obendrein, ansonsten hätte ich mich vor meinem Gejammer wenigstens bedankt.“
„Sie schulden mir keinen Dank, seien Sie versichert. Seit Swanton und ich nach London zurückgekommen sind, hatte ich nicht so viel Spaß.“ Er streifte seine Handschuhe ab. „Wo bewahren Sie den Brandy auf?“
Sie sagte es ihm, und er füllte zwei Gläser. Anschließend schlenderte er im Büro umher, als wäre es seines. Das befremdete Leonie keineswegs. Aristokraten traten stets so auf, als gehörte der jeweilige Ort ihnen, ob das nun zutraf oder nicht. Immerhin gehörte ihnen England.
Dann allerdings fing er an, ihre Sachen anzufassen.
Lisburne war fasziniert.
An einer Wand befanden sich drei auf Hochglanz polierte Regale, in denen, ordentlich aufgereiht, die Geschäftsbücher standen. Ebenso gewienert, dass es einen schier blendete, war der Schreibtisch, auf dem sich neben einem Tintenfass eine Ablage für Bleistifte befand, die allesamt tödlich spitz waren. An den übrigen Wänden hingen, ebenfalls in Reih und Glied, französische Modedrucke und Pariser Szenen. Was immer das Büro sonst noch barg, war sicher in den fest verschlossenen Schubladen und Schränken untergebracht.
Er legte den Kopf schräg, um die Beschriftung auf den Rücken der Geschäftsbücher zu lesen, ehe er eines herauszog und darin blätterte. Peinlich genau mit dem Lineal gezogene Spalten enthielten präzise aufgelistete Posten, neben denen, ebenso ordentlich und gründlich aufgeführt, Zahlen prangten.
„Nirgends auch nur ein Klecks“, bemerkte er. „Ist das alles hier Ihr Werk? Wie schaffen Sie es, all diese Zahlen und dergleichen niederzuschreiben, ohne zu klecksen?“
„Mylord, die Einträge sind nicht nur finanzieller, sondern auch privater Natur.“ Ihre Stimme mit dem kaum wahrnehmbaren Akzent war eine Spur höher geworden.
„Ihre Geheimnisse könnten nicht sicherer sein“, beteuerte er. „Für mich sind das lediglich Hieroglyphen. Ich könnte tagelang darin stöbern und wäre hinterher nicht klüger. Nein, das stimmt nicht ganz. Ich weiß durchaus, was rote Tinte zu bedeuten hat. Das hat mir mein Verwalter oft genug eingebläut. Zumindest bis ich derlei Angelegenheiten meinem Sekretär Uttridge überantwortet habe. Er warnt mich, wenn ich auf das Terrain der roten Tinte zu geraten drohe.“
„Ihr Sekretär kümmert sich um Ihre Finanzen?“ Das Entsetzen war ihr anzuhören. „Schauen Sie sich Ihre Bücher überhaupt nicht an?“
Welch hübsche Handschrift sie hatte! Akkurat und säuberlich und doch durch und durch feminin.
„Leider führt ein Blick in die Bücher einem die eigenen Unzulänglichkeiten vor Augen“, entgegnete er und wich damit geschickt der unbequemen Wahrheit aus. „Hier allerdings erspähe ich wenig Rot, Miss Noirot. Bewältigen Sie dies alles allein, ohne irgendeinen Uttridge? Vermerken Sie einfach jeden Gegenstand und dessen Kosten und was jemand dafür bezahlt und was unterm Strich dabei herauskommt – und dies so, dass schlussendlich alles stimmt?“
„Das ist meine Aufgabe, ja. Die Duchess of Clevedon hat sich auf das Entwerfen von Kleidern spezialisiert. Lady Longmore sorgt dafür, dass die Maison Noirot im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit bleibt. Ich kümmere mich ums Geschäftliche.“
„Sie behalten das Geld im Auge, meinen Sie.“
„Das auch, ja. Darüber hinaus stelle ich Näherinnen ein, nehme mich ihrer diversen Krisen und hysterischen Anfälle an, zahle die Gehälter aus und überwache die Einkäufe.“
Er schlug das Buch zu und betrachtete sie eine Weile. Es gab einiges zu betrachten, beispielsweise ihr außergewöhnliches Gesicht. Die riesigen blauen Augen, den weichen Mund und das resolut geformte Kinn.
Das Kinn passte zu den ordentlich geführten Zahlenspalten und den fehlenden Klecksen. Das Kleid hingegen schien aus einem Märchenland zu stammen.
Weiße Rüschen und Spitze wallten ihr wie Meeresgischt bis hinab zur Taille. Unter der Spitze bauschten sich Ärmel, so füllig wie Kissen. Von der schmalen Taille abwärts fiel ein weit geschnittener Rock; der weiße Stoff war mit Tausenden winzigen blauen Blumen bestickt. Die Kreation war herrlich und zutiefst feminin und weckte in ihm den Wunsch, die Hände darin zu vergraben, nur um den Stoff rascheln zu hören.
Nun, nicht allein deswegen.
Und diesen Leckerbissen hatte er die St James’s Street entlangtragen dürfen!
Während er sich im Anblick von Gesicht und Kleid fast verlor, dachte er an die akkuraten Zahlen in den streng untergliederten Spalten.
Er stellte das Buch zurück.
Sie stieß einen leisen Laut aus.
„Geht es Ihnen gut?“, erkundigte er sich. „Schmerzt Ihr Fuß? Mehr Brandy?“
„Nein, nein, vielen Dank. Mylord, lassen Sie sich nicht länger aufhalten. Sie waren überaus freundlich und ritterlich.“
„Es war mir ein Vergnügen, das können Sie mir glauben.“ Er ging zum Schreibtisch und inspizierte diesen. „Ich hatte mich auf einen weiteren öden Nachmittag eingestellt, untermalt von Swantons gefühlsduseligen Ergüssen.“
Er nahm einen der beängstigend spitzen Bleistifte in die Hand und pikste sich damit leicht in die Kuppe des Zeigefingers, wo eine kleine Delle zurückblieb. Vermutlich nicht tödlich, sofern man mit dem Stift nicht wie von Sinnen auf jemanden einstach, was er Miss Noirot sehr wohl zutraute. Er musterte ihre ebenfalls sorgfältig zugeschnittenen Schreibfedern. Als er alles zurücklegte, vernahm er ihren unsteten, leicht beschleunigten Atem.
„Ist Ihnen zu warm, Miss Noirot? Soll ich ein Fenster öffnen?“
Sie gab einen erstickten Laut von sich. „Wenn Sie schon herumschnüffeln müssen, Mylord – und mir ist klar, dass Aristokraten nicht anders können, als nach eigenem Gutdünken zu verfahren –, würden Sie meine Habseligkeiten dann wenigstens zurück an ihren angestammten Platz legen?“
Er trat vom Schreibtisch fort und verschränkte die Hände im Rücken. Nicht etwa, weil er sich schämte, sondern weil es ihn in den Fingern juckte, alles in Unordnung zu bringen, nicht zuletzt Miss Noirot selbst.
Von den Bleistiften und Schreibfedern sah er wieder zu den Geschäftsbüchern hinüber.
„Ähm, nein. Das heißt, ich könnte es versuchen, aber es bestünde die Gefahr, dass das Ergebnis nicht wie erhofft ausfiele. Aus diesem Grund schreitet Uttridge immer ein, verstehen Sie? Ich bin der Dinge rasch überdrüssig, und dann geht alles schief.“ Das war nicht einmal gelogen. Sobald er eine Sache beherrschte, langweilte sie ihn auch schon.
„Sie sind tadellos gekleidet“, beschied sie ihm.
Er sah an sich hinab. „Seltsam, nicht wahr? Keine Ahnung, wie ich das anstelle. Nun, das ist natürlich das Werk von Polcaire, meinem Kammerdiener. Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn tun würde.“
Einen Augenblick lang begutachtete er seine Weste. Sie war eines seiner Lieblingskleidungsstücke, und er war sich recht sicher, dass sie ihm stand. Irgendein scharfsichtiges Genie musste ihm eingeflüstert haben, diese Weste heute zu tragen.
Nein, es war Polcaire gewesen.
„Aber milord“, hatte Polcaire eingewandt, „Sie können zu diesem Anlass unmöglich die burgunderrote Weste tragen.“
„Bei dem Anlass handelt es sich um Swanton“, hatte Lisburne angemerkt. „Das bedeutet, dass sämtliche Damen nur Augen für ihn haben werden. Es wird niemanden scheren, wie ich aussehe.“
„Man weiß nie, wen man trifft, milord“, hatte Polcaire erwidert.
Das bewies, dass Polcaire nicht nur ein Genie unter den Kammerdienern war, sondern obendrein ein Orakel.
Lisburne schaute von seiner Weste auf und betrachtete Miss Noirot.
Ein zartes Rot überzog ihre Wangen, schwand und zeigte sich erneut. Es war betörend.
„Soll ich riskieren, auf Ihrem Schreibtisch Ordnung zu schaffen?“, fragte er. „Meine Anstrengungen könnten Ihren Erwartungen nicht entsprechen – und mich beschleicht der starke Verdacht, dass Sie in diesem Fall vom Stuhl aufspringen und …“, er dachte nach, „… mich mit jenem Federmesser erdolchen?“
Ihm entging nicht, dass es sie Mühe kostete, ruhig zu bleiben. Wobei es nicht leicht war, dies zu erkennen. Obwohl sie rotes Haar hatte, neigte sie nicht zum Erröten. Doch welche Fehler man ihm auch nachsagen mochte, Unaufmerksamkeit zählte nicht dazu, schon gar nicht Frauen gegenüber. Und Miss Noirot beobachtete er mit Argusaugen. Sie entspannte sich, aber dies geschah keineswegs unwillkürlich. Er sah, wie sie sich sammelte und sich zwang, die Schultern sinken zu lassen.
„Der Gedanke schoss mir auch schon durch den Kopf“, erwiderte sie. „Aber Leichen wird man verflixt schwer los, vor allem wenn ein Adeliger verschwindet, erregt das Aufsehen.“
Die Tür war einen Spaltbreit geöffnet. Er erfasste, wie Miss Noirot wachsam wurde, ehe er ebenfalls sich nähernde Schritte vernahm.
Nach einem flüchtigen Klopfen und dem „Entrez!“ von Miss Noirot trat eine der jungen Frauen ein, die sich vorhin im Verkaufsraum getummelt hatten.
„Oh, Madame, ich wollte Sie nicht stören“, entfuhr es dem Mädchen – oder zumindest meinte Lisburne das aus ihrem grauenvollen Französisch herauszuhören, ehe sie sich eines Besseren besann und auf Englisch fortfuhr: „Aber Lady Clara Fairfax ist hier mit … einer anderen Dame.“
„Einer anderen Dame?“
Miss Noirots Miene hellte sich auf. Sie sprang auf, wobei sie offenbar ihren versehrten Knöchel vergessen hatte. Prompt zuckte sie zusammen und fluchte leise auf Französisch, aber ihre Augen und ihr Gesicht leuchteten förmlich. „Schicken Sie die beiden hinauf ins Beratungszimmer und bringen Sie ihnen eine Erfrischung. Ich werde gleich bei ihnen sein.“
Das Mädchen ging.
„Hinauf ins Beratungszimmer?“, wiederholte Lisburne. „Haben Sie etwa vor, in Ihrem Zustand die Treppe zu erklimmen?“
„Lady Clara hat Lady Gladys Fairfax hergebracht. Haben Sie sie vorhin nicht gesehen?“
„Selbstredend habe ich Gladys gesehen. Sie ist ebenso schwer zu übersehen wie ein zusammenstürzendes Haus oder ein vierzig Tage währendes Hochwasser. Ich habe sie Ihnen ja selbst gezeigt.“
„Ich meinte ihr Kleid.“
„Ich habe umgehend den Blick abgewandt, wenn auch zu spät. Es war, wie üblich, eine Katastrophe.“
Was Gladys an Gutartigkeit fehlte, machte sie durch ihren schlechten Geschmack wett.
„In der Tat“, entgegnete Miss Noirot, und ihre sonst so unergründliche Miene strahlte eine Erregung aus, die Lisburne zwar nicht verstand, jedoch atemberaubend fand. „Sie braucht mich. Ich würde die Stufen kriechend erklimmen, wenn es sein müsste.“
Verflucht!
Der Nachmittag hatte sich so gut angelassen.
Aber Gladys musste wieder einmal hereinplatzen wie die böse Fee in die Hochzeitsfeier.
„Was für ein Unsinn“, wandte er ein. „Sie können die Treppe nicht hinaufkriechen, weil Ihr Kleid dadurch zerknittern würde.“
Er trat zu ihr und reichte ihr den Arm, ehe sie zur Tür humpeln konnte.
„Ich würde Sie ja tragen“, erklärte er, „aber wenn Gladys uns so sähe, würde sie das nur sarkastisch stimmen. Noch sarkastischer. Und sie wird Ihnen den Nachmittag auch so schon verderben. Sind Sie sicher, dass Sie sich mit ihr abgeben wollen? Können Sie ihr nicht jemanden aus Ihrer Mädchenschar schicken?“
„Ich soll sie an eine Angestellte weiterreichen?“ Sie stützte sich auf seinen Arm. „Offenbar müssen Sie noch einiges übers Geschäft lernen, Mylord.“
„Und Sie müssen noch so manches über Gladys lernen. Doch offenbar soll es so sein. Einige Leute bedürfen der harten Methode.“
Er half ihr in den nächsten Stock hinauf, trat allerdings schleunigst den Rückzug an, als er Gladys’ Stimme hörte, die bereits unwirsch klang.
Eine albtraumhafte Erinnerung an sein erstes Zusammentreffen mit Gladys stieg in ihm auf.
Gladys hatte ihn nach der Beisetzung seines Vaters zu Hause erwartet. Eine pickelige, übellaunige, scharfzüngige Fünfzehnjährige, die man nicht aus dem Klassenzimmer hätte entkommen lassen dürfen. Und ihr Vater erst! Der berühmte Kriegsheld, der Lisburnes Mutter trotz oder gerade in ihrer Trauer zugesetzt hatte, damit sie ihren Sohn mit diesem unausstehlichen Wesen verlobte. Lord Boulsworth hatte sich aufgeführt, als wäre Lisburnes Vater einer seiner im Kampf gefallenen Offiziere gewesen und als wären die Hinterbliebenen das Regiment, über das nun er zu befehlen hätte – als würden Gattinnen, Söhne und Töchter anderer Männer nur deshalb existieren, um nach seiner Pfeife zu tanzen. Seit seiner Rückkehr nach London war Lisburne ihr einige Male über den Weg gelaufen. Abgesehen davon, dass Gladys’ Teint inzwischen makellos war, gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass sie mit zunehmendem Alter an Qualität gewann. Im Gegenteil, sie wurde immer mehr wie ihr Vater.
„Sehen Sie es mir nach, dass ich die Flucht ergreife“, meinte er. „Aber ich würde Ihnen keinen Gefallen erweisen, indem ich bliebe. Clara ist in Ordnung, doch Gladys fällt unter eine andere Kategorie. Sagen wir einfach, dass sie und ich keine Höflichkeiten austauschen würden. Mich zu sehen würde ihre Laune nur verschlechtern, sofern das überhaupt vorstellbar ist, und ich möchte Ihnen Ihre Arbeit nicht unnötig erschweren.“
Eine Dreiviertelstunde später
„Sind Sie blind?“, keifte Lady Gladys. „Schauen Sie mich doch an! Meine Brüste quellen aus dem Ausschnitt, und das geht so nicht. Die Leute würden denken, dass ich verzweifelt um Aufmerksamkeit heische.“
Aufgebracht funkelte sie die drei Frauen an, die sie musterten, und wurde puterrot.
Sie klang wütend, aber Leonie erkannte den Kummer in ihren Augen. Ihre Ladyschaft war heikel: hochfahrend, rüde, ungeduldig, wenig kooperativ und in jeder Bemerkung eine Beleidigung witternd. Mit anderen Worten: Sie gebärdete sich wie alle Kundinnen.
Lady Gladys stand vor dem Toilettenspiegel, nur in Chemise und Korsett gewandet, was allein Jeffreys’ fähiger Hilfe sowie Lady Claras moralischer Unterstützung zu verdanken war. Es war ein Kampf gewesen, an diesen Punkt zu gelangen. Derweil schmerzte Leonie der Knöchel ebenso sehr wie der Kopf, aber das war nebensächlich, genauso wie Lady Gladys’ abscheuliches Verhalten.
Dies war eine einmalige Gelegenheit.
„Mylady, eines der modischen Grundprinzipien lautet, dass man die eigenen Vorzüge so gut wie möglich zur Geltung bringen sollte“, erklärte Leonie. „Und im Hinblick auf Männer ist Ihr Busen Ihr größtes Gut.“
„Der Begriff ‚größtes‘ trifft es unbestritten, sofern Sie damit ‚gewaltig‘ meinen“, entgegnete Lady Gladys. „Mir ist durchaus bewusst, dass ich nicht gerade eine Nymphe bin.“ Sie warf Lady Clara einen unmutigen Blick zu, obgleich auch diese zu stattlich war, um als Nymphe durchzugehen. Allerdings konnte man sie mit Fug und Recht als wunderschön bezeichnen: Sie war blond und blauäugig und mit einem seidig schimmernden Teint und einem wohlgeformten Körper gesegnet. Und mit Köpfchen. Und einem einnehmenden Wesen.
Lady Gladys hingegen war von der Natur mit keinem Attribut klassischer Schönheit versehen worden. Sie hatte stumpfes braunes Haar, und ihre Augen waren gleichfalls von einem wenig einprägsamen Braunton und ebenso wie ihr Mund zu klein für ihr rundes Gesicht. Ihre Figur war bei Weitem nicht perfekt, die Taille kaum vorhanden. Aber ihr Busen war annehmbar, so wie die Hüften, wenngleich dies im Moment nur für den überaus versierten Betrachter ersichtlich war.
„Das heißt nicht, dass Sie keine Figur haben“, merkte Leonie an.
„Hörst du, Gladys?“, warf Lady Clara ein. „Habe ich dir nicht gesagt, dass du deine vorteilhaften Partien verbirgst?“
„Ich habe keine vorteilhaften Partien!“, ereiferte sich Lady Gladys. „Komm mir nicht von oben herab, Clara. Ich habe schließlich Augen im Kopf und sehe mich im Spiegel.“
„Da bin ich anderer Meinung“, wandte Leonie ein. „Mit entsprechend geschultem Blick würden Sie erkennen, dass dieses Korsett nicht für Ihre Figur geeignet ist, Eure Ladyschaft.“
„Welche Figur denn?“, giftete Lady Gladys.
„Nun, lassen Sie uns schauen, was geschieht, wenn wir das Korsett entfernen.“
„Nein! Ich bin ja jetzt schon halb nackt. Meine Schneiderin zu Hause …“
„… muss zu tief ins Glas geschaut haben“, fiel Leonie ihr ins Wort. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine nüchterne Modistin ihre Kundin in eine solche … solche Wurstpelle presst.“
„Wurstpelle?!“, kreischte Lady Gladys. „Clara, ich habe genug von der Unverschämtheit dieser Person.“
„Jeffreys, bitte helfen Sie Lady Gladys, das Korsett abzulegen“, beharrte Leonie entschieden.
Eine Modistin, die sich von einer Kundin auf der Nase herumtanzen ließ, konnte ihren Laden schließen und sich mit Flickarbeiten ihr Brot verdienen.
„Du lässt die Finger von mir, Mädchen!“, blaffte Lady Gladys. „Rühre mich ja nicht an! Ich werde mich nicht von einem schwindsüchtigen Kind begrapschen lassen, das das grässlichste Französisch spricht, das mir in dieser an Banausen durchaus nicht armen Stadt je in den Ohren wehgetan hat.“
Jeffreys war unter harten Bedingungen aufgewachsen. Verglichen mit ihren Kindheitserfahrungen ließ sich dies hier als mütterliche Zuneigung bezeichnen. Furchtlos ging sie auf die Kundin zu, doch als sie die Hände nach der Korsettschnürung ausstreckte, wand Lady Gladys sich, schlug mit den Armen um sich und fauchte.
Wie ein in die Ecke gedrängtes Tier.
„Na, na, Eure Ladyschaft fürchtet sich doch wohl nicht vor meiner Vorarbeiterin“, versuchte Leonie sie zu beschwichtigen.
„Jeffreys kann unmöglich schwindsüchtig sein“, merkte Lady Clara an. „Wäre sie es, so wäre sie nach der Tortur, dich von Kleid und Unterröcken zu befreien, tot zusammengebrochen.“
„Ich habe dir gesagt, dies sei reine Zeitverschwendung!“
„Und ich habe dir gesagt, dass ich es satthätte, einen gewissen Jemand gehässige Kommentare über die Garderobe deiner ersten Saison äußern zu hören. Und du hast gemeint …“
„Es ist mir gleich, was irgendwer sagt!“
„Ça suffit“, unterbrach Leonie die beiden. „Alle hinaus, bitte. Lady Gladys und ich müssen uns unter vier Augen unterhalten.“
„Ich habe Ihnen nichts zu sagen“, wandte Lady Gladys ein. „Sie sind das aufdringlichste Wesen, das … Nicht, Clara, du lässt mich hier nicht allein!“
Aber Lady Clara ging, und Jeffreys folgte ihr und schloss leise die Tür hinter sich.
Lady Gladys konnte ihnen schlecht in Unterwäsche hinterhereilen. Ankleiden konnte sie sich ebenfalls nicht, da sie – wie die meisten Damen – nicht wusste, wie. Sie saß in der Falle.
Aus einer Schublade zog Leonie einen über die Maßen französischen Morgenmantel hervor.
Er war cremeweiß und prächtig mit rosafarbenen Knospen und blassgrünen Ranken und Blättern bestickt. Allerdings war er nicht aus Musselin, wie für Damennachtwäsche üblich, sondern aus Seide. Aus einer hauchdünnen, beinahe durchscheinenden Seide.
Sie hielt ihn hoch. Lady Gladys schniefte und schaute finster drein, wandte sich jedoch nicht ab. Sie ließ den Blick auf dem gewagten Kleidungsstück ruhen, und Nervosität stahl sich in ihre Miene.
„Sie können unmöglich von mir verlangen, dass ich das anziehe“, bekundete sie. „Nur eine Hure würde das tragen.“
Leonie näherte sich ihr und legte ihr den Morgenmantel über die steifen Schultern.
Danach drehte sie ihre Ladyschaft zum Spiegel herum. Lady Gladys’ störrische Miene wurde weicher. Sie blinzelte heftig. „I…ich könnte so etwas niemals tragen, und es ist schändlich von Ihnen, mich dazu verführen zu wollen.“
Leonie hörte die Sehnsucht in ihrer Stimme, und ihr kleines geschäftstüchtiges Schneiderinnenherz schmolz dahin.
Lady Gladys war keine Schönheit. Sie war es nie gewesen und würde es nie sein, ganz gleich, welch modischen Zaubers man sich bediente.
Doch man konnte mehr aus ihr machen.
„Ich lege Ihnen keineswegs nahe, ihn zu erwerben“, erwiderte Leonie. „Noch nicht. Er ist eher ein Stück, das sich für Ihre Brautausstattung eignet.“
„Brautausstattung! Welch ein Witz!“
„Wir werden Folgendes tun“, erklärte Leonie geduldig. „Zunächst werden wir Sie von diesem Monstrum von Korsett befreien.“
„Eine unbarmherzigere, unverfrorenere Kreatur als Sie ist mir nie …“
„Ich werde Sie mit etwas Angemessenem ausstatten, bis ich ermittelt habe, was genau Sie brauchen.“ Korsette waren ihre Spezialität.
„Ich werde keinesfalls … Und Sie werden es unterlassen, mir …“ Abermals blinzelte Lady Gladys heftig und schluckte.
„Eure Ladyschaft wird nie wieder ein Korsett tragen, das nicht maßgeschneidert wurde“, beschied Leonie ihr entschlossen. Es war besser, Gefühle im Umgang mit Kundinnen zu vermeiden; mit ihren Empfindungen sollten die Damen gefälligst allein zurechtkommen. „Ein solches Korsett wie dieses hier stützt Ihre Büste nicht hinreichend und lässt Sie unförmig erscheinen.“
„Ich bin unförmig. Das heißt, eine Form habe ich sehr wohl, nämlich die eines F…fasses.“
„Sie haben durchaus eine Figur“, wandte Leonie ein. „Keine klassische, aber das interessiert die Herrenwelt nicht. Männer sind nicht so kleinlich, wie junge Damen annehmen. Im Hinblick auf Oberweite sind Sie großzügig ausgestattet, und wenn wir Sie erst einmal aus diesem scheußlichen Ding gepellt haben, werden Sie erkennen, dass Ihre Hüften und Ihr Gesäß wohlproportioniert sind.“
Lady Gladys schaute in den Spiegel, woraufhin sich ihre Züge verzerrten. Sie wandte sich ab und ließ sich auf einen Stuhl sinken.
„Lassen Sie uns eine Bestandsaufnahme Ihrer vorteilhaften Partien machen“, schlug Leonie vor.
„Vorteilhafte Partien!“, rief Lady Gladys erstickt.
„Zusätzlich zu den bereits aufgezählten Punkten haben Sie einen reinen Teint, eine elegant geformte Nase und hübsche Hände.“
Überrascht sah Lady Gladys auf ihre Hände hinab.
„Wobei die übergeordnete Rolle natürlich dem Dekolleté zukommt“, fuhr Leonie fort. „Männer schauen gern auf den Busen. Für gewöhnlich fällt ihr Blick sogar zuerst darauf.“
Nach wie vor starrte Lady Gladys auf ihre Hände, als sähe sie diese zum ersten Mal. „Tun sie nicht. Sie sehen mich nie an. Und wenn ich dann etwas sage …“ Sie verstummte. Eine Träne rann ihr über die Wange.
Leonie reichte ihr ein Taschentuch.
„Ihre erste Saison lief wohl nicht besonders gut“, bemerkte sie. Das hatte Lady Clara ihr verraten – oder war es Sophy gewesen? Jedenfalls waren ihr die Einzelheiten nicht bekannt, aber die waren unwichtig.
Lady Gladys putzte sich geräuschvoll die Nase. „Was für eine Untertreibung! Sie wissen es; die ganze Welt weiß es – ich war ein kolossaler Reinfall. Es war so entsetzlich, dass ich mich wieder in Lancashire verkrochen habe.“
„Dennoch sind Sie zurückgekommen“, stellte Leonie fest.
Lady Gladys errötete, dieses Mal in einem zarteren Ton. „Das hat nichts mit der Saison zu tun“, stieß sie hastig aus. „Die ist ohnehin fast vorbei. Aber ich habe in den Zeitungen gelesen, dass Lord Swanton aus seinen Werken lesen und einige Vorträge über Dichtkunst halten wird. Dass ich zurückgekehrt bin, hat … hat rein literarische Gründe. Es hat nichts damit zu tun, dass … Ich will sagen, dass ich auf keinen Fall hergekommen bin, um mich neuerlich einem Spießrutenlauf auszusetzen – Bällen, Menschenmassen und dergleichen.“
„Ich fand immer schon, dass die erste Saison einer jungen Dame einem Preisboxen oder einem Pferderennen gleichkommt“, meinte Leonie. „Ein Heer an Mädchen, das zur gleichen Zeit auf die Gesellschaft losgelassen wird. Allesamt sind auf einen Gatten aus und bedienen sich dabei unlauterer Methoden. Die Rivalinnen an Ihrer Seite können Sie weder mit Peitsche noch mit Sporen traktieren, aber mit Worten lässt sich dieselbe Wirkung erzielen.“
Lady Gladys lachte. „Rivalinnen! Ich stelle für niemanden eine Konkurrenz dar. Und dann musste ich mein Debüt ausgerechnet zusammen mit Clara geben. Aphrodite hätte womöglich eine Chance neben ihr gehabt – oder vielleicht auch nicht.“
„Ich kann nachvollziehen, dass es nicht einfach war. Dennoch sollten wir nicht außer Acht lassen, dass Sie Ihr Debüt gegeben haben, bevor meine Schwestern und ich uns in London niedergelassen haben. Sie waren nicht gut vorbereitet.“ Lady Gladys’ Gouvernanten und Tanzlehrer hatten ihr ebenso einen schlechten Dienst erwiesen wie ihre Schneiderin. Ihre Ladyschaft schritt nicht etwa wie eine Dame einher, sondern bewegte sich hölzern und linkisch. Und ihr Gang war nur eine von vielen abträglichen Eigenschaften. „Auf jeden Fall waren Sie nicht anständig gekleidet.“
„Oh ja, das erklärt alles. Unter Ihrer Ägide wäre ich natürlich zur Ballkönigin avanciert.“ Leonie trat einen Schritt zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und taxierte ihre neue Kundin. Nachdem es einen ausgedehnten Moment lang in ihrem Kopf rege gearbeitet hatte, entgegnete sie: „Ja, Mylady. Ja, das wären Sie. Und ja, das können Sie immer noch.“
Freitag, 10. Juli
Früher Abend
„Du boshafte kleine Schlange! Ich habe sie immer schon bedient!“
„Immer schon? Ein einziges Mal, vor zwei Monaten.“
„Erst letzte Woche habe ich Lady Renfrew aufgewartet, während du die Zeit damit vertrödelt hast, Mr. Burns schönzutun.“
„Gar nicht wahr!“
„Vielleicht hat er nicht mit dir geflirtet, aber du hast dir alle Mühe gegeben.“
Leonie hatte das Gezeter gehört. Sie eilte aus ihrem Büro zur Nähstube, als auch schon Jeffreys aus demselben Grund aus dem Verkaufsraum herbeihastete.
Als sie durch die Tür stürmten, hatte Glinda Simmons sich bereits Joanie Barker gepackt. Die beiden kratzten, traten, schlugen sich und zogen einander an den Haaren, wobei sie unablässig kreischten. Auch die übrigen Mädchen kreischten. Binnen weniger Minuten lagen Ballen wertvollen Stoffes, Schachteln mit Zierbändern, Blumen, Federn und andere Artikel im ganzen Raum verstreut auf dem Boden.
Leonie klatschte in die Hände, aber niemand schenkte ihr Beachtung. Sie und Jeffreys mussten eingreifen und die zwei Mädchen gewaltsam trennen. Das änderte nichts am Geschrei. Die beiden Streitenden beriefen sich auf Zeugen, um auf diverse Vergehen der jeweils anderen Partei zu pochen. Die Zuschauerinnen nahmen dies zum Anlass, ihren eigenen Unmut gegen diese oder jene Person zu äußern.
Es dauerte eine knappe Stunde, bis die Ordnung wiederhergestellt war. Nachdem Leonie die Mädchen gewarnt hatte, dass sie allesamt fristlos und ohne Zeugnis entlassen würden, falls sich ein solcher Ausbruch wiederholen sollte, eilte sie nach oben, um ihr Tageskleid abzulegen. Jeffreys folgte ihr.
„Schicken Sie lieber Mary Parmenter, mir zu helfen“, meinte Leonie. Mary war damit betraut worden, den Verkaufsraum zu hüten, als Jeffreys herbeigerannt war, um den Streit zu beenden.
„Behalten Sie die Näherinnen im Auge. Ihnen gelingt es am besten, diesen Reibereien einen Riegel vorzuschieben.“
Dies war nur einer der Gründe, weshalb die blutjunge und zerbrechlich anmutende Selina Jeffreys ihre Vorarbeiterin war.
Jeffreys ging nicht darauf ein und machte sich daran, Leonies Pelerine zu lösen. „Sie werden zu spät kommen, Madame“, merkte sie an. „Und Sie wissen, wie nervös und ungeschickt Parmenter ist, wenn sie sich gehetzt fühlt, im Gegensatz zu mir.“
„Nie“ wäre Leonie weit lieber gewesen als „zu spät“. Sie fieberte der anstehenden Verpflichtung nicht gerade entgegen.
Lord Swanton hielt eine Lesung, in deren Rahmen Spenden für das Taubstummen-Spital gesammelt wurden. Dies war genau die Sorte von Veranstaltung, auf der Sophy stets brillierte. Sie hätte sich kurz eingefunden, um sich sogleich wieder fortzustehlen und einen ausführlichen Artikel für Londons beliebtestes Klatschblatt zu erstellen, „Foxe’s Morning Spectacle“. In dem Bericht wäre zudem detailreich geschildert worden, was jede anwesende Kundin der Maison Noirot getragen hatte.
Leonie blickte dem Verfassen des Artikels mit derselben Euphorie entgegen, die ihre französischen Vorfahren bei dem Gedanken an ein Tête-à-Tête mit Madame Guillotine erfüllt haben dürfte.
Jeffreys, die Leonies düstere Miene falsch deutete, fühlte sich bemüßigt zu sagen: „Machen Sie sich bitte keine Sorgen wegen der Mädchen, Madame. Sie werden sich ab jetzt benehmen. Es ist wieder diese Phase im Monat; Sie wissen ja, wie es sich verhält mit Mädchen, die ständig zusammen sind.“
Ja, sie alle hatten „diese Phase“ zum gleichen Zeitpunkt.
„Diesen Monat ist es schlimmer als sonst, und wir beide wissen, wieso“, entgegnete Leonie. Marcelline hatte einen Duke geheiratet und Sophy einen künftigen Marquess. Jede andere Frau hätte die Chance genutzt, um der Arbeit zu entkommen, aber Marcelline und Sophy waren nicht wie andere Frauen. Vielleicht würden sie die Arbeit irgendwann aufgeben, aber auf keinen Fall kampflos.
Die Mädchen verstanden das nicht, und es war nicht leicht, ihnen die Sache verständlich zu machen, da weder Marcelline noch Sophy sich derzeit häufig blicken ließen. Marcelline litt unter Morgenübelkeit und verbrachte auf Anraten des Arztes einen Gutteil des Tages im Bett. Sophy hatte untertauchen müssen, damit die vornehme Gesellschaft die französische Witwe vergaß, die sie jüngst gespielt hatte.
Somit blieb nur Leonie, die zwar ebenfalls die Fertigkeiten ihrer Schwestern besaß, diese jedoch nicht mit derselben Finesse beherrschte. Jede von ihnen hatte ihre besonderen Gaben, und Leonie vermisste die Talente – und die Gesellschaft – der beiden anderen schmerzlich.
Hinzu kam, dass niemand besorgter war als sie, was die Zukunft der Maison Noirot anging.
Sie hatte alles in den Laden gesteckt, was sie hatte – Verstand, Körper, Seele. Die Cholera hatte ihnen ihre Cousine Emma wie auch das alte Leben in Paris geraubt. Emma war viel zu jung gestorben, aber hier in London lebten ihr Geist und ihr Genie in den Herzen der Schwestern weiter sowie in der neuen Existenz, die sie sich mühevoll aufgebaut hatten.
„Die Mädchen werden sich besser fühlen, wenn Sophy und Marcelline wieder öfter im Laden sind“, sagte Leonie. „Routine und Alltag, Jeffreys. Sie wissen, dass unsere Mädchen nicht nur beschäftigt werden wollen, sondern vor allem feste Strukturen brauchen.“ Viele waren nach einem harten, ungezügelten Leben in wohltätigen Einrichtungen gestrandet. „Aber die Dinge ändern sich nun einmal, und wir alle müssen uns anpassen.“ Das war für diese Mädchen nicht einfach. Veränderungen ängstigten sie. Das verstand sie gut. Wandel brachte auch sie aus dem Takt. „Wir werden alle Hände voll zu tun haben, ihnen eine neue Routine zu verschaffen.“
„Madame, Sie brauchen nicht etwa mehr Arbeit, sondern mehr Ruhe“, hielt Jeffreys dagegen.
„Sie können sich unmöglich dreiteilen.“
Leonie lächelte. „Nein, aber gemeinsam könnte es uns beiden zumindest ansatzweise gelingen. Beeilen wir uns. Ich muss dort sein, ehe alles vorbei ist.“
Später am Abend
Leonie hastete zum Gesellschaftszimmer, das sich neben dem Vortragssaal des New Western Athenaeum befand.
Wie angewurzelt blieb sie stehen, als eine hochgewachsene, schwarz gewandete Gestalt aus dem Schatten einer Fensternische trat.
„Ich dachte schon, Sie kommen nicht mehr“, begrüßte Lord Lisburne sie.
Seine Kleidung, erkannte sie nun, war nicht ausschließlich schwarz. Zum schneeweißen Hemd und Krawattentuch trug er eine grüne Seidenweste mit kunstvoller Goldstickerei. Diese zog die Aufmerksamkeit unweigerlich auf seine schmale Taille … von wo aus Leonie den Blick unwillkürlich tiefer wandern ließ zu den Pantalons seiner Abendgarderobe. Diese schmiegten sich eng an seine langen, muskulösen Beine.
Es dauerte einen Augenblick, bis ihr Atem sich beruhigt hatte. „Waren wir verabredet?“, fragte sie. „Falls ja, muss ich zu diesem Zeitpunkt unter dem Einfluss einer Gehirnerschütterung gestanden haben, da ich mich nicht entsinne.“
„Oh, ich bin schlicht davon ausgegangen, dass Sie auftauchen würden.“ Er wedelte mit einer behandschuhten Hand in Richtung der Türen des Vortragssaales. „Swanton. Scharenweise junge Damen.“ Er wies auf ihr Kleid. „Werbung, nicht wahr?“
Leonie hatte für dieses Ereignis eine Robe aus grüner Seide gewählt. Obgleich es ein Abendkleid und tiefer ausgeschnitten war als ein Tageskleid, war es schlicht genug für einen öffentlichen Vortrag. Es wies weder Seidenspitze noch Rüschen auf, geziert nur von einer dezenten, in dunklerem Grün gehaltenen Stickbordüre oberhalb des tief angesetzten Volants am Rock sowie am Saum. Aufregend waren vor allem die riesigen Schlitzärmel, unter denen die Ärmel ihrer Chemise zu erahnen waren – ein Hauch Unterwäsche, mit anderen Worten. Über die Schultern hatte sie sich gewollt nachlässig ein feines cremefarbenes Seidentuch mit einem weinroten und goldenen Blumenmuster geworfen, das das Weiß, das durch die Ärmelschlitze blitzte, umso stärker betonte.
„Ich wollte früher hier sein“, erklärte sie. „Aber im Laden war heute ziemlich viel los, und durch die Hitze sind alle gereizt und unleidlich. Die Kundinnen fahren die Mädchen im Laden an, die sich wiederum in der Nähstube mit den Näherinnen streiten. Wir hatten eine kleine Krise zu bewältigen, und das hat länger gedauert, als es hätte dauern sollen.“
„Sie Glückliche. Sie haben das ‚Arme Rotkehlchen‘ verpasst.“
„Das arme Rotkehlchen?“
Er setzte seinen Hut auf, senkte den Kopf und rezitierte mit Grabesstimme:
Als so berückend, friedensreich das Lied letztmals erscholl,
dacht ich nicht, dass es so bald heißt – Leb wohl, Vogel, leb wohl!
Der Wintermorgen wolkenschwer, und eine Träne floss.
Denn Rotkehlchen, es sitzt nicht mehr auf watteweißem Spross!
„Ach herrje!“, entfuhr es ihr.
„So ging es weiter“, sagte er. „Über endlos viele Strophen hinweg.“
Ihr sank das Herz. Man musste es Lord Swanton hoch anrechnen, dass er seinen Einfluss geltend machte, um Spenden für einen guten Zweck zu sammeln. Aber wenn sie sich zwei Stunden oder gar länger „Armes Rotkehlchen“ würde anhören müssen, würde sie sich in die Themse werfen.
„Lord Swanton scheint sich die nichtigen Kümmernisse des Lebens sehr zu Herzen zu nehmen“, bemerkte sie.
„Er kann nicht anders. Eigenen Aussagen zufolge bemüht er sich, Byron im Stile von ‚Don Juan‘ nachzueifern. Was er stattdessen hervorbringt, mutet eher wie eine äußerst rührselige Version von ‚Childe Harolds Pilgerfahrt‘ an. Bestenfalls. Zum Glück für Sie ist ohnehin kein Platz mehr im Saal.“
Kein Platz mehr. Erleichterung durchwehte sie wie eine kühlende Brise. Sie würde nicht stundenlang trübsinnigen Gedichten lauschen müssen …
Aber sie war nicht hier, um sich zu vergnügen, hielt sie sich vor Augen. Es ging ums Geschäft. Wo Lord Swanton sich die Ehre gab, weilten auch die Damen, die sich die Maison Noirot gern als Stammkundinnen gesichert hätte. Nicht minder bedeutsam war, dass Lady Gladys hier sein würde.
„Umso besser, dass Andrang herrscht“, erklärte sie. „Und ein spätes Erscheinen wird Aufmerksamkeit erregen.“
„Es wird Ihnen nicht gelingen, sich hineinzuquetschen. Als ich meinen Platz aufgab, nahmen ihn gleich zwei Frauen in Beschlag. Der Vortragssaal ist gerammelt voll. Die meisten Herren haben sich an den Rand verdrückt. Da die sich langweilen und Sie jung und ansehnlich sind, sollten Sie auf so manch schweißnasse Hand gefasst sein, die sich an Stellen zu verirren droht, an denen sie nichts zu suchen hat.“
Ein Schauer überlief sie. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie begrapscht würde. Sie wusste sich zu wehren, aber das machte ein solches Erlebnis nicht weniger widerwärtig. „Ich habe Lady Gladys versprochen zu kommen.“
„Wieso, um alles in der Welt?“
„Es geht ums Geschäft“, erwiderte sie.
„Was so viel heißt wie: Es geht mich nichts an“, konstatierte er.
Sie hatte nicht die Absicht, ihm von jener Nacht in Paris zu erzählen, als sie nach Hause geeilt war, um ihre Schwestern vor der Gefahr zu warnen. Sie war in eine Gruppe Männer geraten, die sie betatscht hatten, und nur knapp einer Schändung entgangen.
Dies ist nicht Paris, sagte sie sich. Dies war London, und in diesem Gebäude befand sich kein Pöbel. Es war schlicht überlaufen, wie es bei vielen öffentlichen Veranstaltungen der Fall war. Sie schritt auf die Tür zum Vorlesungssaal zu.
Er folgte ihr. „Ein heißer, stickiger Raum voller hysterischer Mädchen und verdrießlicher Männer, und Swanton und dessen Dichterfreunde ergehen sich schluchzend in gefallenem Laub, toten Piepmätzen und welkem Grünzeug. Ja, ich kann nachvollziehen, weshalb Sie unbedingt hineinmöchten.“
„Es geht ums Geschäft.“
Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und lugte hindurch.
Den Türhütern war es gelungen, den Eingangsbereich frei zu halten, aber Leonies Sicht war begrenzt. Das Parkett war vorwiegend von Frauen besetzt, die so eng zusammengepfercht waren, dass sie einander fast auf dem Schoß saßen. Auch die oberen Ränge wurden von Frauen beherrscht; nur wenige Männer befanden sich dort – vermutlich Väter und Brüder. Unter dem Gewicht schien sich die Galerie zu biegen. Die Stehplätze waren allesamt von Herren besetzt. Im Saal herrschte drückende Hitze, und der Geruch von zu vielen Leibern drang Leonie in die Nase.
Derweil trug jemand, den sie nicht kannte, stockend eine Ode an eine dahinsiechende Rose vor.
Leonie zog sich zurück, wobei sie mit dem Rücken gegen etwas Warmes, Festes stieß.
Seide traf wispernd auf Seide.
Lord Lisburne hatte sich vorgebeugt, um ihr über die Schulter zu schauen. Der Duft nach frisch geplättetem Leinen und Rasierseife mischte sich mit seinem maskulinen Aroma, überdeckte den abstoßenden Geruch der Menschenmenge und bemächtigte sich ihrer Sinne.
„Sind Sie nicht froh, dass Sie zu spät sind?“, fragte er. „Ansonsten würden Sie nun da drinnen festsitzen.“ Sein Atem kitzelte sie am Ohr. „Und entkommen könnten Sie erst, wenn alles vorbei wäre.“
Sie wäre gefangen gewesen und hätte stundenlang lyrische Ergüsse über sich ergehen lassen müssen. Leonie schloss die Augen und ermahnte sich, dass es um nichts als das Geschäft ging, ehe sie tief durchatmete, sich zusammenriss und die Augen wieder aufschlug.
Sie würde durch diese Tür gehen. Sie …
Lord Lisburne legte eine seiner großen, behandschuhten Hände wenige Zoll von ihrer Schulter entfernt auf die Tür und drückte sie zu. „Ich habe eine Idee“, sagte er. „Gehen wir in den Zirkus.“