Leseprobe Vergessene Seelen

1.

Betty warf einen Blick auf die Uhr. Es war an der Zeit aufzubrechen, bevor sie rausgeschmissen wurde. Sie legte DEN SPIEGEL zurück auf das Tischchen mit den Zeitungen, zog das Aufladegerät für ihr Handy aus der Steckdose und griff nach ihrem Rucksack. Zu lange schon saß sie in dem Café und die Kellnerin verlor allmählich die Geduld, wie man an ihrem säuerlichen Gesichtsausdruck unschwer erkennen konnte. Ein Getränk in zwei Stunden war ihr dann doch zu wenig Umsatz und ein viertes Mal wollte Betty nicht gefragt werden, ob sie noch einen Wunsch hatte.

Wünsche hatte sie viele, einen warmen Tee zum Beispiel oder ein Stück von dem Apfelkuchen, der so verführerisch nach Zimt duftete. Aber sie konnte sich weder das eine noch das andere leisten. Sie gab Loki ein Zeichen und sie brachen auf.

Wenn ihr vor wenigen Monaten jemand erzählt hätte, dass ein Stück Kuchen in einem Café, eine warme Mahlzeit am Tag oder der Zugang zu einer sauberen Toilette für sie zu einer täglichen Zerreißprobe werden würde, sie hätte wahrscheinlich nur den Kopf geschüttelt und gelacht. Doch diese Zeiten waren vorbei. Und seit ihrer Flucht hatte sich ihr Leben radikal verändert.

Als Betty vor die Tür trat, fröstelte sie. Es war ziemlich kalt geworden und sie musste sich langsam was einfallen lassen. Sie lief Gefahr zu erfrieren, wenn sie weiter draußen schlief. Aber es war nicht leicht, einen Platz in einer der wenigen Notschlafstellen für Frauen zu ergattern. Die Adressen hatte sie zwar mittlerweile herausbekommen, aber die meisten waren für Hunde tabu und ein Tierheim wollte sie Loki nicht antun. Er war alles, was sie noch hatte. Er war ihre Familie. Sie atmete die kalte Januarluft ein und zog ihre Mütze tief über die Ohren.

Loki stupste sie am Bein an und schaute schwanzwedelnd zu ihr hoch. Betty streichelte seinen Kopf. „Gleich gibt’s was. Ich muss nur noch schnell zum Aldi.“

Der Hund bellte kurz zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und zusammen machten sie sich auf den Weg. Der Supermarkt war gleich um die Ecke.

„Du wartest hier“, sagte Betty und huschte in den Discounter.

Nur wenige Minuten später war sie wieder draußen, ihren Rucksack prall gefüllt mit Hundefutter, ein paar Dosen Linsensuppe und Ravioli, ein Baguette und eine Flasche Apfelsaft. Einen neuen Guthabenbon für ihr Prepaid-Handy hatte sie sich auch gegönnt.

Lange konnte sie so nicht mehr weitermachen. Ihr ging das Geld aus. Vielleicht noch eine Woche, dann waren ihre Reserven endgültig verbraucht und sie würde betteln müssen. Eine demütigende Vorstellung. Aber die Alternative gefiel ihr noch weniger: ein Antrag auf staatliche Unterstützung. Die beim Sozialamt würden ihr keinen Cent geben und sie auslachen, wenn sie Grundsicherung beantragte. Immerhin war sie die Frau von Dr. Thomas Funke, einem wohlhabenden und hoch angesehenen Rechtsanwalt mit gut laufender Kanzlei und Penthousewohnung mit Rheinblick. Aber Bettys größte Angst war, dass Tom von so einem Antrag Wind bekam. Dann würde er sie zwingen, nach Hause zu kommen, und das wäre ihr Todesurteil.

Ein kleiner Junge von vielleicht sechs Jahren stand vor Loki und beide, Hund und Kind, beäugten sich kritisch.

„Hallo“, sagte Betty. Sie war froh, dass der Junge respektvoll Abstand zu Loki gehalten hatte. Es war besser, wenn sie dabei war, wenn sich jemand dem Hund näherte.

„Ist das ein Wolf?“ Der Kleine schaute Betty aus großen Augen an.

Sie lächelte. „Nein, Loki ist ein Hund. Aber er wurde so gezüchtet, damit er aussieht wie ein Wolf. Die Rasse heißt Tamaskan. Das bedeutet mächtiger Wolf.“

Betty ging in die Hocke und kraulte Lokis Kopf. „Er mag Kinder. Willst du ihn streicheln?“

„Lieber nicht“, sagte der Junge. „Er hat gelbe Augen.“ Dann drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand zwischen den Autos auf dem Kundenparkplatz der Supermarktkette.

Betty zuckte mit den Achseln. „Komm, Loki. Wird Zeit, dass wir was zu futtern kriegen.“

Die beiden überquerten die Venloer Straße, liefen in den Stadtgarten und steuerten auf Bettys aktuelles Nachtlager zu, einem Gestrüpp, direkt am Bahndamm. Vom Park aus war ihr Versteck vor neugierigen Blicken geschützt, weil die Arbeiter vom Grünflächenamt ein paar Baumopfer des letzten Herbststurms fein säuberlich zu einer Barriere aufgeschichtet und bisher nicht abtransportiert hatten. Obwohl in einem dunklen Park gelegen, fand Betty ihren Schlafplatz sicherer als einen Hauseingang oder eine Bank auf einem öffentlichen Platz. Dort war sie sichtbar und sie befürchtete, dass die Polizei sie von dort vertreiben oder andere Menschen sie angreifen könnten.

Es war lebensgefährlich, auf der Straße, vor allem für Frauen. Der Schlafplatz für die Nacht entschied darüber, ob man am nächsten Tag noch atmete oder nicht. Eine Bekannte aus einer Notschlafstelle hatte mal zu Betty gesagt: „Sobald du einen Schlafsack dabei hast, bist du ein nackter Körper mit breiten Beinen.“

Die Frauen redeten untereinander nicht viel über ihre Erlebnisse auf der Straße, aber doch genug, dass Betty verstanden hatte, wie gefährlich es war, allein unterwegs zu sein. Trotzdem war sie nach wie vor eine Einzelgängerin. Loki war bei ihr und beschützte sie. Mit ihm fühlte sie sich sicher.

Bevor Betty und Loki hinter den Baumstämmen verschwanden, sah sie sich ein letztes Mal um, ob sie auch niemand beobachtete. Sicherer als eine Bank in der Fußgängerzone hieß ja nicht, dass sie in Sicherheit war wie in den eigenen vier Wänden hinter einer abgeschlossenen Tür. Aber um diese Uhrzeit war der Park fast menschenleer. Nur ein junger Mann mit einem Hund war noch unterwegs.

Betty atmete erleichtert aus, als sie ihren Verschlag betrat und alles noch an seinem Platz war. Die alte Matratze, das Tischchen, der Grill, in dem sie sich gleich ein wärmendes Feuer machen konnte, und die Plastikplanen, die ihr Schutz vor Wind und Regen boten. Diese wenigen Habseligkeiten konnte sie tagsüber schlecht mit sich rumtragen und alles neu zu beschaffen, war mit erheblichem Aufwand verbunden.

Sie packte ihre Einkäufe aus und als Erstes bekam Loki eine ordentliche Portion, die er gierig verschlang. Betty tat es in der Seele weh, ihren Hund so hungrig zu sehen. Früher, in einem anderen Leben, hatte er regelmäßig seine Mahlzeiten bekommen, immer das beste und teuerste Futter. Jetzt musste er, genau wie sie, nehmen, was kam, und manchmal dauerte es eben eine Weile, bis Nachschub organisiert war. Aber Loki schien das alles nichts auszumachen. Er war jung und stark, das Leben auf der Straße war für ihn ein großes Abenteuer und der Wolf in ihm war durchaus imstande, ein Kaninchen zu jagen. Gott sei Dank hatte Betty ihn gut erzogen. Er hörte aufs Wort, war gutmütig und geduldig. Aber er konnte auch ungemütlich werden, wenn jemand seinem Frauchen zu nah kam. Dieses Verhalten hatte er erst auf der Straße entwickelt und Betty war froh darüber, denn ein Beschützer wie Loki war besser als jede Lebensversicherung. Bisher war es Gott sei Dank bei ein paar knurrenden Verwarnungen geblieben.

Nachdem Loki sein Abendessen verputzt hatte, verschwand er in der Dunkelheit, um sein Geschäft zu verrichten und vielleicht ein paar Kaninchen zu scheuchen. Er blieb nie lange weg und war immer in Rufweite.

Betty machte sich an ihre eigene Abendroutine. Sie entfachte ein Feuer im Grill, um Regenwasser zu erhitzen, das sich über Tag in einem alten Eimer gesammelt hatte. Damit konnte sie sich waschen und die Linsensuppe darin erwärmen. Anschließend überprüfte sie die Planen. Es war ätzend, mitten in der Nacht von einem Regenschauer überrascht zu werden. Die Klamotten wurden tagelang nicht richtig trocken.

Für den nächsten Tag hatte sie sich vorgenommen, eine der Anlaufstellen für wohnungslose Frauen in Köln aufzusuchen, wo sie duschen und ihre Sachen waschen konnte. Dort würde sie auch ein warmes Mittagessen und einen leckeren Cappuccino bekommen. Darauf freute sie sich am meisten.

Ein Rascheln im Gebüsch ließ sie kurz aufhorchen. Aber da war nichts. Wahrscheinlich nur eine kleine Maus auf der Suche nach Nahrung. Betty machte sich daran, ihre Einkäufe zu verstauen, als Zweige knackten. Sie sprang auf und starrte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und ihr Herzschlag setzte aus. Vor dem Eingang zu ihrer Behausung stand ein glatzköpfiger großer Mann und versperrte ihr grinsend den Fluchtweg. Betty wollte zur anderen Seite flüchten, aber da stand ein zweiter Mann mit schwarzem Vollbart, die Arme vor der Brust verschränkt.

„Hallo, Süße“, sagte er. „Wohin denn so eilig?“

Und bevor Betty nach Loki rufen konnte, hatte der Bärtige ihr mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Ein altvertrauter Schmerz bemächtigte sich ihrer, ihr wurde schwarz vor Augen und sie ging zu Boden. Der Mann war sofort über ihr, zog sie auf die Matratze und steckte ihr einen alten, dreckigen Lappen als Knebel in den Mund, mit dem sie vor Kurzem erst ihren Hund trocken gerubbelt hatte. Er hielt ihre Arme fest, während der andere sich daran machte, ihr die Hose runterzuziehen. Betty trat nach ihm, aber der Mann hinter ihr verpasste ihr einen weiteren heftigen Schlag ins Gesicht. Loki, war ihr letzter Gedanke, bevor sie das Bewusstsein verlor! Als sie wieder zu sich kam, spürte sie etwas Hartes und Brennendes in ihrer Vagina. Der Glatzkopf war in ihr und stöhnte.

„Jetzt mach schon!“, knurrte der mit dem Bart, der sie immer noch festhielt. „Ich will auch noch.“

Betty wollte sich wehren, um Hilfe rufen, aber sie war wie gelähmt vor Angst. Der Knebel nahm ihr die Luft zum Atmen.

Der Glatzkopf bewegte sich schneller. Sein Stöhnen wurde lauter und Betty spürte, dass er langsam zum Höhepunkt kam. Ihre Seele schrie vor Schmerz und Verzweiflung und Tränen rannen ihr über die Wangen.

Dann hörte sie das tiefe, unheilvolle Knurren ihres Hundes. Endlich! Wo hatte er nur so lange gesteckt? Ihr Vergewaltiger zog sich abrupt aus ihr zurück und schrie wie am Spieß.

„Mach was“, brüllte er.

Der zweite Mann war für ein paar Sekunden wie erstarrt. Dann ließ er Betty los und sie nutzte die Gelegenheit, zog sich den Knebel aus dem Mund und rollte sich zur Seite.

Die Szene, die sich ihr bot, war angsteinflößend und skurril zugleich.

Loki hatte ein Bein des Vergewaltigers fest im Maul. Der Mann lag mit nacktem Hintern und halb heruntergelassener Hose auf dem Rücken und versuchte, den Hund wegzutreten. Aber Loki war geschickt und der Mann erwischte ihn nicht. Das Hosenbein war völlig zerfetzt und Lokis Schnauze voller Blut. Seine Augen funkelten wild und er knurrte.

„Wo kommt der verdammte Wolf her?“, schrie der Mann. „Mach endlich was.“

Betty suchte hektisch nach einem Gegenstand, um sich zu bewaffnen und Loki zu Hilfe zu eilen. Ihr Blick fiel auf einen dickeren Ast, der hinter dem Grill lag und darauf wartete, verbrannt zu werden. Sie robbte zu der Stelle, aber der Bärtige war schneller. Er verpasste ihr einen Tritt in den Bauch, der ihr die Luft zum Atmen nahm, schnappte sich den Ast und das Nächste, was Betty hörte, war ein herzzerreißendes Jaulen. Aber der Schlag hatte Loki nicht außer Gefecht gesetzt. Er ließ das Bein des Kahlköpfigen los, bleckte die Zähne und bellte den bärtigen Mann feindselig an. Er sah gefährlich aus und war zum Angriff bereit. Atemlos beobachtete Betty, wie ihr Hund zum Sprung ansetzte. Sie wollte noch rufen „Nein, Loki, bleib“, aber es war zu spät. Loki sprang und der schwere Ast erwischte ihn am Kopf. Der Hund fiel zu Boden, wo er reglos liegen blieb.

Für einen Moment waren alle wie erstarrt.

„Verdammte Töle“, knurrte der Glatzkopf und tastete vorsichtig nach der Wunde an seinem Bein. „Scheiße, tut das weh. Ich brauch einen Arzt. Das Biest hat mich voll erwischt.“

„Jammer nicht rum, das muss warten.“ Der Bärtige sah gierig auf Betty herunter. „Jetzt bin ich dran.“

„Bist du verrückt geworden? Lass uns von hier verschwinden.“

Aber der Bärtige schüttelte den Kopf. „Dauert nicht lange. Behalt du den Köter im Auge.“

Betty war zu ihrem schwer verletzten Hund gekrochen und hielt seinen Kopf in ihrem Schoß. Überall war Blut und Loki atmete ganz flach. Sie weinte und schickte ein stummes Gebet zum Himmel.

Als der Mann sie an den Haaren von Loki wegzog, schrie und zappelte sie, aber ein Schlag ins Gesicht machte sie gefügig. Sie warf noch einen verzweifelten Blick auf ihren Hund, aber der rührte sich nicht und als der Bärtige sich auf sie legte, schloss sie die Augen.

„Runter von ihr!“

Betty blinzelte. Ein großer Mann, mit schwarzem halblangem Haar, Vollbart und grünem Armeeparka hielt dem Glatzköpfigen die gezackte Klinge eines Jagdmessers an den Hals. Blut tropfte aus einem kleinen Schnitt.

„Ich mein es ernst“, knurrte der Hüne und drückte dem Mann mit seinem Unterarm die Luft ab.

„Tu, was er sagt.“ Der Glatzkopf japste nach Luft. „Mach schon.“

Der Bärtige ließ von Betty ab, die sich sofort zur Seite rollte.

„Und jetzt verschwindet! Wenn ich einen von euch noch mal in meinem Revier erwische, töte ich euch.“ Und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, stach er sein Messer dem Glatzkopf ins rechte Schulterblatt. Dann schubste er den schreienden Mann seinem Freund in die Arme und gemeinsam traten sie den Rückzug an.

Betty hatte die Szene genau verfolgt. Sie starrte den Neuankömmling mit dem Messer an. War er ein Retter oder der nächste Peiniger? Sie kniete sich neben Loki und streichelte seinen Kopf.

„Die haben ihn umgebracht.“ Ihre Stimme war nur ein heiseres Wimmern.

Der Mann tastete Loki mit ein paar fachmännischen Handgriffen ab. „Der ist nicht tot“, brummte er. „Wir müssen ihn ins Camp bringen, damit Kerstin die Kopfwunde behandeln kann. Zieh dich an und pack dein Zeug. Hier kannst du nicht bleiben.“

„Ins Camp, was …?“ Ein durchdringender Blick ihres Retters ließ sie verstummen.

„Ich trage den Hund. Ist nicht weit. Komm jetzt.“ Er stand auf und hob Loki hoch, vorsichtig darauf bedacht, seinen verletzten Kopf zu stützen.

Betty überlegte nicht lange. Lokis Leben stand auf dem Spiel und alleine wollte sie auf keinen Fall hierbleiben. Sie entschied, dass der Hüne ein bisschen Vertrauen verdient hatte, und wenige Minuten später verließ sie ihren Unterschlupf für immer.

2.

Franziska stellte die Thermoskanne Ingwertee zusammen mit dem Obstsalat auf das Tablett und machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer. Dort lag Tessa, dick eingepackt unter drei Decken und umrahmt von einem ganzen Areal Kissen. Im Fernsehen liefen die Gilmore Girls, ohne Ton. Lorelai stand zusammen mit ihrer Tochter Rory vor der Tür des elterlichen Anwesens, bereit, ein weiteres Mal eines der erpresserischen Freitagabendessen über sich ergehen zu lassen, damit Rory eine teure Privatschule besuchen konnte.

Franziska hatte alle Folgen der Serie gesehen. Zweimal. Das erste Mal Anfang der Nullerjahre, als die Erstausstrahlung im deutschen Fernsehen lief, und dann noch mal zusammen mit ihrer Tochter vor ein oder zwei Jahren. Sie erinnerte sich mit Wehmut an die unbeschwerte Zeit zu zweit, eingekuschelt vor dem Fernseher, mit Chips und Limo, nur sie beide. Das war lange her.

„Du siehst nicht gut aus“, sagte Franziska mit einem Blick auf das bleiche, fiebrige Gesicht zwischen den Kissen. „Hier, nimm die Tabletten. Die drücken dein Fieber und sind gut gegen die Gliederschmerzen.“

„Ja, Chefin“, antwortete Tessa und schluckte ohne einen Tropfen Flüssigkeit eine Ibuprofen runter.

Franziska reichte ihr ein Glas Wasser zum Nachspülen. Dann griff sie zum Fieberthermometer und hielt es Tessa einmal kurz ins Ohr.

„39,8“, sagte sie kopfschüttelnd. „Ich fände es besser, wenn du dich noch länger krankschreiben lässt. Im Moment haben wir ja keinen neuen Fall.“

Franziska war besorgt, weil die Nachrichten aus China wegen des neuartigen Coronavirus immer alarmierender wurden. Denn das Virus hatte nicht nur seinen tierischen Wirt überwunden, sondern war längst auf dem globalen Vormarsch.

„Das ist nur ein Schnupfen“, sagte Tessa. Ihre Nase war verstopft und ihre Stimme klang, als hätte ihr jemand mit Schmirgelpapier die Stimmbänder bearbeitet. „Es ist Januar. Halb so wild. Montag bin ich wieder am Start.“ Ein Hustenanfall strafte ihre Worte Lügen.

„Wir werden sehen.“ Franziska seufzte resigniert. Tessa war eine erwachsene Frau und nicht ihre Tochter. „Ich muss jetzt los. Die haben noch eine Leiche gefunden.“

„Echt jetzt?“ Tessa setzte sich auf. „Ich dachte, wir wären damit durch?“

„Sie war etwas abseits von den anderen vergraben. Wie es aussieht, hatte die Frau ein Kind.“

„Dieses Drecksschwein“, brummte Tessa. „Ist es seins?“

„Da müssen wir den DNA-Test abwarten. Aber ich schätze schon. Es handelt sich um einen Säugling, vielleicht vier Monate alt.“

„Manchmal ist unser Job einfach nur Scheiße“, sagte Tessa und ließ sich wieder in die Kissen sinken. „Aber Gott sei Dank konnten wir das Arschloch aus dem Verkehr ziehen.“

„Ja, Gott sei Dank.“ Franziska überprüfte mit einem letzten Blick den Wohnzimmertisch. Hustensaft, eine Flasche Wasser, der Ingwertee, Obst, Taschentücher, 600er Ibuprofen und das Handy, alles griffbereit. Dann verabschiedete sie sich und machte sich auf den Weg ins Bergische Land.

Es war Donnerstag, der 23. Januar 2020, 7:30 Uhr am Morgen.

Sie trat aus dem Haus und die kalte Januarluft fuhr ihr durch alle Glieder. Nach einem kurzen Kälteeinbruch am Jahresanfang waren die Temperaturen zur Monatsmitte hin auf erträgliche zehn Grad geklettert. Aber seit gestern war es wieder kalt und regnete ununterbrochen. Ein sprichwörtliches Sauwetter.

Franziska zog ihre Wollmütze tiefer ins Gesicht, spannte ihren Regenschirm auf und machte sich auf den Weg zu ihrem Auto. Sie fragte sich, wie es Jenny wohl ging.

Ihre sechzehnjährige Tochter war vor ein paar Wochen für ein Jahr nach Kanada geflogen und erlebte ihren ersten richtigen Winter. Sie berichtete von hohen zweistelligen Minusgraden und Schneestürmen, die alles lahmlegten, davon, dass Autotüren bei minus vierzig Grad nicht mehr schlossen, wenn sie einmal geöffnet wurden, und sie bereicherte den Englischwortschatz ihrer Mutter um ein paar neue Vokabeln, wie Windchill oder Frostbite. Das A und O bei solchen Witterungsverhältnissen war die Kleidung und Jenny hatte sich vor Ort beraten lassen. Auf den Fotos sah sie aus, als würde sie zu einer Expedition in die Antarktis aufbrechen.

„Das ist so cool, Mama. Alles, was ihr mir beigebracht habt, ist hier andersrum. Kein Lüften im Bad, um Schimmel vorzubeugen. Zumindest nicht im Winter. Denn wenn man die Fenster aufmacht, erfrieren sofort die Pflanzen. Und die lassen die Motoren laufen, während sie einkaufen gehen.“

Jenny berichtete weiter von zersplitterndem Plastik und Metall, fantastischen Eisblumen und dass man besser ein Kissen dabeihat, wenn man in ein Auto steigt, weil die Sitze eingefroren sind. Franziska wusste nicht, wie sie die Informationen einordnen sollte. Ihr fehlte die Erfahrung und so blieb sie nach den Telefonaten mit Jenny immer mit einem diffusen Gefühl der Angst um ihr Kind zurück, und der Vorstellung von einer Welt, die zur Tiefkühltruhe geworden war.

In Deutschland waren es an diesem Morgen drei Grad plus, Franziskas Auto musste nicht zehn Minuten vorgewärmt werden und ein Kissen brauchte sie auch nicht. Trotzdem war ihr kalt. Sie zog die Tür hinter sich zu und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Ihr Handy vibrierte und sie warf einen Blick auf das Display.

Heiner.

Was wollte der denn schon wieder?

Willst du die Kaffeemaschine???

Drei Fragezeichen und dieses dämliche Emoji, das ein nachdenkliches Gesicht macht.

Franziska war genervt. Ihr Mann und sie hatten sich kurz nach Weihnachten getrennt und seit ihrem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung verging kein Tag, an dem Heiner nicht irgendeine nervige Frage zum weiteren Verbleib diverser Haushaltsgeräte stellte. Das brachte sie tierisch auf die Palme.

Nein!!!

Drei Ausrufezeichen. Eins für jedes Fragezeichen.

Franziska hatte den Vollautomaten nie leiden können. Er fabrizierte zwar zugegebenermaßen guten Kaffee, aber der Wartungsaufwand stand dazu in keinem Verhältnis. Sie trank ihren Kaffee am liebsten mit aufgeschäumter Milch und Tessas italienischer Espressokocher war für ihre Zwecke vollkommen ausreichend. Sie hatte einen kleinen Milchaufschäumer in die WG eingebracht und jetzt lief morgens alles reibungslos und ohne nervige Kommandos wie leer mich, füll mich oder entkalk mich!

„Leck mich“, rief Franziska und schlug auf das Lenkrad. „Leck mich, leck mich, leck mich.“

Sie würde Heiner am liebsten blockieren. Was natürlich nicht ging. Er war Jennys Vater und noch wusste ihre Tochter nicht, dass Mama und Papa die Welt, wie sie sie kannte, pulverisiert hatten, kaum dass sie im Flugzeug Richtung Kanada entschwunden war. Und so sollte es vorerst auch bleiben. Zumindest darüber waren sie sich einig.

Aber jeden Tag diese nervigen Meldungen ging auch nicht. Sie musste mit ihm darüber sprechen. Erst gestern hatte er die Frechheit besessen, sie nach dem Verbleib seines Lieblingspullis zu fragen. Sie hatte nicht auf die Nachricht geantwortet. Denn sie war nicht mehr zuständig, wenn der zerstreute Herr Oberstudienrat mal wieder seinen Schulschlüssel, seine Lesebrille oder seinen Pullover verbummelte. Dafür hatte er jetzt die Trulla, wie Tessa sie nannte. Heiners neue Freundin, deren Namen Franziska nicht kannte, weil sie nicht gefragt hatte, und von der sie bisher nur ein diffuses Bild hatte, seit sie die beiden mal auf der Straße gesehen hatte: blond, schlank, jung.

Sechs lange Monate hatte Heiner die Trulla bereits gevögelt, bis Franziska dahintergekommen war. Und seit er sein Verhältnis gestanden hatte, verging kaum ein Tag, an dem sie nicht darüber nachdachte, warum ihre Ehe gescheitert war und was ihren Ehemann in die Arme einer anderen Frau getrieben hatte.

Für Tessa war Heiners Untreue ein klarer Fall von Midlife-Crisis. Denn die Trulla war ja nicht nur neu, sondern auch erheblich jünger. „Finde den Fehler“, hatte sie gesagt und Franziska dabei tief in die Augen gesehen. „Wehe, du gibst dir die Schuld.“

Aber das mit der Schuldfrage war so eine Sache.

Ihr Job als Kriminalhauptkommissarin bei der Mordkommission war alles andere als familienfreundlich und sie hatte ihren Mann und ihre Tochter nicht nur einmal enttäuscht. Mörder hielten sich eben nicht an Uhrzeiten oder Wochentage, und so hatten viele geplante Familienausflüge, Verabredungen mit ihrem Mann und Basketballspiele von Jenny ohne sie stattgefunden. Ein paar Mal musste sie wegen eines Falls sogar ihren Urlaub abbrechen oder verschieben. Heiner hatte ihr das regelmäßig aufs Butterbrot geschmiert und ihr jahrelang das Gefühl gegeben, eine schlechte Ehefrau und Mutter zu sein.

„Arschloch“, rief Franziska und schlug ein weiteres Mal auf das Lenkrad ein.

Eine neue WhatsApp lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf ihr Handy. Diesmal war die Nachricht nicht von Heiner, sondern von Paul. Sie las den Text und schmunzelte. Dann tippte sie eine kurze Antwort und startete den Wagen.