Leseprobe Verliebt im Ostseewind

Kapitel 1

Johanna

It Never Rains in California. Der alte Song von „The Mamas and the Papas“ dröhnte aus dem Lautsprecher. Johanna sang lautstark mit, während die Scheibenwischer im Akkord den Regen wegwischten. Ihr Wagen schnurrte leise vor sich hin und dank der aufgedrehten Heizung konnte sie sich fast einbilden, gerade Urlaub in Kalifornien zu machen. Nur noch wenige Minuten, dann war sie zu Hause. Vor ihr lagen drei freie Tage, ein Grund zum Freuen.

Prüfend blickte sie durch die regennasse Scheibe zum Himmel hinauf. Doch dieser war noch immer grau, die Wolken schwer von den Wassermassen. Vom angekündigten Sonnenschein am späten Nachmittag keine Spur. Es sah eher nach Dauerregen aus. Der Song endete und das aufgesetzt fröhliche Geplapper des Radiomoderators erklang. Mit halbem Ohr lauschte sie auf die nun folgenden Nachrichten, während sie erste Pläne schmiedete. Vielleicht würde sie zusammen mit ihren beiden Töchtern einen Ausflug ins Schwimmbad unternehmen. Oder sie legte einen Schreibtischtag ein und sortierte all ihre Unterlagen. Die angedachte Gartenarbeit konnte sie bei dem Wetter auch mühelos auf später verschieben.

Eine überraschende Böe trieb den Regen waagerecht vor sich her und drückte ihr Fahrzeug zur Seite. Erschrocken umklammerte Johanna das Lenkrad fester und trat auf die Bremse. Der Graben mit dem dunkel glitzernden Wasser kam bedrohlich näher. Nach ein paar bangen Momenten schaffte sie es, das Fahrzeug unter Kontrolle zu bekommen. Kurz drehte sich das Hinterrad im durchweichten Straßenrand, dann war sie wieder auf der Fahrbahn. Hinter ihr erklang protestierendes Hupen. Johanna zuckte mit den Schultern, froh darüber, dass nichts passiert war. Sie nickte dem Fahrer des Sportwagens freundlich zu, als er sie mit aufjaulendem Motor überholte.

Sie wollte nur noch eins: Sicher zu Hause ankommen. Die saftig grünen Getreidefelder wechselten sich mit knallgelb blühenden Rapsfeldern und kleinen Baumgruppen ab. Dazwischen gab es immer wieder schnurgerade Entwässerungsgräben, in die nun das Regenwasser lief.

Campingplatz. Der mit Brombeerranken zugewachsene Wegweiser tauchte vor ihr auf. Touristen fuhren regelmäßig daran vorbei und kurvten anschließend suchend herum. Navi hin oder her, ohne Ortskenntnis lief hier gar nichts! Johanna ließ die Abzweigung links liegen und fuhr die lang gestreckte Kurve rechtsherum.

Ein Ortsschild huschte an ihr vorbei. Selbst ohne darauf zu blicken, wusste Johanna, was dort stand.

Herzlich Willkommen in Kalifornien!

Die ersten rot geklinkerten Häuser leuchteten auf, als ein flüchtiger Sonnenstrahl sie traf. Gleich hinter der Pferdekoppel versteckte sich ein älteres Gebäude zwischen mehreren hochgewachsenen, wuscheligen Kiefern. Das war ihr Zuhause. Wobei, sie verdrehte die Augen. Noch gehörte es zu großen Teilen der Bank und nicht ihr.

Der Wagen rüttelte und schüttelte sich kräftig, während sie schneller als ratsam die Auffahrt hinauffuhr. Täuschte sie sich, oder knackte da nicht gerade einer der Stoßdämpfer gefährlich? Sie trat auf die Bremse und legte das letzte Stück im Schritttempo zurück. Im Augenblick konnte sie sich kein neues Auto leisten, also musste sie vorsichtig sein.

Sie parkte ihren Wagen direkt vor dem Walnussbaum, der seine grünen Blätter gen Himmel streckte. Motor aus. Das sonore Brummen erstarb und Johanna lehnte sich aufseufzend in ihrem Sitz zurück. Während sie ausstieg, stahl sich ein Sonnenstrahl zwischen den Wolken hervor. Sie lächelte versonnen, drehte sich um, blickte nach oben und schickte ihrem verstorbenen Ehemann einen kleinen Gruß.

Beladen mit drei Einkaufstaschen wankte sie die Stufen zum Wohnhaus hoch. Beim Näherkommen hörte sie bereits ihre beiden Mädchen miteinander streiten. Nein, sie wollte nicht wissen, worum es ging.

„Hallo, ihr beiden, ich bin wieder da.“ Sofort verstummten die Stimmen, dafür erklang fröhliches Getrappel auf der Treppe. Wenig später flog die Wohnungstür auf und zwei Arme streckten sich ihr entgegen.

„Hallo Mama! Endlich bist du da!“ Johanna setzte die Taschen ab, und nahm ihre Tochter in die Arme. Liebevoll streichelte sie Mila über die Wange. Wie so oft trug sie ihre schulterlangen Haare offen. Drei winzige Spangen bemühten sich vergeblich, der Angelegenheit einen Hauch von Frisur zu verleihen. „Ich habe die Mathearbeit zurück. Eine glatte zwei!“

„Super, dann bist du ja ein echter Matheprofi.“ Sie hauchte Mila einen Kuss auf den Scheitel. „Zur Feier des Tages spendiere ich dir ein Eis, wie wäre es damit?“

„Gerne.“ Die dunkelbraunen Augen ihrer Tochter leuchteten vor Freude auf und sie tanzte übermütig auf der Stelle. „Soll ich dir die Arbeit zeigen?“

„Lass mich erst mal reinkommen.“ Johanna reichte ihrer Tochter eine Tasche und trat in den Flur. „Bringst du die Einkäufe bitte in die Küche?“

Einem Wirbelwind gleich flitzte Mila den Flur entlang. Mit ihren zehn Jahren war sie hochgewachsen und schlaksig. Der Beutel schien fast nichts zu wiegen, so lässig schwenkte sie ihn hin und her.

Suchend sah sich Johanna um, während sie ihre Jacke an den Haken hängte und schließlich ihrer Tochter folgte. „Wo ist Franka? Ich habe sie doch eben gehört.“

„Ach, die ist noch oben. Sie wollte ihre Ruhe haben und zocken.“ Bei diesen Worten drehte sich Mila nicht um, sondern zuckte nur vielsagend mit den Schultern. Eindeutig, die beiden hatten sich gestritten.

„Und warum will sie ihre Ruhe haben? Konntet ihr euch mal wieder nicht einigen, wer zuerst spielen darf?“ Wie erwartet erhielt sie darauf keine Antwort. Dafür hatte Mila die Eispackung entdeckt und riss sie entschlossen auf. Eine Großpackung ihres geliebten Kaugummi-Eis! Glücklich strahlte Mila sie an, murmelte ein Dankeschön und huschte durch die Hintertür in den Garten. Hatte sie also mal wieder die geheimen Wünsche ihrer Tochter erfüllt.

Jetzt brauchte sie erst einmal einen Kaffee. Johanna drückte den Knopf der Kaffeemaschine und während diese zum Leben erwachte, räumte sie die Einkäufe weg. Drei lange, freie Tage lagen vor ihr. Eine Pause für den immer zwickenden Rücken und die schmerzenden Füße.

„Ich bin bei den Pferden, und helfe Monja beim Füttern.“ Die Stimme von Franka hallte durch den Flur. Noch bevor Johanna etwas erwidern konnte, hörte sie nur noch das Knallen der Haustür und das beinahe unvermeidliche Klirren der Butzenscheiben. Diese Tür wurde eindeutig mit mehr Elan zugeschlagen, als es das alte Holz vertrug. Das Trappeln von Füßen erklang auf den steinernen Stufen.

Auch gut. Ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen, während sie den Schritten ihrer ältesten Tochter lauschte. Sollte sie ruhig noch vor dem Abendessen an die frische Luft und sich nützlich machen.

Johanna strich sich eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht und stellte den Kaffeebecher auf den Beistelltisch. Sie erhob sich von ihrem abgewetzten, aber unschlagbar bequemen Ohrensessel und lief in die Küche. Ihr Blick fiel auf die Anrichte und sie betrachtete nachdenklich das Bild ihres Mannes. Es zeigte ihn, wie er mit der Sense zwischen den Apfelbäumen stand und sie anlachte. Ein verwegenes, abenteuerliches Grinsen, so als ob er es jederzeit mit den Stürmen des Lebens aufnehmen würde. Eine kleine Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel und rann über ihre Wange. Die Traurigkeit traf sie unvorbereitet und mit aller Wucht. Das Bild war kurz vor seinem überraschenden Tod entstanden.

„Mama, wann gibt es was zu essen? Monja hat mich geschickt. Sie meinte, ich soll fragen, damit ich nicht zu spät zum Essen komme.“ Franka, die eine schmutzige Jeans und noch dreckigere Schuhe trug, tauchte überraschend in der Küche auf.

Johanna zuckte zusammen und wischte mit einem Finger die Träne fort. Franka sollte nicht sehen, dass sie geweint hatte. Doch darum kümmerte sich ihre Tochter gar nicht. Vielmehr schweifte ihr Blick über den Tisch, wo die Zutaten für einen Salat lagen.

„Machst du uns einen bunten Nudelsalat? Mit ganz viel Paprika und noch mehr Nudeln?“

„Ja und Würstchen, Mais und …“ Sie zuckte mit den Schultern und freute sich darüber, dass zumindest Franka zur Gemüsefraktion gehörte. „… und natürlich, was ich sonst noch so finde. In einer halben Stunde können wir essen.“

Offenbar zufrieden mit der Antwort schnappte sich Franka eine Scheibe Fleischwurst und flitzte wieder hinaus.

„Warte!“ Vergebens. Ihre Tochter war schon außer Hörweite. Sie hatte eine unübersehbare Spur aus Heu und Sand hinterlassen. Johanna seufzte und griff nach dem Besen, der in der Ecke stand und kehrte den Dreck zusammen. Aus leidvoller Erfahrung wusste sie, dass ein bisschen Dreck ganz viel weiteren anzog. Und nein, sie wollte in ihrer Wohnung nicht ständig das Gefühl haben, auf einer Pferdekoppel zu leben.

Das Nudelwasser kochte, die eingelegte Paprika war geschnitten. Zufrieden atmete Johanna auf. Gerade lief alles nach Plan und sie freute sich schon auf einen gemütlichen Abend auf dem Sofa.

Im Dachgeschoss hörte sie ihre Töchter rumoren. In Kürze würden sie hungrig und müde eintreffen. Es wurde also Zeit, dass das Essen auf den Tisch kam.

Sie schob die Paprika in die Schüssel, nahm eine Dose Mais und wollte sie gerade öffnen, als es an der Küchentür klopfte. Sie verharrte in der Bewegung und noch bevor sie ein flottes Ja rufen konnte, ging die Tür auf. Wie erwartet war es Monja, ihre Untermieterin.

Johanna stockte und musterte ihre Untermieterin genauer. Monja war Anfang zwanzig und eine zierliche, hochgewachsene Frau mit dunklen Augen. Sie konnte anpacken und auf sie war stets Verlass. Nichts wies darauf hin, dass sie als Programmiererin Rollenspiele schrieb, in denen Elfen und knuffige Einhörner gegen böse Monster kämpfen.

Anders als sonst, hatte sie dieses Mal keine übermütig blitzenden Augen und kein forsches Grinsen auf den Lippen. Selbst ihre schulterlangen Haare, häufig von Wind und Wetter zerzaust, lagen brav am Kopf. Was war los? Eine eiskalte Hand schien nach ihrem Herzen zu greifen und hielt es fest, sodass jeder Schlag einem Kampf gleichkam.

„Moin Monja, du kommst genau richtig. Das Essen ist gleich fertig.“ Sie gab sich fröhlich und ungezwungen, doch das ungute Gefühl blieb. Besonders als Monja sich anders als gewohnt nicht auf ihren Stammplatz setzte, sondern mitten in der Küche stehen blieb.

„Nein, heute nicht. Ich muss gleich weiter.“ Sie rieb ihre Hände an der Jeans ab, deren Flecken davon zeugten, dass sie geradewegs vom Stall gekommen war und trat nervös von einem Fuß auf den anderen.

„Ich habe einen Job als Programmiererin gefunden.“

„Das ist doch schön.“ Johanna goss das Nudelwasser ab, der aufsteigende Wasserdampf vernebelte ihr die Sicht. Das beklemmende Gefühl löste sich leider nicht in Luft auf.

„Ja, ich freue auch sehr.“

Johanna lauschte auf die Stimme und versuchte, zu erkennen, was Monja ihr damit sagen wollte. „Es ist die Chance für mich. Ich darf ein Projekt von Anfang an leiten!“

Nun klang Begeisterung in ihrer Stimme mit. So viel Begeisterung, dass sich ihre Stimme überschlug. „Das bedeutet aber auch, dass ich nach München umziehen muss.“

Beinahe wäre Johanna vor Schreck die Schüssel aus der Hand gefallen. München! Das lag am anderen Ende der Republik.

Die Stimme von Monja verlor an Kraft, aber sie musste nicht weiterhören, um zu verstehen, was das für sie bedeutete.

„Ich muss die Wohnung kündigen, und zwar so schnell wie möglich. So leid es mir tut. Bitte, bitte komm mir entgegen, damit ich zum Monatsende schon ausziehen kann. Ich zahle dir auch eine Monatsmiete als Entschädigung, denn ich werde schon in gut zehn Tagen in München erwartet.“

Ein dicker Kloß bildete sich in Johannas Hals. Diese Nachricht kam mehr als überraschend für sie. Sie räusperte sich kräftig und rührte scheinbar konzentriert die Nudeln in den Salat.

„Das ist ja super für dich. Was für eine Chance.“ An ihr war eine Schauspielerin verloren gegangen, wie Johanna in einem Anfall von Ironie dachte. Sie hob den Kopf, sah Monja in die Augen und verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen, obwohl sie das Gefühl hatte, dass ihr Gesicht einer verzerrten Grimasse glich.

Die Erleichterung auf Monjas Gesicht war unübersehbar. „Du bist mir nicht böse?“

„Nein, warum sollte ich? Du bist meine Mieterin und dir steht es frei, jederzeit auszuziehen. Abgesehen davon, du bist jung und hast noch das ganze Leben vor dir. Warum solltest du hier fern ab jeglicher Zivilisation deine Jahre verbringen?“

„Danke.“ Mit zwei Schritten war Monja bei ihr und umarmte sie spontan. Eine dichte Wolke aus Pferdemist umfing sie. Unbewusst trat Johanna einen Schritt zurück.

„Bitte Abstand, ich koche Essen und möchte nicht nach Stall riechen.“

„Kein Problem. Und wie gesagt, ich zahle dir eine Monatsmiete als Entschädigung, dann ist es auch für dich leichter.“

Dass soeben eine Welt für sie zusammenbrach, verschwieg Johanna lieber. Wie sollte sie ihr auch erklären, dass sie Monja als Untermieterin nicht nur schätzte, sondern auch froh darüber war, dass diese sich regelmäßig um ihre Kinder kümmerte, wenn sie mal wieder länger arbeiten musste?

„Hast du den Mädchen schon davon erzählt?“ Johanna stellte die Schüssel auf den Tisch und drehte ihrer Mitbewohnerin den Rücken zu, um den Tisch zu decken. Dabei rannen zwei einzelne Tränen über ihre Wangen. Hoffentlich bemerkte Monja nicht, wie nahe ihr diese Nachricht ging.

„Nein, bis jetzt noch nicht. Ich wollte zuerst mit dir sprechen. Wenn es für dich in Ordnung ist, dann rede ich morgen mit ihnen, wenn sie mir im Stall helfen.“

„Und nun bitte ins Bad und Zähne putzen.“ Johanna legte die Gabel beiseite und sah ihre Töchter auffordernd an. Ein unterdrücktes Seufzen und leise klirrendes Geschirr waren zu hören. Die Stühle ihrer Kinder ratschten über den Boden.

„Aber ich möchte noch ein bisschen lesen“, murmelte Franka und warf ihrer Mutter einen flehentlichen Blick zu. Dabei wippten ihre hellblau gefärbten Strähnen auf und ab. „Ich bin doch kein Baby mehr, das bei Einbruch der Dunkelheit in die Heia muss. Bitte Mama.“

„Schon klar.“ Mila fischte sich eine Nudel aus der Schüssel, legte den Kopf in den Nacken und verspeiste diese genüsslich. Eine dünne Dressingspur blieb auf ihrem Kinn zurück. „Im Gegensatz zu dir habe ich meine Hausaufgaben auch schon erledigt.“

„Sei still, du Petze.“ Franka ballte die Hand zur Faust und sah ihre jüngere Schwester böse an. Bevor es zu einem handfesten Streit kam, klatschte Johanna in die Hände. Ihr Kopf dröhnte vom langen Arbeitstag und den unvermeidbaren Änderungen im Leben. Sie wollte eigentlich nur noch eins: Sich aufs Sofa setzen und Meditationsmusik hören. Mehr nicht. Doch noch etwas, sie ergänzte ihre Liste in Gedanken. Früh ins Bett gehen.

„Ruhe, kein Streit. Ihr geht jetzt beide ins Bad und macht euch bettfertig. Ich komme gleich und sehe mir eure Hausaufgaben an.“

Das Gemurmel von Franka verstand Johanna zum Glück nicht. Der gekrausten Stirn und den unwillig verzogenen Mundwinkeln nach, war das aber garantiert nichts Nettes gewesen. Johanna zog vor, es zu ignorieren.

Endlich marschierten die Mädchen in Richtung Bad und das Rauschen von Wasser wurde nur noch vom Schimpfen ihrer Ältesten übertönt. Johanna fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, ignorierte mit zusammengebissenen Zähnen die schmerzenden Füße. Nur noch schnell die Küche aufräumen, dann wartete das Sofa auf sie!

Während sie den Tisch abräumte, hing sie ihren Gedanken nach. Sie überlegte seit wann die junge Frau bei ihnen lebte. Sie rechnete nach und kam auf gut zwei Jahre, in denen Monja ihr mehr als einmal unter die Arme gegriffen hatte. Wenn Monja auszog, musste sie sich notgedrungen eine neue Mieterin suchen. Die Frage war nur, ob sie jemals wieder jemanden fand, der so unkompliziert und hilfsbereit, wie Monja war. Wohl kaum. Abgesehen davon brauchte sie dringend das Geld, das sie durch die Vermietung verdiente.

Die Schüsseln klapperten laut, während sie die Spüle fütterte. Beinahe hätte sie das Telefon nicht gehört. Sie hielt inne, lauschte und stellte den Teller zur Seite.

Wer rief um diese Zeit noch an? Sie nahm das Handy an sich, drückte auf den grünen Knopf und bereute es im gleichen Augenblick. Der Anzeige nach hatte sie den Marktleiter höchstpersönlich in der Leitung. Fast hätte sie das Telefon fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Doch sie beherrschte sich und gab nur einen kurzen Gruß von sich.

„Hallo Frau Petersen, wie gut, dass ich Sie gleich erreiche.“ Diese aufgesetzte Höflichkeit, diese leicht näselnde Stimme. Johanna schüttelte sich und bedauerte seine Ehefrau. Gab es überhaupt eine Frau an seiner Seite? Bis jetzt hatte er nie etwas in der Art verlauten lassen.

Wieder streifte ihr Blick das Foto ihres Mannes und für einen kurzen Moment fühlte sie sich nicht alleingelassen, sondern geliebt. Warum nur hatte ein Herzinfarkt ihn so früh aus dem Leben gerissen?

„Es sind gerade noch zwei Krankmeldungen eingetroffen und ausgerechnet morgen erhalten wir eine große Fuhre Tiefkühlware.“ Eine kurze Pause folgte, die wohl die Dramatik der Sache verdeutlichen sollte. „Kann ich auf Sie zählen? Nur für ein paar Stunden. Sie wissen doch, die Sachen müssen gleich in die TK-Schränke. Es sind einige Sonderangebote darunter und wir wollen unsere Kunden doch nicht enttäuschen.“

„Aber ich habe drei Tage frei.“ Johanna versuchte zumindest Widerspruch einzulegen, doch Herr Frey ging nicht einmal darauf ein.

„Gleich morgen früh um sechs Uhr. Danke und noch einen schönen Abend.“

Dieser Wichser! Johanna starrte ihr Handy an. Beinahe hätte sie es mit voller Wucht in die Ecke geschmissen. Kurz dachte sie darüber nach, sich ebenfalls krank zu melden. Doch sie brauchte das Geld, das sie mit ihrer Tätigkeit im Supermarkt verdiente. In Kalifornien lagen die gut bezahlten Tätigkeiten nicht auf der Straße.

Was für ein bescheidener Tag! Sie nahm ihr Handy erneut zur Hand und schrieb Monja eine kurze Nachricht. Wenn sie so früh außer Haus ging, achtete ihre Untermieterin immer darauf, dass Franka und Mila pünktlich zur Schule aufbrachen.

Schon jetzt fehlte ihr Monja auf ganzer Länge. Sie hatte die Nachricht abgeschickt, die zwei vertrauten Häkchen erschienen. Mit ein paar raschen Handgriffen hatte sie die Küche aufgeräumt. Jetzt nur noch ihren Kindern gute Nacht sagen. Auf die Hausaufgabenkontrolle verzichtete sie.

Kapitel 2

Antony

Die Schulglocke läutete. Sie klang schrill in seinen Ohren und holte Antony unsanft aus seinen Erklärungen. Ungeduldig scharrten seine Schüler mit den Füßen, klappten die Bücher zusammen und räumten die Stifte in die Mappe. Erste Stimmen erklangen, zwei der Jungs aus der hinteren Reihe erhoben sich schon.

Bevor sie nach draußen strömten und die wohlverdiente Pause genossen, stand er auf. Schlagartig trat Stille ein. Er räusperte sich und holte noch einmal Luft. „Bitte nicht vergessen, bis Montag möchte ich die Arbeitsblätter fertig ausgefüllt haben. Und denkt daran“, er sah in viele aufmerksame Augenpaare, „ich habe noch nicht alle Berichte über das Brutverhalten der Seemöwen vorliegen. Auch diese möchte ich bis Montag haben. Ich wünsche dir ein schönes Wochenende.“

Das Murren einiger Kinder überhörte er. Dies gehörte zum täglichen Spiel zwischen Lehrer und Schüler mit dazu. Er nahm sein Handy und überflog die Nachrichten im Lehrerchat. Nichts Wichtiges für ihn. Außer, dass die Kollegin Böttcher ab jetzt in Mutterschutz ging. Schön für sie. Er zuckte unbewusst mit den Schultern. Er selbst würde auch gern heiraten und ein Kind haben. Er liebte die malerische Landschaft an der Ostseeküste und lebte gerne hier. Mit Grausen dachte er an die vergangenen Wochen, als er sich mit seiner Ehefrau fast täglich gestritten hatte. Das leidige Thema – fort aus dieser Provinz und ab in die Großstadt München, Berlin oder Frankfurt. Dass Kiel direkt um die Ecke lag, das interessierte sie nicht. Auch nicht, dass sie jeden Tag ans Wasser konnten. Wenn er sich gegenüber ehrlich war, hatten er und sie nichts mehr gemeinsam gehabt.

Deshalb hatte sie Anfang der Woche auch einen Schlussstrich gezogen und war aus ihrer gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Sie hatte sich in Kiel – als Übergangslösung, wie sie sagte - eine kleine Wohnung genommen und lebte nun allein. Ihre Nummer hatte er unterdrückt und verweigerte jede Kontaktaufnahme. Der Schmerz und die Wut über diese Trennung brannten dennoch in seiner Seele.

Das leere Klassenzimmer schien in diesem Augenblick wie ein Symbol. Er rieb sich die Augen, stopfte seine Unterlagen in einen Korb und verließ den Raum.

Noch eine Doppelstunde Mathe, dann hatte er für heute Feierabend. Die Gänge des Schulgebäudes lagen ruhig vor ihm. Das Echo seiner Schritte begleitete ihn, bis er vor dem Lehrerzimmer stehen blieb. Mit dem Ellenbogen öffnete er die Tür, gab ihr einen Stoß und ging, den Korb mit Unterlagen voraus, hinein.

Anders als sonst saßen seine Kollegen nicht auf ihren Plätzen und waren in ihre Arbeit vertieft. Nein, heute standen sie um den Aktenschrank herum, auf dem nicht nur die Kaffeemaschine, sondern auch eine Schale mit Obst und Süßigkeiten stand.

Im ganzen Raum lag eine fröhliche und entspannte Stimmung. Er hörte Gläser klirren und vereinzeltes Lachen. Er steuerte auf seinen Platz zu und stellte den Korb ab.

„Da bist du ja endlich.“ Peter Flaser, der Direktor der Gemeinschaftsschule, ein etwas fülligerer Mann mit gepflegtem Bart und grau-melierten Haaren, kam mit zwei Gläsern rötlich perlenden Sekt auf ihn zu. „Ich habe schon auf dich gewartet.“

Er reichte Antony ein Glas und mit einem flüchtigen Nicken nahm dieser es ihm ab. Etwas Alkoholisches wollte er jetzt nicht trinken, aber gleichzeitig wollte er nicht unhöflich sein und so blieb ihm nichts anders übrig, als es entgegenzunehmen. Doch was wollte Peter von ihm?

Antony runzelte die Stirn und überlegte fieberhaft. Hatte er einen runden Geburtstag vergessen? Nein, es fehlte der sonst übliche Geburtstagskuchen.

„Meine lieben Kollegen und Kolleginnen, darf ich um eure Aufmerksamkeit bitten?“

Es dauerte ein Weilchen, bis Ruhe einkehrte und sich gut zwei Dutzend Augenpaare auf den erfahrenen Rektor richteten. „Wie ihr wisst, geht unsere geschätzte Kollegin Silke in den Mutterschutz. Dies kommt sicher überraschend für euch alle.“ Sein Blick schweifte über die Reihe der anwesenden Kollegen. „Aus gesundheitlichen Gründen muss Silke früher als geplant vom Schuldienst Abstand nehmen. Das heißt, ihre Klasse braucht eine Vertretung.“

Eine längere Pause trat ein und Antony trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Er hasste solche Veranstaltungen und wenn er gewusst hätte, dass jetzt Abschied gefeiert werden würde, wäre er so lange nach draußen gegangen und hätte sich die Füße vertreten.

„Nach langem Planen und unzähligen Konferenzen ist jetzt klar, wer die Klasse übernimmt.“ Zwei Sekunden Pause, zur Steigerung der Spannung folgten. Antony verdrehte die Augen. Das war mal wieder typisch für Flaser. Dabei waren alle Fakten längst bekannt. „Es wird nicht unsere geschätzte Kollegin Brigitte sein, sondern Antony!“

Fast wäre ihm das Glas aus der Hand gefallen, doch er schaffte es gerade noch, sich zu beherrschen. Warum hatte man ihm vorher nichts davon gesagt?

Kapitel 3

Johanna

Der Wind pfiff um das Haus, spielte mit den knospenden Bäumen und Sträuchern und ließ die Zweige tanzen. Die ganze Nacht über hatte er für die so vertraute Untermalung gesorgt. Wenn man an der Ostseeküste lebte, gehörte der Wind einfach mit dazu. Mal stärker, mal schwächer aber immer anwesend.

Johanna konnte nicht mehr schlafen, gestern hatte sie mehr als die angekündigten vier Stunden gearbeitet und die Müdigkeit saß ihr noch immer in den Knochen. Sie blinzelte träge und rieb sich die Augen. Nein, an Schlaf war nicht mehr zu denken, eine innere Unruhe trieb sie an. Zwischen den Vorhängen sah sie einen ersten Schimmer Tageslicht. Ihrem Gefühl nach war es sechs Uhr, vielleicht auch etwas früher. Kurz entschlossen warf sie die Bettdecke zur Seite und setzte sich hin. Dabei fiel ihr Blick, wie jeden Morgen, auf das Foto auf ihrem Nachttisch. Es zeigte sie vier als glückliche Familie bei einem Ausflug in den Harz. Wie perfekt doch ihr Leben damals gewesen war. Ein Seufzer schlüpfte über ihre Lippen und sie rieb sich entschlossen über das Gesicht. Es half alles nichts, außer der Erinnerung an ihren Mann war ihr nichts geblieben. Nun war sie allein und musste zusehen, wie sie über die Runden kam.

Johanna griff nach ihrer Jogginghose und einen warmen Pullover und zog beides über. So früh an einem Samstagmorgen war im Haus noch alles ruhig. Die Kinder schliefen und auch Monja lag garantiert noch in den Federn. Ein seltener und damit wertvoller Moment für sie. Auf Zehenspitzen stieg sie die Treppe hinunter und bemühte sich redlich, so leise wie möglich zu sein.

An der Haustür zog sie ihre robusten Halbschuhe an und streifte ihre warme Jacke über. Kaum trat sie vor die Tür, traf sie der Wind mit aller Wucht. Beinahe hätte er ihr die Tür aus der Hand gerissen, doch dank der jahrelangen Erfahrung verhinderte sie ein Zuknallen gekonnt. Johanna holte ihre Mütze aus der Jackentasche und zog sie tief ins Genick. So gewappnet freute sie sich auf einen Spaziergang am Strand. Diese halbe Stunde allein mit den Elementen gehörte zu den schönsten für sie. Sehr zu ihrem Leidwesen fand sie diese Zeit nur selten.

Ein letzter, prüfender Blick auf die helle Hausfassade. Nein, es brannte kein Licht. Sie hatte noch Zeit für sich. Froh und erleichtert darüber stapfte sie die still vor ihr liegende Landstraße entlang. Es waren einige Hundert Meter vorbei an dem großen, noch vollkommen verwaisten Parkplatz, der Touristen-Information und dem Hotel. Dann erspähte sie den Deich im Morgengrauen. Johanna beschleunigte ihre Schritte und stieg die Stufen hinauf. Oben angekommen nahm der Wind an Kraft zu. Er pustete um ihre Ohren und spielte mit den wenigen Haarsträhnen, die nicht von der Mütze gebändigt wurden. Endlich erblickte sie das Wellenspiel der Ostsee. Der sanft abfallende Deich ging in einen mit Strandhafer bewachsenen Abschnitt über. Dahinter lag der schneeweiße Sandstrand. Menschenleer und einsam befand er sich vor ihr, vom beständigen Luftzug glatt poliert. Nur ein paar Möwen trieben im Wind und ließen sich von ihm auf und nieder tragen. Johanna stellte sich so, dass sie den Wind im Rücken hatte und schaute in die Ferne. Tief inhalierte sie die salzhaltige Luft und genoss jeden Atemzug.

Bis Brasilien, wo es den Wohnmobilstellplatz gab, lief sie über den festen Sandstrand. Jeder Schritt kam einer Befreiung von den täglichen Herausforderungen gleich. Es schien so, als ob der Wind ihre Sorgen davontrug. Dann, als die Sonne als rosaroter Ball am Horizont stand, und sie ordentlich durchgepustet war, verließ sie den Strandabschnitt.

Jeder ihrer Schritte war ihr vertraut. Brasilien bestand aus einer Ansammlung von Einfamilienhäusern. Manche wie das ihre ständig bewohnt, andere wurden regelmäßig an Feriengäste vermietet. Langsam kam nun Leben auf die ruhig da liegenden Straßen. Ein Jogger kreuzte keuchend ihren Weg. Ein paar Hundebesitzer drehten die erste Runde des Tages. Johanna beschleunigte ihre Schritte. Auch wenn ihre Kinder schon etwas größer waren, wollte sie diese nicht länger als nötig allein lassen. Besonders, da ihr Handy zu Hause auf dem Küchentisch lag.

Was war das? Linker Hand befand sich ein verlassenes Ferienhaus, dessen lieblos gestaltetes Pappschild verkündete, dass es zu vermieten sei. Darunter eine flüchtig hingeschmierte, aber immerhin lesbare Handynummer – mehr nicht. Offenbar reichte das schon, um interessierte Mieter zu finden – oder auch nicht.

Nein, das hatte nicht ihre Aufmerksamkeit geweckt. Auch nicht die übermütig tschilpenden Spatzen, die in den Büschen herumhüpften. Vielmehr war es die Bewegung hinter dem Holzstapel, der an einem Schuppen lehnte. Johanna blieb stehen, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah genauer hin. Tatsächlich, da bewegte sich etwas. Ein größerer Schatten. Fast wollte sie auf eine Katze tippen, doch das Poltern von Holzscheiten kam definitiv nicht von einem Tier, sondern von einem Menschen.

„Franka, was machst du denn hier?“, rief sie erschrocken und ein Stich ging durch ihr Herz. Bis eben hatte sie gedacht, dass ihre Kinder wohlbehalten in ihren Betten lagen und schliefen. Aber das hier war eindeutig ihre Tochter. Sie drückte ihre Hand an die Brust und versuchte so, ihr aufgeregt klopfendes Herz zu beruhigen.

„Hallo Mama.“ Mit gesenktem Kopf kam Franka näher und blieb schließlich vor ihr stehen. Außer einer Fleece-Jacke und Jeans trug sie nichts, was dem rauen Wetter angemessen war. Während ihr Blick über ihre Tochter schweifte, stellte sie fest, dass deren Hose eindeutig zu kurz war. Ihre an sich relativ große Tochter musste in der letzten Zeit noch einen weiteren Wachstumsschub gemacht haben. In Gedanken notierte sie sich einen Besuch beim nächsten Kleiderflohmarkt.

„Seit wann bist du denn hier draußen?“ Sie nahm ihre Tochter in die Arme und drückte sie an sich. Voller Schrecken stellte sie fest, dass Franka eiskalt war. „Was ist denn los?“

Franka antwortete nicht. Sie zitterte vor Kälte und ein paar Tränen rannen über ihre Wangen.

„Stimmt es, dass Monja weggeht?“ Schluchzend kam diese Frage über ihre Lippen. „Warum müssen uns alle verlassen, die ich liebe?“

„Ja, leider ist das Leben manchmal sehr ungerecht. Monja wird leider bald abreisen. Sie hat ein tolles Berufsangebot erhalten und kann es nicht ablehnen.“ Johanna strich ihrer Tochter tröstend über die Stirn, hielt sie fest und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich bin auch traurig darüber. Für mich war sie mehr als nur eine Mieterin, sie war auch eine gute Freundin.“

Johanna hielt inne und versuchte, ihrer Tochter Trost und Halt zu geben, doch im Augenblick fiel ihr das sehr schwer. Schließlich wusste sie selbst noch nicht, wie es in der nächsten Zeit weitergehen sollte. Der Verlust ihres Mannes, auch wenn er schon einige Zeit zurücklag, machte sich gerade in solchen Augenblicken doppelt schmerzhaft bemerkbar. „Aber weißt du was … darüber reden wir später. Lass uns jetzt erst mal nach Hause gehen und einen Kakao trinken. Garantiert ist Mila inzwischen auch schon wach geworden und vermisst uns.“

Sie nahm ihre Tochter bei der Hand. Zuerst sträubte sich Franka, mitzukommen, doch dann liefen sie im Gleichschritt nach Hause.