1
Luise
Gegenwart
Sollte sie ihn anrufen? Unschlüssig nahm Luise ihr Handy in die Hand. Im Augenblick wurde sie ausschließlich von dem immensen Wunsch beherrscht, Henry beizustehen. Aber sie hatte ihn seit Monaten nicht mehr gesehen und konnte daher nicht einschätzen, wie er auf ihren Anruf reagieren würde. Gerade hatte sie durch ihren Bruder erfahren, dass Henrys Vater ganz plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben war. Zwar war ihr bekannt, dass es mit ihrem Verhältnis nicht zum Besten stand, dennoch musste es für ihn ein Schock sein.
Ihren Bruder hatte sie lieber nicht um seine Meinung gebeten. Nicht, dass Raphael ihren Wunsch, seinem besten Freund beizustehen, falsch auffassen und ihr unterstellen würde, die Situation auszunutzen, um Henry zu umgarnen. Sie war sich nicht sicher, ob er jemals bemerkt hatte, dass Luise in Henry mehr sah als den besten Kumpel ihres Bruders, der in seiner Teenagerzeit mit ihr herumgealbert hatte. Luise war zehn Jahre jünger als die beiden und somit in Henrys Augen schon immer nur das kleine Küken gewesen, das er nicht ernst nahm.
Luise seufzte und wandte den Blick von ihrem Zimmerfenster ab, der sich im familieneigenen Parkanwesen verloren hatte. Sie ließ sich kraftlos in einen Sessel plumpsen.
Warum nur war sie in allen Belangen, die Henry betrafen, derart unschlüssig? Sie musste ihm doch lediglich ihr Beileid aussprechen. Das gebot schon der Anstand. Schließlich waren ihre Familien seit Jahrzehnten befreundet und Henry und Raphael gemeinsam aufgewachsen. Falls er ihr Mitgefühl in den falschen Hals bekam, wäre das nicht ihr Problem. Oder doch? Auch wenn sie es sich kaum eingestehen mochte, Henrys Ablehnung traf sie jedes Mal bis in den letzten Winkel ihrer Seele. Seit Jahren bemühte sie sich inständig, seine Spitzen und seine Gemeinheiten stoisch abprallen zu lassen, und scheiterte jedes Mal so kläglich daran. Wie ein Insekt, das sich aus einem Spinnennetz zu befreien versuchte.
Je länger sie Henry nicht zu Gesicht bekam, desto leichter fiel es ihr, ihn aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Jedoch reichte schon die zufällige Erwähnung seines Namens aus, um alle ihre Bemühungen mit einem Wimpernschlag zunichtezumachen.
Der Anblick ihres Handys ließ Luise wieder in der Wirklichkeit ankommen. Erneut hatte sie sich minutenlang in Erinnerungen und Gedanken verloren. Luise, stell dich nicht so an und ruf ihn endlich an. Das kann doch nicht so schwer sein.
Natürlich könnte sie ihm auch eine Karte schicken, um ihr Beileid und Mitgefühl auszudrücken, aber das fand sie nicht angemessen.
Rasch öffnete sie das Adressbuch ihres Handys. Während ihr Finger über seiner Nummer schwebte, stieg ihr Puls in schwindelerregende Höhen. Das Zittern ihrer Hände ließ sie erneut innehalten. Luise hasste es zu telefonieren. Spontan entschied sie sich, bei ihm vorbeizufahren. Zwar war sie noch nie bei ihm zu Hause gewesen, aber natürlich war ihr durch Raphael seine Adresse bekannt. Erleichtert, eine Entscheidung getroffen zu haben, sprang sie hastig auf und verließ ihr Zimmer. Sobald sie im Auto saß, würde sie sich hoffentlich nicht die Blöße geben, unverrichteter Dinge umzudrehen.
Wo hatte sie nur den verdammten Autoschlüssel hingelegt? Entnervt sah sie sich in der geräumigen Eingangshalle um. Diese war zwar akkurat aufgeräumt, dennoch boten zahlreiche Kommoden Platz für Stauraum. Schließlich fand sie ihn in einer ihrer Jackentaschen. Zu ihrer Erleichterung begegnete sie weder ihren Eltern noch Frau Schütz, der Haushälterin. Nach Small Talk stand ihr nun wahrlich nicht der Sinn.
Im Auto gab sie seine Adresse bei Google Maps ein und stellte dabei überrascht fest, dass Henry am Stadtrand wohnte. Sie hatte sich bisher nie Gedanken über seinen Wohnort gemacht, hätte aber eher vermutet, dass er wie Raphael in einer schicken Penthousewohnung direkt in der City wohnte, um möglichst nahe am Geschehen zu sein.
Kurz vor der angegebenen Adresse fiel Luises Blick zufällig auf ihre Hose. Verdammt! Sie hatte ganz vergessen, sich umzuziehen. Jetzt trug sie einen Gammellook, ihre bevorzugte Kleidung während der Arbeit am Schreibtisch und befand sich mitten auf dem Weg zu Henry. Henry, dem attraktivsten Mann, der ihr jemals begegnet war. Hör sofort auf damit. Egal wie gut er aussieht, das macht ihn nicht sympathischer.
Henry, der immer höchst modisch und stylish gekleidet war. Sie durfte sich bestimmt wieder einen fiesen Kommentar anhören, egal ob es in der Situation angebracht war. Als ob Henry sich jemals um Konventionen scherte. So eine Gelegenheit würde er sich nicht entgehen lassen.
Aber egal, er sollte nur sehen, dass sie sich für ihn nicht herausputzte. Sie kehrte garantiert nicht wegen ihm um. Vor allem befürchtete Luise, dass ihr der Mut fehlen würde, nochmals loszufahren. Wahrscheinlich fiel ihm noch nicht einmal auf, was sie trug.
Wenige Minuten später parkte Luise vor seinem prachtvollen Anwesen am Hamburger Stadtrand. Sie registrierte beeindruckt, dass er in einem feudalen Herrenhaus wohnte. Das Anwesen wirkte riesig, anscheinend gehörte der parkähnliche Garten hinter dem Haus zum Grundstück dazu und wurde von einer prachtvollen Steinmauer umrahmt. Luise stellte ein wenig deprimiert fest, dass das Eingangstor geschlossen war. Es vermittelte ihr das Gefühl, ein unerwünschter Eindringling zu sein. Henry hielt sie von seinem Grundstück fern, so wie er auch um sein Herz eine Mauer errichtet hatte, um ihr keinen Zutritt zu gewähren.
Luise unterdrückte ein Seufzen und stieg aus. Ihre Beine fühlten sich ein wenig merkwürdig an. Hoffentlich würden sie sie sicher bis zum Tor tragen. Das Rauschen in ihren Ohren stieg stetig an und Luise fühlte sich, als würde ihr die schlimmste Prüfung ihres Lebens bevorstehen, als müsse sie mit ihrer Höhenangst Bungee-Jumping absolvieren. Jetzt stell dich nicht so an!
Zaghaft drückte sie gegen das Tor, vielleicht war es nur angelehnt. Zu ihrer Erleichterung gab es nach und sie lief rasch über die Hofeinfahrt. Beherzt wischte sie sich ihre schweißnassen Hände an der Hose ab und drückte die Klingel. Es hallte durch das Haus wie die Kirchenglocken eines Doms, danach herrschte Stille. Aufgrund des lauten Geräusches war Luise zusammengezuckt. Sie lauschte, ob sich im Inneren etwas rührte. Vielleicht war Henry gar nicht zu Hause. Vermutlich stand er in diesem Augenblick seiner Mutter bei. Warum hatte sie daran nicht gedacht? Ihr schlechtes Gewissen über ihre Erleichterung, ihn nicht angetroffen zu haben, machte ihr ein wenig zu schaffen. Im selben Augenblick wurde die Tür aufgerissen.
Eine attraktive Blondine stand vor ihr. Sie hatte sich hastig einen Bademantel übergezogen, den sie vor der geöffneten Tür gerade verschloss. Ihr schien diese Tatsache nicht im Geringsten unangenehm zu sein. Mit gelangweiltem und zugleich überheblichem Blick sah sie Luise an und wartete auf deren Reaktion, ohne ein Wort von sich zu geben.
Luise unterdrückte krampfhaft den scharfen Schmerz, der ihren Körper augenblicklich schier in Stücke riss. Was hat diese aufgetakelte Tussi hier zu suchen? Luise, tu nicht so unschuldig, als ob du das nicht wüsstest. Sie ist wohl kaum die Haushälterin! Jetzt reiß dich gefälligst zusammen. Die blöde Kuh soll nicht merken, wie sehr sie dich aus der Fassung gebracht hat.
Endlich fand sie ihre Sprache wieder. „Ist Henry da?“ Sie musste ein zynisches Lachen unterbinden. Natürlich war er da. Er lag gerade gemütlich im Bett und verlor sich in Erinnerungen an die heißen Momente mit dieser Tussi.
Und sie war so bescheuert und wollte ihm beistehen, ihm Trost spenden. Wie sie nun deutlich vor Augen geführt bekam, suchte er eine andere Art von Trost. Und zwar bei jeder Frau, nur nicht bei ihr. Luise wünschte sich gerade weit weg. Aber jetzt musste sie diesen schmachvollen Augenblick irgendwie würdevoll hinter sich bringen. Schließlich konnte sie nicht einfach wortlos von hier verschwinden.
Die Blondine fixierte sie und schien zu überlegen, welche Rolle sie in Henrys Leben spielte. Als sie Luises Klamotten wahrnahm, wurde ihr Blick spöttisch. Luise hatte sich als Konkurrentin gerade diskreditiert.
Mit einem lasziven Hüftschwung drehte sie sich um, fuhr sich dabei kokett durch die Haare und rief: „Darling.“
Du Hohlbirne, vor mir brauchst du dich wirklich nicht so sexy zu bewegen.
Schweigend standen sie sich gegenüber, bis Henry sich endlich bequemte, an die Tür zu kommen. Luise sah ihn noch den Gürtel schließen und musste sich eisern beherrschen, um nicht in Schnappatmung auszubrechen, als er mit nacktem Oberkörper vor ihr stand. Der Anblick seines muskulösen Oberkörpers ließ ihren Verstand aussetzen. Am liebsten würde sie über die feinen Muskelstränge streichen und herausfinden, ob diese sich genauso gut anfühlten, wie sie aussahen.
Henry war es anscheinend ebenso gleichgültig, ob sie wusste, dass er mit der Schönheit gerade das Bett geteilt hatte. Als er jedoch seinen Blick hob und Luise geradewegs in die Augen sah, konnte er ein leichtes Blinzeln nicht verbergen. Er wäre niemals auf die Idee gekommen, dass ausgerechnet sie vor seiner Tür stand.
Nachdem er sie jedoch mit einem kühlen und überlegenen Blick gemustert hatte, kam Luise zu dem Schluss, dass sie sich sein Unwohlsein eingebildet haben musste. Er strotzte nur so vor Selbstbewusstsein und Überheblichkeit.
„Luise, welch entzückender Anblick in meiner bescheidenen Hütte. Was verschafft mir die Ehre deines Besuches?“ Sein sarkastischer Unterton war unverkennbar. Seine Hände verschränkte er hinter seinem rabenschwarzen Haar und streckte sich unverhohlen. Luise musste sich zurechtweisen, um ihn nicht weiterhin anzustarren. Sie bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck.
Warum nur war er immer so gemein zu ihr? Sie schluckte eine unangemessene Reaktion hinunter, da sie sich gerade noch rechtzeitig an den Grund ihres Besuches erinnerte.
Bevor sie antworten konnte, hatte Henry ihr Outfit registriert und begutachtete es eingehend. Sein kritischer Blick wanderte in Zeitlupe von unten nach oben, bis er ihr erneut in die Augen sah. Seine Erheiterung darüber war ihm sichtlich ins Gesicht geschrieben. Die ausgeleierten Leggings und das überlange Snoopy-Shirt trafen wohl kaum seinen Geschmack. Gerade kam sie sich wie die Zehnjährige vor, die Henry immer noch in ihr sah.
Luise verdrängte vehement ihre Verlegenheit und erwiderte spröde: „Kann ich kurz mit dir reden?“ Mit einem Kopfnicken wies sie auf seine Begleitung. Er folgte ihrem Blick, runzelte die Stirn und meinte lediglich: „Sabrina kann gerne zuhören.“
„Susanne“, kam die anklagende Reaktion der Schönheit, was Luise trotz dem innerlichen Aufruhr ein Grinsen ins Gesicht zauberte.
Henry überging Susannes Einwurf und sah Luise weiterhin auffordernd an. Himmel, konnte er bitte aufhören, sie so anzustarren? Wie sollte sie unter der Intensität seines Blickes irgendwelche Worte formulieren? Seiner spöttischen Miene zufolge hatte er genau registriert, wie sehr er es schaffte, sie zu verwirren.
„Ich wollte dir mein aufrichtiges Beileid aussprechen. Es tut mir so leid, dass dein Vater gestorben ist. Wenn ich irgendetwas für dich tun kann, bin ich jederzeit für dich da.“
Kurzzeitig herrschte atemlose Stille, die von einer Anspannung geprägt wurde, die fast greifbar war. Eigentlich wollte es Luise darauf beruhen lassen, aber sein grimmiger Gesichtsausdruck und seine ablehnende, starre Haltung ließen sie jeglichen Anstand vergessen und sie ergänzte ihren Satz: „Aber wie ich sehe, bin ich überflüssig. Du hast dir ja schon anderweitigen Trost gesucht.“ Verdammt noch mal, was habe ich jetzt wieder getan? Jetzt sieht es so aus, als wäre ich eifersüchtig.
Susanne brach in übertriebenes Gelächter aus. Anscheinend war die Anzahl ihrer Gehirnzellen an einer Hand abzählbar, dennoch besaß sie das untrügliche weibliche Gespür, um eine potenzielle Rivalin zu erkennen. Über Anstand verfügte sie zumindest nicht, ansonsten wäre ihr aufgefallen, dass ihre Reaktion auf Luises Worte unangemessen war.
Bevor Henry Gelegenheit bekam, auf ihre Provokation zu reagieren, drehte sich Luise einfach um und ging. Ihr rasender Herzschlag schien sich mit jedem Schritt, den sie zwischen sich brachte, zu beruhigen. Henry hielt sie nicht zurück.
Kraftlos ließ sie sich auf ihren Autositz fallen. Warum hatte sie ihre Emotionen nicht im Griff? Henry war ihr keine Rechenschaft schuldig. Wenn es seine Art war, mit dem Schicksalsschlag umzugehen, dann hatte sie kein Recht, ihm das vorzuwerfen. Ebenso wenig war es seine Schuld, dass sie ihm egal war. Sie musste endlich einen Weg finden, diese Tatsache zu akzeptieren. Aber wie sollte das funktionieren, wo doch jeder seiner Blicke, jedes seiner Worte so unendlich schmerzte und sie in einer Tiefe traf, die ihr zuvor nicht bekannt war? Erneut hatte sie alles schlimmer gemacht. Wie sollte sie Henry das nächste Mal unter die Augen treten?
2
Henry
„Können Sie mir bitte sagen, wo ich Emilia Andersen finde?“, erkundigte sich Henry am Empfang des Krankenhauses. Lächelnd betrachtete er die niedliche Rezeptionistin, die daraufhin rot wurde und sich verlegen ihrem Computer widmete. Seine Flirtantennen meldeten ihm sogleich deutliche Bereitschaft. Scheu sah die junge Frau auf und teilte ihm leise die gewünschten Daten mit.
„Vielen Dank, ich kann es kaum erwarten, das bezaubernde kleine Wesen auf den Arm zu nehmen.“ Hoffentlich hatte er nicht zu dick aufgetragen, denn sie betrachtete ihn skeptisch. Sah man ihm etwa an, dass er mit Kindern rein gar nichts anfangen konnte?
„Darf ich Ihnen gratulieren?“, fragte sie leicht atemlos.
Henry musste sich ein Grinsen verkneifen.
„Nein, nein, ich bin bloß der Taufpate. Ansonsten wäre ich selbstverständlich bei der Geburt dabei gewesen.“
Anscheinend war das eine Antwort, die sie hören wollte, denn sie sah ihn schmachtend an. Henry überkam ein Hauch schlechten Gewissens, dass er sie so schamlos anlog. Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als eine Geburt live mitzuerleben. Aber das musste die Kleine nicht unbedingt wissen.
Er beschloss, in die Offensive zu gehen. „Vielleicht würden Sie gerne erfahren, wie mein Kennenlernen mit der kleinen Lia verlief“, und drückte ihr charmant lächelnd seine Telefonnummer in die Hand.
Er sah Röte von ihrem Hals beginnend aufsteigen und verfluchte sich im selben Moment. Es war ein Fehler gewesen, ihr die Nummer zu geben. Sie entsprach nicht seinem typischen Beuteschema, die Kleine würde mehr als nur einen One-Night-Stand wollen. Und Komplikationen konnte er keine gebrauchen. Falls sie sich traute, ihn anzurufen, würde er das von Beginn an klarstellen müssen.
„Ich werde die Blumen mal der glücklichen Mutter überreichen, bevor sie welk werden.“ Damit verabschiedete er sich und verkniff sich ein „Hoffentlich bis bald“, um sie nicht erneut zu motivieren, ihn anzurufen.
Das Flirten war ihm derart ins Blut übergegangen, dass es automatisch stattfand, bevor er überhaupt nachdachte.
Als er sich abwandte, fiel sein Blick auf die nächste attraktive Frau. Luise! Verdammt, wie lange stand sie schon dort, halb hinter der Säule versteckt? Ihrem verächtlichen Gesichtsausdruck zufolge hatte sie ihn die ganze Zeit beobachtet und wahrscheinlich ohne Hemmungen jedes Wort belauscht.
Er seufzte innerlich auf, jetzt musste er sich wieder für etwas rechtfertigen, das niemanden etwas anging.
„Hallo, Luise. Hast du schon die kleine Lia gesehen?“, fing er ein harmloses Gespräch an, in der Hoffnung, sie damit abzulenken.
Seine Taktik schien aufzugehen. Luises Miene erhellte sich und sie lächelte leicht, als sie antwortete: „Ja, ich wollte schließlich die Erste sein, die Lia auf den Arm nehmen darf. Die Kleine ist so süß, ich hätte sie am liebsten überhaupt nicht mehr hergegeben.“
Ihre offensichtliche Schwärmerei berührte ihn und sein Blick wurde plötzlich weich, als er antwortete: „Ich hoffe sehr für Lia, dass ihr das bei mir erspart bleiben wird.“ Er hob hilflos die Arme.
Luise prustete los, als habe sie gerade bildlich vor Augen, wie er versuchte, das kleine Wesen auf den Arm zu nehmen. „Es macht dir Angst, ein Baby auf den Arm zu nehmen?“
„Sieh dir mal meine Pranken an. Nicht, dass ich die Kleine aus Versehen verletze. Ich bin nicht gerade der vorsichtige Typ.“
Ein musternder Blick traf ihn und Luise verschloss augenblicklich ihre Gefühle und antwortete lediglich emotionslos: „Im Verletzen warst du schon immer großartig.“
Ungläubig betrachtete er die kleine Schwester seines besten Freundes. Ihr Bild von ihm schien viel negativer zu sein als gedacht. Aber konnte er ihr das tatsächlich zum Vorwurf machen?
Trotz allem durchfuhr ihn ein immenses Gefühl. Wut! Was bildete sie sich eigentlich ein? Er musste zusehen, dass er seine Emotionen in den Griff bekam, bevor sie bemerkte, dass sie ihn mit ihrer Äußerung getroffen hatte.
Luise schlug sich die Hand vor den Mund und sah ihn erschrocken an. Erschrocken, weil sie Angst vor seiner Reaktion hatte oder weil es ihr leidtat, was sie gerade gedankenlos von sich gegeben hatte? Es schien, als wappnete sie sich vor seinem Rundumschlag, der unweigerlich folgen würde. Den Gefallen würde er ihr nicht tun. Nicht heute. Heute stand Raphaels kleine Familie im Vordergrund.
Er überging ihren Angriff und fuhr fort, als ob nichts geschehen wäre: „Ich geh dann mal, um endlich Lia kennenzulernen, bevor sie erwachsen ist.“
Er nickte ihr zu und setzte sich in Bewegung.
„Henry!“
Er blieb stehen und drehte sich um. Luise sah ihn reumütig an und murmelte leise: „Es tut mir leid, das ist mir so rausgerutscht.“
Während er schweigend zurückkam, sah sie ihn ein wenig ängstlich an. Er blieb direkt vor ihr stehen. „Vielleicht sollte dir öfter mal was rausrutschen, damit ich erfahre, was du wirklich über mich denkst.“ Dabei tippte er ihr etwas unsanft mit der Fingerspitze gegen die Stirn.
„Deine Meinung über mich scheint um einiges niedriger zu sein, als ich bisher annahm. Und in meiner grenzenlosen Naivität dachte ich, das wäre überhaupt nicht möglich“, sprach er im sarkastischen Tonfall weiter.
„Jetzt tu nicht so, als ob wir uns mögen würden. Dennoch war es nicht fair, was ich gesagt habe. Ich hoffe, du nimmst meine Entschuldigung an.“ Luise ballte ihre Hände zu Fäusten und schien sich eisern zu beherrschen, um keine provokante Antwort zu geben.
„Schon vergessen.“ Ein kurzes Schmunzeln huschte ihm über die Lippen. So demütig sah er Luise selten.
Bevor sie reagieren konnte, fügte er noch hinzu: „Eigentlich wollte ich mich bei dir für deinen Beistand bedanken. Du warst damals so schnell verschwunden, ich hatte gar keine Chance, etwas zu sagen. Aber es war wirklich nett von dir, dass du vorbeigekommen bist.“
Luise fuhr zurück, als habe er ihr einen Stromschlag versetzt. Sie wand sich ein wenig, anscheinend war es ihr unangenehm, an ihren Auftritt erinnert zu werden. Seinem intensiven Blick konnte sie nicht standhalten und sie sah zu Boden. Als die Stille zwischen ihnen zu einer Mauer anwuchs, wollte er sich kopfnickend abwenden.
„Ich hätte dir wirklich gerne beigestanden, wenn du mich gelassen hättest.“ Angespannt stand sie vor ihm, als erwarte sie eine erneute Demütigung.
„Das weiß ich“, antwortete er daher lediglich und hob kurz die Hand, einen Gruß andeutend, um endgültig seine Freunde zu besuchen.
„Herein.“
Vorsichtig betrat er daraufhin das Krankenzimmer und blieb unschlüssig stehen. Emilia sah ihn mit einem seligen Lächeln an, das wohl nur frischgebackenen Müttern vorbehalten war. „Komm schon her. Lia beißt nicht.“
Er umarmte erst seinen Freund und wandte sich dann Emilia zu, die das schlafende Baby im Arm hielt.
„Herzlichen Glückwunsch. Ich freue mich für euch.“ Er hob kurz die Blumen, um sie anschließend abzulegen. Neugierig trat er ans Bett heran und betrachtete das kleine Wesen. Gott sei Dank. Sie ist ein hübsches Baby. Sonst hätte ich jetzt lügen müssen. Erleichterung durchfuhr ihn. „Wahnsinn, wie klein sie ist. Ist das normal?“
Raphael lachte: „Ja, das ist normal. Man sieht, dass du absolut keine Ahnung von Babys hast.“
„Das kann ich wirklich nicht bestreiten.“ Er warf einen kritischen Blick auf Emilia und erwiderte dann skeptisch: „Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, wie in Gottes Namen so ein Baby durch dich durchgepasst hat.“
Emilia fuhr zusammen und er sah sie erröten. Raphael meinte erheitert: „Emilia hat sich immer noch nicht an deine taktlose Art gewöhnt.“
Die Frage hätte er sich wohl besser für später aufheben sollen.
„Du kannst dich gerne bei der nächsten Geburt von der Dehnbarkeit meiner Vagina überzeugen lassen“, lud Emilia ihn so trocken ein, dass beide Männer sie verblüfft und zugleich schockiert ansahen.
Emilia fing an zu lachen: „Ich gehe davon aus, dass wir irgendwann ein Geschwisterchen für Lia bekommen.“ Ungerührt betrachtete sie die Männer.
Raphael schüttelte immer noch etwas perplex den Kopf und erwiderte: „Auf Henrys Anwesenheit kann ich dabei aber gerne verzichten.“
Dieser musste erst einmal seine Fassung wiedererlangen, so sehr hatte Emilia ihn aus dem Konzept gebracht. „Danke für das Angebot, aber ich verzichte dankend.“ Er grinste sie spitzbübisch an. „Ich glaube, das könnte ansonsten für uns beide etwas peinlich werden.“
„Du hast doch nur Angst, dass du umkippen könntest.“ Raphael sah ihn spöttisch an.
Henry zog eine Grimasse: „Das könnte sein.“
„Magst du sie mal nehmen?“, fragte Emilia.
Henry fuhr auf, als habe sie ihm ein unmoralisches Angebot gemacht. „Lieber nicht, ich traue mich nicht.“
„Das ist nicht schwer. Spätestens bei der Taufe wirst du sie halten müssen. Dann kannst du bis dahin noch etwas üben, damit du dich in der Kirche nicht blamierst“, ärgerte Raphael ihn.
„Ich hoffe, dass sie bis dahin ein wenig stabiler ist.“ Henry warf ihm einen schrägen Blick zu. „Nimm du sie doch mal, dann kann ich mir das anschauen.“
Wortlos nahm Raphael vorsichtig das kleine Baby auf den Arm und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Emilias Augen strahlten vor Glück und ihre Liebe zu Raphael erfüllte den ganzen Raum. Augenblicklich fühlte sich Henry als Eindringling in das Reich der kleinen Familie. Sie sahen so glücklich aus, als gäbe es nur sie auf dieser Welt, als wäre nichts anderes von Bedeutung. Dieses Gefühl der Vollkommenheit erdrückte ihn und am liebsten hätte er den Raum verlassen. Solch unverfälschte, reine Gefühle einer anderen Person gegenüber hatte er noch nie verspürt. Diese Intensität, die ihn unvermittelt überfiel, verwirrte ihn und nahm ihn gefangen. Ihm war unwohl und er spürte, dass er sich damit nicht auseinandersetzen wollte. Als Raphael seinen Blick von Emilia löste und ihn ansah, war der Bann gebrochen. „Und traust du dich?“
Suchend blickte sich Henry im Raum um und ging auf einen Desinfektionsspender zu.
„Du überrascht mich“, hörte er die verblüffte Stimme seines Freundes, während er sich seelenruhig die Hände desinfizierte.
„Obwohl ich von Babys keine Ahnung habe, bin ich nicht blöd. Und nun gib sie mir“, sagte er todesmutig, während er sich hinsetzte. Vorsichtig ließ Raphael seine Tochter in die Arme seines Freundes gleiten.
Zum Glück wachte das Baby nicht auf und schlief friedlich in seinen Armen weiter. Angespannt saß er kerzengerade auf seinem Stuhl und wagte nicht, sich zu bewegen.
„Du darfst schon noch atmen. Nicht, dass du bewusstlos wirst und sie fallen lässt.“ Raphael grinste ihn an.
„Sei still, ich muss mich konzentrieren“, gab er barsch zurück, ohne den Blick von Lia zu lösen. Raphael und Emilia brachen in Lachen aus. Wahrscheinlich gab er gerade kein schmeichelhaftes Bild ab, wie er das Baby unbeholfen im Arm hielt.
Nach fünf Minuten bat er Raphael, ihm das Kind abzunehmen. Dieser konnte es nicht unterlassen, ihn zu ärgern: „Bring sie doch Emilia, sie wird gleich aufwachen und muss dann gestillt werden.“
Henry fuhr zusammen. Weder wollte er mit dem Baby im Arm aufstehen noch sich das Bild der stillenden Emilia vor Augen führen.
„Raphael, bitte“, knurrte er durch seine zusammengebissenen Zähne.
Sein Freund erbarmte sich und erleichtert überreichte er ihm das Baby. Unauffällig wischte er sich über die Stirn. Er hatte es geschafft, Lia nicht fallen zu lassen.
Der dezente Hinweis auf eine hungrige Lia ließ ihn dazu verleiten, sich kurz darauf zu verabschieden, mit dem Versprechen, sie baldmöglichst zu Hause zu besuchen.
3
Luise
Konnte Henry nicht einfach auswandern? Seine Familie besaß doch Immobilienfirmen auf der ganzen Welt. Vielleicht in die USA? Nein, das erschien ihr nicht weit genug entfernt. Vielleicht besaßen sie auch eine Firma in Neuseeland oder Australien. Falls nicht, sollte sie ihn dahingehend wohl mal beeinflussen. Und natürlich würde eine Neueröffnung die Anwesenheit des Chefs vor Ort erfordern.
Zu ihrem Leidwesen machte Henry überhaupt keine Anstalten, im Ausland zu leben. Natürlich war er ständig geschäftlich unterwegs, aber seinen Hauptwohnsitz hatte er schon immer in Hamburg. Ein Umstand, den sich Luise nicht erklären konnte. Henry war kein Familienmensch und auch wenn ihm Raphael wichtig war, er hatte Freunde auf der ganzen Welt und könnte jederzeit zu Besuch nach Hamburg kommen. Anscheinend zog es ihn dennoch immer wieder hierher. Wohl kaum wegen mir. Ich bin so eine blöde Kuh, wahrscheinlich verschwendet Henry keinen einzigen Gedanken an mich. Und jetzt bin ich gezwungen, dem Blödmann wegen Lias Taufe auch noch ständig zu begegnen. Warum tun mir Raphael und Emilia das an? Wie sind die beiden nur auf diese hirnrissige Idee gekommen, ausgerechnet Henry mit einer derart verantwortungsvollen Aufgabe zu betrauen?
„Und wie ist sie? Ich bin schon so gespannt auf Lia.“ Die aufgeregte Stimme ihrer Mutter riss Luise aus ihrem Gedankenkarussell, das sich für ihren Geschmack viel zu häufig um Henry drehte.
Neugierig sah Silvia sie an. Luise lächelte und ihre Laune hob sich schlagartig, als sie an das kleine Wesen dachte. „Mama, du wirst von deiner Enkelin begeistert sein. Ich bin mir sicher, dass sie sogar Papa sofort um den kleinen Finger wickeln wird.“
„Ich bin ein wenig neidisch auf dich, dass du sie schon sehen durftest. Aber natürlich kann ich verstehen, dass es für Emilia zu anstrengend wird, wenn sie zu viel Besuch auf einmal bekommt.“
„Du hättest sie bestimmt heute besuchen dürfen“, gab Luise vielsagend von sich.
Ihre Mutter seufzte kurz auf. Wahrscheinlich wollte sie nicht an die Tatsache erinnert werden, dass Albert, ihr Mann, es seinem Sohn und Emilia zu Beginn alles andere als einfach gemacht hatte. Was dazu geführt hatte, dass ihr Verhältnis bis heute etwas angespannt blieb.
Sie murmelte leise: „Damit könntest du recht haben.“
Luise wollte ihre Mutter ein wenig aufmuntern und nahm sie in den Arm: „Morgen ist es ja schon so weit und bis dahin können wir ein paar Fotos ansehen. Ich habe so viele gemacht, dass mein Speicher fast voll ist.“
Während sie es sich mit ihrer Mutter auf der Couch gemütlich machte und sie gemeinsam die Aufnahmen betrachteten, wanderten Luises Gedanken schon wieder wie ferngesteuert zu ihrer vorherigen Begegnung mit Henry.
Er war für seine Verhältnisse heute richtig nett gewesen. Einen Schneesturm im Sommer hätte sie für wahrscheinlicher gehalten als ein Dankeschön von ihm. Andererseits unterstellte sie ihm auch, dass er sie mit Absicht an diese für sie demütigende Situation erinnern wollte, um ihr eins auszuwischen. Das würde ihm ähnlichsehen. Innerlich seufzte sie auf. Sie würde niemals schlau aus ihm werden.
„Das Foto gefällt mir besonders gut.“ Wieder holte Silvias Stimme sie in die Realität zurück.
Luise sah sich mit Lia auf dem Arm, sie betrachtete ehrfürchtig das Baby, als würde sie ein Wunder in den Armen halten. Was sie streng genommen ja auch tat.
„Ich habe mich so sehr gefreut, als Emilia sie mir gegeben hat. Beim ersten Baby sind viele Mütter sehr vorsichtig. Ich hoffe nur, dass sie das bei Henry unterlassen haben. Der würde es noch schaffen, sie fallen zu lassen“, brach es abfällig aus ihr heraus, bevor sie sich bremsen konnte. Mist, warum hatte sie diesen Namen überhaupt in den Mund genommen?
„Ach, Henry war heute auch schon da?“
„Da er von Emilia und Raphael im Zuge einer geistigen Verwirrung zum Taufpaten auserkoren wurde, durfte er heute ebenfalls schon kommen.“ Luise bemühte sich eisern, jegliche Emotion aus ihrer Stimme fernzuhalten. Lediglich einen Hauch Verachtung gestattete sie sich.
Silvia warf ihr einen lächelnden Blick zu, als wüsste sie etwas, wovon Luise noch keine Ahnung hatte. „Ich bin mir sicher, dass Henry diese Prüfung zu meistern wusste“, gab ihre Mutter ein wenig ironisch zurück.
Wie schaffe ich es unauffällig, das Gespräch von Henry wegzulenken? Ich mag mich nicht mit meiner Mutter über ihn unterhalten. Wer weiß, was sie mir alles andichtet.
Sie ignorierte die Äußerung und stand hastig auf. „Jetzt habe ich ganz vergessen, dass ich mich mit Sophie zum Reiten verabredet habe. Können wir die restlichen Bilder heute Abend ansehen?“
Der mitfühlende Blick ihrer Mutter traf sie unangenehm in der Magengegend. Ahnte Silvia, dass Henry ihr alles andere als gleichgültig war?
„Geh nur, mein Schatz. Richte Sophie schöne Grüße aus.“ Ihre Mutter gab ihr zum Abschied ein Wangenküsschen.
Die Gute wusste noch gar nichts von ihrem Glück. Sie würde Sophie gleich anrufen, denn es tat ihr sicherlich gut, sich ein wenig von ihrer Freundin ablenken zu lassen.
„Hallo, Sophie. Wie schön, dass du so spontan Zeit hast. Den schönen Frühlingstag müssen wir doch unbedingt ausnutzen.“ Sie warf einen prüfenden Blick in den unberechenbaren Aprilhimmel. „Ich denke, eine Weile wird das Wetter noch halten.“
Die Freundinnen begrüßten sich mit einer herzlichen Umarmung und Sophie erwiderte: „Ich habe mich über deinen Anruf gefreut.“ Gemeinsam betraten sie den Stall. Der feine Geruch der Tiere und des frischen Heus erinnerte Luise augenblicklich an ihre glückliche Kindheit.
Sophie, eine Freundin aus Kindheitstagen, kannte sie in- und auswendig. Ihr vertraute sie alle Geheimnisse an, bis auf ein bestimmtes!
Sie streichelte liebevoll ihrem Andalusier über die dichte Mähne. „Famoso, lass uns einen schönen Ausritt machen.“
Der wunderschöne schwarzglänzende Wallach war ihr ganzer Stolz. Luise ritt schon seit frühester Kindheit, aber noch niemals hatte sie ein derartiges Pferd besessen. Es war, als würden sie dieselbe Sprache sprechen. Der widerspenstige Kerl wurde in ihren Händen lammfromm und Luise vertraute dem Pferd blind. Nachdem sie ihre Pferde gesattelt hatten, schüttelte der Rappe ungeduldig seinen Kopf, anscheinend konnte er es nicht erwarten, sich endlich zu bewegen. Temperamentvoll trippelte er auf der Stelle und wollte lossprengen, sobald Luise ihn antrieb. Sie lachte über seinen Eifer. „Ruhig, mein Freund, wir müssen langsam starten.“
Sophie hatte Mühe, ihre Stute neben ihr zu halten, da diese ein ruhigeres Gemüt besaß.
Nach einigen Minuten forderte sie ihre Freundin zu einer schnelleren Gangart auf, da Famoso sich ein wenig austoben musste. Wild galoppierte er davon, Luise strahlte über das ganze Gesicht. Sie liebte es, im Galopp über die Felder zu jagen. Sie gab ihm die Zügel frei und trieb ihn noch ein wenig an. Jetzt flogen sie und ihre kastanienbraunen langen Haare flatterten im Wind. Der Wind trieb ihr Tränen in die Augen und am liebsten hätte sie vor Glück gejuchzt.
Nach einer Weile zügelte sie den schwer atmenden Wallach und wartete geduldig, bis ihre Freundin zu ihr aufschloss.
„Ihr habt es ja mal wieder eilig.“ Kopfschüttelnd lenkte Sophie ihr Pferd neben ihre Freundin.
„Nicht nur Famoso wollte seine Energie loswerden, ich musste ein paar Aggressionen abbauen.“
Sie fing den neugierigen Blick ihrer Freundin auf. Verdammt, was sollte sie jetzt antworten? Wieder einmal war ihr etwas über die Lippen gekommen, bevor sie nachdachte.
Sie winkte ab. „Ach, ich habe mich heute nur über einen Kommilitonen geärgert. Nichts Dramatisches.“
„Luise, jetzt lenk nicht ab. Ich bin deine beste Freundin und sehe dir an, dass dich etwas beschäftigt. Und das scheint mir keine Lappalie zu sein.“
Luise beobachtete in der Ferne einen Hund, der versuchte, Vögel zu jagen und erwiderte betont gelangweilt: „Ich bin heute Henry im Krankenhaus über den Weg gelaufen. Und wie du weißt, nervt er einfach nur. Aber Lia ist so süß. Ich habe sie sogar auf den Arm nehmen dürfen.“ Sie hoffte, Sophie ablenken zu können. Leider interessierte sich Sophie weniger für das Baby als vielmehr für ihre Begegnung mit Henry.
„Ich weiß wirklich nicht, was du hast. Er ist so ein toller Typ. Was würde ich dafür geben, ihn mal wiederzusehen“, schwärmte ihre Freundin unverhohlen.
„Darf ich dich erinnern, dass du einen Freund hast?“ Luise sah sie grimmig an.
„Du willst ihn ja nur für dich haben“, sagte Sophie kichernd, als sie den empörten Blick ihrer Freundin auffing.
„So ein Blödsinn. Darauf antworte ich gar nicht erst.“
„Für mich ist Henry eine Nummer zu groß. Aber du würdest doch wunderbar zu ihm passen.“
Luise sah sie ärgerlich an. „Warum machst du dich immer schlecht? Du bist wunderschön. Ein so arrogantes Arschloch wie Henry hätte dich gar nicht verdient. Und wenn er der letzte freie Mann auf Erden wäre, dann würde ich lieber alleine bleiben.“
Es ärgerte sie, dass Sophie sich nicht mit ihren Augen sehen konnte. Sie hatte wunderschöne große blaue Augen, rosige Wangen, die tolle blonde Locken umrahmten. Sie war im Gegensatz zu ihr eher klein, hatte aber eine schöne, weibliche wohlproportionierte Figur.
„Komm mal wieder runter.“ Sophie sah ihre beste Freundin kopfschüttelnd an. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ein Mann von Henrys Kaliber mir Beachtung schenkt. Du hingegen mit deiner Modelfigur und deinem wunderschönen Gesicht bist genau sein Typ.“
„Er bleibt dennoch ein egozentrischer Schnösel, der Frauen ausnutzt“, gab Luise patzig zurück. Warum sprachen sie eigentlich schon wieder über Henry? Weil sie ihren Mund nicht halten konnte.
Sie unterließ es, erneut mit Sophie über ihr Aussehen zu diskutieren, da diese in dieser Hinsicht unbelehrbar war. Immerhin war es Sophie und nicht sie, die einen Freund hatte.
4
Henry
Er war spät dran. Der vorherige Termin hatte sich in die Länge gezogen. Der Kies spritzte auf, als er schwungvoll auf das Gelände bog. Hastig parkte Henry seinen Wagen neben einem Ferrari in der Einfahrt einer prachtvollen Villa. Seine potenziellen Kunden waren schon da und erwarteten ihn vor dem Anwesen.
Am liebsten hätte er den Besichtigungstermin an einen Mitarbeiter delegiert, aber Herr und Frau von Schönberg erforderten die Aufmerksamkeit des Firmeninhabers. Deshalb hatte er kurzfristig dieses Treffen dazwischengeschoben, was bedeutete, dass er heute wohl wieder nicht vor 20 Uhr Feierabend machen konnte.
Eigentlich hatte er vorgehabt, sich heute Abend mit seinem Kumpel Milan zu treffen, der gerade in Hamburg war, aber wie es aussah, wurde daraus nichts. So gern er seine Arbeit ausübte, manches Mal wünschte er sich einen gewöhnlichen Nine-to-five-Job.
Er konnte beobachten, wie seine Kundschaft miteinander sprach. Da sie von ihm abgewandt standen, hatte das Paar ihn noch nicht bemerkt. Sie deutete gerade mit einem begeisterten Blick Richtung Park. Henry grinste in sich hinein. Wie es aussah, war dieser Termin lediglich eine Pflichtübung. Das Objekt war so gut wie verkauft, auch wenn das Anwesen über zehn Millionen Euro kostete.
In den Anfängen verkaufte sein Vater jede Immobilie, die ihm in die Hände fiel. Mittlerweile hatten sie das nicht mehr nötig und sie widmeten sich seit Jahren ausschließlich dem Verkauf von Luxusimmobilien, was ein äußerst lukratives Geschäft war.
„Gräfin, wie schön, Sie hier begrüßen zu dürfen.“ Er deutete einen leichten Handkuss an und wandte sich anschließend dem Ehepartner zu. „Herr von Schönfeld, ich hoffe, ich kann Ihrem Anspruch und exquisitem Geschmack mit diesem Anwesen gerecht werden.“
„Die Fotos und der erste Eindruck sprechen schon mal für Sie, mein Junge“, meinte er jovial.
Mein Junge!? Ich glaube, ich höre nicht richtig. Als ob ich noch ein kleiner Bengel wäre.
Er schluckte eine unangemessene Bemerkung hinunter. In seinem Job musste er das sagen, was die Kundschaft hören wollte, nicht das, was er wirklich meinte.
„Lassen Sie uns das Schmuckstück von innen betrachten. Ich glaube, nicht zu viel zu versprechen, wenn ich sage, dass Sie begeistert sein werden.“ Er wies einladend zur Eingangstür und wandte sich der Gräfin zu, die ihm einen schmachtenden Blick zuwarf. Er machte ihm deutlich, dass sie vor allem von ihm begeistert war. Himmel, die Frau war mindestens zwanzig Jahre älter als er. Galant hielt er die Tür auf.
Nachdem sie sämtliche Zimmer besichtigt und einen abschließenden Rundgang durch den Park absolviert hatten, konnte sich Henry drei Stunden später von dem Paar verabschieden.
Aber es hatte sich gelohnt, Herr von Schönfeld hatte ihn beauftragt, die Verträge aufsetzen zu lassen. Er war es gewohnt, von Kunden umgeben zu sein, die keinerlei Bedenkzeit benötigten, obwohl das Objekt ein Vermögen kostete. Der dezente Hinweis, dass es weitere Interessenten gab, hatte den Grafen dazu animiert, sofort zu kaufen.
Henry rieb sich zufrieden die Hände. Ein kurzer Blick auf die Uhr trieb ihn zur Eile. Es stand noch ein Mitarbeitermeeting an, das er nicht allzu sehr in die Länge ziehen wollte, da es mittlerweile schon neunzehn Uhr war.
Wenn er sich beeilte, konnte er sich anschließend vielleicht doch noch mit Milan treffen, der einen neuen Club ausprobieren wollte.
Während sein Porsche über die Autobahn raste, ging er gedanklich die inhaltlichen Punkte der bevorstehenden Sitzung durch. Es gab einige Unstimmigkeiten, die es zu bereinigen galt. Einige Mitglieder der Führungsriege nahmen sich seiner Ansicht nach ein wenig zu viel heraus und behandelten die ihnen unterstehenden Mitarbeiter von oben herab. Henry musste sich auf seinen Stellvertreter verlassen können, da er oftmals nicht vor Ort war, dass dieser Entscheidungen in seinem Sinne traf.
Er fühlte Kopfschmerzen aufsteigen. Er hatte Martin, seiner rechten Hand, viel zu lange freie Bahn gelassen. Nun galt es, ihn wieder in die Schranken zu weisen. Und zwar auf eine charmante Art, er wollte ihn nicht verärgern oder demütigen, indem er ihn degradierte, wie es sein Vater getan hätte.
Unwillig schüttelte er den Kopf. Sein Vater war der Letzte, an den er jetzt denken wollte. Sein plötzlicher Tod hatte ihn schockiert, obwohl er ihn gehasst hatte. Vor allem für das, was er tagtäglich seiner Mutter angetan hatte. Diese kleinen Grausamkeiten, seine Gehässigkeit, seine Gleichgültigkeit. Seine ständig wechselnden Affären, wobei er sich irgendwann nicht einmal mehr bemühte, diese zu verheimlichen, in dem offensichtlichen Bestreben, Clarissa zu demütigen. Warum seine Mutter das all die Jahre klaglos ertrug, konnte er sich bis heute nicht erklären.
Die Gefühllosigkeit seines Vaters beherrschte seine gesamte Kindheit. Niemals hatten er und seine Schwester sich von ihm geliebt gefühlt. Allenfalls geduldet und möglichst unsichtbar sollten sie sich zu würdigen Stammhaltern entwickeln. Irgendwann hatte sein Vater zudem im Übermaß zu trinken begonnen. Damit wurde die Situation noch unerträglicher. Es galt ein Minenfeld zu überqueren, sollte man den Fehler begehen, in Bernhards Sichtfeld zu geraten.
Als Henry mit dem Studium begann, zog er erleichtert von zu Hause aus. Er studierte in London und Mailand, wo er sich mit Raphael eine WG teilte. Damals beschloss er, sich möglichst selten zu Hause blicken zu lassen. Was dazu führte, dass er seiner Mutter gegenüber regelmäßig ein schlechtes Gewissen verspürte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihre Entscheidung, bei Bernhard zu bleiben, zu akzeptieren. Eigentlich müsste er erleichtert sein, dass dieses Scheusal endlich das Zeitliche gesegnet hatte.
Rigoros verbannte er jeden Gedanken an seinen Vater aus seinem Gehirn und konzentrierte sich auf das bevorstehende Gespräch. Er musste einen Weg finden, Martin sein Vertrauen auszusprechen und ihm gleichzeitig seine Grenzen aufzuzeigen.
Mit quietschenden Reifen parkte er auf seinem Privatplatz. Energisch betrat er das fast verlassene Firmengebäude. Er wollte das Gespräch möglichst schnell hinter sich bringen, um seine Mitarbeiter ins wohlverdiente Wochenende zu entlassen.
5
Luise
Müde erhob sich Luise von der Couch. Eigentlich war ihr gar nicht danach, sich für einen Clubbesuch herzurichten. Der volle Tag in der Uni war anstrengend gewesen, mit anspruchsvollen Vorlesungen. Im Augenblick erschien es ihr unglaublich verlockend, einfach vor dem Fernseher liegen zu bleiben.
Aber sie hatte sich mit Sophie verabredet und konnte jetzt keinen Rückzieher machen. Außerdem tat es ihr bestimmt gut, wieder einmal auszugehen und neue Bekanntschaften zu knüpfen. Vielleicht ergab sich ein netter Flirt, der sie auf andere Gedanken brachte. Motiviert schminkte und frisierte sich Luise. Schließlich zog sie eine enge Jeans an, die ihren Hintern gut zur Geltung brachte. Eines der wenigen Körperteile, die eine angenehme Polsterung versprachen. Für Luises Geschmack war sie zu dünn, hatte zu wenige Rundungen, war zu wenig fraulich. Aber den Männern gefiel anscheinend, was sie sahen. An Verehrern mangelte es ihr zumindest nicht.
Darüber zog sie ein glitzerndes Top, das ihre kleinen Brüste hervorhob. Luise gefiel ihr Anblick und sie freute sich nun doch auf den bevorstehenden Abend. Sie war schon lange nicht mehr Tanzen gewesen. Zum Schluss zog sie ausnahmsweise keine Sneakers an, sondern betonte ihre langen Beine noch durch High Heels.
Bevor sie zum Tanzen gingen, hatten sich die Freundinnen zum Vorglühen in einer Bar verabredet. Während sie ein Glas Wein tranken, aßen sie noch eine Kleinigkeit, um dem bevorstehenden Alkoholkonsum eine gewisse Grundlage zu bieten.
„Wo hast du heute eigentlich Lukas gelassen?“, fragte Luise mit hochgezogener Augenbraue. Seit Sophie einen Freund hatte, waren ihre Mädelsabende gezählt.
„Er wollte heute etwas mit seinen Freunden unternehmen“, schmollte ihre Freundin.
„Etwas Abstand tut eurer Beziehung vielleicht ganz gut“, erwiderte Luise vorsichtig. Für ihren Geschmack fixierte sich Sophie ein wenig zu sehr auf Lukas.
„Du bist doch nur eifersüchtig, weil ich nicht mehr so viel Zeit für dich habe, seit ich einen Freund habe.“
Luise sog schockiert die Luft ein. „Spinnst du? Habe ich mich schon einmal darüber beklagt? Im Gegenteil, ich höre mir ständig deine Geschichten von Lukas an. Und ich bin für dich da, wenn es dir wieder einmal nicht gut geht.“ Luise geriet in Rage.
„Es tut mir leid. Das war unfair von mir“, meinte Sophie versöhnlich. Luise sah sie immer noch verletzt an. Sie wusste gar nicht, was in ihre Freundin gefahren war. Sophie drückte ihr einen versöhnlichen Kuss auf die Wange. „Sei nicht sauer auf mich. Ich bin doch froh, dass ich dich habe. Vielleicht hast du recht. Ich enge ihn zu sehr ein. Außerdem verbringe ich gerne Zeit mit dir.“
Luise schaffte es nicht, ihren Ärger aufrechtzuerhalten, Sophies reumütiger Blick war zu intensiv.
„Alles gut. Komm, wir zahlen und dann machen wir die Tanzfläche unsicher.“ Luise lächelte ihrer Freundin zu.
Zwei Stunden und einige Cocktails später tanzten die Freundinnen ausgelassen. Sie waren in ihrem Lieblingsclub, den Luise schon länger nicht mehr aufgesucht hatte, da sie ungern alleine tanzen ging. Deshalb genoss sie den heutigen Abend umso mehr. Die bewundernden Blicke der männlichen Verehrer bestärkten sie und steigerten ihr Selbstvertrauen. Immer wieder betrachtete sie unauffällig einen gut aussehenden Kerl, der ungefähr in ihrem Alter war. Seine blonden Haare fielen ihm ständig in die Stirn, was ihm ein verwegenes Aussehen gab. Ihr waren seine forschen Blicke aufgefallen und jetzt wartete sie darauf, dass er den ersten Schritt machte. Vielleicht lernte sie heute endlich jemanden kennen, der Henry endgültig aus ihren Gedanken verbannte. Als sie ihm ein aufmunterndes Lächeln schenkte, setzte er sich in Bewegung. Umgehend wurde Luise nervös. Er kam geradewegs von der Bar auf sie zu und tanzte sie an. Luise drehte sich kokett im Kreis und nachdem sie ein wenig die Hüften geschwungen hatte, animierte sie den Kerl, eine Hand um ihre Taille zu legen und sie ein wenig zu sich heranzuziehen.
Der Typ geht ja ganz schön ran. Ruhig bleiben, Luise.
Er beugte sich zu ihr und kam nahe an ihr Ohr.
„Ich bin Tim, schön, dich kennenzulernen. Du kannst dich toll bewegen.“
Das klang ein wenig anzüglich, aber Luise beschloss, es heute darauf ankommen zu lassen. Wer wusste, was der Abend noch mit sich brachte. „Ich bin Luise. Freut mich, dass dir gefällt, was du zu sehen bekommst.“
Daraufhin lachte Tim und drängte sich etwas dichter an sie. Eigentlich ging es Luise etwas zu weit, aber sie wollte nicht immer die Vernünftige sein. Tim gefiel ihr, sie sollte sich über sein Interesse einfach freuen. Sie musste endlich mal etwas lockerer werden. Ich benötige einfach noch einige Drinks.
Sie zog ihn an den Rand der Tanzfläche und meinte lächelnd: „Ich habe Durst. Bringst du mir einen Cuba Libre?“
„Gerne, wenn du mir zwischenzeitlich nicht wegläufst.“ Er grinste sie an und sah dabei äußerst charmant aus.
„Warum sollte ich das tun?“ Während sie wartete, winkte sie Sophie auf der Tanzfläche zu, die anerkennend einen Daumen hob.
Tim erzählte ihr, dass er Medizin studierte und ebenfalls in Hamburg wohnte. Schließlich nahm er ihr das fast leere Glas aus der Hand und führte sie zurück auf die Tanzfläche. Erneut zog er sie zu sich heran und sie tanzten eng umschlungen. Luise hatte das Denken eingestellt und wollte einfach genießen, sich in den Armen eines attraktiven Mannes zu befinden. Sie spürte seinen Atem, als er näher kam und unversehens klopfte ihr Herz heftig. Als sie seine Lippen auf ihren spürte, schloss sie die Augen und öffnete bereitwillig ihren Mund. Es fühlte sich gut an, was er mit ihr machte. Sie musste unbedingt lockerer werden, ansonsten würde ihr eine Menge Spaß entgehen.
Tim löste sich zögerlich von ihr, sie öffnete die Augen, um sie sogleich wieder zu schließen. Luise hatte an der Bar Henry entdeckt, der sie anstarrte. Das durfte doch nicht wahr sein. Was machte er hier? Sie war ihm noch nie im Cascadas begegnet. Der Club im Retroflair traf doch gar nicht Henrys Geschmack. Sogar mit geschlossenen Augen konnte sie seinen brennenden Blick spüren. Ihr wurde heiß und mit einem Mal fühlte sie sich unwohl.
„Einfach nicht beachten“, murmelte sie leise vor sich hin.
„Hast du was gesagt?“, fragte Tim.
Luise sah ihn an und plötzlich verstand sie nicht mehr, wie sie ihn attraktiv finden konnte. Kaum lief ihr Henry über den Weg, war sie allen anderen Männern gegenüber immun. Die Ernüchterung darüber, dass auch ein hübscher Kerl wie Tim nichts daran änderte, traf sie wie ein kalter Wasserschwall. Sie zwang sich, ihre tosenden Gefühle zu ignorieren, sah ihm in die Augen und wisperte in sein Ohr: „Ich meinte, das kannst du gerne wiederholen.“
Das ließ sich Tim nicht zweimal sagen und küsste sie erneut. Luise stellte sich vor, dass sie in Henrys Armen lag, dass es seine Lippen waren, die sie liebkosten.
Diesmal beendete sie den Kuss. Einen Kuss, der ihr nicht das Geringste bedeutete.
Hoffentlich hatte Henry das Interesse an ihr verloren und sich seinem Drink oder irgendeiner Tussi gewidmet.
Als sie einen verstohlenen Blick in Henrys Richtung warf, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, dass er aufstand. Eine Tatsache, die an sich nicht schlimm wäre. Allerdings unterließ er es nicht, sie währenddessen weiterhin zu fixieren. Es kam ihr vor, als hielte er sie mit seinem unheilvollen Blick gefangen und kam nun geradewegs auf sie zu. Es sah nicht so aus, als wolle er lediglich die Toilette aufsuchen. Luise spürte ihr Herz hart pochen. Sie war ihm absolut keine Rechenschaft schuldig. Trotzig legte sie ihren Arm um Tim und begann erneut mit ihm zu tanzen. Dieser ließ sich nicht zweimal bitten und zog sie besitzergreifend zu sich heran.
Ungläubig sah sie, wie Henry ihrem Tanzpartner auf die Schulter tippte und laut und deutlich sprach: „Darf ich mal? Ich muss mit der Dame hier ein ernstes Wörtchen sprechen.“
„Bist du ihr Aufpasser, oder was?“, empörte sich Tim.
Henry drängelte ihn einfach etwas rüde zur Seite und sorgte somit dafür, dass Tim sie loslassen musste. Sie trat an den Rand der Tanzfläche, stemmte die Arme in die Seite und funkelte ihn wütend an. „Was soll das?“
„Das sollte ich besser dich fragen.“ Henry fuhr sich aufgebracht durch die Haare. Seine blauen Augen funkelten sie zornig an, sodass Luise unwillkürlich einen Schritt zurückwich.
„Warum hebst du nicht einfach deinen Rock, um es dem Wichser noch einfacher zu machen?“, fuhr er sie so laut an, dass ihn mehrere Gäste kopfschüttelnd ansahen.
Du blöder Arsch, ich kann nicht glauben, was du gerade gesagt hast. Bist du vollkommen wahnsinnig geworden?
Luise glühte, ob aus Enttäuschung oder Zorn konnte sie nicht definieren. Jedes seiner Worte traf sie so hart, als hätte er sie geschlagen. Keinesfalls würde sie ihm den Triumph gönnen und ihm zeigen, wie sehr er sie gedemütigt hatte.
„Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, ich habe eine Hose an.“ Sie legte möglichst viel Verachtung in ihre Stimme.
„Luise, das war sinnbildlich gesprochen! Geh nach Hause, bevor du irgendetwas tust, was dir hinterher leidtut“, beendete er seine Rede etwas ruhiger. Anscheinend hatte er sich wieder im Griff.
„Was geht es dich denn an? Woher willst du wissen, dass es nicht meine Art ist, diesen Typen jetzt auf der Stelle abzuschleppen? Vielleicht mache ich das jedes Wochenende.“ Sie sah ihn herausfordernd an.
„Natürlich geht es mich etwas an! Du bist Raphaels kleine Schwester und ich möchte nicht, dass dir etwas passiert. Du kennst den Kerl doch überhaupt nicht.“ Er warf Tim einen argwöhnischen Blick zu, als verdächtige er ihn, ein Serienmörder zu sein.
Luise musste heftig schlucken. Natürlich machte er sich lediglich Sorgen, weil sie Raphaels Schwester war. Sie war ihm doch scheißegal. Nicht, dass er seinem besten Freund anschließend erklären müsste, warum er nicht eingegriffen hatte, falls ihr etwas zustieß.
„Alles klar? Ist das dein Bruder?“ Tim sah sie fragend an. Anscheinend hatte er eine gehörige Portion Respekt vor Henry, der ihn mit seinen knapp zwei Metern deutlich überragte. Henry machte sich nicht einmal die Mühe, ihn anzusehen. Während sein Blick weiterhin auf Luise gerichtet war, brummte er lediglich ungehalten: „Das könnte man so sagen.“
Luise prustete verächtlich auf: „Mein Bruder würde sich niemals so aufführen. Niemals würde er mich derart bloßstellen. Und das weißt du genau!“
In Henrys Augen blitzte etwas auf. War es ein Anflug schlechten Gewissens oder ärgerte er sich nur über ihre Widerworte? Plötzlich wollte sich Luise nur noch unter ihrer Bettdecke verkriechen. Henry hatte es geschafft, ihren harmlosen Flirt wie ein sexuelles Vorspiel aussehen zu lassen, das kurz darauf in einer Orgie geendet hätte, wenn er es nicht unterbunden hätte. Als hätte sie etwas schrecklich Verwerfliches getan. Am liebsten wäre sie auf der Stelle mit Tim nach Hause gegangen. Aber da sie wusste, dass sie es aus reinem Trotz getan hätte, unterließ sie es vernünftigerweise. Sie winkte ab und ohne Henrys Antwort abzuwarten, ließ sie die beiden Männer einfach stehen und marschierte Richtung Ausgang. Nur weg von hier.
„Luise! Hörst du mich nicht? Ich schreie mir die Seele aus dem Leib.“ Sophie tauchte neben ihr auf. Sie hatte ihre Freundin ganz vergessen.
„Was war das denn gerade?“ Ihrer Freundin stand die Neugierde geradewegs ins Gesicht geschrieben.
„Das war die Demütigung meines Lebens und die Erklärung, warum ich ihn hasse“, stieß Luise heftig hervor.
Während Sophie ihr hastig folgte, meinte sie verständnislos: „Was hast du denn? Ich fand es total süß, wie er dich davon abhalten wollte, mit Tim mitzugehen.“
„Ich glaube, du hast zu viel getrunken. Henry ging es nicht um mein Wohlergehen. Es ging ihm lediglich darum, mich zu demütigen.“
„Du verrennst dich da in etwas. Ich glaube, er war eifersüchtig. Warum sonst führt er sich so auf?“
Luise blieb so unvermittelt stehen, dass Sophie in sie hineinrannte. „Bitte was? Das glaubst du doch selbst nicht. Henry war alles andere, nur nicht eifersüchtig. Ich war für ihn noch nie etwas anderes als Raphaels nervige Schwester!“
„Glaub doch, was du willst. Aber ich habe Augen im Kopf. Er war eifersüchtig. Er war nicht nur eifersüchtig, er war rasend vor Wut auf deinen Flirt. Ich hatte schließlich das Vergnügen, das Schauspiel aus erster Reihe zu verfolgen. Es fehlte nicht viel und er hätte deinem Verehrer eine verpasst.“
Luise war schwindelig, ob von den vielen Cocktails oder von Sophies Behauptungen, war zweitrangig. Sie fühlte sich einfach nur leer und war nicht imstande, logisch zu denken oder den Gedankengängen ihrer Freundin zu folgen. Sie war so durcheinander und schockiert über den Verlauf des Abends, dass sie nur mühsam die Tränen unterdrücken konnte. Als Sophie sie in den Arm nehmen wollte, wehrte sie ihre Freundin rüde ab, weil sie eine Welle der Übelkeit erfasste. Ganz undamenhaft erbrach sie sich auf dem Gehweg. Schüttelfrost überfiel Luise und sie würgte und würgte.
Sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals so elend gefühlt zu haben. Henry hatte sie wie eine Schlampe behandelt und das würde sie ihm niemals verzeihen.
„Luise!“, hörte sie plötzlich eine schockierte Stimme neben sich. Sie blickte nicht auf, weil sie nicht mit dem Würgen aufhören konnte. Als wollte sie den ganzen Selbsthass und das dreckige Gefühl, das Henry ihr vermittelt hatte, loswerden. Jemand strich ihr die Haare aus dem Gesicht und hielt sie von hinten fest. Langsam beruhigte sie sich wieder. Zumindest so lange, bis sie begriff, dass es nicht Sophie war, die sie festhielt. Sie versuchte sich zu wehren, war aber zu kraftlos, um irgendeinen Erfolg zu verbuchen.
„Es tut mir so leid. Ich hätte mich nicht einmischen dürfen. Du bist mir keine Rechenschaft schuldig. Was ich gesagt habe, ist vollkommener Blödsinn.“ Jedes seiner Worte drückte Schuldgefühle, aber auch ehrliches Bedauern aus. Er reichte ihr ein Taschentuch, was sie stumm annahm.
Sie schloss die Augen und lehnte sich an ihn. Zu mehr war sie nicht in der Lage. Alle Kraft war aus ihrem Körper gewichen.
„Ich fahre euch nach Hause“, richtete Henry erstmalig das Wort an Sophie, die ihn mit großen Augen anstarrte.
„Ich fahre mit der U-Bahn“, brachte Luise unter größter Anstrengung hervor. Der Schweiß trat ihr auf die Stirn und nur bei dem Gedanken, mit der Bahn fahren zu müssen, wurde ihr erneut schlecht.
„Du kannst nicht einmal alleine stehen. Sobald ich dich loslasse, fällst du um.“
Du Mistkerl! Es macht dir doch wieder richtig Spaß, mich in dieser demütigenden Situation zu erleben.
„Sei vernünftig, Luise. Ich kann dich nicht nach Hause tragen“, stimmte Sophie, diese Verräterin, ihm auch noch zu.
„Mich musst du nicht fahren, ich wohne nur ein paar Blocks entfernt.“ Sophie warf ihrer Freundin einen besorgten Blick zu. „Danke, Henry, das ist wirklich nett von dir. Ansonsten hätte ich Luise mit dem Taxi nach Hause bringen müssen.“
Mittlerweile war Luise alles egal, sie wollte nur noch in ihr Bett.
Nachdem sich Sophie verabschiedet hatte, sagte Henry leise zu ihr: „Ich habe gleich ums Eck geparkt. Schaffst du das?“
Was blieb ihr denn schon anderes übrig? Andernfalls müsste er sie hier auf dem Gehweg liegen lassen. Sie nickte nur, zu mehr war sie nicht mehr in der Lage. In Luise tobten so viele Gefühle, die einen schmerzhaften Kampf ausfochten. Wie konnte sie auf ihn so wütend und zugleich dankbar sein?
Während sie innerlich fast von ihren Emotionen zerrissen wurde, stolperte ihr Körper neben ihm her. Sie konnte sich in ihrer desolaten Gemütsverfassung nicht auch noch damit beschäftigen, wie sie zu seinem Auto kommen sollte. Fest hielt er seinen Arm um ihre Taille, ansonsten wäre sie zu Boden gefallen. Anscheinend wurde ihm diese Art von Fortbewegung zu lästig, denn Luise wusste gar nicht, wie ihr geschah, als er sie mühelos in seine Arme nahm und trug. Kraftlos schlug sie ihm gegen die Schulter und zischte: „Lass mich runter.“
Natürlich schenkte er ihren Worten keinerlei Beachtung und Luise sparte sich ihre Kräfte auf, da sie wusste, dass ihre Proteste auf Granit stoßen würden. Schließlich brummte sie ungehalten: „Hast du keine Angst, dass ich dich vollkotze?“
Sie hörte sein erheitertes Lachen. „Ich glaube, es besteht keine Gefahr mehr. Da ist nichts mehr drinnen.“
Vorsichtig ließ er sie zu Boden gleiten, während er nach seinem Autoschlüssel angelte. Dann half er ihr beim Einsteigen und sie ließ es zu, dass er sie anschnallte. Schließlich reichte er ihr wortlos eine Wasserflasche, die er im Auto gefunden hatte. Luise leerte sie durstig und endlich verschwand auch der unangenehme Geschmack in ihrem Mund.
„Warum tust du das?“ Unversöhnlich brach sie das Schweigen, während er durch die Nacht brauste.
Er warf ihr einen schrägen Blick zu. „Weil ich mich wie ein verdammtes Arschloch aufgeführt habe. Ich bin schuld, dass es dir so schlecht geht.“
Luise erwiderte spöttisch: „Ich glaube, du überschätzt dich wieder mal gewaltig. Schuld an meinem Zustand sind wohl eher ein paar Drinks zu viel.“ Sie schloss die Augen, weil alleine der Gedanke an alkoholische Getränke einen erneuten Würgereiz auslöste. Plötzlich spürte sie die warme Haut seiner Hand auf ihrer. Luises Herzschlag stockte kurz und sie wagte fast nicht, weiter zu atmen.
„Das stimmt nicht. Ich weiß sehr wohl, dass ich dich mit meinen Anschuldigungen sehr verletzt habe. Und das tut mir leid, denn so ein Verhalten hast du nicht verdient. Auch wenn du jede Nacht mit einem anderen Kerl schläfst, geht mich das überhaupt nichts an. Das ist ganz alleine deine Sache.“
Luise zuckte zusammen. Sie würde sich garantiert nicht mit Henry über Sex unterhalten. Sie musste unbedingt das Thema wechseln, bevor ihr die ganze Sache zu heiß wurde.
„Warum warst du so sauer?“, fragte sie ihn schließlich vorsichtig, während sie ihn im Blick behielt. Henry seufzte und fuhr sich durchs Haar. Anscheinend fühlte er sich gerade alles andere als wohl. Das geschah ihm recht.
„Ich weiß es nicht. Irgendwie brannte bei mir eine Sicherung durch, als er dich betatscht hat. Vielleicht liegt es daran, dass du für mich immer noch das kleine Mädchen bist, das allen möglichen Interessen nachgeht, aber ganz sicherlich keinen Sex hat.“
Herrje, hätte sie ihn doch bloß nicht gefragt, diese Antwort wollte sie garantiert nicht hören. Eifersüchtig, dass ich nicht lache. Ach, Sophie, du hast dich vollkommen getäuscht. Sie drehte sich zur Seite und während der restlichen Fahrt stellte sie sich schlafend, um ihre Enttäuschung zu verbergen. Deshalb entgingen ihr auch seine forschenden Blicke, die er ihr immer wieder zuwarf.
„Wir sind da.“ Seine ruhige Stimme ertönte leise, während er ihr zeitgleich zärtlich über die Wange strich, als ob er ein Kleinkind vorsichtig wecken wollte.
Instinktiv schmiegte sie ihr Gesicht an seine Hand. Da sie immer noch die Augen geschlossen hielt, konnte sie sich herausreden, dass sie schlief und gar nicht mitbekam, was sie tat. Sie hörte ihn scharf einatmen. Was hat das jetzt wieder zu bedeuten?
Er nahm seine Hand nicht weg. Luise lehnte sich weiterhin an. Schließlich strich er ihr sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht und nahm dann ihr Gesicht in beide Hände. Luise wurde heiß und ihr Puls raste wie der eines Babys. Was hatte er vor?
Sie hörte an seinem Atem, dass er ihr näherkam. Kurz vor ihrem Mund verharrte er und sprach wieder sanft. „Luise, wach auf. Wir sind zu Hause.“ Als sie widerwillig die Augen öffnete, nahm er rasch seine Hände weg, als wäre nichts geschehen.
„Kommst du allein klar oder soll ich dir helfen?“ Sein süffisanter Blick ließ sie schlagartig wieder klar denken. Keinesfalls würde sie ihm erlauben, ihr beim Ausziehen behilflich zu sein.
„Ich komme klar. Danke fürs Heimbringen.“
Als sie doch etwas wackelig auf den Beinen stand, ging Henry ums Auto herum und verlangte den Haustürschlüssel.
„Ich will mich wenigstens vergewissern, dass du gut reinkommst, wenn ich dich schon nicht ins Bett bringen darf.“ Sein anzüglicher Tonfall ließ ihren Blutdruck in schwindelerregende Höhen schnellen. Nur weg hier!
Er öffnete die Tür, wünschte ihr eine gute Nacht und fuhr davon, als ob nichts zwischen ihnen geschehen wäre.
Luise verharrte noch einige Momente hinter der geschlossenen Tür, um sich zu sammeln, bevor sie sich die Treppe in ihr Zimmer hinaufschleppte.