Leseprobe Verlorene Schreie

Kapitel Eins

Ava stapfte den Hügel hinter ihrem Apartmentkomplex hinauf. Ihr Hund führte sie in Richtung Wald. Erneut warf sie einen Blick auf die Uhr und zog Max von der Stelle weg, an der er gerade ausgiebig schnüffelte. „Verdammt, Max, warum hast du mich bloß fünfmal auf die Schlummertaste drücken lassen?“ Ihr Atem bildete weiße Wölkchen, während sie sich die Leine ums Handgelenk schlang und schneller lief. „Weil ein warmes Bett himmlisch ist, Ava. Deswegen“, antwortete sie sich selbst.

Max trottete geradewegs durch eine Schlammpfütze. Ava sprang darüber hinweg. „Du hast wohl auf alles eine Antwort, nicht wahr, mein Lieber? Hast du auch eine gute Antwort für Mr. Parker parat, wenn ich zum dritten Mal in diesem Monat zu spät komme?“

Ronald saß in einer dicken, weiten Daunenjacke auf dem Golfwagen, der für Wartungsarbeiten benutzt wurde, und steuerte auf sie zu; auf dem Rücksitz des Gefährts hüpften Besen und Schaufeln umher. Sie winkte ihm zu. Er war zwar ein netter Typ, aber während sie auf den Waldweg zueilte, hoffte sie, dass er ihr nicht folgen würde, so wie er es einmal letzten Sommer getan hatte.

Die frische Laubschicht knirschte unter ihren Füßen. Max zerrte an der Leine in Richtung der Büsche. Er steckte die Schnauze in einen Hügel verfaulter Pflanzen, um auch diesem seltsamen und herrlichen Geruch der Natur nachzuspüren. Ava warf einen Blick über die Schulter und stellte erleichtert fest, dass Ronald in die andere Richtung fuhr. Die Luft war eisig. Sie stöhnte und joggte auf der Stelle, eine Hand in der Manteltasche. Zugegeben, die kalte Luft war erfrischend, und anschließend würde der Morgenkaffee noch viel besser schmecken, auch wenn sie ihn unterwegs trinken musste. Warum interessierte es Mr. Parker überhaupt so, dass sie zu spät kam? Sie erledigte ihre Aufgaben doch immer pünktlich. Keuchend zog Max sie tiefer in den Wald. Sobald er einen interessanten Geruch in der Wildnis wahrnahm – ein Reh oder dessen Kot, das Einwickelpapier eines Hamburgers –, steuerte er zielstrebig darauf zu.

„Nein, komm jetzt. Oder willst du, dass sie mich feuern? Hör auf, Max! Wir müssen umdrehen.“

Mit gespitzten Ohren und zuckender Nase stürmte er weiter und zerrte sie vom Trampelpfad weg.

„Nicht doch, Max!“

Neben dem Weg erstreckte sich ein langer, mit Moos bewachsener Baumstamm. Max machte einen Satz, um ihn zu untersuchen. Sein Schwanz und auch der ganze Körper wedelten vor Aufregung.

Avas Handy vibrierte in ihrer Manteltasche. Lass das bitte nicht Parker sein. Sie holte es aus der Tasche. Bitte mach, dass er heute wieder einen Arzttermin wegen seiner komischen Hautkrankheit hat.

​Sie warf einen Blick aufs Display – Jared. Sie hatte jetzt keine Zeit für die Spinnereien ihres Ex-Freundes.

Die Leine lockerte sich. Max winselte. Er hielt eine Vorderpfote hoch und richtete den Schwanz auf. Ava trat näher, um zu sehen, was er auf der anderen Seite des Baumstammes entdeckt hatte.

Sie blinzelte und riss den Mund auf. Als sie aufschrie, fiel ihr das Telefon aus der Hand. Sie wich zurück, stolperte, zerrte an der Leine und konnte den Blick nicht abwenden.

Ist sie …? Ist sie etwa …?

Das junge Mädchen passte nicht hierher – so allein auf dem Waldboden, fast nackt, reglos.

Es hatte dunkelbraunes Haar und eine blasse Haut. Seine graue Jogginghose und das rosa Flanellhemd waren vom frostigen Morgennebel feucht. Blätter hatten sich in seinen Haaren verfangen und waren über den ganzen Körper verstreut. Die wunderschönen braunen Augen des Mädchens starrten ausdruckslos in den kalten grauen Himmel. Sie erschütterten Ava bis ins Mark.

Sie stieß erneut einen Schrei aus, als Max sich streckte und etwas vom Kinn der Leiche leckte.

***

Dr. Rebecca Boswell, der Gerichtsmedizinerin des FBI, war es egal, dass es noch November war. Sobald das Geschirr des Thanksgiving-Festessens weggeräumt war, fing für sie Weihnachten an. Eine akustische Version des Songs Deck the Halls dröhnte durch den Obduktionsraum, während sie die Leiche des schlanken Mädchens auf dem Stahltisch betrachtete. Auf dem Label stand kein Name, nur die Nummer 2537 und Jane Doe, wie unbekannte weibliche Leichen genannt wurden. Sie war ungewöhnlich jung, höchstens sechzehn. Die Gerichtsmedizinerin hob die Augenlider der jungen Frau an. Ihre braunen Augen waren blutunterlaufen. Rund um ihren Hals verlief ein Strangulationsstreifen. Schon vor der Untersuchung der inneren Organe war sich Rebecca sicher, dass das Mädchen Opfer eines Verbrechens geworden war. Es war zweifellos erwürgt worden.

Sie drückte auf den Schalter ihres Diktiergeräts.

„Jane Doe. Weiß, weiblich, möglicherweise osteuropäischer Abstammung. Sehr schlank. Größe 1,62 m, Gewicht 45,9 kg. Langes dunkles Haar.“

Ein außergewöhnlich hübsches symmetrisches Gesicht. Sie wäre eine echte Schönheit geworden.

„Sie trägt Augen-Make-up und Rouge. Abgesehen von geplatzten Kapillaren – sie deuten auf Erstickung hin, was noch zu bestätigen wäre – ist ihre Gesichtshaut glatt und rein. Sie trägt rosafarbenen Nagellack auf vor Kurzem gefeilten Nägeln und denselben Nagellack auf den Zehennägeln.“

Die Jugend von heute – sie kann es nicht erwarten, erwachsen zu werden.

„Blut ist aus den Mundwinkeln über das Kinn geflossen, was auf eine innere Verletzung hinweist.“

Sie beugte sich über den Tisch und öffnete sanft die Lippen des Mädchens. „Die Untersuchung der Mundöffnung weist auf …“ Schlagartig verkrampfte sich Rebeccas Magen und sie wich keuchend zurück. In ihren zehn Jahren Berufserfahrung hatte sie noch nie so heftig reagiert. Rebecca presste die Augen fest zu. Ihre Trauer schlug in Wut um. Dann riss sie sich zusammen und wurde wieder sachlich. Erneut öffnete sie die Lippen des Mädchens und setzte die Untersuchung fort. „Die Zunge der Toten …“, die Gerichtsmedizinerin schluckte schwer, „wurde herausgeschnitten.“ Sie schaltete das Diktiergerät aus, holte tief Luft und blickte das Mädchen an. „Das hast du nicht verdient, Kleine. Ganz egal, was du getan hast.“

Rebecca zog die Handschuhe aus und füllte einen Pappbecher mit Wasser. Sie trank den Becher auf einen Zug aus, zerknüllte ihn und warf ihn in den Mülleimer. Dann holte sie nochmals tief Luft, wischte sich die Stirn ab, streifte sich neue Handschuhe über und ging zurück an die Arbeit.

„Minimale Blutung, keine Entzündung, was darauf hindeutet, dass die Zunge postmortal entfernt wurde.“ Das war für Rebecca zumindest ein kleiner Trost. Sie hatte schon öfter herausgeschnittene Zungen gesehen, jedoch noch nie bei einem jungen Mädchen. Wer auch immer das getan hatte, war möglicherweise ein extrem kranker Täter, der ein Souvenir der Toten behalten hatte. Es gab jedoch noch eine wahrscheinlichere, hässlichere Erklärung. Jemand hatte eine Nachricht gesendet: Halte den Mund, schweige! Aber an wen war sie gerichtet?

In was warst du vor deinem Tod verwickelt?

Rebecca räusperte sich. „Gesunde, gerade Zähne, aber keine Anzeichen von Zahnbehandlungen.“ Es gibt keine Füllungen oder Kronen, die zurückverfolgt werden können.

Nachdem sie Zahnabdrücke genommen hatte, drehte sie Jane Doe um, um ihre Rückseite zu untersuchen. Auf den ersten Blick dachte sie, eine braune Tätowierung entdeckt zu haben, da der Nacken des Mädchens von seinem seidigen Haar bedeckt war. Doch nachdem sie die Haare beiseite gestrichen hatte, runzelte sie die Stirn. Der Fleck war kein gewöhnliches Tattoo.

„Eine deutlich abgegrenzte dunkle Narbe mit einem Durchmesser von fünf Zentimetern über dem T-1-Wirbel an der Halswurzel – ein Kreis mit Markierungen am Rand und dem Symbol der Unendlichkeit im Inneren des Kreises, der vermutlich mit einem kleinen Brandeisen angebracht wurde.“

Das Brandmal war zwar ungewöhnlich, konnte jedoch alles bedeuten – einen impulsiven Freundschaftspakt oder das Lieblingssymbol eines Freundes. Doch da das Mädchen wahrscheinlich ermordet worden war, fragte sich Rebecca, ob das Mal etwas mit einer Gang zu tun haben könnte.

Während Carol of the Bells spielte, schob sich Dr. Boswell die Zöpfe zurück, machte digitale Fotos und maß die blauen Flecke an den Armen und am Hals von Jane Doe Nummer 2537. Dann sammelte sie Spurenmaterial unter den Fingernägeln der Toten, kämmte ihre Haare und fixierte Fasern auf ihrem Körper mit Klebeband. Nachdem sie mit der Sicherung äußerer Spuren fertig war, wusch sie die Leiche. Man hatte die Tote in Urin und Kot liegend gefunden, ein Zeichen dafür, dass sie die Kontrolle über ihre Körperfunktionen verloren hatte. Möglicherweise war sie krank oder panisch vor Angst gewesen, es konnte aber auch eine Folge des Sterbeprozesses sein. Vielleicht würde die Gerichtsmedizinerin den Grund nie herausfinden. Abschließend nahm sie vor Beginn der inneren Untersuchung der Leiche die Fingerabdrücke des Mädchens.

Die Untersuchung der inneren Organe dauerte über eine Stunde. Sie tippte mit dem Fuß auf und diktierte die Zusammenfassung ihrer Ergebnisse in das Gerät.

„Zu den auffälligen Befunden der inneren Untersuchung gehören Hinweise auf verheilte Brüche, kleinere Frakturen, die jedoch an verschiedenen Knochen zu finden sind. Vaginale Blutergüsse und Risse deuten auf gewaltsame sexuelle Aktivitäten in der jüngeren Vergangenheit hin. Kein Sperma gefunden.“

Nach der Entnahme der lebenswichtigen Organe nähte Rebecca die Leiche sorgfältig wieder zusammen. Während sie Jane Doe ins Kühlhaus zurückbrachte, schmetterte sie Gloria in Excelsis Deo als Lungentraining.

„Jane Doe Nummer 2537 ist nur eine vorübergehende Registrierung. Du kannst Gift darauf nehmen, armes Kind, dass wir herausfinden werden, wer du bist und wer dir das angetan hat.“ Dr. Boswell schob die schwere Stahlschublade in den Schrank.

Die Gerichtsmedizinerin wusch sich die Hände. Sie konnte es kaum erwarten, das Foto des Brandmals in den Computer einzuspeisen und hoffentlich eine Übereinstimmung in der FBI-Datenbank der Tätowierungen und Symbole zu finden. Auch nach Abschluss der Untersuchung hatte sie nichts gefunden, was dem Mal im Nacken der Leiche ähnelte.

Dann rief Rebecca voller Neugier den FBI-Agenten Dante Rivera an. Ein kurzer Blick in einen der Spiegel bestätigte ihr, dass ihre vollen Lippen immer noch einen Hauch von schimmerndem Lipgloss trugen und dass der pinkfarbene Kittel gut zu ihrer Hautfarbe passte. Es gab keinen Grund, sich nicht attraktiv und gut zu fühlen, wenn sie mit ihm sprach, auch wenn es nur am Telefon war. Sie waren zwar noch nie miteinander ausgegangen, aber sie war eine geduldige Frau.

„Guten Tag, Dr. Boswell“, meldete sich Rivera, wie immer ein echter Gentleman.

„Guten Tag, Agent Rivera. Ich habe gerade eine jugendliche Jane Doe obduziert. Sie wurde erwürgt. Ihre Zunge wurde postmortal entfernt.“

Rivera grunzte. „In was für einer wundervollen Welt wir leben.“

„Nicht wahr?“ Rebecca seufzte. So gerne sie auch mit ihm geflirtet hätte, ließen die Umstände ihrer Zusammenarbeit dies nur selten zu. „Der Auslöser für meinen Anruf ist ein interessanter Fleck in ihrem Nacken. Ein Brandmal.“

„Wie bei Rindern?“

„Leider ja. Ich hatte gehofft, es würde uns helfen, sie zu identifizieren, oder uns einen Hinweis geben, wer sie getötet hat. Ich habe das Mal mit der FBI-Datenbank abgeglichen, aber es gibt keine Übereinstimmung. Und ich habe Ihnen das Foto auch per Handy geschickt, für den Fall, dass Sie so was schon mal gesehen haben. Ich weiß ja, dass Sie in der Vergangenheit in einigen Fällen gegen kriminelle Banden ermittelt haben.“

„Ach, das wissen Sie?“

Da sie allein und unbeobachtet im Obduktionsraum war, lächelte sie. „Ja.“

„Also gut.“ Sie hörte die hallenden Geräusche, während er das Gespräch auf die Freisprecheinrichtung umschaltete, und es vergingen ein paar Sekunden, bevor er sich wieder meldete. „Ich sehe es mir gerade an. Ich kann zwar nicht sagen, dass es mir bekannt vorkommt, aber ich hör mich mal um.“

„Danke, Rivera. Ich schicke dann ihre Abdrücke und ihre Zahnbilder raus. Sie ist noch so jung. Und die größte Schande ist, soweit wir wissen, hat niemand sie als vermisst gemeldet. Keiner sucht nach ihr.“

Kapitel Zwei

Sofia war ein wunderschönes, anmutiges Mädchen. Sie hatte leuchtend blaue Augen, dichte dunkle Wimpern und einen natürlichen Schmollmund, selbst wenn sie Angst hatte. In ihrem knappen roten Kleidchen starrte sie mit zusammengekniffenen Augen aus dem bodentiefen Fenster. Die Wolkenkratzer konnte sie nicht sehen, nur Tausende winziger Lichter, die in der Dunkelheit verschwammen.

Anastasia gesellte sich zu ihr ans Fenster. Sie war genauso umwerfend schön – hellbraunes Haar, smaragdgrüne Augen mit kupferfarbenen Flecken, volle Lippen und eine Stupsnase. „Sexy und zugleich kindlich-unschuldig“, nannte der Boss sie. Der kindliche Teil war leicht zu bewerkstelligen, vor allem damals, als sie mit der Arbeit angefangen hatte. Da war sie erst dreizehn gewesen.

Anastasia legte die Hand aufs Glas und beugte sich hin zur Fensterscheibe. „Toller Blick auf Skyline. Ich wünschte, man sieht es deutlich.“ Wenn sie Englisch sprach, ließ sie oft Artikel aus und vermischte die Wörter. Den Mädchen war es verboten, in ihrer Muttersprache zu reden.

Sie hatten schon in vielen schönen Häusern gearbeitet, diese Wohnung mit den riesigen Fernsehern, eleganten Möbeln und der modernen Kunst war keine Ausnahme. Ein ausgelassenes Summen vibrierte durchs Haus, begleitet von den Bässen des Soundsystems. Nun stürmte eine neue Gruppe von Männern herein, sie alle trugen Trikots der Panthers.

„Jetzt geht‘s zum Superbowl, Baby!“, schrie der Lauteste von ihnen und schlug einem großen Glatzkopf auf die Schulter. „Ich wusste doch, dass sie mitmachen würden. Das hab ich zu Beginn der Saison gesagt, wisst ihr noch?“

Der Glatzkopf legte den Arm um die Schulter seines Freundes. „Fordere das Schicksal nicht heraus, Mann. Es sind noch genug Spiele übrig.“

Unter breitem Grinsen und zwischen großzügigen Schlucken Bier stimmten die Hardcore-Fans in einen Sprechgesang ein. „Wir sind die Nummer Eins! Wir sind die Nummer Eins!“

„Gehören die zu den Spielern?“, fragte Sofia Svet.

Ihr Bodyguard schnaubte verächtlich. „Nicht wirklich. Das ist bloß eine Gruppe von Händlern, die wahrscheinlich Steroide nehmen.“

Sofia saß auf der Couch und legte ein langes, schlankes Bein auf den Schoß eines Mannes, der als NFL-Lineman hätte durchgehen können. Sanft strich sie mit hellrosa Nägeln über seinen prallen Bizeps. Er war ein hässlicher weißer Typ mit einer schiefen Nase und einem gepflegten kurzen Vollbart, der offensichtlich dazu dienen sollte, seine Aknenarben zu kaschieren. Auch wenn er deutlich älter war als sie, war er doch jünger als die meisten ihrer Kunden. Das Beste an ihm war, dass es ihm schwerfiel, Augenkontakt herzustellen, und er sich stattdessen auf sein Getränk konzentrierte. Nur selten war einem Mann nicht wohl bei der Sache, aber wenn doch, dann war sie froh darüber. Er würde sie sanft behandeln. Die Chancen standen gut, dass er ihr nicht wehtun würde.

Der Mann tätschelte ihren Hintern. „Sie sieht noch echt jung aus, Mikey.“

Mikey, der gleich groß, aber weniger hässlich war, antwortete mit einem Lachen, während er Anastasias Brust in die Hand nahm. „Mach dir wegen ihr keinen Kopf.“ Er trank sein Bier aus und stellte den eisgekühlten Krug auf einem seiner schicken Glastische ab. „Die kosten ein kleines Vermögen. Wahrscheinlich nehmen sie mehr mit nach Hause als wir.“

Sofia zuckte innerlich zusammen. Er irrte sich. Gewaltig. Sie verdiente gar nichts. Hätte sie Geld verdient, das sie ihrer Mutter und den Geschwistern in die Ukraine schicken könnte, dann hätten ihre elenden Lebensumstände wenigstens einen Sinn. Doch sie wusste, dass sie ihn besser nicht aufklären sollte. Sie konnte keinem Mann die Wahrheit anvertrauen, das hatte sie einmal versucht. Nur weil jemand auf freundlich machte, hieß das nicht, dass man ihm vertrauen konnte. Das letzte Mal, als sie geglaubt hatte, jemandem vertrauen zu können, hatte der sie verraten. Danach wurde sie tagelang in einen Schrank eingesperrt und bekam nur Wasser zum Trinken und einen Topf, um sich zu erleichtern. Also egal wie einfühlsam der Riese mit der krummen Nase auch wirkte, sie musste davon ausgehen, dass er genau wie alle anderen war – eiskalt und nicht an ihrer Notlage interessiert.

Sie zuckte mit den Schultern, um den Gedanken abzuschütteln, und setzte ihr süßestes unechtestes Lächeln auf. Sie klimperte mit den Wimpern und schüttelte leicht den Kopf, so als könnte sie nicht verstehen, was er gesagt hatte. Er bot ihr ein Getränk an, indem er erst auf seine eigene Flasche und dann auf die Minibar am anderen Ende des Zimmers zeigte. „Nein, danke“, sagte sie mit extra dickem Akzent.

Svet beobachtete die Räume aufmerksam aus einer Ecke. Er trug einen Seidenanzug und setzte einen unheimlichen strengen Gesichtsausdruck auf. Er war so groß wie ein Schrank, mit dickem Hals, kantigen Kieferknochen und aufgeplusterter Brust. Er hielt jede Gefahr einer Verunstaltung der Gesichter oder Körper von den Mädchen fern, doch seine eigentliche Aufgabe war eine andere. Er folgte ihnen auf jeder Party dicht auf den Fersen, um sie ständig daran zu erinnern, dass es kein Entrinnen gab.

Angesichts der Wachen und der ständigen Drohungen, ohne Geld und kaum Ahnung über das Leben in Amerika glaubten die Mädchen, keine Chance auf eine erfolgreiche Flucht zu haben. Stattdessen erlebten sie einen nicht enden wollenden Strom von Männern, die bereitwillig Bargeld ausgaben und sie sexuell ausbeuteten.

Der hässliche Mann führte Sofia in ein Schlafzimmer. Sie schloss die Augen und stöhnte leise auf die einstudierte Weise, die man ihr beigebracht hatte. Das Stöhnen ließ jede Tortur schneller enden. Sie schaltete auf Autopilot und reiste in Gedanken an einen anderen Ort. Sie stellte sich die Fragen, die ihr durch den Kopf gingen, seit ihre beste Freundin Sasha vor zwei Tagen verschwunden war. Wo war sie bloß? Eingesperrt in einen dunklen Schrank mit nur einer Flasche Wasser und einem Eimer? Oder hatte man sie in eine andere Stadt gebracht? Würde Sofia sie je wiedersehen? Sasha war zu mutig für ihr eigenes Wohl, und das könnte der Grund dafür sein, dass sie verschwunden war. Sofia betete im Stillen, dass ihre Freundin noch am Leben war … irgendwo.

Sie schloss die Augen und stöhnte weiter.

Wenn Sasha nicht wiederkam, dann müsste Sofia die Mutige sein.

Kapitel Drei

Magda fuhr mit dem Lexus ihres Arbeitgebers hinter einem Porsche SUV und einem schicken BMW Coupé zur Mall im Süden von Charlotte. An den kahlen Bäumen, die links und rechts vom Haupteingang des Einkaufszentrums standen, hingen bereits winzige weiße Weihnachtslichter. In der Mitte ragte eine hohe Kiefer mit silbernen und goldenen Christbaumkugeln in der Größe von Bowlingkugeln bis zum Dach des Gebäudes empor.

Ein Parkwächter eilte auf ihr Auto zu. Magda hielt einen Finger hoch. „Nur eine Sekunde, bitte. Ich brauche keinen Parkplatz. Ich lasse nur meine Freundin aussteigen.“

Emma strich sich noch eine Schicht Gloss auf die Lippen und zog sie zurück, um im Spiegel ihre Zähne zu begutachten. Nach einem letzten prüfenden Blick öffnete sie die Beifahrertür.

„Warte.“ Magda legte ihre Hand auf Emmas Arm. „Ich seh nirgendwo deine Freunde. Wo sind sie denn?“

Emma schüttelte Magdas Hand ab und verdrehte die Augen. „Sie sind da drin. Sie warten auf mich.“

„Bist du sicher? Ich sollte dich lieber nicht hier absetzen, bevor ich weiß, dass sie wirklich hier sind.“

„Sie sind da, siehst du?“ Emma hielt Magda ihr Handy unter die Nase und zog es dann schnell wieder weg. „Ich bin schon spät dran.“

„Du triffst dich hier mit Tiffany und Nicole?“

Laut seufzend stieg Emma aus dem Wagen. „Ja, ich treffe mich mit Tiffany und Nicole.“

„Also gut. Sei vorsichtig.“

Emma schlug die Beifahrertür zu.

Magda hob den Blick an den Himmel und bat im Stillen Gott um Kraft, bevor sie Emma hinterherschaute. Die Jugendliche trug eine enge rote Stretchhose und eine schwarze Wickelbluse mit Ausschnitten an den Schultern. Magda wünschte, sie könnte das Alter des Mädchens in die Zeit zurückdrehen, in der Emma noch ein süßes, freundliches Kind gewesen war, das gerne mit seinem Kindermädchen Zeit verbrachte. Trotz Magdas Bemühungen, sie zu einem anständigen Menschen zu erziehen, glich Emmas Einstellung immer mehr der ihrer Eltern. Aus Magda war ihre persönliche Assistentin und Chauffeurin geworden, während die süße kleine Emma sich in einen mürrischen Teenager verwandelt hatte, der täglich ein wenig respektloser wurde.

„Sie können hier nicht stehen bleiben, Ma‘am.“ Der Parkwächter sah sie stirnrunzelnd an. „Sie müssen wegfahren.“

Sie hob die Hand und lächelte leicht. „Entschuldigen Sie. Ich bin schon weg.“ Sie legte den Gang ein und fuhr los. Vielleicht war Emma nur wieder einmal wütend auf ihre Eltern. Ja, wahrscheinlich war es das. Im Haus der Mannings hing die ständige Gefahr einer Scheidung schwer in der Luft. Es war nur logisch, dass Emma ihren Frust an Magda ausließ, die ihr immer zur Verfügung stand.

***

Emma stolzierte ins Zentrum der Mall, am großen Weihnachtsbaum und dem Santa-Claus-Stand vorbei, und steuerte schnurstracks die Toilette in der Nähe des Food-Courts an. Sie musste dringend pinkeln, obwohl sie vor dem Wegfahren zu Hause aufs Klo gegangen war. Das lag daran, dass sie nervös war. Nachdem sie die WC-Kabine wieder verlassen hatte, blieb sie vor dem Spiegel stehen. Sie ließ ihr langes, glattes rötliches Haar über die Schultern fallen, drehte sich langsam nach rechts und links und betrachtete sich prüfend. Sie schürzte die Lippen und sog die Wangen ein, sodass ihr Gesicht schmaler und kantiger aussah. Sie war hübsch, wie alle ihr sagten. Ihre Zähne, die gerade erst begradigt und verklebt worden waren, sahen toll aus. Emma hatte lange dunkle Wimpern und wunderschöne braune Augen, die durch den gekonnt aufgetragenen Eyeliner und Lidschatten noch hervorgehoben wurden. Aber sie wollte richtig gut aussehen und musste noch älter wirken. Wenn Damian herausfand, wie jung sie tatsächlich war, würde er vielleicht sauer werden. Und noch schlimmer: Womöglich hätte er dann kein Interesse mehr an ihr.

​Sie holte ihr Handy heraus. In wenigen Minuten würde sie ihn endlich persönlich kennenlernen. Jetzt wurde es ernst. Sie stolzierte mit dem schwungvollen Gang eines Laufstegmodels mit gestrafften Schultern und erhobenem Kopf aus dem WC. Ihr Bauch fühlte sich etwas flau an und ihre Knie zitterten ein wenig, doch die jahrelangen Auftritte im Kindertheater hatten ihr beigebracht, nervöse Aufregung zu verbergen. Sie ging am Kaffee- und Teeladen Coppa vorbei. Vielleicht würde sie später mit Damian hierher zurückkommen und einen Latte trinken. Sie mochte den Chai Latte sehr gern, den sie hier servierten. Falls Damian nicht schon eine andere Idee hatte, wo sie zusammen abhängen könnten, dann würde sie es vorschlagen. Aber da er älter war als sie und so selbstsicher wirkte, würde er wahrscheinlich einen anderen Vorschlag machen. Ob er wohl genauso aussah wie auf den Bildern, die er ihr übers Internet geschickt hatte? Oder hatte er die Fotos etwa mit Photoshop bearbeitet, um wie ein Filmstar auszusehen? Gleich würde sie es herausfinden.

Sie verlangsamte ihren Schritt, um nicht überpünktlich zu sein. Aber was, wenn sie zu spät kam und er ging, weil er dachte, sie würde nicht kommen? Also lief sie wieder schneller.

Die Rolltreppe brachte sie hinunter zur Tiefgarage, wo sie sich verabredet hatten. Über seine merkwürdige Wahl des Treffpunkts hatte sie nicht weiter nachgedacht. Trotz ihrer Nervosität musste sie lässig und cool wirken, so als wäre ihr Treffen mit Damian nichts Besonderes. Wäre es nicht toll, wenn eine ihrer Klassenkameradinnen sie mit ihm sehen würde – am besten ein paar der älteren Mädchen aus der Schule? Das würde sie sicher beeindrucken. Den Mantel über den Arm gehängt, lehnte sie sich mit dem Rücken an die Wand. Dann richtete sie sich auf und lehnte sich gleich darauf wieder zurück, ohne sich entscheiden zu können, welche Pose besser wirkte. Sie wusste nicht, wohin mit den Händen, und tat so, als würde sie den Wegweiser des Einkaufszentrums studieren. Was, wenn er sie versetzte? Was, wenn er nie vorgehabt hatte zu kommen? Sie nahm ihre Handtasche und hängte sie sich über die andere Schulter. Sie war schwerer als sonst, weil Damian Emma gebeten hatte, ihr MacBook mitzubringen. Sie hatte keine Ahnung, warum. Vielleicht wollte er ihr ein neues Spiel zeigen.

„Emma?“

Sie hörte die raue Stimme und wandte sich um. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch flatterten heftig. Damian kam auf sie zu. Unglaublich, im wahren Leben sah er noch umwerfender aus.

„Hi.“ Sie kicherte und befürchtete, vor lauter Nervosität wie ein albernes Kind zu wirken.

Damians Haut hatte denselben Farbton wie Emmas liebstes Bräunungsspray. Er hatte ein strahlendes Lächeln und eine coole Frisur – sauber und keine wilde Mähne. Sein Outfit war absolut perfekt – olivfarbene Jeans, ein dunkelblaues Hemd und dazu eine Jacke von North Face – und passte super zu ihm. Er sah aus, als würde er Football oder Rugby spielen. Nicht zu groß, aber stark genug, um sich und sie bei Bedarf zu verteidigen.

Sie erwartete, dass er auf sie zukommen würde, doch er blieb ein paar Meter von ihr entfernt stehen und blickte sich um. Eine Hand behielt er in der Jackentasche. Einen Augenblick lang befürchtete sie, er hätte es sich anders überlegt und wollte doch keine Zeit mit ihr verbringen. Aber dann grinste er breit. „Wie geht‘s dir?“

„Gut, danke, und dir?“, erwiderte sie automatisch. Die gleiche Antwort würde sie auch einem Lehrer oder einer Bekannten ihrer Eltern geben. Sie musste noch besser werden, doch ihre Gedanken rasten. Auch wunderte sie sich, warum er nicht näher kam. Sie ging auf ihn zu, bis der Abstand zwischen ihnen normaler war. Dann legte sie den Kopf schräg und klimperte mit den Wimpern, während sie versuchte, sich einen klugen Spruch einfallen zu lassen.

„Ich hoffe, du musstest nicht lange warten.“ Beim Sprechen sah er zur Rolltreppe hinauf. Niemand kam herunter.

„Ich? Nein. Ich bin auch gerade erst gekommen, nur ein paar Sekunden vor dir.“

Er nickte. „Du siehst echt gut aus.“

Sein Lächeln löste in ihrem Inneren ein Kribbeln aus. An der Art, wie er sie ansah, war nichts Unheimliches oder Kindisches. Sie konnte sehen, dass sie ihm gefiel, und sein Blick stärkte ihr Selbstbewusstsein. „Danke“, sagte sie, während sie das Gewicht verlagerte, und nahm ihren Mantel in eine Hand, um die andere auf die Hüfte legen zu können.

„Ich hatte ganz vergessen, dass die Mall zu Anfang der Weihnachtssaison schon zu voll sein würde. Es hat ewig gedauert, bis ich einen Parkplatz gefunden habe.“

„Ja, ich auch.“ Bei der Lüge stieg ihr die Röte ins Gesicht.

„Da es hier so voll ist, was hältst du davon, wenn wir stattdessen zu Starbucks unten an der Straße gehen? Normalerweise hat es um diese Zeit freie Nischen und Tische. Wir können mein Auto nehmen, zum Laufen ist es etwas zu kalt.“

Starbucks lag in der Nähe ihrer Wohngegend. Was, wenn ihre Mutter zum Supermarkt ging und sich dann einen Latte Macchiato holte und sie zufällig sah? Ach nein. Ihre Mutter kaufte keine Lebensmittel mehr ein. Das erledigte jetzt immer Magda. Aber wer diesen Starbucks regelmäßig aufsuchte, waren Emmas Freundinnen. Es wäre genial, wenn ihre Freunde sie mit Damian sahen.

​„Klar“, sagte sie so locker und selbstbewusst wie nur möglich und stellte sich schon vor, wie sie den Schulkameradinnen, denen sie womöglich begegnete, lässig zuwinkte. Wenn ein paar Mädchen aus ihrem Feldhockeyteam da wären, wie cool würde das denn sein?

Emma steuerte auf den Ausgang zu.

„Warte. Hier geht‘s lang.“ Damian deutete mit einer Hand auf das gegenüberliegende Ende des Eingangs, die andere steckte immer noch in seiner Jackentasche.

„Wieso? Da vorne ist doch ein Ausgang.“

Er lächelte. „Komm einfach mit.“

„Okay.“ Sie holte ihn ein und lief neben ihm her, während er sie auf einem Umweg durch die Garage führte.

„Sorry, ich hab vergessen, wo ich geparkt habe.“ Er lachte und blickte immer wieder in die Ecken der Tiefgaragendecke, während sie sich um Dutzende von Autos herumschlängelten.

Komisch, dass er seinen Parkplatz schon vergessen hatte, obwohl er doch erst vor ein paar Minuten gekommen war. Wahrscheinlich war er auch nervös gewesen. Emma verschwendete kaum einen Gedanken daran, stattdessen machte sie sich wegen ihres Ganges und ihrer Frisur Sorgen. Auch stresste sie, ob sie alt genug wirkte, und war froh, dass ihr Kieferorthopäde die Zahnspange ein paar Monate früher als geplant entfernt hatte.