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5. August, nach Mitternacht
„Showtime“, flüsterte Nesra, als Jegor endlich aus dem dunklen SUV stieg. Der fast ein Meter neunzig große Mann mit der bulligen Figur stand im Scheinwerferlicht seines riesigen Wagens, steckte sich eine Zigarette an und drängte dann mit einer lässigen Handbewegung seine auf Befehle wartenden Männer zur Eile.
Nesra kannte Jegor und jeden seiner fünf Handlanger besser, als ihr lieb war. Ihre Namen und ihr Vorstrafenregister. Es waren dieselben fünf, die auch schon in den beiden vergangenen Nächten im verlassenen Gewerbegebiet am Rande von Karlsruhe auf ihren Boss gewartet hatten.
Genau wie Nesra.
Und im Gegensatz zu ihr waren die Russen äußerst nervös gewesen, ein sicheres Zeichen, dass Bewegung in die Sache kam. Endlich. Sie war schon mehr als vier Monate undercover unterwegs, und als sie irgendwann frustriert dachte, sie müsste den Fall mit leeren Händen abgeben, ging plötzlich alles ganz schnell. Wie so oft in ihrem Job zahlte sich Geduld aus. Und ihr Jagdinstinkt. Denn jetzt, um kurz nach 5 Uhr, der dritten Nacht in Folge auf dem Blechdach der gegenüberliegenden Lagerhalle, hatte Jegor die Aktion endlich ins Rollen gebracht. Hoffentlich.
Sie wartete, bis Jegors Männer das große Rolltor des Lagerhauses geöffnet und den Transporter mit den zwei Anhängern draußen abgestellt hatten, dann packte sie ihr Nachtsichtgerät ein und zog sich langsam zurück.
Sie musste vom Dach, sie musste näher ran. Mit eigenen Augen sehen, dass die Ware wirklich hier war, und das so schnell wie möglich. Ihr Team wartete auf ihre Bestätigung.
Das Adrenalin, das mit dem Auftauchen Jegors in ihren Körper geschossen war, ließ sie die Schmerzen in den Ellbogen und den steifen Rücken vergessen. Das stundenlange und regungslose Warten auf dem Dach war eine schmerzhafte Geduldsprobe gewesen, doch auch das gehörte zu ihrem Job. Wenigstens war das sonnenheiße Blech des Daches inzwischen abgekühlt. Nur eine leichte Brise und die noch immer milden Temperaturen erinnerten an die Hitze des vergangenen Tages.
Nachdem sie auf der Rückseite des Gebäudes heruntergeklettert war, schlich sich Nesra im Schutz der Dunkelheit an die Lagerhalle heran. Sie musste unbedingt einen Blick auf die großen Kisten werfen, die von Jegor und seinen Leuten gerade verladen wurden.
Sie presste ihren Rücken an den Rauputz der Außenwand und zählte bis drei.
Jegor hatte mittlerweile seine Zigarette zu Ende geraucht und schnippte den Filter in die Dunkelheit. Für einen kurzen Moment hielt er inne und blickte genau in Nesras Richtung.
Sie hielt den Atem an.
„Er kann mich nicht sehen“, beruhigte sie sich. Der Lichtkegel des am Lagerhallendach angebrachten Scheinwerfers reichte nicht bis zu ihr hinüber. Das hatte sie vor ein paar Nächten überprüft. Sie stand im Schatten des Gebäudes und bewegte sich keinen Millimeter.
Plötzlich wurde Jegor von irgendetwas abgelenkt, vielleicht einem Nachtfalter, der um seinen Kopf schwirrte, denn er schlug genervt um sich und konzentrierte sich dann wieder auf seine Männer.
Ein Gabelstapler fuhr aus dem Hangar, auf seinen eisernen Fangarmen eine große Metallkiste. An den Seiten waren Luftschlitze in den Verstrebungen angebracht. Nesra musste den Inhalt der Kisten eindeutig identifizieren, erst dann konnte sie den Kollegen das Signal geben. Sie zog ihr Fernglas aus der Oberschenkeltasche und stellte scharf. Als der Stapler sich um seine eigene Achse drehte, um die Kiste in einen der geöffneten Anhänger zu verfrachten, hatte sie endlich Gewissheit.
Für einen kurzen Augenblick war ein helles, mit schwarzen Mustern durchzogenes Fell durch die Schlitze der Kiste zu sehen. Na also! Nesra musste grinsen.
Mit einem lauten Knall setzte der Gabelstapler die Kiste auf der Verladefläche des Anhängers auf. Wie zur Bestätigung drang ein wütendes Fauchen aus dem Inneren der Kiste, das jeden Zweifel verstummen ließ.
„Pass doch auf! Dummer Mandjuk!“, schrie Jegor dem Typ im Stapler entgegen. Der zog den Kopf ein und steuerte sofort wieder in den Hangar, um die nächste Kiste zu holen.
Nesra betätigte die Sprechtaste an ihrem Knopf im Ohr, ohne die Szenerie auf dem Hof der Spedition aus den Augen zu lassen.
„Hier Zwei-Zwei-Neun, kommen Einsatzzentrale“, flüsterte sie ins Mikro.
„Hier Einsatzzentrale, wir hören, kommen Zwei-Zwei-Neun“, ertönte es blechern in ihrem linken Ohr.
„ZP bestätigt, ich wiederhole, ZP bestätigt – Zugriff kann erfolgen, bitte Weitergabe an ZUZ.“
„Verstanden – Weitergabe erfolgt.“
„Ich gebe Bescheid, wenn sie unterwegs sind.“
„Verstanden“, antwortete die Stimme in ihrem Ohr, dann war Stille.
Nesra machte einige Fotos mit ihrer Nikon D6 Spiegelreflexkamera und beobachtete das Verladen der restlichen Kisten, bis alle Wildtiere in den beiden Anhängern verschwunden waren. Erst als die Männer mit ihrer kostbaren Fracht vom Gelände fuhren, gab sie das Zeichen für den Zugriff.
Eine Einsatzgruppe der ZUZ hielt sich bereit. Sie würde den Transport nach ungefähr einem Kilometer stoppen, die Schmuggler verhaften und die Wildkatzen sicherstellen. Damit würde ihnen Jegor, einer der größeren Fische im weißrussischen Schmugglerring „Matyliok“, endlich ins Netz gehen. Und die Reise der Wildkatzen, die aus Mittelamerika über Guadeloupe nach Frankreich und von dort nach Karlsruhe geschmuggelt worden waren, vorerst enden. Vermutlich würden die Tiere erst einmal in einem Zoo untergebracht werden. Die Aussicht auf das triste Käfigleben war zwar auch nicht das Gelbe vom Ei, aber immer noch besser, als für irgendeinen gelangweilten Millionär das Hauskätzchen zu spielen, bis der die Lust verlor. Die Tiere waren nämlich, so hatte Nesra über einen Informanten erfahren, für einen Oligarchen in Minsk bestimmt.
Monatelang hatte Nesra in einem Frankfurter Edelklub, dem „Rich House“, Drinks serviert und nach und nach Kontakte mit verschiedenen Mitgliedern der Matyliok-Bande geknüpft. Mischa, ein junger Fahrer des Syndikats, hatte sich in sie verliebt und sie über Wochen immer wieder mit kleinen Geschenken überhäuft. Nesra wusste, dass ihn das den Kopf kosten könnte und entsprechend unterkühlt reagiert. Mischa hatte sich davon aber nicht beeindrucken lassen und war hartnäckig geblieben. Irgendwann war Nesra dann mit ihm in die Kiste gestiegen. Vor zwei Wochen hatte er dann erstmals von seinen Fahrten mit exotischen Tieren geprahlt und dass er demnächst wieder für ein paar Tage weg sein würde – leider.
Nesra zählte zwei und zwei zusammen und gab die Info direkt an Marc, ihren VE-Führer in Stuttgart, weiter. Da Mischa zudem noch über ein paar „einsame Nächte in Karlsruhe“ gejammert hatte, war das Ziel ihrer Aktion eingegrenzt. Über die Auswertung der Handydaten kam das Observationsteam auf ein Gewerbegebiet im Karlsruher Norden, und der Rest war Routine. Innerhalb weniger Stunden war der Einsatzplan wasserdicht. Nesra hatte darauf bestanden, selbst vor Ort zu sein, was Marc ein paar Telefonate über Zuständigkeiten gekostet hatte, aber er wusste, was er seiner besten Ermittlerin schuldig war und wie sehr sie diesen großen Knall am Ende eines Einsatzes genoss.
Mit ihrem Signal für den Zugriff war ihr Job fürs Erste beendet.
***
Sie stieg in den in einem Seitenweg geparkten Kleinwagen, der zu ihrer Tarnidentität gehörte, und gönnte sich eine Zigarette. Am Horizont dämmerte es bereits. Halb erleichtert, halb nervös blies sie den Rauch an die Autodecke und fuhr sich durch die dichten Haare, die sie normalerweise auf fünf Millimeter rasiert trug. Ihr skeptischer Blick fiel auf ihr Bild im Rückspiegel. Inzwischen waren ihre Haare bestimmt fünf Zentimeter lang.
„Da sie nun eh schon so lang sind, könnte ich sie mal wieder wachsen lassen“, lenkte sie sich mit Nebensächlichkeiten ab. Sie merkte, dass sie immer noch nervös war.
Verdammt, warum dauert der Zugriff so lange? Die Meldung der Einsatzgruppe war überfällig.
Nach der Verhaftung würden die Schmuggler zum Verhör ins Zollfahndungsamt nach Stuttgart überführt werden. Dort würde man sie dann dem zuständigen Haftrichter vorführen.
Auch für Nesra war Stuttgart das Ziel, denn sie hatte mit Marc vereinbart, sich dort noch heute mit ihm im ZFA, dem Zollfahndungsamt, zu treffen. Ihr VE-Führer hatte darauf bestanden, was ungewöhnlich war, aber Nesra war zu müde gewesen, um zu protestieren. Außerdem wohnte sie in Stuttgart und war zwischendurch immer nur für wenige Stunden zu Hause gewesen. Jetzt ging es zunächst nur darum, den Fall offiziell abzuschließen und ein paar Tage auszuspannen. Denn sie hatte Urlaub dringend nötig. Die ständigen Nachtschichten im „Rich House“ hatten mehr geschlaucht, als sie gedacht hatte, und auch die gelegentlichen Champagnerpartys waren kein Vergnügen gewesen …
Eine Stimme in ihrem Ohr meldete sich:
„Hier Einsatzzentrale, kommen Zwei-Zwei-Neun.“
„Hier Zwei-Zwei-Neun, ich höre“, antwortete Nesra mit nervöser Stimme.
„Zugriff erfolgt. Verhaftung erfolgreich. Einsatz beendet.“
„Gut gemacht – over and out“, sagte sie erleichtert, fügte in Gedanken noch ein „ab nach Hause“ hinzu und startete den Motor.
***
Als Nesra eine knappe Stunde später auf den Parkplatz des Zollfahndungsamts einbog, war es schon taghell. Der wolkenlose Morgenhimmel kündigte einen weiteren erdrückend heißen Sommertag an und das hieß in Stuttgart, der Kessellage sei Dank, dass ohne Klimaanlage die Chancen auf einen angenehmen Tag gleich null waren. Schwitzend quälte sie sich aus dem Kleinwagen.
Sie steuerte das mittlere der drei kasernenartigen Gebäude an. Trotz ihres Alters hatten die Gebäude einen gewissen Charme. Das ZFA lag etwas unscheinbar in der Nähe eines S-Bahn-Gleises in einer grünen, oasengleichen Parkanlage. Die riesigen Eichenbäume strahlten eine stoische Ruhe aus, die sich nach Nesras Empfinden perfekt mit der Patina der Zollbehörde ergänzte.
Sie arbeitete jetzt schon seit acht Jahren als Zollfahnderin, überwiegend als verdeckte Ermittlerin. Meist hatte sie mit Drogenhändlern und Waffenschiebern zu tun. Aber manchmal, so wie in diesem Fall, wurden auch exotische Tiere geschmuggelt.
In der Regel war sie nicht direkt bei einem Zugriff dabei, dafür war die Observationseinheit des Zolls, die OEZ, oder die Zentrale Unterstützungsgruppe, die ZUZ, zuständig. Obwohl die Funktionen streng getrennt waren, gab es Spielraum, in dem der Ermittlungsbereich nach eigenem Ermessen an Observationen und Zugriffen teilnehmen konnte. Und den nutzte Nesra sehr gerne aus. Solange sie niemandem in die Quere kam, wurde sie stillschweigend akzeptiert. Dass die Lorbeeren von den Einsatzgruppen vor Ort eingestrichen wurden, machte Nesra nichts aus. Ihr Job bedeutete ihr mehr als Ruhm, Karriere oder bloßes Geldverdienen. Sie tat es aus Leidenschaft. Es war mehr Berufung als Beruf.
Ihre Aufträge bekam sie direkt aus der Zentrale in Köln, doch ihr VE-Führer, Marc Voss, war genauso wie Nesra in Stuttgart beheimatet. Er hatte im ZFA auch ein eigenes Büro. Nesra nicht. Sie war ohnehin meist im Außendienst unterwegs, undercover.
***
Auf dem Weg zum Haupteingang kam ihr trotz der frühen Morgenstunde schon ein Kollege entgegen. Als sie ihn erkannte, war sie nicht überrascht.
Rico Schwarz war einer der aufstrebenden Zollbeamten der Behörde. Smart, gut aussehend und meistens gut gelaunt. Allerdings verhielt er sich ihr gegenüber auffallend zurückhaltend, und Nesra hatte den Verdacht, dass sein dezentes Grinsen nichts mit Schüchternheit zu tun hatte, sondern mehr mit Arroganz. Ihr war von Kollegen zugetragen worden, dass Rico ein Problem mit selbstbewussten Frauen hatte. Vor allem, wenn sie dunkelhäutig waren. Obwohl Nesra auf diese Art des Flurfunks wenig gab, musste sie zugeben, dass sie ihn genau aus diesem Grund umso überschwänglicher begrüßte. Heute war ihr allerdings nicht nach Provokation zumute.
„Hi, Rico“, sagte sie deshalb nur.
„Ah, Nesra Bukhari, so früh im Haus? Ich habe gerade gehört, dass der Einsatz in Karlsruhe erfolgreich war.“
„Ja, danke“, sagte Nesra und gähnte herzhaft. „War ein hartes Stück Arbeit. Der Schmuggel mit exotischen Tieren ist komplexer, als du dir vorstellen kannst.“
Anders als Nesra, die schon in allen Bereichen ermittelt hatte, war Rico Schwarz nur im Ermittlungsbereich „VuB Waffen“ tätig und hatte daher ausschließlich mit Waffenschmuggel über die deutsche Landesgrenze zu tun.
Als er jetzt vor Nesra stand, fiel ihr sein verändertes Outfit auf. Eigentlich war er ein klassischer Jeanstyp, aber heute hatte er anscheinend noch einen wichtigen Termin. Er trug einen eleganten, etwas zu engen dunklen Anzug, der an seinen Schultern spannte, und dazu ein weißes Hemd, dessen oberster Kragenknopf geschlossen war. Die eng geknotete schwarze Krawatte ließ ihn eher wie einen Dressman aussehen.
„Und du, schon so früh unterwegs?“, fragte sie mehr aus Höflichkeit.
„Die Verbrecher stehen früh auf, also stehe ich fünf Minuten früher auf“, antwortete er und verzog den Mund zu einem maliziösen Lächeln.
Nesra nickte etwas geistesabwesend, dann deutete sie mit einer vagen Handbewegung an, dass sie erwartet wurde. „Sei mir nicht böse, aber ich muss zu Marc, außerdem bin ich stehend k. o.“
Rico nickte lächelnd und trat zur Seite.
„Alles klar, bis bald. Und schöne Grüße an deinen Chef“, hörte sie Rico noch sagen, als sie die drei Stufen zum Haupteingang in einem Satz nahm.
Sie gab die vier Ziffern für den Zutrittscode ein, und der vertraute Summton, mit dem die Tür sich öffnete, vermittelte ihr tatsächlich das Gefühl, nach Hause zu kommen. Vielleicht lag es auch an dem Duft des frischen Kaffees, der sie direkt den langen Gang entlang zu Marcs Büro führte.
***
Ein paar Minuten später saß sie vor seinem Bürotisch und wartete auf ihr heiß geliebtes Koffeingetränk. Hinter ihr hantierte Marc mit seiner sündhaft teuren Siebträgermaschine.
Während Nesra auf ihre Tasse wartete, beobachtete sie das Leben vor dem Fenster. Ein Eichhörnchen war früh am Morgen schon aktiv und rannte über die Wiese im Park, der das Zollamt von den S-Bahn-Schienen trennte.
Sie erschrak kurz, als sich Marc zu ihr setzte.
„Hier, so wie du ihn magst.“ Vorsichtig, damit ja kein Tropfen verschüttet wurde, stellte er den köstlich duftenden Kaffee auf einen Stoff-Untersetzer. Natürlich exakt in die Mitte.
Nesra konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Alles auf Marcs Tisch musste seine Ordnung haben und perfekt zueinander in Symmetrie stehen. Das Familienfoto mit seinen beiden Töchtern und seiner Frau, das Telefon, die Tastatur, die Maus, der Stiftehalter und eben auch die Kaffeetasse.
Während er seine eigene Tasse akkurat auf dem Schreibtisch ausrichtete, betrachtete sie ihren Chef mit kritischem Blick. Marc sah schlecht aus. Schwarze Ringe unter seinen blauen Augen. Er war schmaler als sonst. Auch sein Teint wirkte blasser, und sie hatte den Eindruck, dass Marc in den letzten Monaten, in denen sie sich nicht gesehen hatten, um Jahre gealtert war.
Hatte er private Sorgen? Gesundheitliche Probleme? Der Matyliok-Fall dürfte ihm wohl kaum so viel Kopfzerbrechen bereitet haben. Schließlich war im Grunde alles nach Plan gelaufen. Sie nahm sich vor, ihn später nach seinem Befinden zu fragen. Denn jetzt hatte sie definitiv nicht die Energie dafür.
„Danke, Boss“, sagte sie und nahm dann einen großen Schluck von dem Edel-Wachmacher. Köstlich!
„Lass das. Du weißt, dass ich das Wort ‚Boss‘ nicht mag.“
Nesra grinste schief und suchte dann wieder nach dem Eichhörnchen im Park.
Marc schob die Kaffeetasse einen Hauch nach links, nur um sie einen Augenblick später wieder in die ursprüngliche Position zu bringen. Eine typische Marc-Aktion, leider. Er war früher einmal, genauso wie sie, als verdeckter Ermittler unterwegs gewesen.
Doch irgendwann forderte der ständige Undercover-Stress seinen Tribut, und Marc hatte Ticks entwickelt, die zwar nicht schlimm oder gefährlich waren, aber als verdeckter Ermittler ein No-Go. Mit einer schönen Empfehlung vom Amtsarzt wechselte er in den Innendienst. Schließlich wurde er ihr VE-Führer und war damit das Bindeglied zwischen ihr und den Fällen, die sie bearbeiteten. Er war ihre einzige Kontaktperson während der Undercover-Aktionen und koordinierte die Einsätze, entschied über die nächsten Schritte und konnte aus der Ferne stets einen kühlen Kopf bewahren. Nesra vertraute ihm. Nur ihm.
Mit der Zeit hatte sie sich angewöhnt, ihn „Boss“ zu nennen, auch wenn das rein formal nicht stimmte. Anfangs wollte sie ihn damit nur aufziehen, mittlerweile war es mehr Gewohnheit. Ihre kleine Retourkutsche für seine zahlreichen Ticks, die sie manchmal zur Weißglut trieben. Jetzt stellte sie den Kaffee wieder auf den Untersetzer und beobachtete halb belustigt, halb genervt, wie er ihre Tasse erneut mit Feuereifer mittig ausrichtete.
„Jegor Ratkovin und seine Bande befinden sich unten in den Arrestzellen. Wir verhören sie gleich. Wird nur Formsache sein, schließlich haben wir sie auf frischer Tat geschnappt. Dann geht’s ab zum Haftrichter“, sagte er nüchtern, nachdem er Nesras Tasse erneut perfekt positioniert hatte. Anschließend lehnte er sich mit einem zufriedenen Grinsen in seinem Bürostuhl zurück.
Nesra ertappte sich bei dem Gedanken, was ihn wohl zufriedener machte: die Ausrichtung der Tasse oder Jegors Verhaftung?
„Die Tiere sind übrigens wohlauf“, sagte er nach einer Weile.
Nesra nickte, allerdings hatte sie auch nichts anderes erwartet, denn für Jegor hatten nur gesunde Tiere einen Wert.
„Wir haben zwei Pumas, einen Jaguar und ein Ozelot-Pärchen in den Käfigen sichergestellt. Die sind schon auf dem Weg in die Wilhelma und werden dort versorgt, bis klar ist, wie es mit ihnen weitergeht.“
Auch das hatte Nesra schon vermutet. Die Wilhelma, Stuttgarts stadtbekannter Zoo, war für die Tiere sicherlich erst einmal die naheliegendste Zwischenstation.
Vorsichtig nippte sie ein weiteres Mal an ihrem Kaffee. Ein Traum. Während ihres Einsatzes in Frankfurt hatte sie sich über Wochen zwangsweise nur von Energydrinks und Fast Food ernährt. Für einen kurzen Moment drifteten ihre Gedanken wieder in das Frankfurter Nachtleben ab.
„Nesra?“
„Hm?“ Marcs bestimmender Ton brachte sie ins Hier und Jetzt zurück.
„Ich habe gesagt, der Fall ist damit für dich offiziell erledigt. Den Abschlussbericht mache ich fertig, du kannst die Tage ja mal drüberschauen. Jetzt geh bitte gleich runter zu Caro und gib dein Equipment ab.“
Nesra nickte müde und nahm einen weiteren Schluck aus ihrer Tasse: „Ich bin schon so gut wie weg.“
Caro, eine wortkarge Verwaltungsbeamtin Ende vierzig, nahm wenig später all das wieder in Empfang, was Nesra für ihren verdeckten Einsatz benötigt hatte: ihre gefälschten Ausweispapiere, den Autoschlüssel, einen nicht-polizei-typischen 9-mm-Revolver, das Walkie-Talkie und andere Dinge, die zur Standardausrüstung gehörten. Ihre Undercover-Identität.
Anschließend öffnete sie ihren privaten Spind und holte ihre Dienstwaffe, die Walther P5, ihren Dienstausweis, Schlüssel und ihr Handy heraus.
Als sie die Umkleideräume verließ, fühlte sie sich völlig übernächtigt. Sie widerstand dem Drang, im Untergeschoss vorbeizuschauen und Jegor durch den Türspion in der engen Arrestzelle sitzen zu sehen. Stattdessen machte sie sich auf den Weg nach Hause.
Nach solchen Einsätzen war es üblich, erst mal ein paar Tage Freizeitausgleich zu nehmen, um Abstand vom gerade Erlebten zu bekommen. Auch wenn Nesra im Hochgefühl eines erfolgreich abgeschlossenen Falles in der Regel gleich wieder loslegen wollte, so hatte sie diesmal das Gefühl, dass es ihr guttun würde, wirklich ein paar Tage auszuspannen.
***
Als Nesra in die S-Bahn einstieg und sich einen freien Fensterplatz suchte, lehnte sie ihren Kopf an die Scheibe und war schon nach ein paar Minuten im Begriff, richtig einzudösen.
Die Bahn war nur zu einem Viertel besetzt und fuhr ruhig und lautlos in Richtung Stadtmitte.
Plötzlich hörte sie weiter hinten aufgeregte Stimmen, die Nesra aus ihrem Dämmerzustand rissen.
„Lass mich endlich in Ruhe!“, flehte eine Frau, deren ängstliche Stimme im gesamten Bahnabteil zu hören war.
Und noch mal: „Verschwinde endlich!“
Dann hörte sie ein Geräusch, das wie ein Schlag klang, danach einen Schmerzensschrei. Alarmiert öffnete Nesra die Augen und löste ihren Kopf von der Scheibe.
„Stell dich nicht so an, du Schlampe!“
Nesra drehte sich um. Einige Sitzgruppen von ihr entfernt beugte sich ein junger Mann über eine Frau.
Ein Teenager, der ihr schräg gegenübersaß und dicke Kopfhörer über den Ohren trug, warf ihr einen fragenden Blick zu. Eine ältere Frau in der Sitzgruppe nebenan beobachtete interessiert, was weiter hinten passierte. Sie hatte sich nach vorne gebeugt, stützte sich auf ihren Einkaufstrolley und war anscheinend dankbar über so viel morgendliche Aufregung. Sie rührte sich keinen Millimeter, sondern starrte nur gebannt auf das, was gleich passieren würde.
„Hilfe! Kann mir bitte jemand helfen!“, rief die Frau nun verzweifelt, und der Ton in ihrer Stimme verriet, dass sie Angst hatte.
Nesra sprang auf.
Mit ein paar schnellen Schritten hatte sie die beiden erreicht. Die junge Frau kauerte auf einem Sitz und hielt die Hände schützend über den Kopf. Davor stand ein groß gewachsener, schlaksiger Mann, noch jünger als die Frau, kaum zwanzig. Er war inzwischen aufgestanden, hielt sich mit beiden Armen an den Haltestangen fest und wollte gerade mit einem Bein auf die Frau eintreten. Dabei schrie er: „Du Schlampe, du blöde Schlampe!“
Nesra zögerte keine Sekunde.
Im Nu war sie neben ihm, schlug dem Angreifer mit der Faust in die Achsel, sodass er die Haltestange loslassen musste. Er brauchte einen Augenblick, um das Gleichgewicht wiederzufinden, und warf Nesra einen verblüfften Blick zu, der sich dann aber sofort in blanke Wut verwandelte:
„Hey, was soll das? Scheiße! Verpiss dich, du Schlampe!“
„Ich bin Polizeibeamtin. Sie sind festgenommen“, antwortete Nesra trocken und versuchte, ihre eigene Wut unter Kontrolle zu halten.
Der junge Mann taxierte Nesra einen Moment, als ob er seine Chancen abschätzen wollte. Oder er fragte sich, ob sie die Wahrheit gesagt hatte und wirklich von der Polizei war. Erst in dem kurzen Moment der Stille fiel Nesra auf, dass sie nicht allein waren. Um sie herum hatte sich inzwischen ein buntes Publikum versammelt. Es fehlte nur noch, dass jemand die Wetteinsätze einsammelte.
Die Frau auf der Sitzbank wimmerte mittlerweile leise vor sich hin, blutete an der Unterlippe, noch dazu war ihre linke Gesichtshälfte rot und geschwollen. Der Typ musste sie richtig erwischt haben.
„Dann zeig doch mal deinen Ausweis, du Schlampe!“, schrie er plötzlich in Nesras Richtung.
„Ich zeig dir gar nichts“, antwortete sie ruhig, „aber du lässt jetzt die Frau in Ruhe, und ich rufe eine Streife.“ Bei den Worten zog sie ihr Handy aus der Hosentasche. Als der Kerl bemerkte, dass Nesra ihn komplett ignorierte, rastete er völlig aus. „Du Scheiß-Tussi!“, rief er, dann ging er auf Nesra los.
Sie hatte fast darauf gehofft. Als sie sah, dass er mit dem rechten Arm zu einem Schlag ausholen wollte, packte sie sein Handgelenk, nutzte den Schwung seines Körpers, duckte sich unter seinem Arm durch und drehte ihn auf seinen Rücken.
Es knackte laut, und der Rest war ein armseliges Gewimmer.
Einen Atemzug später war der ungleiche Kampf schon wieder beendet. Den Arm auf den Rücken gedreht, das Handgelenk abgeknickt und den Kopf auf den Sitz gedrückt, konnte der junge Mann sich keinen Millimeter rühren. Nesra signalisierte ihm mit einem vernichtenden Blick, dass sie nicht zögern würde, ihm die Schulter auszukugeln, wenn er nicht brav wäre.
Ein schmerzverzerrtes „Aahhhh“ war alles, was er noch zu sagen hatte. Nesra roch den Alkohol in seinem Atem und einen beißenden Schweißgeruch. „Kann mal jemand das Fenster aufmachen“, wollte Nesra sagen, bis ihr einfiel, dass diese modernen Bahnen nur mit Klimaanlage arbeiteten. Pech gehabt, dachte sie sich.
Eine lange Minute verharrten beide im Gang der Bahn, umringt von Neugierigen, die sich langsam wieder um ihre Angelegenheiten kümmerten. Nesra hielt den Kerl weiter im Polizeigriff fest, die Frau weinte leise vor sich hin, und die meisten Mitreisenden fingen bereits an, ihre frischen Handyvideos an Freunde und Bekannte zu posten.
An der nächsten Haltestelle entschied Nesra, dass es nun genug Videos von ihnen gab.
„Wir steigen jetzt aus“, sagte sie entschieden und wandte sich an die Frau: „Sie kommen auch mit, okay?“
Die Frau nickte still, schnäuzte in ein Taschentuch und erhob sich.
Als sie zusammen an der Haltestelle „Stadtmitte“ ausstiegen, hatte sich der jugendliche Schläger kleinlaut seinem Schicksal ergeben. Vielleicht war er auch einfach zu müde, um noch Widerstand zu leisten. Wortlos verfrachtete ihn Nesra auf die Bank an der Haltestelle, zog ihre Handschellen heraus und kettete ihn mit einem Arm an die Banklehne.
„Hey“, protestierte er halbherzig, doch Nesras Blick ließ ihn sofort verstummen.
Dann rief sie mit dem Handy eine Streife, gab ihre Position durch, nannte dazu noch Namen und Dienstgrad und wandte sich dann wieder der Frau zu: „Kennen Sie den Mann überhaupt?“
Sie schüttelte den Kopf: „Nein, keine Ahnung, er hat mich schon beim Einsteigen belästigt und wollte mir dann während der Bahnfahrt an die Wäsche. Als ich das nicht wollte, ist er plötzlich auf mich losgegangen. Ich … Ich habe den Typ noch nie zuvor gesehen.“ Bei den Worten fing sie wieder an zu weinen.
Nesra nahm ihre Hand: „Hören Sie, die Kollegen sind gleich da. Sie müssen in jedem Fall Anzeige erstatten. Unbedingt. Mit so was ist nicht zu spaßen. Der Arsch muss dafür bestraft werden, sonst macht er das morgen wieder. Haben Sie das verstanden?“
Die Frau schluckte schwer und nickte.
„Gut“, sagte Nesra und zwang sich zu einem Lächeln. „Das bekommen Sie schon hin. Ich werde alles bezeugen.“
„Sind Sie wirklich Polizistin?“
„Ja, bin ich“, antwortete Nesra und war froh, als sie die zwei Beamten von der Schutzpolizei sah, die auf sie zukamen.
„Tausend Dank“, sagte die Frau und umarmte Nesra länger und fester, als dieser lieb war.
„Dafür nicht“, antwortete sie, „da sind auch schon die Kollegen, und ich muss jetzt wirklich nach Hause. Schlafen.“
Sie übergab den Kerl in Handschellen an die Kollegen von der Streife, erklärte kurz den Sachverhalt und steckte einem der beiden eine Visitenkarte zu, da sie der jungen Frau versprochen hatte, als Zeugin auszusagen.
Dann verabschiedete sie sich, stieg in die nächste Bahn, die gerade ihre Türen öffnete, und suchte sich den nächsten Fensterplatz. Wenn sie Glück hatte, wäre sie gleich zu Hause.
Einige Minuten später stand sie endlich vor dem Haus, in dessen Obergeschoss ihr ein riesiges Loft gehörte.
Obwohl sie todmüde war, ließ sie den Aufzug links liegen und zwang sich die sechs Stockwerke über die Treppe nach oben. Eine alte Angewohnheit: In den Anfangsjahren ihrer Zoll-Karriere hatte sie einmal eine Verbrecherbande gejagt, die ihre wahre Identität herausbekommen hatte. Daraufhin hatten ihre Gegenspieler einen Aufzug so präpariert, dass sie beinahe mit ihm abgestürzt wäre, wenn nicht ein glücklicher Zufall dazwischengekommen wäre. Seitdem mied sie Aufzüge, wann immer es nur ging.
Auch wenn es der Aufzug zu ihrer Wohnung war.
Nesra beschlich ein seltsames Gefühl, als sie die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss und nach langer Zeit das erste Mal wieder ihr Zuhause betrat. Sie fühlte sich wie eine Fremde, als sie in der Diele den Lichtschalter betätigte, die Tür zum Wohnzimmer öffnete und die Atmosphäre des riesigen Raumes aufsog.
Die Art und Weise, wie sie privat wohnte, stand im krassen Gegensatz zu den Absteigen, in denen Nesra während ihrer Einsätze unterkam. In Frankfurt hatte sie in einer schäbigen WG mit einer anderen Kellnerin des „Rich House“ gewohnt.
Jetzt betrat sie einhundertvierundfünfzig Quadratmeter puren Luxus, den sie ihren äußerst wohlhabenden Eltern verdankte. Ein Teil davon steckte in diesem Loft, das in einer der teuersten Ecken Stuttgarts lag, natürlich in Halbhöhenlage und mit Blick über den Stuttgarter Talkessel.
Sie warf ihren Hausschlüssel in die Walnuss-Holzschale auf dem Sideboard und registrierte mit einem Anflug von Traurigkeit den Zweitschlüssel in der Schale, an dem noch der Vespa-Schlüssel von Luke, ihrem Ex-Freund, befestigt war. Sie hatte es noch immer nicht über das Herz gebracht, Lukes Spuren in ihrem Leben zu verwischen, und so stand auch sein Roller noch immer in ihrer Garage.
Luke war vor über zwei Jahren erstochen worden, direkt vor ihren Augen. Auch wenn das, in was sie und Luke damals hineingezogen wurden, gar nichts mit ihrem Job zu tun hatte. Ausgangspunkt waren die Ereignisse um ihre damalige gemeinsame Freundin Vicky gewesen. Trotzdem machte sich Nesra noch immer große Vorwürfe, denn der Fall, bei dem es schlussendlich um ein Attentat in der Stuttgarter Liederhalle ging, war da eigentlich schon längst aufgeklärt gewesen. Sie hatten daher auch nicht mehr an die noch flüchtige Frau gedacht, als sie ein paar Wochen später mit einem Messer in der Hand vor Nesra, Luke und Vicky aufgetaucht war. Nesra hatte es zwar geschafft, sich selbst zu verteidigen, den Stich, der Luke tötete, konnte sie allerdings nicht verhindern.
Das war nun über zwei Jahre her, und noch immer fühlte sich dieser Tag wie eine komplette Niederlage an. Es war, als würde die Zeit in diesem Augenblick vollkommen stillstehen. In ihrem Inneren breitete sich tiefe Dunkelheit aus. Sie versuchte es zu ignorieren, schüttelte die stärker werdende Traurigkeit ab, schluckte die schmerzhafte Vergangenheit herunter und ließ sich mit einem Stoßseufzer in ihren Lieblingssessel fallen.
Bei der Innenausstattung hatte sich Nesra an dem Stil der Bauhaus-Ära orientiert. Alle Möbel und Designelemente strahlten Geradlinigkeit und Eleganz aus. Das riesige, schneeweiße Ledersofa, der schnörkellose Glastisch mit Natursteinfundament sowie die dahinter angrenzende offene Küche mit der schiefergrauen Kücheninsel sorgten für Klarheit, Ruhe und Entspannung.
Ihr Blick suchte die voll verglaste Fensterfront, durch die die Morgensonne gerade das Wohnzimmer in einem zarten Orange flutete. Es war kurz nach halb 8 Uhr morgens. Wo steckte Lucky? Dann entdeckte sie ihren Mitbewohner zusammengerollt an seinem Lieblingsplatz liegen. Er hatte sie schon bemerkt und blickte sie durch die leuchtend grünen Augen für einen Moment an. Dann erhob er sich und tänzelte graziös und elegant zu ihr herüber.
Einen Augenblick später rieb er sein kurzes, seidig glänzendes Fell an ihrem Bein, so als müsste er sich erneut an sie gewöhnen, blickte interessiert zu ihr hoch und begrüßte sie mit einem lang gezogenen „Miau“.
Nesra bückte sich und kraulte ihn zwischen den Ohren. Er genoss die Begrüßung, sprang dann aber mit wenigen Sätzen auf das Sofa und ließ sich dort nieder.
Für einen Augenblick blickte sie ihm lächelnd nach.
Wie durch einen Wink des Schicksals hatte sie Lucky, ihren orientalischen Kurzhaar-Kater mit dem schlanken und doch muskulösen Körper, den etwas zu lang geratenen Beinen und dem schwarz-weiß gefleckten Fell, entdeckt. Vor knapp zwei Jahren, ziemlich genau nach dem tragischen Unglück mit Luke und inmitten der schwierigsten und traurigsten Wochen ihres Lebens, hatten Stuttgarter Zollbeamte bei einer Kontrolle am Flughafen mehrere Transportboxen mit über vierzig Jungkatzen gefunden. Die Schmuggler wurden verhaftet, und die Katzen mussten schnellstens artgerecht untergebracht werden. Da aber alle Tierheime kurz vor den Ferien wie üblich wieder überliefen, waren sie übergangsweise für zwei Nächte in den Zellen des Zollfahndungsamtes untergekommen. Eher zufällig war Nesra über die ungewöhnlichen Gäste gestolpert und hatte Lucky sofort ins Herz geschlossen. Es war Fluch und Segen zugleich, dass sein Name auf der Metallmarke um seinen Hals sie nun jedes Mal an ihren verstorbenen Freund erinnerte.
Sie schnappte sich einen Apfel aus der frisch aufgefüllten Obstschale. Frau Metzger, die rüstige Rentnerin, die im dritten Stock eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung bewohnte und gleichzeitig ihre Haushälterin war, hatte ihre Arbeit wie immer ernst genommen, denn sie hielt die Wohnung tadellos in Schuss, goss die Pflanzen und kümmerte sich um Nesras Katze, auch und vor allem, wenn Nesra monatelang auf Achse war.
Nesra drückte auf den Schalter neben der breiten Fensterfront, der mit einem Summen die Glaselemente automatisch zur Seite bewegte und so fast die komplette Südostseite des Wohnzimmers öffnete. Von unten klangen die morgendlichen Stadtgeräusche Stuttgarts nach oben. Typischer Straßenlärm, Kindergeschrei und aus dem gegenüberliegenden Haus Gitarrenmusik eines übermotivierten Musikers. Noch war es angenehm kühl, doch in einigen Stunden würde es wieder drückend heiß sein. Stuttgarts berühmt-berüchtigte Kessellage sorgte im Sommer dafür, dass es sich in der Innenstadt kochtopfartig aufheizte. Daran änderte auch die Halbhöhenlage ihrer Wohnung nicht viel. Beim Blick über die staubige Stadt bekam Nesra das dringende Verlangen nach kühlem Nass auf ihrer Haut. Sie biss noch einmal in den Apfel, schloss die Fensterfront wieder und zog sich auf dem Weg ins Bad aus: Bluse, Hose, Socken, Unterwäsche.
Die Kleider ließ sie einfach auf dem Weg ins Bad liegen.
Als sie unter der lauwarmen Dusche stand und das Wasser ihr auf den Rücken prasselte, fielen die Anstrengungen der letzten Wochen und Monate von ihr ab. Erst wenn der Adrenalinpegel wieder auf null war, merkte sie, wie sehr sie die ganze Zeit unter Strom gestanden hatte. Dann würden auch die Verspannungen im Nacken, im Rücken oder Kopfschmerzen in den nächsten Tagen verschwinden.
Die ausgiebige Dusche half ihr dabei, den ersten Schritt zurück in ihr echtes Leben zu finden und den Fall wirklich abzuschließen. Erst dann konnte sie damit beginnen, in ihrem Innern aufzuräumen und Jegor und seine Handlanger gedanklich in der Schublade bei den anderen gelösten Fällen zu verstauen.
Eine halbe Stunde später fühlte sich Nesra deutlich entspannter und schlief in ihrem riesigen Wasserbett und mit Lucky im Arm innerhalb weniger Minuten ein.
***
später Nachmittag
Ein schepperndes Geräusch riss Nesra aus dem Schlaf.
„Wo bin ich?“
Sie saß senkrecht in ihrem Bett und brauchte einen Augenblick, um festzustellen, dass sie nicht mehr Undercover-Jessy in Frankfurt, sondern wieder Nesra in Stuttgart war.
Wieder dieses Geschepper. Es kam aus der Küche.
Ein absurder Gedanke schoss ihr durch den Kopf: „Einbrecher?“
Sie hielt den Atem an, zog ihre Dienstwaffe aus dem gesicherten Kurzwaffenkoffer unter dem Bett hervor und sprang möglichst lautlos auf die Beine.
Als sie, mit der Waffe im Anschlag, um die Ecke in die Küche schielte, atmete sie erleichtert aus.
„Frau Metzger“, begrüßte Nesra erleichtert die alte Dame, die sich in ihrer Küche zu schaffen machte und ihr einen mehrdeutigen Blick zuwarf. Ihre Waffe hatte sie mit einer eleganten Bewegung hinter ihrem Rücken verschwinden lassen und stand nackt, wie Gott sie schuf, vor ihrer Haushälterin.
„Sie haben mich fast zu Tode erschreckt“, sagte Nesra und versuchte, es nicht wie einen Vorwurf klingen zu lassen.
Denn sie schätzte Frau Metzger, für die der Begriff „Ur-Schwäbin“ erfunden wurde, sehr. Abgesehen von der Tatsache, dass sie bei der Sauberkeit keine Kompromisse machte, war sie vertrauenswürdig und nur in Maßen neugierig. Auch jetzt kommentierte sie Nesras Auftritt mit keinem Blick, sondern grüßte nur über die Schulter hinweg in dem breitesten Schwäbisch: „Ko mo scho wach sai um diese Uhrzeid, Frolei Bukhari? Ond überhaupd, was isch des eigendlich für a Bgrüßung?“ Hoppla, dachte Nesra, Frau Metzger nimmt es mit der Zeit heute mal wieder ganz genau. Und das Wort „Fräulein“ sollte Nesra daran erinnern, dass sie noch immer ledig und ohne Kinder war.
Trotz des harschen Tonfalls, den Frau Metzger öfter an den Tag legte, mochte Nesra die alte Dame mehr, als sie sich eingestehen wollte.
Wenn sie genauer darüber nachdachte, hatte sie Frau Metzger und sogar ihre eigentümliche Ausdrucksweise in den letzten Monaten vermisst.
„Kaum sind Se wiedr da, lieged scho ieberall die Klamodda rum!“
Nesra bemerkte erstaunt, dass Frau Metzger ihre Spuren schon wieder eingesammelt hatte.
Seit wann war sie eigentlich hier?
Nesras Blick fiel auf das Display ihres Designerbackofens.
Es war später Nachmittag. Sie hatte fast neun Stunden geschlafen.
Sie erwiderte nichts, sondern zuckte nur mit den Schultern, verließ die Küche, versteckte die Waffe wieder unter ihrem Bett und zog frische Unterwäsche, knappe Shorts und ein T-Shirt aus dem Schrank. Dann ließ sie sich auf einem der Küchenhocker nieder und rieb sich die Müdigkeit aus den Augen. Normalerweise hatte Nesra einen leichten Schlaf. Berufsbedingt. Jetzt musste Nesra sich verwundert eingestehen, dass Frau Metzger still und heimlich in ihre Wohnung geschlichen war, nur, um ihr endlich wieder einmal ein richtig deftiges spätes Frühstück zu machen.
In den ersten Nächten nach dem Ende eines Einsatzes schlief Nesra meistens tief und fest, allerdings geplagt von den wildesten Träumen. Auch diesmal war es nicht anders. Sie erinnerte sich an Bilder, in denen sie mit den geretteten Wildkatzen zusammen in einem Käfig saß und Jegor sie von draußen auslachte. Sie versuchte, die Gedanken an den Weißrussen abzuschütteln, und war dankbar, als Frau Metzger ihr eine Tasse mit dampfendem Kaffee hinstellte.
Nesra bedankte sich mit einem dezenten Kopfnicken, trank vorsichtig einen Schluck und beobachtete dabei Lucky, der auf die Kücheninsel hochsprang und sie und Frau Metzger abwechselnd bettelnd ansah.
„Dafür ned, Schätzele.“ Frau Metzger grinste versöhnlich und schob ihre dicke Brille, die wie immer ständig von der kleinen Nase zu rutschen drohte, wieder an ihren Platz.
Als Nesra erneut am Kaffee nippte und zum ersten Mal nach über drei Monaten ihr privates Handy einschaltete, war es um die sonst übliche Zurückhaltung von Frau Metzger geschehen: „Und wo wared Se diesmal, Frolei Bukhari? Hamburg, Paris, London? Wen habed Se dingfest g’machd?“
Frau Metzger wusste, dass Nesra für den Zoll arbeitete und dass sie berufsbedingt viel unterwegs war, meistens in Deutschland, manchmal aber auch im europäischen Ausland. Nesra hatte nie mehr als nötig von ihren Einsätzen erzählt, doch Frau Metzger hatte, wie viele andere auch, ein wenig realistisches Bild von Zollfahndern im Kopf, das vor allem durch schlechte Fernsehkrimis geprägt war.
„Frankfurt“, antwortete Nesra. Zur Abwechslung mal die Wahrheit. Sie hatte keine Lust auf Nachfragen und hoffte, dass Frau Metzger damit das Interesse verlor.
Frankfurt war eben nicht Paris. Und tatsächlich, es wirkte. Frau Metzger schien nicht besonders beeindruckt. Die Neugier in ihren Augen erlosch und sie beschäftigte sich wieder mit der Herdplatte.
Während Nesra ihren Kaffee genoss, scrollte sie durch die eingegangenen Nachrichten und entgangenen Anrufe der letzten Monate, die auf ihrem Handy im Sekundentakt aufploppten.
Sie war nicht besonders erpicht darauf, nachzusehen, von wem sie waren.
Außerdem: Wer sollte schon etwas von ihr wollen? Freunde oder selbst Bekannte hatte sie nicht mehr viele. Vor allem seit der Sache mit Luke. Die Narbe auf ihrem Handrücken begann wieder zu jucken und Nesra wusste, sie durfte sich jetzt nicht damit beschäftigen. Verdrängen und ignorieren war das, was am besten half. Zumindest für den Moment.
Um sich abzulenken und um ihren verspannten Rücken wieder in den Griff zu bekommen, entschied sie sich für sechzig Minuten Yoga. Eine der vielen Sportaktivitäten, die Nesra dabei halfen, den Kopf frei zu bekommen und gleichzeitig fit zu bleiben. Neben Yoga waren Schwimmen und manchmal Kampfsport ihre Leidenschaft. Fürs Erste musste der Sonnengruß reichen, um den Rhythmus und ihre innere Mitte zu finden.
Eine halbe Stunde später kamen allerdings so leckere Gerüche aus der Küche, dass Nesra sich dazu entschied, die Übungsstunde abzubrechen und sich wieder an den Küchentisch zu Frau Metzger zu setzen. Ein eher untypisches Schwabenbüfett wartete auf sie: Spiegeleier mit Sucuk, einer türkischen, kräftig gewürzten Rindswurst, Ziegenkäse und Toast. Dazu Kefir und frisch aufgeschnittene Gurke, Tomaten und grüne Paprika. Frau Metzger kannte nicht nur Nesras Frühstücksgewohnheiten, sondern auch ihren ungewöhnlichen Tagesrhythmus, auch wenn sie ihn nicht billigte. Ihr vorwurfsvoller Augenaufschlag war legendär, aber das war auch schon alles, was Nesra an Beschwerden vorzubringen hatte. Alles in allem war Frau Metzger eine zuverlässige Haushälterin, die alles tat, damit sich ihr Schützling wohlfühlte.
Nesra machte sich hungrig wie ein Wolf über das Festmahl her und begann gierig, ihren Proteinhaushalt in Ordnung zu bringen. Als sie Lucky, der seit Minuten neben ihrem Teller verharrte und vorwurfsvoll auf die Sucuk-Scheiben starrte, ein Stück der Rindswurst vor die Nase hielt, blinkte ihr Handy. Ein erneuter Anruf in Abwesenheit. Um sich abzulenken und weil sie wusste, dass Frau Metzger schon mit den Hufen scharrte, fragte sie spitzbübisch: „Was gibt es Neues, Frau Metzger? Erzählen Sie.“
Wie auf Kommando leuchteten Frau Metzgers Augen auf und sie beugte sich geheimnisvoll zwinkernd über den Küchentisch: „Passed Se auf, Frolei Bukhari, Sie wissed ja, i ben normalerweis’ verschwiegä wie a Grab, aber Sie kenned doch den Sohn vom altä Elektro-Lohmann, vom ersten Stock, den Ronnie. Ronnie Lohmann.“
Nesra nickte pflichtschuldig, hatte allerdings keine Ahnung, auf wen Frau Metzger anspielte. Gesichter konnte sie sich gut merken, eine Berufskrankheit. Aber Namen waren ein anderes Thema, vor allem, wer wo im Haus oder in der Straße wohnte, da musste sie passen. Sie war ja sowieso kaum zu Hause und wenn doch, dann war sie froh, wenn sie ihre Ruhe hatte.
Frau Metzger war jetzt in ihrem Element: „Also der Sohn, der Ronnie, der had sich doch tatsächlich umbracht. Mi’m Strick. Und seine Eldern lässd er aufm riesigä Schuldenberg sitze. Und das, obwohl er noch im Frühling den Zuschuss vom Amt kriegd had. Und kurz davor han i no zur Gitti g’sagt, dass der doch bestimmt koi sechs Monat mehr durchhäld und jetzt des. Als ob i’s gwussd häd. Eine Tragödie isch des!“
Die Entrüstung oder der Schrecken im Blick von Frau Metzger bettelten förmlich um eine Antwort. Nesra tat ihr den Gefallen und hob überrascht die Augenbrauen. „Das ist schlimm, da haben Sie recht“, sagte sie mit Nachdruck. Dann aß sie seelenruhig weiter.
Wenn es so war, wie Frau Metzger berichtete, dann war es ein weiterer Selbstmord aus Verzweiflung. Traurig. Aber seit Corona auch keine Seltenheit mehr.
Die nächste Stunde erzählte Frau Metzger von verschiedenen Leuten, die scheinbar im Haus, in der Straße oder im Viertel wohnten, deren Namen Nesra aber meist nicht kannte, weshalb sie nur mit einem Ohr zuhörte.
Bei fast allen Neuigkeiten ging es ums Geld, um Streitigkeiten, Einzelschicksale und die damit verbundene wirtschaftliche Situation, in der sie sich befanden.
Irgendwann hatte Nesra in all dem Elend den Faden verloren, als ihr Handy klingelte.
Es war Marc.
„Hey Nesra“, begrüßte er sie mit zitternder Stimme, „Wir müssen uns sehen. Heute noch.“
„Okay“, antwortete Nesra etwas verwundert über den Unterton.
„Am besten sofort“, schob er unmissverständlich nach. Mit einem Mal war Nesra wieder hellwach. Marcs Stimme klang besorgt. Besorgter als sonst. Irgendetwas musste passiert sein.
2
9 Tage zuvor, 22:13 Uhr
Stadtteil Stuttgart-Nord – „Aladdin Palace“
Die beiden schweren SUVs parkten hintereinander in zweiter Reihe. Die Warnblinkanlage des zweiten BMW ging an. Es war schon dunkel und die Straßenlaternen spendeten nur ein milchiges Licht. Leise öffneten sich die Fahrer- und Beifahrertüren der großen schwarzen Autos. Insgesamt fünf Männer stiegen aus. Sie trugen dunkle Trainingsanzüge und ihre Gesichter waren vermummt. In ihren Händen hielten sie Sturmgewehre und halb automatische Pistolen. Mit einem kurzen „Los geht’s“ setzten sich die beiden größeren Männer in Bewegung, die drei anderen folgten. Ihr Ziel lag knapp fünfzig Meter gegenüber auf der anderen Straßenseite.
Das Aladdin Palace war erst vor ein paar Wochen eröffnet worden und Teil einer arabischen Restaurant-Kette, deren Filialen allesamt „Palace“ im Namen trugen und von denen es mittlerweile schon mehrere in Stuttgart gab. Das Essensangebot bestand hauptsächlich aus Fladen, Hummus, Rindfleisch und Reis oder Nudeln, war landestypisch gewürzt und spielte eher im mittleren Qualitäts- und Preissegment. Die Zielgruppe waren junge Erwachsene zwischen zwanzig und dreißig, aber auch Geschäftsleute, die nach der Arbeit oder während der Mittagspause eine Kleinigkeit essen wollten.
Das Aladdin Palace war an diesem Abend fast bis auf den letzten Platz gefüllt.
Einige Gäste aßen etwas, andere tranken Tee oder Cocktails oder tippten auf die Tablets, die in die Tische eingelassen waren und gleichzeitig als Speisekarten und Order-System dienten. Zwei arabisch aussehende Geschäftsmänner hatten sich in einer Ecke an einem kleinen Tisch niedergelassen. Mit ihren fast identisch ausrasierten Bärten hätten sie Zwillingsbrüder sein können. Sie trugen Sonnenbrillen, was ein bisschen übertrieben war, denn das Aladdin Palace war nur mäßig und ausschließlich in warmen Farben ausgeleuchtet. Einen Tisch weiter saß eine Gruppe Abiturienten, die sich so laut amüsierte, dass die orientalische Musik, die aus versteckten Boxen kam, fast nicht mehr zu hören war. Die beiden Männer in der Ecke interessierte das nicht weiter. Sie rückten ihre Anzüge zurecht, schoben die Sonnenbrille auf dem Nasenrücken nach oben und unterhielten sich über den Tisch gebeugt leise und eindringlich miteinander.
Die Luft war schwer und stickig, gekocht wurde in einer offenen Küche, und alles sah nach einem normalen Abend im Aladdin Palace aus, als plötzlich die Tür aufflog und die maskierten Männer mit ihren Waffen hereinstürmten.
Vier von ihnen bewegten sich militärisch präzise in schnellen Schritten vorwärts, der fünfte wartete am Ausgang. Sie trugen die schweren Sturmgewehre mit beiden Händen im Anschlag. Jeder der vermummten Männer sicherte dabei seinen Vordermann und dessen Position ab und hielt dabei die Waffe auf alles und jeden gerichtet, der ihm in den Weg kam.
Es dauerte einen Herzschlag, bis die ersten Gäste bemerkten, was los war. Eine kurze Sekunde war es mucksmäuschenstill, dann war das ohrenbetäubende Geräusch der Waffen zu hören, die ihre Magazine in den Raum entluden. Plötzlich passierte alles zugleich: Schreie von Verwundeten und von Flüchtenden, die sich unter die Tische warfen, Kugeln, die durch den Raum surrten, zersplitternde Fenster und Gläser, Raumteiler, die umgeworfen wurden. Über all dem lag ein Nebel aus Munitionspulver, und unter das Aroma der Gewürze hatte sich eine metallische Nuance geschmuggelt, die nach Blut roch, und dann war es still.
Das Aladdin Palace war ein Ort des Todes geworden.
Auch die beiden Männer in der Ecke hatten keine Chance gehabt. Sie lagen auf dem Boden, blutüberströmt und reglos. Die maskierten Männer waren noch nicht fertig. Der Größte von allen näherte sich den beiden und setzte aus nächster Nähe zwei Kopfschüsse ab. Die anderen sicherten mit erhobenen Waffen die Umgebung.
Anschließend gaben sie sich kurze, prägnante Handzeichen und verließen das Aladdin Palace so schnell und leise, wie sie hereingekommen waren. Innerhalb von einer halben Minute hatten sie ihre SUVs erreicht, waren eingestiegen und provozierend langsam davongefahren.
Im Aladdin Palace dauerte es noch ein paar Augenblicke, bis die Gäste aus ihrer Angststarre erwachten und vorsichtig hinter ihrer Deckung hervorkamen.
Die meisten waren geschockt von dem, was sie sahen. Einige mussten sich auf der Stelle übergeben. Die ersten Handys leuchteten auf.
Zurück blieben neben dem Gestank von Blut, Urin und abgestandenem Essen verzweifelte Menschen, denen die Todesangst ins Gesicht geschrieben stand und die nur dankbar waren, dass sie das Massaker überlebt hatten.
Acht Tote, darunter zwei Männer, bei denen es sich, wie sich später im Laufe der Ermittlungen herausstellen würde, um zwei Mitglieder des arabischstämmigen Clans „Al-Aka“ handelte, der in der Stuttgarter Unterwelt aktiv war.
Der Al-Aka-Clan schwor noch in derselben Nacht Blutrache für den feigen Anschlag auf die beiden Clanbrüder. Der Staatsschutz schaltete sich ein. Doch es blieb auch in den nächsten Tagen weiterhin unklar, wer die maskierten Täter gewesen waren und in welchem Auftrag sie gehandelt hatten.
3
6. August, kurz vor 16 Uhr
„Ich. Muss. Hier. Raus“, skandierte Olaf in seinem Kopf.
Er hatte seine Kollegen, das ständige Lächeln und affektierte Getue so satt, dass er es kaum in Worte fassen konnte. Ganz besonders dann, wenn alle zu einer Besprechung zusammenkamen. Zu einem MEETING. Da sein Chef, Möbius Franzen, oder wie ihn Olaf nannte: „Franzenstein“, anwesend war, machten alle gute Miene zum bösen Spiel. Jeder versuchte, dem Abteilungsleiter in den Hintern zu kriechen und gut dazustehen. Olafs Blick machte die Runde. Jeder einzelne ein Schoßsitzer. Jeder. Außer Olaf. Für ihn war das hier alles Zeitverschwendung.
Der Besprechungsraum war wie immer brechend voll. Franzen stand vorne am Kopfende des langen Tisches und führte das Wort, laberte irgendetwas von Projektverzug und von drohenden Kosteneinsparungen. Sie sollten die Projekte schneller und billiger abschließen.
Na prima. Grandiose Idee. Schneller und billiger. Da war vorher garantiert noch niemand draufgekommen. In letzter Zeit wurde es immer schlimmer, denn obwohl sie mit der Arbeit kaum noch hinterherkamen, wurden immer mehr Aufträge an Land gezogen.
Irgendwann schaltete Olaf einfach ab. Das tat er in letzter Zeit öfter. Er hatte sich auf den Stuhl gesetzt, der dem Ausgang am nächsten war, da er keine Sekunde länger Teil dieser Witzveranstaltung sein wollte als nötig.
Hier konnte er schnellstmöglich verschwinden, wenn die Farce ein Ende hatte. So schnell wie möglich – oder wie Franzen es so gerne ausdrückte: Asap. As Soon as possible – mit großem S – äffte Olaf seinen Chef in Gedanken nach, während der Idiot mal wieder versuchte, seine Mitarbeiter unter Druck zu setzen.
Bei dem Gedanken an Franzens dämliches Grinsen kam ihm die Galle hoch. Er wagte es nicht, in seine Richtung zu blicken, stattdessen fixierte er das Glas in seinen Händen.
Warum war er nur hier gelandet? Seit über fünf Jahren arbeitete er schon für Expand DPS.
Das DPS stand für Defence und Public Security. DPS war ein mittelständisches Unternehmen, das von der Bundeswehr als Subunternehmer für militärische Großprojekte beauftragt wurde. Bei den Aufträgen, die Olaf meist auf den Tisch bekam, handelte es sich um Logistikdienstleistungen, Gütertransporte oder Unterbringungsmanagement für Auslandseinsätze der Bundeswehrsoldaten.
Früher einmal, als die Welt noch auf seiner Seite gewesen war, war Olaf selbst an der Front gewesen. Als Unteroffizier im Südsudan. Bis zu dem Tag, an dem alles schiefgelaufen war. Dieser eine verdammte Tag. Die Erinnerung so frisch, als wäre es gestern gewesen. Die stechend heiße Sonne, die trockene, staubige Luft und der Schweißgeruch der Kameraden um ihn herum auf der Ladefläche des Lastwagens, auf dem sie alle saßen. Olaf ganz hinten, ganz außen. Und dann dieser eine unsägliche Moment: Sie fuhren durch eines dieser riesigen Schlaglöcher in den Lehmstraßen Nordostafrikas. Olaf verlor für einen Bruchteil einer Sekunde das Gleichgewicht, reagierte zu spät und fiel kopfüber vom Laster. Beim Versuch, sich abzufangen, brach er sich die Ellenbogen und zertrümmerte eine Kniescheibe. Ganz dummer Unfall, ganz dumme Geschichte, hörte er später die Ärzte immer und immer wieder sagen, während sie Olafs Röntgenbilder gegen das Licht hielten und dabei Mühe hatten, sich ein Grinsen zu verkneifen. So viel Pech musste man erst einmal haben. Nach drei Operationen war er monatelang in der Reha, doch damals war klar, dass sein Leben als Berufssoldat vorbei war.
Für ihn selbst war etwas anderes entscheidend: Die Ärzte hatten gepfuscht. Sie waren verantwortlich für den viel zu langen Heilungsverlauf. Das Knie schmerzte bis heute bei der kleinsten Anstrengung, und ohne Tabletten ging dann nichts. Auch die Gelenke der Ellenbogen waren nie mehr richtig zusammengewachsen. Es hatten sich Wasseransammlungen gebildet, die seine Ellenbogen auf die Größe von Orangen anschwellen ließen. Die Reha brachte kaum Besserung. Bis zuletzt hatte er sich an den Funken Hoffnung geklammert, dass er in den aktiven Dienst zurückkehren könnte. Aber irgendwann blieb ihm nichts anderes übrig, als die bittere Wahrheit zu akzeptieren. Irgendwie. Er gab auf, fiel in ein tiefes Loch. Depression nannte es der Hausarzt, posttraumatische Belastungsstörung der Psychotherapeut. Die Tatsache, dass dieses Drama beim „Von-dem-Laster-fallen“ passiert war, ließ Olaf noch jetzt vor Scham im Boden versinken. Wenn es doch wenigstens beim Kampfeinsatz mit direktem Feindkontakt passiert wäre. Irgendwann schaffte er es dann so weit aus dem mentalen Tief heraus, dass er an einem der Umschulungsprogramme teilnehmen konnte, die die Bundeswehr ihm angeboten hatte. Schließlich landete er bei Expand DPS. In der Abteilung für Ressourcen- und Warenkoordination. Für etwas anderes war er scheinbar nicht mehr zu gebrauchen. Als Projektsachbearbeiter plante er mögliche Transportrouten, berechnete Einsatzkosten für die Verpflegung der Truppen und anderen Routinekram.
„Ganz dummer Unfall, ganz dumme Geschichte“, war das Einzige, was er den Kollegen beim Start seines neuen Jobs zu sagen hatte.
Und er hasste diesen Job von Anfang an. Ihm waren die Aufgaben, für die er zuständig war, völlig schnuppe, und er wurde auch nicht warm mit seinen Kollegen. Und seinen Chef hätte er am liebsten erwürgt. Daher flüchtete sich Olaf meistens in Tagträume in die Zeit vor diesem Unfall, wenn er an Meetings teilnehmen musste. Oder er stellte sich vor, wie Franzen oder die Kollegen ums Leben kamen. Manchmal war es ein Unfall oder eine Krankheit, manchmal erledigte er es selbst. Heute war es Mutter Natur: Olaf drehte das Glas Wasser in seinen Händen immer schneller und beobachtete den kleinen Wasserstrudel, der durch die Rotation entstand. Wie ein Tsunami, in dem sein Chef, seine ganze Abteilung, ach, am besten die ganze beschissene Firma, absaufen würde.
„Herr Gallweber?“
Olaf zuckte dabei zusammen und verschüttete eine Pfütze Wasser auf dem Tisch.
Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Franzen stand noch immer am Kopfende, hatte sich vornübergebeugt und schaute ihn grinsend an. Wartete er auf eine Antwort? Auf eine Reaktion?
In Franzens Gesichtsausdruck lag ein Hauch Herablassung und fast noch schlimmer: eine Prise Mitleid.
Olaf fing an zu schwitzen, wollte diesem blöden Grinsen etwas Souveränes entgegensetzen, brachte aber nur ein klägliches „Was?“ heraus.
„Nicht so wichtig, Herr Gallweber, hat jemand anderes die Zahlen parat?“, fragte Franzen in die Runde.
Dabei wurde sein Grinsen breiter und Olaf hatte das Gefühl, dass es ihn förmlich anschrie: Loser, Olaf! Loser!
Olaf hasste dieses Grinsen. Um nicht die Beherrschung zu verlieren, blickte er in die Runde der Kollegen, die fast alle peinlich berührt auf den Besprechungstisch oder ins Leere starrten.
Frau Riemann, die Kollegin, die ihm am nächsten saß, rutschte mit ihrem Stuhl ein paar Zentimeter von ihm weg.
Der neue Kollege aus dem Büro am Ende des Ganges räusperte sich und blickte verstohlen auf Olafs dicke Ellenbogen, die trotz des weiten Flanellhemds nicht zu übersehen waren.
Dann erbarmte sich einer der anderen Kollegen und antwortete an seiner Stelle. Das Meeting nahm seinen üblichen Gang. Business as usual.
Olaf schielte auf sein Handy. Kurz vor vier. Bald war es vorbei.
Er orientierte sich in seinem Stuhl Richtung Tür, machte sich bereit, wie ein Sprinter am Startblock, der auf den Startschuss wartete, damit er „as Soon as possible“ verschwinden konnte. Soon mit großem S.
Er wollte so schnell wie möglich nach Hause, denn sein Kumpel Gerry hatte ihm vorhin eine Nachricht geschickt. Sein Päckchen war endlich angekommen. Und das hatte Gerry angenommen, ohne zu wissen, welches Geheimnis sich darin verbarg. Sein Geheimnis. Wer weiß, vielleicht würde Olaf es Gerry irgendwann erzählen. Bei dem Gedanken daran spürte Olaf ein Kribbeln in seinen Oberarmen, das auf die Ellenbogen übersprang und bis in die Fingerspitzen wanderte.
Dann flüchtete sich Olaf in den nächsten Tagtraum:
Es waren mannshohe Spieße, auf denen die abgeschlagenen Köpfe seiner Kollegen steckten.
Über allen, thronend auf dem höchsten Spieß, der Kopf von Franzen.
Sein verdammtes Grinsen war endlich verschwunden.
4
5. August, abends
Zwanzig Minuten nach dem Anruf von Marc schoss Nesras rote Ducati Monster durch die Straßen Stuttgarts. Aufgrund der Hitze hatte sie sich für eines ihrer beiden Motorräder entschieden und war schon nach wenigen Augenblicken im kühlenden Fahrtwind zufrieden mit ihrer Entscheidung. Und nicht nur das:
Wie hatte sie das Gefühl der Kraft ihrer Rennmaschine in den letzten Monaten vermisst. Sie beschloss, an einem der nächsten Tage einen Ausflug zu machen. Richtung Bodensee. Oder nach Freiburg.
Außerdem war sie mit ihrer Ducati schneller bei Marc.
Denn eins stand spätestens mit der Wahl des Treffpunkts und Marcs seltsamem Anruf fest: Irgendetwas stimmte nicht.
Marc hatte nämlich darauf bestanden, sie nicht im Büro zu treffen. „Wir treffen uns draußen. Ich gebe dir gleich meinen Standort durch“, hatte er gesagt. Dabei war Marc absolut kein Draußen-Typ, was die Sache noch rätselhafter machte. Und je schneller sie bei ihm war, desto eher konnte er ihre neugierigen Fragen beantworten. Sie drehte den Gaszug weiter auf, und die 200 PS der Ducati machten einen Satz nach vorne. Ein paar Augenblicke später bog sie in die Zielgerade ab und fuhr direkt auf die Karlshöhe zu. Auf dem etwa 300 Meter hohen Berg, der sich mitten im Südwesten der Stadt befand und von dem man eine wunderschöne Aussicht über den Süden Stuttgarts hatte, gab es einen Biergarten, in dem sich Marc mit Nesra treffen wollte.
Das Motorrad ließ sie am Fuße des Hügels stehen, schulterte die kurze, schwarze Lederjacke und begann den Aufstieg durch die Parkanlage, die im englischen Stil um den historischen Steinbruch angelegt war.
Oben angekommen, klebte Nesras Haar vor Schweiß an der Kopfhaut. Der Biergarten war um diese Zeit natürlich ein beliebter Treffpunkt. Sämtliche Tische waren besetzt, und viele Gäste hatten es sich auch an den Hängen des Berges gemütlich gemacht. Manche genossen den lauen Sommerabend bei einer Flasche Sekt oder einem kühlen Bier, manche bauten gerade einen kleinen Gasgrill auf, andere ließen eine Wasserpfeife kreisen.
Nesra hatte allerdings keinen Blick für die wunderschöne Aussicht über die Stadt, für die die Karlshöhe so berühmt war.
Sie hatte nur eins im Sinn: Wo war Marc?
Er saß etwas abseits an einem kleinen Tisch und gab ihr ein Zeichen, als sie ihn bemerkte.
Nesra nahm auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz.
„Danke, dass du so schnell gekommen bist“, stammelte er, als er den Gästen an den Nachbartischen einen misstrauischen Blick zuwarf, so, als ob er sich vergewissern wollte, dass niemand zuhörte.
„Marc, was ist denn los?“
Ihr war heiß, und sie hatte Durst, aber wenig Lust, sich gerade jetzt an der Schlange für die Getränke anzustellen. Ihre Laune ging in den Keller, gleichzeitig war sie neugierig, was Marc ihr sagen wollte. Und dass er aus irgendeinem Grund beunruhigt war, spürte sie.
„Was ist los, Marc? Geht es um Jegor und die Matyliok-Bande?“
„Nein, es geht nicht um unseren letzten Fall. Es geht um was anderes.“
Nervös richtete er den Salzstreuer auf dem Tisch aus.
Nesra nahm ihm den Streuer aus der Hand und schaute ihn eindringlich an. „Marc, jetzt beruhige dich. Fang einfach an zu erzählen. Von Anfang an.“
Er holte tief Luft. Erneut fiel ihr auf, wie mitgenommen er aussah. Eingefallene Wangen, die Stirn schweißnass, die Ticks immer intensiver. Noch schlimmer als heute Morgen. Nervös fuhr er sich mit den Händen durch die verschwitzten Haare. Sie merkte, wie sie langsam ärgerlich wurde.
Nesra legte ihre Hand auf seine. „Raus mit der Sprache!“
Marc schluckte und riss sich zusammen: „Okay, also von vorne. Du kennst doch Fränkie aus der ZFA.“
Natürlich kannte sie Fränkie, der eigentlich Frank Leschmitz hieß und schon seit über dreißig Jahren bei der Zollfahndung arbeitete. Ein Ermittler der alten Schule. Der Typ Zollfahnder, der um moderne Ermittlungsmethoden liebend gern einen Bogen machte und die Dinge lieber so anging, wie er es aus den Neunzigern gewohnt war. Mehr Telefon als Computer, hatte Marc einmal gesagt. Aber Fränkie war erfolgreich, weil auch Beharrlichkeit, Einsatzwillen und Erfahrung zum Ziel führten. Sie selbst hatte bisher nicht mit ihm zusammengearbeitet, trotzdem war er schon so lange dabei, dass ihn einfach jeder in der Behörde kannte.
Sie gab Marc ein Zeichen, fortzufahren:
„Ich kenne Fränkie seit Jahren, viel länger, als wir beide uns kennen, und wir gehen oft zusammen Mittagessen. Und ja, na ja, wie soll ich es sagen …“
Marcs Finger wanderten wieder über den Tisch, streiften kurz den Salzstreuer. Nesra war genervt. Am liebsten hätte sie seine Hände festgehalten. Als er wieder nach dem Salzstreuer greifen wollte, gab sie ihm einen festen Klaps auf den Handrücken.
„Marc, bitte komm endlich zur Sache!“, zischte sie über den Tisch, vielleicht eine Spur aggressiver, als sie beabsichtigt hatte.
„Fränkie … Er ist verschwunden“, sagte Marc leise.
„Wie verschwunden?“
„Na ja. Wie vom Erdboden verschluckt.“
„Was meinst du damit?“
„Er war seit mehreren Tagen nicht mehr im Büro. Auf Anrufe und meine Nachrichten reagiert er auch nicht. Sein Handy ist ausgestellt. Und das ist überhaupt nicht typisch für Fränkie.“
Das war es also, was ihm so Sorgen machte. Sein Freund und Kollege meldete sich nicht. Aber dafür konnte es doch eine einfache Erklärung geben. Automatisch schaltete sie in den Ermittlungsmodus. „Hat er Familie? Eine Frau oder Kinder? Enge Freunde?“
Marc schüttelte den Kopf: „Fränkie ist seit Jahren geschieden. Seine Ex-Frau weiß nicht, wo er ist. Das habe ich schon überprüft. Er hat auch keine neue Beziehung, das hätte er erzählt. Auch sonst hat er keine Familie, von der ich wüsste. Und du weißt doch, wie das mit den Freunden in unserem Beruf ist. Fränkie ist mit Haut und Haaren Zollfahnder, da ist nicht viel mit Privatleben.“
„Vielleicht ist er krank geworden? Eine Operation oder Ähnliches, und er hat einfach vergessen, dir Bescheid zu geben.“
„Daran habe ich auch schon gedacht, auch wenn das für Fränkie absolut untypisch wäre. Aber dann hätte er doch zumindest eine Krankmeldung abgegeben, oder?“ Nesra musste zugeben, dass Marcs Besorgnis nicht aus der Luft gegriffen war.
„Ich war auch schon bei ihm zu Hause. Er war nicht da. Zumindest hat er nicht aufgemacht.“
„Hast du schon Kilberta gefragt?“
Kilberta, genauer gesagt Dr. Kilberta, die über alles erhabene Dienststellenleiterin des Zollfahndungsamtes in Stuttgart und damit ihrer aller Chefin, wusste in der Regel über jeden ihrer Mitarbeiter Bescheid.
Marc nickte schwach. „Ja, sie hat mir nur gesagt, dass er kurzfristig Urlaub eingereicht hat. Per SMS! Aufgrund eines privaten Notfalls.“
„Da hast du es. Dann hat er sich doch abgemeldet, eben nur nicht bei dir. Kann ja mal vorkommen.“
Marc schaute sie einen Augenblick hoffnungsvoll an, dann schüttelte er den Kopf.
„Ich weiß nicht. Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Schon gar nicht eine Nachricht per SMS. Er hasst dieses Zeug. Und überhaupt: Was soll das für ein privater Notfall sein? Da stimmt was nicht …“
„Vielleicht hat er den Notfall nur vorgeschoben, weil ihm irgendetwas peinlich war. Geht er nicht ab und zu wandern mit ein paar Freunden?“
„Ich habe schon versucht, jemanden aus seiner Wandergruppe zu erreichen. Allerdings bisher ohne Erfolg. Ich warte auf einen Rückruf.“
Bei den Worten blickte Marc Nesra bedrückt an, dann sortierte er die Bierdeckel mit der für ihn richtigen Seite nach oben und steckte sie wieder in die Halterung auf dem Tisch.
Nesra lehnte sich zurück, streckte den Rücken durch und sagte mehr zu sich selbst: „Hoffen wir mal, dass sich das mit Fränkie schnell aufklärt. Aber seltsam ist es irgendwie schon.“
„Seltsam trifft es ganz gut, Nesra“, sagte Marc und beugte sich verschwörerisch über den Tisch.
„Ich habe mich an etwas erinnert, das er mir vor ein paar Wochen erzählt hat. Irgendwas mit Waffen bei der Bundeswehr. Genaueres wollte er mir nicht sagen. Noch nicht. Er meinte nur, dass es da Ungereimtheiten gebe, er aber noch nicht offiziell ermitteln könne, weil er noch nicht mit Kilberta gesprochen habe.“
„Waffen bei der Bundeswehr?“, dachte Nesra laut. „Was meinte er denn damit? Dass da Waffen verschwinden? Das ist jetzt auch nichts so Sensationelles, oder? Außerdem: Ist das nicht Sache des MAD?“
Marc zuckte nur mit den Schultern. „Es ging um etwas anderes, so viel habe ich verstanden. Und so ernst habe ich das auch nicht genommen. Fränkie hat sich ja manchmal in etwas verbissen.“
„Also kann uns Kilberta nicht weiterhelfen?“
„Nein. Fränkie hat ihr nichts von seinem Verdacht erzählt. Ich habe sie gefragt, ob er an etwas dran war und wer die Ermittlung jetzt übernehmen würde. Sie hat mich nur mit großen Augen angeguckt und darauf beharrt, dass es im Augenblick keinen offiziellen Fall gebe und daher auch keine Vertretung organisiert werden müsse. Außerdem gehe mich das nichts an und ich solle mich lieber um meine eigenen Fälle kümmern.“
„Seltsam“, meinte Nesra. „Aber wenn Kilberta das sagt, dann ist das auch so.“
Denn eins stand fest: Einen Fall, über den Kilberta nicht Bescheid wusste, den gab es nicht. Nicht einmal inoffiziell. Wenn Fränkie an irgendeiner großen Sache dran gewesen wäre, wäre Kilberta eingeweiht gewesen. Und dass sie Marc nicht die Wahrheit gesagt hatte, konnte sich Nesra nicht vorstellen. Kilberta war manchmal schwierig zu durchschauen, aber integer. Und sie hielt ihren Leuten bedingungslos den Rücken frei, wenn es sein musste. Noch ein Grund, warum sie es merkwürdig fand, dass Fränkie nicht mit ihr gesprochen hatte. War er vor seinem Urlaub einfach nicht mehr dazu gekommen?
„Nachdem ich Kilberta auf Fränkie angesprochen hatte, kam sie öfter als sonst bei mir vorbei, hat mich zum Matyliok-Fall ausgefragt und massiv Druck gemacht, dass wir endlich Ergebnisse liefern. Gott sei Dank hast du dann von den Wildkatzen erfahren.“
„Marc, du hast halt den Drachen geweckt. Kein Wunder, dass Kilberta dir Druck macht, wenn du in fremden Gewässern fischst.“
Er ignorierte Nesras Spitze und sagte nur: „Ich weiß, es klingt verrückt, aber langsam fange ich an zu glauben, dass Kilberta mit Absicht vermeiden will, dass ich rausfinde, was mit Fränkie los ist.“
„Schluss damit, Marc. Das grenzt schon an Paranoia. Ich vermute eher, dass Kilberta selbst besorgt ist und es sich nicht anmerken lassen will.“
Marc presste nur die Lippen aufeinander und blickte sich unauffällig um.
„Okay, Marc, du hast recht, Fränkie ist trotzdem verschwunden, auch wenn wir nicht wissen, warum. Was sollen wir tun? Was schlägst du vor?“
„Ich möchte, dass du dich umschaust, natürlich inoffiziell.“
„Und mit umschauen meinst du, in Fränkies Leben herumzuschnüffeln, nehme ich an.“
Marc nickte.
Nesra überlegte kurz. Fränkie war einer der wenigen Freunde Marcs. Ihm zuliebe könnte sie in den nächsten Tagen ein paar Routineabfragen machen, genug Zeit hatte sie ja.
„Okay, ich könnte mir ja mal später die Wohnung von Fränkie anschauen. Mal klingeln, und wenn niemand da ist …“
„Daran dachte ich auch. Ich schicke dir gleich die Adresse“, dann hielt er kurz inne, runzelte die Stirn und beobachtete einen Mann, der sich gerade an den Tisch gegenübergesetzt hatte, fast flüsternd fuhr er fort: „und ich schaue morgen mal in Fränkies Büro, ob ich irgendwelche Hinweise finden kann.“
Sein Blick verweilte noch eine Weile bei dem Mann am Nachbartisch, dann sagte er mit ernster Miene: „Was ich dir erzählt habe, muss erst mal unter uns bleiben.“
„Ich melde mich“, antwortete Nesra und erhob sich.
Marc deutete auf seine halb leere Weinschorle: „Ich bleibe noch ein bisschen. Pass auf dich auf, Nesra.“
Ein schüchternes Lächeln huschte über sein Gesicht, da er selbst bemerkte, wie seltsam dieser Satz klang.
Als sie Marc zum Abschied umarmte, spürte sie seine Dienstwaffe unter seinem Hemd. Sie hielt überrascht inne. Egal wie übertrieben sie Marcs Sorge um Fränkie fand: Er selbst nahm die Geschichte verdammt ernst.
***
Als Nesra sich wieder auf ihre Ducati schwang, war sie in Gedanken noch immer bei Marc. Sie wusste für den Moment nicht, wohin sie sollte. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, heute schwimmen zu gehen. Ein paar Bahnen im kühlen Nass würden ihrer Seele und ihrem steifen Rücken sicherlich guttun. Doch bei dem Gedanken an Marc und der Geschichte über Fränkies plötzlichen Urlaub musste das Wasser noch warten. Dafür war sie zu sehr Polizistin. Marcs Nervosität beunruhigte sie so sehr, dass sie irgendetwas dagegen tun wollte, und zwar am besten gleich.
Sie entschied sich, direkt bei Fränkie vorbeizufahren. Vielleicht hatte sie Glück, Fränkie würde mit großen Augen die Tür öffnen und sie könnte Marc noch am Abend eine SMS schicken, von wegen, er würde nur Gespenster sehen. Das Problem war nur, dass sie selbst nicht daran glaubte.
***
Eine Stunde später hatte Nesra die Gewissheit: Sie würde Marc keine SMS mit einer Entwarnung schicken.
Fränkie wohnte im dritten Stock in einem Mehrfamilienhaus in einem gutbürgerlichen Vorort von Stuttgart. An den Klingelschildern standen ausschließlich deutsch klingende Nachnamen. Kirstein, Lindl, Mayer. Allein Fränkies Nachname zeugte von einem Migrationshintergrund in grauer Vorzeit. Leschmitz klang eher französisch oder belgisch. Sorgfältig überprüfte sie seinen Briefkasten. Er war leer, nicht einmal Prospekte steckten darin. Was merkwürdig war.
Nach mehrmaligem erfolglosem Klingeln versuchte sie es bei den Nachbarn.
„Ja?“, erklang es blechern aus der Gegensprechanlage. Nesra konnte nicht genau bestimmen, ob es eine Frauen- oder eine Männerstimme war. Wahrscheinlich eine Frau.
„Guten Abend, ich bin eine Freundin von Frank Leschmitz, würden Sie mir bitte öffnen?“
„Wieso?“, kam es als Gegenfrage zurück.
„Weil er nicht da zu sein scheint und ich gerne kurz mit Ihnen sprechen würde.“
„Wieso?“, kam es erneut aus dem Lautsprecher.
Nesra seufzte. Dann eben anders. „Ich bin von der Polizei und ich …“
Nesra wurde direkt unterbrochen. „Zweiter Stock“, kam es deutlich aus dem Lautsprecher. Gefolgt vom Summen des Türöffners.
Sie drückte die Tür mit der Schulter auf und betrat das Treppenhaus. Direkt neben dem Aufzug hing das Blatt mit der Hausordnung und den Kontaktdaten der Hausverwaltung, daneben der in Stuttgart so geliebte Kehrwochenkalender. Ein kurzer Blick darauf verriet Nesra, dass Fränkie bereits nächste Woche an der Reihe war. Was würde wohl die Hausgemeinschaft sagen, wenn Fränkie seinen Treppendienst schuldig blieb? Vermutlich ein mittelgroßer Aufstand.
Auf dem Weg nach oben über die Treppe bemerkte sie den Geruch von Gekochtem und Gebratenem, der ihr ziemlich aufdringlich in die Nase zog. Sie könnte hier niemals leben.
Im zweiten Stock angelangt, erwartete sie eine Frau in den Fünfzigern, die vor Neugier von einem Fuß auf den anderen trat. Nachdem Nesra mehrmals versichert hatte, dass Fränkie nichts angestellt hatte und auch nicht polizeilich gesucht wurde, konnte sie endlich selbst Fragen stellen.
Leider wusste die Frau absolut nichts über Fränkies Verbleib. Während sie ohne Unterlass den dicken Mops auf ihrem Arm streichelte, betonte sie immer wieder, dass sie den Herrn Leschmitz schon seit Tagen nicht mehr gesehen hatte.
„Heißt?“, fragte Nesra neugierig. „Also, wann zuletzt?“
Die Nachbarin überlegte, dann zuckte sie mit den Schultern. „Montag oder Dienstag, ich bin mir nicht ganz sicher.“ Dann riss sie die Augen auf.
„Vielleicht ist er tot und sein Körper verwest in der Wohnung über mir“, mutmaßte die Frau mit einem erschrockenen Gesichtsausdruck. „Oh Gott. Ein Toter in unserem Haus! Was sollen die Nachbarn denken?“ Dabei hielt sie sich die Hand vor den Mund, so, als ob sie etwas Verbotenes gesagt hatte. Für den Moment vergaß sie sogar, ihren Mops zu streicheln, der sie irritiert anstarrte.
Nesra schaute sie wortlos an und war froh über den Anruf von Marc, der ihr half, sich von der seltsamen Frau und ihrem Mops zu verabschieden und einen Stock höher zu Fränkies Wohnung zu steigen.
„Hi, Marc, was gibt’s?“
„Jemand von Fränkies Wandergruppe hat zurückgerufen“, begann Marc. „Er hat mir erzählt, dass Fränkie jedes Jahr genau einmal in den Urlaub geht, schon seit zwanzig Jahren. Ende April, Anfang Mai fliegt er für zwei Wochen nach Spanien, genauer gesagt nach Nordspanien, zum Wandern. Dort läuft er einen Teil des Jakobswegs. So wie ich es vermutet habe.“
„Ausgeschlossen, dass er den Trip dieses Jahr zweimal macht?“, hakte Nesra nach, während sie an Fränkies Tür klopfte.
„Ausgeschlossen“, antwortete Marc, „viel zu viele Touristen und für Fränkie auch viel zu warm um diese Jahreszeit. Der Typ, mit dem ich geredet habe, hat extra auf meine Bitte hin noch mit seinen anderen Wanderkumpanen im Verein gesprochen. Niemand weiß, wo er sein könnte.“
„Hm“, sagte Nesra nur, beäugte Fränkies Tür, das Türschloss und legte ein Ohr an das dunkelbraune Holz. Im Innern der Wohnung war es absolut still. Langsam beschlich sie das Gefühl, dass wirklich etwas nicht stimmte. Warum hatte Fränkie überstürzt Urlaub genommen? Und wo, verdammte Axt, steckte er jetzt? Was für eine Art Mensch war Frank Leschmitz eigentlich? Als sie die Stockwerke durch das Treppenhaus nach unten lief, verabschiedete sie sich von Marc und nahm sich vor, sich morgen Nacht in aller Ruhe in Fränkies Wohnung umzuschauen. Die Frau mit dem Mops war wieder in ihrer Wohnung verschwunden.
***
7. August, nach Mitternacht
Es war halb 1, als sie sich auf ihren nächtlichen Ausflug vorbereitete.
Sie zog die schwere Stofftasche unter ihrem Bett hervor, in der sie ihre private Ausrüstung aufbewahrte, und pickte sich ein paar Werkzeuge heraus, die sie erfahrungsgemäß für so eine Aktion benötigte: Schraubenzieher, ein kleiner Hammer, Messer, Taschenlampe, Zange, Handschuhe, eine unauffällige Stoffmütze und ein Prepaid-Handy. Alles kam in einen schwarzen Rucksack, der leicht und gleichzeitig stabil genug war.
Das Stemmeisen und die Flex schob sie zur Seite, sie waren viel zu laut, zu schwer und wahrscheinlich unnötig. Sie hatte sich das Türschloss zum Mehrfamilienhaus gestern unauffällig angesehen. Das sollte unkompliziert werden. Auch die Wohnungstür dürfte kein Problem sein.
Sie entschied sich für ein Dietrich-Set in einem handlichen Lederetui und einen „Multipick Kronos“, eine elektrische Dietrichpistole, mit der sie schon häufiger haushaltsübliche Schlösser geöffnet hatte. Natürlich nur im Auftrag der Zollfahndung.
Zum Schluss packte sie noch ein Luminol-Spray in den Rucksack, um abgewaschene Blutspuren sichtbar zu machen. Man konnte nie wissen …
Einige Minuten später verließ sie das Loft.
Ihr Smartphone ließ sie zu Hause. Sie wollte vermeiden, dass ihre GPS-Daten sie heute Nacht mit der Wohnung von Fränkie in Verbindung bringen würden.
Als Nesra die Mütze und die Handschuhe anzog und unauffällig auf das Haus zuging, stieg ihre Anspannung. Nervös war sie allerdings nicht – zu oft war sie in ähnlichen Einsätzen unterwegs gewesen, um wirklich ernsthaftes Nervenflattern zu bekommen. Denn jetzt war sie in ihrem Element. Im Einsatz. Wie ein Fisch im Wasser. Der Schuss Adrenalin gehörte dazu. Für sie war es zumindest für den Moment ein Verbündeter, der ihr half, klar zu denken, schnell zu handeln und ihre Sinne zu schärfen.
Sie stoppte die Zeit mit ihrer Armbanduhr und trat aus dem Schatten des Hauses. Jetzt musste es schnell gehen.
Das Schloss der Haustür war kein Hindernis. Sie hatte die Tür in wenigen Augenblicken mit dem Multipick geöffnet. Kurze Zeit später machte sie sich schon an Fränkies Wohnungstür zu schaffen. Aus der Wohnung unter ihr hörte sie das Knurren des Mopses, gefolgt von dem Schimpfen der Frau. Sie atmete durch. Einen Klick später öffnete sich Fränkies Tür.
Lautlos schlüpfte sie in die dunkle Wohnung. Sie brauchte einen Augenblick, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen, dann schloss sie leise die Wohnungstür.
Zuerst fiel ihr der muffige, staubige Geruch auf. Hier hatte schon länger niemand mehr gelüftet.
Nachdem sie sich mit der Umgebung vertraut gemacht hatte, vergewisserte sich Nesra Zimmer für Zimmer, dass niemand zu Hause war. Dabei hielt sie die Taschenlampe so weit am Boden, dass der Lichtkegel von außen nicht zu sehen war. Zum Glück lag die Wohnung von Fränkie sehr weit oben, dachte Nesra. Ihre Walther P5 hatte sie nicht aus dem Hüftholster gezogen. Das hielt sie für übertrieben. Trotzdem war sie auf alles vorbereitet. Von irgendwoher kam ein Autohupen, das Nesra kurz hochschrecken ließ, doch dann riss sie sich zusammen und konzentrierte sich auf ihre Arbeit.
Nach einer ausgiebigen Durchsuchung war Nesra zwar zu drei Erkenntnissen gelangt, aber wo Fränkie steckte, wusste sie nun immer noch nicht.
Erstens, die Wohnung war schon seit Längerem verwaist.
Zweitens, einen größeren Urlaub hatte Fränkie nicht angetreten, denn der Kleiderschrank war prall gefüllt. Und es sah nicht so aus, als ob etwas fehlen würde.
Drittens, entweder war er nicht sehr ordentlich oder jemand hatte die Wohnung schon vor ihr durchsucht. In den Schubladen im Flur und im Wohnzimmer herrschte ein heilloses Durcheinander, und egal, was Nesra öffnete, alles sah durchwühlt aus. Umso mehr wunderte sie das Erscheinungsbild des kleinen Arbeitszimmers, das an das Schlafzimmer angrenzte. Der kleine Schreibtisch an der Wand wirkte wie ein Fremdkörper, weil er gänzlich leer war. Außer einem Monitor, dessen nicht angeschlossene Kabel lose auf dem Tisch lagen. Auch das Sideboard daneben wäre nichts mehr als ein Staubfänger gewesen, wenn nicht ein paar verräterische Spuren darauf hingewiesen hätten, dass hier noch vor Kurzem ein paar Aktenordner gestanden hatten.
Entweder hatte Fränkie aus irgendeinem Grund beschlossen, in seiner Wohnung Tabula rasa zu machen, oder jemand anders hatte gründlich aufgeräumt. Je länger Nesra über die beiden Möglichkeiten nachdachte, desto sicherer war sie sich, dass nur die zweite Möglichkeit Sinn ergab. Und das bereitete ihr Kopfzerbrechen.
Stirnrunzelnd ging Nesra wieder Richtung Ausgang. Hier würde sie keinen Hinweis auf Fränkies Verbleib finden. Kurz bevor sie die Tür öffnete, um wieder zu verschwinden, fiel ihr Blick auf den Boden unter dem Esstisch. Etwas, das von dem Licht der Straßenbeleuchtung reflektiert wurde, erregte ihre Aufmerksamkeit.
Sie überlegte kurz und blickte auf den Timer ihrer Armbanduhr. Eigentlich war sie schon viel zu lange in der Wohnung und sie konnte nicht ausschließen, dass ein Nachbar den Schein ihrer Taschenlampe bemerkt und die Polizei gerufen hatte. Doch ein paar Minuten konnte sie sicherlich noch riskieren.
Mit schnellen Schritten huschte sie zurück zum Esstisch, bückte sich und hob das kleine Ding auf, das hinter dem Stuhlbein lag. Ein Zahn, genauer ein Backenzahn. Eher braun als weiß und zudem noch blutverschmiert. Fränkies Zahn?
Sie zog das Luminol-Spray aus dem Rucksack und sprühte es großzügig über den Essbereich, über die Stühle, den Tisch und den Teppich.
Sofort reagierten die mit bloßem Auge nicht sichtbaren Blutreste mit dem Luminol und leuchteten strahlend blau. Sie kniete sich hin, strich mit der Hand über den Teppich und roch daran: Ein leichter Geruch von Wasserstoffperoxid-Resten zog in ihre Nase, den sie bisher nicht bemerkt hatte.
„Verdammter Mist!“ Marc hatte also recht. Oder hatte Fränkie eine tiefe Abneigung gegen Zahnärzte und behandelte sich in seinem Wohnzimmer selbst? Dann musste er dabei aber ziemlich ungeschickt vorgegangen sein, bei all dem Blut … Nein, Nesra war sich sicher, dass es einen Kampf gegeben hatte. Auf jeden Fall hatte jemand anschließend sauber gemacht und versucht, Spuren zu beseitigen. Und das auch noch sehr schlampig, was bedeuten würde, dass der oder die Täter keine Zeit gehabt hatten.
Ob der Zahn von Fränkie stammte oder nicht, war damit eigentlich egal.
Ein kleiner Blitz auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses schreckte Nesra auf. Ihr Blick irrte suchend an der Fassade des Hauses entlang nach oben.
Nesra erkannte die Silhouette eines Mannes auf einem Hausdach auf der anderen Straßenseite. Sie standen sich fast gegenüber, auch wenn die Dunkelheit nur die Konturen des Beobachters erahnen ließ. Er stand auf dem Flachdach im Schutze eines Schornsteines und blickte zu ihr herunter.
Und er hielt mit beiden Händen etwas vor das Gesicht. Ein Fernglas oder eine Kamera, Nesra tippte auf Letzteres. Ein weiterer greller Blitz bestätigte ihre Vermutung. Der Fremde gegenüber fotografierte. Und so wie es aussah, interessierte er sich für Fränkies Wohnung.
Als der Mann bemerkte, dass Nesra ihn entdeckt hatte, verschwand er hastig in der Dunkelheit.
Nesra überlegte kurz, ob sie die Verfolgung aufnehmen sollte. Doch bis sie drüben auf der anderen Straßenseite war, wäre er längst über alle Berge. Sie konzentrierte sich auf die geparkten Autos vor dem Haus, in der Hoffnung, der merkwürdige Beobachter würde sich so zu erkennen geben, doch es blieb ruhig. Wäre auch zu einfach gewesen, dachte Nesra und packte ihre Sachen zusammen. Ein kurzer Blick zurück in Fränkies verlassene Wohnung, dann war sie aus dem Haus und wie der Unbekannte über alle Berge.
Auf dem Weg zu ihrer Wohnung hatte sie das Gefühl, verfolgt zu werden. Sie drehte mit ihrem Motorrad mehrere Runden in der Stadt, bis sie sicher war, dass sie mögliche Verfolger abgehängt hatte. Erst nach etwa einer Stunde fuhr sie nach Hause.
***
Sie musste dringend mit Marc sprechen. Sich mit ihm trotz der späten Uhrzeit über die neuesten Erkenntnisse austauschen. Sie war sich sicher, dass er noch arbeitete. Doch Marc ging nicht ans Telefon. Stattdessen nur die Mailbox. Sie zögerte kurz und legte dann auf. Sie wollte keine Sprachnachricht hinterlassen. Er würde sich schon melden, wenn er ihre Nummer im Display sah. Sie hatte richtig vermutet. Schon eine Minute später kam eine Nachricht von Marc:
Ich kann gerade nicht sprechen.
Nesra starrte auf das Display und wunderte sich. Marcs Verhalten wurde immer seltsamer. Nein, dieser Fall wurde immer seltsamer. Erneut blinkte eine Nachricht auf ihrem Display auf.
14 Uhr. LM.
LM stand für Lindenmuseum. Einer der Orte, an denen sie sich in der Vergangenheit oft getroffen hatten, wenn Nesra undercover unterwegs war und mit Marc vertrauliche Informationen austauschen musste.
Gut. Dann erst morgen. Beziehungsweise heute Nachmittag. Nesra schüttelte den Kopf und machte sich stattdessen Gedanken über das, was sie jetzt erfahren hatte. Über Fränkies verlassene Wohnung, das Blut, den Zahn und die verschwundenen Akten. Hier stimmte definitiv etwas nicht. Und der Mann auf dem Dach gab dem Ganzen erstmals ein Gesicht. Wenn auch eines, das noch im Schatten lag.
Noch ein weiterer Punkt beunruhigte sie: Wer auch immer sie in der Wohnung gesehen hatte, wusste jetzt, dass Fränkies Verschwinden bemerkt worden war. Bei dem Gedanken daran, dass der Mann sie die ganze Zeit über beobachtet haben könnte, lief es ihr kalt den Rücken herunter. In was war Fränkie da bloß hineingeraten?
Sicherheitshalber schloss sie ihre Wohnungstür ab, legte ihre Dienstwaffe griffbereit auf den Wohnzimmertisch vor sich und mixte sich einen Gin Tonic aus ihrer Hausbar. Es war nach zwei Uhr und totenstill im Haus.
Sie brauchte jetzt dringend etwas, um herunterzukommen. Und bis zum Nachmittag war noch verdammt viel Zeit.