Kapitel 1
England, 1817
Pembington House, Wiltshire
Als sie den kalten Schlüssel in ihrer Hand spürte und daran dachte, wie sie ihn heimlich zugesteckt bekommen hatte, fühlte sich Lady Adeline so verrucht wie noch nie zuvor in ihrem einundzwanzigjährigen Leben. Gespannte Erwartung und Nervosität hielten sich die Waage bei dem Gedanken, wie unschicklich, möglicherweise fatal und jedenfalls ausgesprochen skandalös ihr Plan war.
Heute Nacht würde sie über ihre eigene Zukunft entscheiden – ein an sich schon abenteuerliches Unterfangen – und dafür sorgen, dass sie denjenigen zum Ehemann bekam, den sie liebte und achtete – Mr. James Atwood – und nicht den Earl of Vale, der ihr zu nahe getreten war und sich Freiheiten herausgenommen hatte, die ihm nicht zustanden.
„Ich danke dir“, sagte Adel leise zu ihrer besten Freundin, Lady Evelyn, von ihren engsten Freunden Evie genannt. Adel war froh, dass die Freundin mitgekommen war; um den Streich alleine auszuführen, wären ihre Nerven ganz sicher nicht stark genug gewesen.
Evie neigte sich dicht zu ihr. „Denk daran, ich werde dafür sorgen, dass Mutter schon bald in sein Zimmer kommt.“
Adel nickte. „Wie willst du sie dazu bringen, Mr. Atwoods private Räume zu betreten?“
„Mach dir darum keine Gedanken. Ich kenne Mama und werde dafür sorgen, dass sich die Tür im richtigen Augenblick öffnet“, erwiderte Evie mit vor Aufregung zitternder Stimme. Oder war es etwa Angst?
Mit einem unterdrückten Seufzer schnippte Adel ein unsichtbares Stäubchen von ihren hellgrünen Handschuhen. „Unser Plan ist schon ganz schön gewagt.“
Die Antwort war ein undamenhaftes Schnauben. „Willst du lieber die Countess of Vale werden?“
Lieber würde sie sich vierteilen lassen. Der Earl war ein widerliches verkommenes Subjekt und ein eingebildeter Esel noch dazu. Viel lieber würde sie mit einem Mann, den sie schätzte und achtete, ein ruhiges Leben auf dem Land verbringen, als mit jemandem, den sie verabscheute, das pompöse, steife Dasein einer Countess zu führen. Adel hatte zwei entzückende jüngere Stiefschwestern, die sie innig liebte und denen es bei ihrer Einführung in die Gesellschaft von großem Nutzen wäre, eine Countess zur Schwester zu haben. Dennoch mochte sie nicht einmal daran denken, Lady Vale zu werden.
„Nein, ich möchte Mrs. Atwood werden.“ Die Vorstellung erfüllte sie zwar nicht gerade mit wilder Begeisterung, doch die Aussicht, einem eigenen Hausstand vorzustehen, hatte eindeutig ihren Reiz. Dann brauchte sie die Launen ihrer Stiefmutter nicht länger zu ertragen und würde vor allem keine Saison mehr verpassen.
„Dann lass uns jetzt all unseren Mut zusammennehmen“, sagte Evie mit einem aufmunternden Lächeln.
Adel scherte sich wenig um Kritik oder Beifall aus den Reihen der guten Gesellschaft, denn die meiste Zeit des Jahres verbrachte sie weit entfernt von den illustren Kreisen auf dem bescheidenen, doch gut geführten Landsitz ihres Vaters in Somerset. Mr. Atwood dagegen hatte mehr als einmal bemerkt, wie viel ihm an der Meinung der High Society gelegen war. „Was ist, wenn Mr. Atwood an meinem Benehmen etwas auszusetzen hat? Als ich den Vorschlag machte, mit ihm durchzubrennen, lehnte er es klipp und klar ab.“
Evie ergriff ihre Hand. „Er will dich aber unbedingt heiraten, und wenn du jetzt nichts unternimmst, steht dir ein jämmerliches Leben als Frau des Earls bevor. Ich vermute, dass Mr. Atwood und du das einzige Paar in dieser Saison sein werdet, die aus Liebe heiraten, und da sollte dir ein bisschen böswilliger Klatsch nichts ausmachen. Schließlich willst du ja nicht auf Dauer in London leben. Meiner Erfahrung nach wird auf dem Land nicht getratscht. Für dein Vorhaben heute Abend würde ich dir aber dringend raten, nicht zu spärlich bekleidet zu sein. Schließlich wollen wir ein bisschen Unruhe stiften, aber keinen ausgewachsenen Skandal riskieren.“
„Davon kann auch gar keine Rede sein“, entgegnete Adel mit finsterem Blick. „Ich habe nicht vor, weiter als bis zur Tür zu gehen. Um Papa zu überzeugen, wird es genügen, wenn man mich auf der Schwelle zu Mr. Atwoods Zimmer überrascht. Allerdings mache ich mir etwas Sorgen, dass ich damit Helenas Debüt schaden könnte.“
Evie nahm zwei Gläser Champagner von dem Tablett, das ein vorübergehender Diener trug, und reichte Adel eines davon. „Deine Schwester ist erst vierzehn und hat noch zwei Jahre, bis sie sich auf dem Heiratsmarkt begutachten lassen muss. Bis dahin wird Gras über die Sache gewachsen sein, und bei ihrer Schönheit werden die Beaus der feinen Gesellschaft ihr nur zu gerne den Hof machen.“
Adel seufzte. „Nun gut, also weiter mit unserem Plan.“
Mit einem aufmunternden Blick und einem Augenzwinkern huschte Evie davon.
Adel drehte sich zu einer großen Kübelpalme um, die links neben ihr stand, und ließ verstohlen die Schlüssel in ihren Ausschnitt gleiten. Es bestand keine Gefahr, dass sie herausrutschten, da Adel nicht vorhatte, sich an den Lustbarkeiten des Abends zu beteiligen.
Gemächlich schlenderte sie am Rand des Ballsaals entlang und summte leise die fröhliche Melodie der Quadrille mit. Den ganzen Abend über war sie noch nicht einmal zum Tanz aufgefordert worden, obwohl sie ihr schönstes Kleid mit der hohen Taille trug. Das Unterkleid aus zartblauer Seide besaß ein Mieder, das mit winzigen Vergissmeinnicht in Perlenstickerei und drei Reihen gerüschter Bänder verziert war, die durch das schlichte Oberkleid aus weißer Gaze hindurchschimmerten. Das Ensemble gefiel ihr ganz besonders gut. Als Ohrringe und Halskette trug sie die Perlen ihrer Mutter, und ihr Haar war zu einem lockeren Knoten aufgesteckt, aus dem einzelne Strähnen lose herabhingen und Gesicht und Hals umschmeichelten. Das hatte ihr schon einige bewundernde Blicke eingebracht, doch keiner von den jungen Männern hatte auch nur versucht, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen.
Wehmütig ließ sie ihren Blick über die Tanzfläche schweifen und überlegte, wann sie das letzte Mal auf einem Ball zum Tanz aufgefordert worden war. Adel war sich völlig darüber im Klaren, dass sie weder eine strahlende Schönheit noch eine besonders gute Partie war, dennoch hätten die vornehmen Gentlemen so höflich sein können, eine junge Dame aufzufordern, die ganz offensichtlich keinen Tanzpartner hatte.
Sie streckte den Rücken, entschlossen, sich die Laune nicht verderben zu lassen. Morgen um diese Zeit würde ihre Verlobung verkündet werden, und sie würde so frei und unbeschwert sein, wie es als Ehefrau nur möglich war. Sie schob die unerfreulichen Bedenken beiseite, denn Mr. Atwood war ein lieber Freund, der sie nach ihrer Heirat mit Respekt und Rücksicht behandeln und nicht als sein Eigentum betrachten würde.
Während sie an ihrem Champagner nippte, dachte sie daran, dass sie überlegt hatte, Mr. Atwood in ihren Plan einzuweihen. Evie war strikt dagegen gewesen für den Fall, dass etwas schiefging, doch Adel hatte den Mann nicht völlig ahnungslos in eine solche Lage bringen wollen.
Er wäre kompromittiert.
Ihr Magen verkrampfte sich, und ihre Hände zitterten. Und wenn es nun einen so furchtbaren Skandal gäbe, dass sie für immer aus der guten Gesellschaft ausgeschlossen bliebe? Wenn Mr. Atwoods Pläne, ein erfolgreicher Anwalt zu werden, zunichte gemacht würden? Und wenn auch noch Helenas Ruf in Mitleidenschaft gezogen würde?
Du bist ein Jammerlappen. Niemand außer Lady Gladstone wird etwas erfahren, ermahnte sich Adel streng. Die Countess war sehr diskret. Immerhin hatte sie ihre Tochter Evie einmal in inniger Umarmung mit dem narbengesichtigen, hochmütigen Marquis of Westfall überrascht und den Vorfall vertuscht. Vermutlich weil der Mann einen so miserablen Ruf genoss.
Im Geist ging Adel alle Skandale der vergangenen Saison durch.
Lady Sophie war dabei beobachtet worden, wie sie den Kammerdiener ihres Vaters küsste. Nach nur wenigen Monaten wurde die junge Dame wieder in den Salons empfangen. Allerdings war sie jetzt auch die Viscountess of Rayburn.
Lady Thornton war noch immer eine feste Größe in der Gesellschaft, obgleich sie ihrem Duke Hörner aufgesetzt hatte.
Lord Brunel, so erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand, war in einer viel schlimmeren Situation mit Miss Elizabeth ertappt worden, als Adel sie geplant hatte, und dennoch wurden beide nach wie vor bewundert und geachtet.
Allerdings hatten die beiden auch einiges vorzuweisen.
Sie unterdrückte einen Anflug von Zweifel und hielt im Ballsaal Ausschau nach dem jungen Mann, den sie erobern wollte. Einem Mann, der mehrmals seiner Bewunderung für sie Ausdruck verliehen hatte, und der sie trotz ihrer Unzulänglichkeiten unbedingt heiraten wollte. Adel erstarrte, als sie sah, dass sich Mr. Atwood über die Hand von Lady Daphne, einer der Favoritinnen der Saison, beugte. Ihr Vater, der Earl of Leicester, war im Parlament wohlbekannt und wurde für seine reformerischen Reden gelobt. Es hieß, Lady Daphnes Mitgift betrüge dreißigtausend Pfund, zu denen man obendrein noch ihre modische blonde Schönheit bekäme.
Verlegen lächelnd fuhr sich Mr. Atwood mit den Fingern durch das lockige braune Haar. Was wohl Lady Daphne gerade zu ihm sagte? Stirnrunzelnd registrierte Adel seine hingerissene Miene. Hatte sie sich geirrt, was seine Zuneigung zu ihr betraf? Sicher nicht. Erst letzte Woche, als sie ihn an dem See getroffen hatte, der die Grenze zum Besitz ihres Vaters bildete, hatte er erklärt, dass er noch einmal um ihre Hand anhalten wolle. Wie erwartet hatte ihr Vater abgelehnt. Er hatte eine bessere Partie für sie im Sinn als Mr. Atwood. Dabei war es ihm egal, dass es bereits Adels vierte Saison war und sich noch kein adeliger Heiratskandidat gefunden hatte.
Mr. Atwood war ein sanfter, freundlicher Mensch. Niemals wäre er jemandem zu nahe getreten oder hätte es gewagt, ihrem Vater die Stirn zu bieten. Nur einmal, als er ihr seine Liebe gestand, hatte er ein gewisses Maß an Leidenschaft gezeigt. Mit einem leisen Lächeln schaute sie zu ihm hinüber, als könne sie damit seinen Blick auf sich ziehen. Doch seine Augen waren unverwandt auf Lady Daphnes Schmollmund gerichtet.
„Lord Vale!“, rief plötzlich jemand.
Adel zuckte zusammen, als der Mann, dessen Klauen sie unbedingt entrinnen wollte, auf dem Treppenabsatz über ihr erschien. Was wollte er hier? Die jährliche Hausparty auf dem Landsitz der Gladstones galt als einer der Höhepunkte der Festsaison, doch Evie hatte ihr versichert, dass ihre Mutter den Earl nicht eingeladen habe.
Die verblassenden blauen Flecken an ihren Handgelenken erinnerten Adel daran, wie grob er sie gepackt hatte. Ein galliger Geschmack stieg ihr in die Kehle, den sie mit dem letzten Schluck aus ihrem Champagnerglas fortzuspülen versuchte. Ihr Vater und ihre Stiefmutter hatten zugestimmt, als dieser widerliche Wurm um ihre Hand angehalten hatte. Deshalb war seine Anwesenheit heute Abend ein Risiko. Was wäre, wenn er ihre Verlobung öffentlich bekanntgab? Dann würde sie sich nicht noch einmal herauswinden können.
Unweigerlich entdeckte er sie, was keine Kunst war, da sie eine von nur drei jungen Damen war, die mit praktisch leeren Tanzkarten an der Wand herumstanden. Sein erfreutes Lächeln schnürte ihr die Kehle zu. Es wäre eine Katastrophe, wenn er sie aufforderte. Schon wieder hatte sie diesen bitteren Geschmack im Mund, und das Gedränge im Ballsaal, das ihr vor einer Stunde noch aufregend erschienen war, verursachte ihr nun Beklemmungen. Sie musste an die gemeinen Worte denken, die Lord Vale ihr zugeflüstert hatte, bevor er sie zwang, ihn zu küssen. Ihre Ohrfeige hatte er nur mit einem spöttischen Lachen und der Bemerkung kommentiert, dass er es manchmal ganz gern auf die ruppige Tour hatte. Auch wenn sie sich nicht erklären konnte, was er damit meinte, wusste sie, dass sie sich vor ihm in Acht nehmen musste. Obwohl ihr Lord Vale befohlen hatte, den Mund zu halten, war sie zu ihrem Vater gelaufen. Ihr zerrissenes Mieder und ihre geschwollenen Lippen waren ein deutlicher Beweis dafür, dass der Earl die Beherrschung verloren hatte. Sie hatte erwartet, dass ihr Vater sie vor diesem Mann beschützen würde, stattdessen hatte er dem Kerl ihre Hand versprochen.
Obwohl sie fast starr vor Angst war, gelang es ihr, rasch davonzuhuschen, als hätte sie den Earl nicht gesehen. Dabei hielt sie Ausschau nach ihrem Vater. Üblicherweise taten er und ihre Stiefmutter alles, um sich bei anderen hochrangigen Gästen einzuschmeicheln, und da erspähte sie auch schon Lady Margarets hohen purpurroten Turban mit der Pfauenfeder, der sich durch die Menge bewegte. Aber wo war Papa? Vor einiger Zeit hatte Adel gesehen, wie er das Kartenspielzimmer verließ und durch die hohen Türen auf die Terrasse hinaustrat. Doch jetzt war er bestimmt wieder da.
Adel tat so, als bemerke sie nicht, dass Lord Vale sich einen Weg durch die Menge zu ihr bahnte. Mit raschen Schritten ging sie in die Richtung, die ihr Vater genommen hatte. Auf der Terrasse standen lachend und plaudernd mehrere Gäste. Ohne sie weiter zu beachten, schlug Adel den Weg zum etwas abseits gelegenen Gewächshaus ein. Ihr Vater interessierte sich insgeheim für Pflanzen, und daher wusste sie, wohin er sich zurückgezogen hatte.
Oh, Papa. Wie sehr wünschte sie, er würde sich nicht so leicht den Forderungen seiner Frau beugen. Adel konnte sich nicht vorstellen, dass ihm so viel daran gelegen war, sich in den höchsten Kreisen beliebt zu machen. Als ihre Mutter noch lebte, waren sie so glücklich gewesen. Sie hatten ein wunderbares Leben in Somerset geführt und waren nur selten nach London oder Bath gefahren. Dann, nur ein Jahr nachdem Adels Mutter gestorben war, hatte ihr Vater wieder geheiratet, und alles war anders geworden.
Klammere dich nicht an die Vergangenheit, Adel, sondern blicke in die Zukunft.
Die Gartenanlagen und der Park waren von Gaslampen so hell erleuchtet, dass sie den gepflasterten Weg, der zum Gewächshaus führte, gut erkennen konnte. Dort angekommen, schlüpfte sie durch die Tür, und ihr Herz zog sich zusammen, als sie ihren Vater sah, der durch ein Vergrößerungsglas eine Pflanze betrachtete. „Vater“, sagte sie leise.
Er ließ die Lupe sinken und schaute sie an. Für einen wunderbaren Augenblick lag nichts als Freude in seinem Blick, dann wurde sein Ausdruck zurückhaltend. „Warum bist du ohne Begleitung hier herausgekommen?“, fragte er mit einem vielsagenden Blick nach draußen. „Wo ist deine Mutter?“
Stiefmutter. Sie verkniff sich die spitze Bemerkung und erwiderte nur: „Es war doch bloß ein kurzer Weg, und ich musste unbedingt mit dir sprechen, Papa.“ Sie trat näher. „Lord Vale ist vor einigen Minuten eingetroffen, und ich …“
„Ausgezeichnet“, unterbrach sie ihr Vater mit breitem Lächeln. „Ich muss ihn sogleich begrüßen. Komm mit, er wird bestimmt mit dir tanzen wollen.“
„Nein!“, presste sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „So gerne ich auch tanzen würde, aber ich werde auf keinen Fall …“
Ihr Vater stieß einen tiefen Seufzer aus. „Du wirst den Earl heiraten, Adel. Er hat sich eine Einladung zu Lady Gladstones Hausparty verschafft, nur um dir den Hof zu machen. Das ist für mich ein Zeichen, wie sehr er dich schätzt und wie wichtig ihm deine Zuneigung ist.“
„Bist du verrückt geworden?“, entgegnete sie mit schwacher Stimme. Konnte ihr Vater wirklich so grausam sein? Er wusste doch von Lord Vales lasterhaftem Charakter und seinem abscheulichen Verhalten ihr gegenüber. „Er hat mich angegriffen, Papa.“ Sie erschrak selbst über ihren flehenden Ton, straffte die Schultern, reckte das Kinn und trat einen Schritt vor. „Ich kann keinen Mann heiraten, dem mein Wohlergehen so gleichgültig ist. Ich habe noch immer blaue Flecken an den Armen. Er ist ein erbärmlicher Rüpel.“
Ihr Vater, Sir Archibald Hayes, bedachte sie mit einem wütenden Blick. „Du wirst dem Earl gefälligst den gebührenden Respekt erweisen, junge Dame.“
Hatte er denn ihre Angst und ihre Tränen ganz vergessen, während sie seit Tagen kaum an etwas anderes denken konnte? „Papa, Lord Vale ist über mich hergefallen.“ Sie erwartete ja nicht, dass ihr Vater den Earl zum Duell forderte, aber ein wenig Empörung hätte er schon an den Tag legen können. Seine Haltung erschütterte ihren kindlichen Glauben daran, dass sie der wichtigste Mensch in seinem Leben war. Diese Ehre fiel nun ihrer Stiefmutter zu, die als Tochter eines Viscounts bestrebt war, die bescheidenen gesellschaftlichen Beziehungen der Familie zu stärken. Es hatte den Anschein, als würde Adels Vater das Glück seiner Tochter opfern, um seiner Frau gefällig zu sein.
Sein Gesicht schien vor Unbehagen leicht gerötet und er blickte sie mit gerunzelter Stirn an. „Ach was, er ist eben leidenschaftlich … Du bist sehr schön, Adel, und siehst deiner Mutter sehr ähnlich.“
Für einen Moment wurde seine Miene sanft, und ein Ausdruck von Bedauern trat in seine Augen. Dann räusperte er sich und fuhr fort: „Von Lord Vale als deinem zukünftigen Ehemann wird geradezu erwartet, dass er sich ein wenig hinreißen lässt. Auf der Fahrt hierher habe ich ihn gestern auf seinem Landsitz aufgesucht. Er erklärte mir die Situation und bat für seine kleine Unbesonnenheit um Entschuldigung. Und als er mich um deine Hand bat, habe ich zugestimmt.“
Kleine Unbesonnenheit? „Du nimmst meinen Schmerz nicht ernst.“
Behutsam legte er das Vergrößerungsglas auf den Tisch. „Du bist einundzwanzig, Adel. Dies ist deine vierte Saison, und da unsere Geldschatullen praktisch leer sind, können wir dir keine weitere Saison ermöglichen. Der Earl will sein Verhalten wiedergutmachen, indem er dir die Ehe anbietet. Ich will doch nur das Beste für dich, mein Liebes.“
Sie trat auf ihn zu und blickte ihm forschend ins Gesicht. „Ich wäre viel glücklicher mit einem Mann, der mir Achtung entgegenbringt … so wie es bei dir und Mama war. Mr. Atwood ist seit Jahren unser Nachbar und mein Freund. Er hat angeboten …“
„Nein.“
„Bitte, Papa. Wenn du dich noch einmal mit ihm treffen würdest, würdest du sehen, was für ein netter, feinfühliger und liebenswerter Gentleman er ist …“
„Mr. Atwood hat lediglich die Aussicht, irgendwann den Titel eines Baronets zu erben, und zu geringe Mittel, um eine Familie zu ernähren. Wenn du dagegen Lord Vale ehelichst, wirst du eine Countess“, erklärte er mit Nachdruck.
Adel war so erschüttert, dass sie vergaß, ihren Vater darauf hinzuweisen, dass auch er nur ein Baronet war. Verzweifelt ergriff sie seine Hand. „Papa, wenn du schon nicht mit Mr. Atwood einverstanden bist, dann gib mir wenigstens noch ein paar Monate, um einen anderen Heiratskandidaten zu finden. Wenn ich bis Ende des Jahres keinen gefunden habe, werde ich … heiraten, wen du wünschst.“ Sie erstickte beinahe an den Worten.
„Wegen des Ablebens deiner Mutter war dein Debüt verspätet. Das bedauere ich sehr, denn ich bin davon überzeugt, dass du mit ihrer Hilfe eine gute Partie gemacht hättest. Jetzt hast du schon drei Saisons hinter dir, und wegen der geringen Mitgift, die ich aufbringen kann, will dich kein Mann nehmen. Fünfhundert Pfund sind kein verlockendes Angebot.“
Erschüttert ließ sie seinen Arm los. Sie wusste sehr wohl, was er nicht erwähnt hatte. Ihr unmodisch dunkles Haar und die allzu runden Hüften und Brüste waren ebenso wenig verlockend wie die Tatsache, dass sie rechnen und in mehreren Sprachen lesen und schreiben konnte.
„Du wirst nicht mit Mr. Atwood tanzen oder mit ihm an Spielen im Haus oder im Freien teilnehmen“, fuhr ihr Vater fort. „Beim morgigen Ball wird Lord Vale eure Verlobung bekanntgeben, und du wirst nicht alles verderben, indem du mit einem anderen Mann herumalberst.“
„Papa …“
„Hast du mich verstanden, junge Dame?“
Sie presste die Finger an die Stirn, doch das half nicht gegen den plötzlich einsetzenden Schmerz, der in ihren Schläfen pochte.
„Aber Papa, die Leute werden sich über die plötzliche Verlobung wundern, da man mich weder auf dem Land noch in London in seiner Begleitung gesehen hat. Soweit man weiß, wurden wir einander noch nicht einmal vorgestellt. Am besten wäre es, wenn der Earl mir einige Monate lang den Hof machte, bevor wir die Verlobung verkünden.“ Bei der Vorstellung, Zeit mit dem Earl verbringen zu müssen, wurde ihr ganz schlecht, aber sie musste ihren Vater unbedingt überzeugen. Das würde ihr zumindest ein paar Wochen verschaffen, um sich aus den gierigen, lüsternen Klauen des Earls zu befreien, falls ihr Plan heute Abend fehlschlug.
„Ich habe Lord Vale bereits meine Zustimmung gegeben, und es wäre unehrenhaft, jetzt etwas anderes von ihm zu verlangen, nur weil deine Nerven mit dir durchgehen. Ich erwarte, dass du mir gehorchst, sonst wirst du dir mein ernstliches Missfallen zuziehen.“
Ernstliches Missfallen? „Und ich fürchte, du hast meine gute Meinung von dir zerstört“, erwiderte sie mit rauer Stimme, während sie gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfte. „Du solltest mich beschützen, Papa.“
„Das tue ich auch“, antwortete er steif. „Ich tue mein Bestes, um dich für die Zukunft abzusichern, da du selbst dir darum ebenso wenig Gedanken machst wie um die Zukunft deiner Geschwister. Eine Verbindung mit dem Earl wird ihrer Stellung auf die Dauer sehr nützlich sein.“
Natürlich, mein Leben gehört nicht mir. „Mama hätte mich niemals einem Mann versprochen, der weder Achtung noch Zuneigung für mich empfindet.“
Sie sah, wie er erbleichte, doch sie drehte sich um und eilte durch die Nacht davon.
Jetzt durfte sie nicht länger zögern, sondern musste handeln, und zwar noch heute Abend.
Kapitel 2
„Es ist der verrückte Duke.“
In gewohnt vorhersehbarer Manier brauchte die feine Gesellschaft nur diese geflüsterte Bemerkung, um sich den Mund über die Vergangenheit des Mannes zu zerreißen.
„Er hat seinem guten Freund, dem Marquis of Westfall, gegenüber zugegeben, seine Frau getötet zu haben. Vor ein paar Jahren war das Stadtgespräch.“
Edmond Elias Rochester, der Duke of Wolverton, ignorierte das Getuschel, das sein Erscheinen ausgelöst hatte, und ging festen Schrittes durch den Korridor, der zur Bibliothek der Gladstones führte. Normalerweise beobachteten ihn die Mitglieder der High Society mit Argusaugen, begierig auf seine Reaktion, wenn sie ein wenig zu vernehmlich über seinen Geisteszustand spekulierten. Würde er sich wehren und damit die Vermutungen bestätigen? Doch sie wurden jedes Mal bitter enttäuscht.
„Seinen Erben hat er auch verloren.“
Alles schnappte übertrieben entsetzt nach Luft.
Trotz der kühlen, distanzierten Haltung, die er an den Tag legte, trafen ihn die Worte wie Dolche ins Herz. Er war eindeutig verantwortlich für den Tod seiner Frau und seines Sohnes. Schuld und Schmerz erinnerten ihn beständig daran, dass er kein Recht auf Frieden oder Glück hatte. Mit diesem Schmerz lebte er tagein, tagaus, und das begierige Interesse der anderen an seinem Leben hatte dazu geführt, dass er in den Jahren seit dem Tod der beiden die Öffentlichkeit weitgehend gemieden hatte.
Wenn er zur Parlamentseröffnung nach London fuhr, machte er einen großen Bogen um jede Art von gesellschaftlichen Zerstreuungen, an denen er wenig Interesse hatte. Besonders langweilig erschienen ihm Hauspartys, auch wenn er damit kaum Erfahrung hatte. Heute hatte ihn nur eine geschäftliche Angelegenheit in das Landhaus der Gladstones geführt. Wann immer er den Kontakt mit den vornehmen Kreisen vermeiden konnte, vergrub sich Edmond mit Vorliebe in Gesellschaft seiner Töchter auf seinem Landsitz in Hampshire.
Sarah und Rosa. Wut und Reue trafen ihn hart und brutal wie ein Schlag in die Magengrube. Er hatte sich so verdammt wenig um ihre Bedürfnisse gekümmert. Von den Bemühungen der diversen Gouvernanten war bei seinen Töchtern so gut wie nichts hängengeblieben, und auch der Privatlehrer, den er schließlich eingestellt hatte, war mit seinem Latein am Ende. Niemand konnte die Eskapaden der beiden Mädchen auf Dauer ertragen, und er hatte viel zu lange gebraucht, um zu erkennen, dass ihnen die tröstliche und leitende Hand einer Mutter ebenso fehlte wie ein geregeltes Familienleben. Nach dem Verlust von Maryann hatte sich Edmond geschworen, nie wieder zu heiraten. Was war er doch für ein Esel gewesen.
Doch schließlich war die Erinnerung durch den kalten Nebel seines Elends gedrungen, und ihm war klargeworden, dass er sein Herz nicht an eine neue Duchess zu hängen brauchte. Niemals wieder musste er das Risiko eines Verlusts eingehen, der ihn noch immer Tag und Nacht quälte. Die feine Gesellschaft machte sich über altmodische Liebesheiraten lustig, doch er hatte sich einmal darüber hinweggesetzt. Wenn er erneut eine Ehe einging, dann nur aus absolut vernünftigen und praktischen Gründen. Viele seiner Standesgenossen lebten mit derartigen unkomplizierten Arrangements, und zum Besten seiner Kinder wollte er es ihnen jetzt gleichtun.
Ohne auf die zahllosen Blicke zu achten, die ihn trafen, nickte er einigen Gentlemen grüßend zu und machte sich auf den Weg zur Bibliothek. Als Lord Gladstone, der Hausherr, mit dem er seine Geschäfte abschließen wollte, ihn bemerkte, begrüßte er ihn mit einem Kopfnicken und verließ seine Gäste, um Edmond zu begleiten.
„Wolverton“, sagte Lord Gladstone zur Begrüßung, während er neben ihm herging.
„Gladstone, schön Sie zu sehen.“ Edmond hatte keine Lust auf viele Worte. Er hatte Briefe mit dem Earl gewechselt und ihn um die Hand seiner Tochter, Lady Evelyn, gebeten. Er hatte sie vor einigen Jahren kennengelernt und erinnerte sich vage daran, dass sie eine nette junge Dame war, vielleicht ein wenig zu lebhaft, doch von angenehmem Äußeren. In seinen Briefen hatte ihr Vater auch voller Stolz erwähnt, dass sie eine vernünftige und kluge junge Frau sei. Sie sprach fließend drei Sprachen, konnte malen und Klavier spielen.
Edmond verzog den Mund zu einem freudlosen Lächeln. Sie war bestens geeignet und würde ihren Zweck erfüllen, ohne seine niederen Bedürfnisse allzu sehr zu wecken. Seit dem Tod seiner Frau hatte er sich den Trost weiblicher Gesellschaft versagt. Tatsächlich hatte sich Edmond für Lady Evelyn entschieden, da er sicher war, dass er keine fleischliche Lust für sie empfinden würde.
Die beiden Männer betraten die Bibliothek.
„Brandy?“, fragte Gladstone und ging hinüber zur Anrichte. Als Edmond zustimmend den Kopf neigte, füllte der Hausherr zwei Gläser. Dabei strahlte seine gesamte Haltung Unbehagen aus. Edmond, dem das nicht entgangen war, stieß mit zusammengebissenen Zähnen hervor: „Weiß Ihre Tochter, dass ich hier bin?“
Seufzend reichte der Earl ihm das Glas. „Nein.“
„Ich hatte die Absicht, in wenigen Tagen auf mein Gut zurückzukehren.“
„Ich möchte Sie dringend bitten, für die gesamte Dauer der Hausparty hierzubleiben. Morgen wird es eine Partie Krocket auf dem Rasen geben, Freitag veranstalten wir eine Jagd und morgen Abend einen Ball. Meine Tochter hat auch ein paar Gesellschaftsspiele im Haus erwähnt. Nutzen Sie doch die Gelegenheit, um sie kennenzulernen“, bat Gladstone.
Edmond nippte an seinem Glas, während er den Earl betrachtete. Der Mann kannte doch seine Bedingungen. „Nein“, sagte er schließlich. „Wenn Sie Ihre Meinung geändert haben, sagen Sie es. Dann werde ich die nötigen Schritte unternehmen und mir eine andere suchen.“
Gladstone verzog das Gesicht. „Nicht so hastig. Meine Countess hat Lady Evelyn zu sich gerufen.“
Der zurückhaltende Ton des Mannes weckte Edmonds Argwohn. Ihm gefiel die schuldbewusste Miene des anderen nicht. Verdammt. „Weiß Lady Evelyn überhaupt von meinem Antrag?“
An Gladstones Stirn begann ein Muskel zu zucken. Das Zucken wurde stärker, je länger das Schweigen anhielt. „Nein“, murmelte er schließlich und zerrte an seinem Halstuch.
Edmond ließ langsam das Brandyglas sinken. „Wir verhandeln jetzt seit zwei Monaten über die Ehevereinbarungen, und Sie haben es nicht für nötig gehalten, Ihre Tochter davon in Kenntnis zu setzen?“ Niemals hätte er sich so hartherzig über die Gefühle seiner Töchter hinweggesetzt. Du hast noch etwas Schlimmeres getan, ermahnte ihn sein Gewissen, doch das wollte er nicht wahrhaben.
Bevor Gladstone antworten konnte, flog die Tür auf, und Lady Evelyn stürmte herein.
„Ist alles in Ordnung, Vater? Mutter …“
Ihre dunkelgrünen Augen weiteten sich, als sie den Duke erblickte, und sie stieß hörbar den Atem aus. Röte stieg ihr in die Wangen, und Edmond dachte, er habe nie eine ansehnlichere junge Dame gesehen.
„Verzeih mir, ich wusste nicht, dass du Gesellschaft hast.“
Sie war eine Schönheit mit ihrem Haar wie gesponnenes Gold und der eleganten Haltung. Warum hatte sie in ihrer dritten Saison noch keinen Heiratsantrag erhalten? Hatte es sich in den vornehmen Kreisen womöglich herumgesprochen, dass ihr Vater verarmt war? Der Earl war davon überzeugt, dass niemand es wusste, und wenn Edmond nicht auf Anraten seiner Mutter die in Frage kommenden Familien gründlich durchleuchtet hätte, wäre es auch ihm verborgen geblieben.
Er bewunderte Evelyns Schönheit, wie man einen kostbaren Edelstein bewundert, doch sie erweckte keine leidenschaftlichen Gefühle in ihm, und genau so sollte es auch sein. Nachdem ihr Vater sie hastig einander vorgestellt hatte, versank sie in einen anmutigen Knicks.
„Durchlaucht, es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.“ Doch als ihr Vater den Raum mit einer gemurmelten Entschuldigung verließ, wurde sie blass. Allerdings hatte er die Tür vorsichtshalber einen Spalt offen gelassen.
„Durchlaucht, ich … ich …“ Sie holte tief Luft und zwang sich zu einem unechten Lächeln. Ein Ausdruck von plötzlicher Erkenntnis und Traurigkeit trat in ihre Augen.
Jetzt zupfte er an seinem Halstuch. „Lady Evelyn.“ Hol der Geier den Mann! Bestimmt hatte ihr Vater alles verdorben. So hatte sich Edmond den Abend nicht vorgestellt. Er war davon ausgegangen, dass die junge Dame über sein großzügiges Angebot Bescheid wusste und ihn mit Vorfreude erwartete. Wie sollte er anfangen? Es wäre an ihrem Vater gewesen, sie auf die Verantwortung vorzubereiten, die sie bald übernehmen sollte.
Lady Evelyn beobachtete ihn beklommen, während ihm einfach keine sentimentalen Schmeicheleien einfallen wollten. In einem Anfall von Ungeduld und bestrebt, es hinter sich zu bringen, stieß er ohne weitere Einleitung hervor: „Ich habe bei Ihrem Vater um Ihre Hand gebeten, und er hat sie mir gewährt.“
Sie wurde leichenblass und begann zu schwanken.
Mit einem unterdrückten Fluch trat er auf sie zu für den Fall, dass sie ohnmächtig wurde. Jetzt war er es, der alles falsch machte. Seine Mutter wäre über seinen Mangel an Feinfühligkeit entsetzt gewesen. Und Schuld daran war ihrer Meinung nach seine betrübliche Neigung, sich dem Umgang mit vornehmen Kreisen zu entziehen.
Lady Evelyn schluckte schwer. „Sie wollen mich heiraten?“
„Ja.“
Sie senkte die Lider über ihren ausdrucksvollen Augen. „Warum?“
„Ich brauche eine Ehefrau, und Sie haben den Wunsch nach einem Ehemann.“
Mit einem Ruck hob sie den Kopf und lachte erschrocken auf. Dabei griff sie sich mit der Hand an die Kehle. „Verzeihen Sie mir, Durchlaucht, aber ich benötige keinen Ehemann, und wenn, bin ich sicher, dass ich mir selbst einen wählen kann.“
Er zuckte die Achseln, ohne Rücksicht auf ihre zarten Gefühle zu nehmen oder auch nur so zu tun. Ein Heuchler war er nie gewesen. Aber ich könnte auch mitfühlend sein. „Außerdem benötigt Ihr Vater Geld.“
Sie zuckte zusammen, widersprach jedoch nicht. Offensichtlich wusste die junge Dame über die finanziellen Probleme ihres Vaters Bescheid.
„Ich verstehe“, sagte sie leise. „Und wenn nun meine Zuneigung schon jemand anderem gehörte?“
Edmond nahm einen Schluck Brandy und blickte sie scharf an. „Ihr Vater hat mir versichert, dass Sie an keinen jungen Mann gebunden sind. Wollen Sie etwas anderes behaupten?“
Sie schluckte, sagte jedoch nichts.
„Sie können ablehnen, Lady Evelyn“, fuhr er in milderem Ton fort, auch wenn es ihn geärgert hätte, einfach so von ihr abgewiesen zu werden. Alleine der Gedanke, sich auf dem Heiratsmarkt tummeln zu müssen, erfüllte Edmond mit Abscheu. Dann müsste er sich mit Scharen von Mädchen und ihren ehrgeizigen Müttern herumschlagen, Spekulationen und Gerede über sich ergehen lassen und schließlich wochenlang einer Frau den Hof machen, nur um dann auch noch die Hochzeit des Jahres planen zu müssen. Das alles hatte er mit Maryann erlebt, und er wäre lieber durch die Hölle gegangen, als es noch einmal durchzumachen.
Aber du weißt, für deine Töchter würdest du das alles auf dich nehmen und sogar dem Teufel selbst trotzen.
Er schloss für eine Sekunde die Augen. Ja, das würde er. Und wenn die Dame nun partout nicht wollte, würde er eben bei den anderen Lords mit unverheirateten Töchtern vorsprechen, die auf der Liste seiner Mutter standen, oder versuchen, sich in einer Welt voller Täuschungen und Ränke zurechtzufinden. Er hatte mehrere Wochen gebraucht, um von der Liste seiner Mutter die besten fünf Familien auszusuchen. Alle waren sie sehr angetan von seiner Anfrage gewesen, doch er hatte sich für Lord Gladstone entschieden, weil seine Tochter als einzige über achtzehn war. Edmond fühlte sich jetzt mit dreißig schon völlig ausgelaugt und leer. Da wäre ihm die Verbindung mit einem jungen Mädchen, dem er ständig Komplimente machen und alle möglichen gesellschaftlichen Zerstreuungen bieten müsste, ein Gräuel gewesen. Er hatte sich eine Frau erhofft, die schon mehrere Jahre lang Bälle, Picknicks, Theaterbesuche und Ausflüge hinter sich hatte und die nicht herumflennen würde, wenn sie das ganze Jahr oder zumindest einen Teil davon auf dem Land verbringen musste.
„Weiß meine Mutter auch von Ihrem Antrag?“
„Ja.“
Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich verstehe. Und wann haben Sie meinen Eltern Ihre Absichten mitgeteilt?“ Sie blickte ihn mit großen, fragenden Augen an.
Anders als seine Mutter es für jede vernünftige junge Dame vorausgesagt hatte, war Lady Evelyn von der Aussicht, eine Duchess zu werden, offensichtlich nicht hellauf begeistert. „Ihr Vater und ich verhandeln seit acht Wochen darüber. Ich hatte den Eindruck, Sie wüssten von meinem Heiratsantrag.“
Er ging zur Anrichte und schenkte sich noch einen großen Brandy ein. „Möchten Sie auch etwas trinken?“
Sie wirkte überrascht. „Ich … ich … nein. Bis wann benötigen Sie meine Antwort, Durchlaucht?“
„Ich reise in drei Tagen ab.“
„Erlischt Ihr Angebot mit Ihrer Abreise?“
„Ja“, sagte er nur. Er hatte Rosa versprochen, dass er zu ihrem Geburtstag nach Hause kommen würde. Bei der Aussicht hatten ihre Augen vor Freude und Aufregung geleuchtet, da wollte er sie nicht enttäuschen. Ansonsten hätte er auch später nach Hause fahren können. Doch das musste die Dame nicht unbedingt wissen. Je länger sie Zeit zum Überlegen hatte, desto mehr Gegenargumente würden ihr einfallen.
Lady Evelyn brachte ein unsicheres Lächeln zustande. „Bis dahin werden Sie Ihre Antwort bekommen. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.“
Sie drehte sich hastig um, jedoch nicht schnell genug, um die Tränen in ihren Augen zu verbergen.
„Lady Evelyn“, sagte er leise, da ihn ihr Kummer rührte.
Sie blieb stehen, ohne sich umzudrehen.
„Ja?“
Was konnte er sagen? Dass er sie brauchte und nicht einfach irgendeine Frau? Das wäre gelogen. Er wunderte sich selbst darüber, dass er das Bedürfnis hatte, sie zu trösten und ihr zu versichern, dass ihre Ehe ein Erfolg sein würde. Er biss die Zähne zusammen, bis ihm der Kiefer wehtat, während sie die ganze Zeit wie angewurzelt dastand. Wahrscheinlich wartete sie auf ein erlösendes Wort, das sie vor der Hölle, die er ihr bereiten würde, bewahrte. „Schlafen Sie gut“, sagte er schließlich. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.
Mit einem knappen Kopfnicken ging sie aus dem Zimmer und zog die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich ins Schloss.
Ach, zum Teufel mit allem.