1. Kapitel
Seit mehr als zehn Minuten hatte Anna nichts anderes gesehen als Wälder und Wiesen. Kein Feld, kein Haus, kein Weg deutete darauf hin, dass in der Nähe Menschen wohnten. Doch sie musste richtig sein. Die Wegbeschreibung, die sie vor einer Viertelstunde in Milmersdorf erhalten hatte, war eindeutig gewesen. Sie konnte sich nicht verfahren haben. Bisher war sie an keiner Kreuzung, Querstraße oder Einfahrt vorbeigekommen. Da war nur diese eine Straße, die sich endlos durch den Wald wand.
Und hier sollte irgendwo das Haus stehen, das sie von ihrer Tante geerbt hatte? So langsam glaubte Anna schon nicht mehr daran. Andererseits war Tante Elisa eine Eigenbrötlerin gewesen. Soweit Anna wusste, hatte sie nie jemanden wirklich an sich herangelassen und war ihrer Familie weitestgehend aus dem Weg gegangen. Deswegen hatte Anna sie auch nur ein einziges Mal gesehen. Nun war Tante Elisa tot und Anna im Besitz eines Grundstücks in der Nähe von Milmersdorf. Nähe war in diesem Fall allerdings irreführend.
Im Radio sang Eddi Markgraf von der Rockband Damn Silence gerade davon, dass er sich entschieden hatte, seinen eigenen Weg zu gehen und endlich er selbst zu sein. Das Lied ließ Anna lächeln. Sie mochte die Band und hatte einige Lieblingslieder, doch dieser Song hatte es ihr besonders angetan. Es war, als wäre er nur für sie geschrieben worden.
Außerdem hatte er ihr in letzter Zeit Glück gebracht.
Als sie vor vier Monaten einen Anruf von Tante Elisas Anwalt erhalten hatte, kam der Song gerade im Radio. Ein paar Tage später, auf dem Weg zur Testamentseröffnung, lief er auf ihrem MP3-Player in Dauerschleife. Dann war schließlich das Unglaubliche passiert: Zum Erstaunen ihres Vaters und ihrer empörten Tante Lisbeth war sie zur Alleinerbin von Elisas Vermögen erklärt worden. Niemand konnte sich den Grund erklären. Am wenigsten Anna selbst. Ihr Vater und Tante Lisbeth hätten ein viel größeres Anrecht gehabt. Tante Elisa war die älteste Tochter von Annas Oma väterlicherseits gewesen und stammte aus deren erster Ehe. Annas Vater und Tante Lisbeth waren also Elisas Halbgeschwister. Ihr Vater hatte sich nie besonders für seine älteste Schwester interessiert. Zu groß waren der charakterliche und auch der Altersunterschied gewesen. Deshalb hatte Anna ihre Tante erst so spät kennengelernt.
Tante Lisbeth war stinksauer gewesen, das hatte Anna ihr angesehen, auch wenn ihr Vater sofort versuchte, seine ältere Schwester zu beruhigen. Er bedachte Anna nur mit fragendem Blick, bevor er Lisbeth aus dem Raum begleitete.
»Sind Sie sicher, dass Tante Elisa wirklich mich gemeint hat?«
Der Anwalt lächelte milde und nickte.
»Aber warum?«
»Ihre Tante war wohl der Auffassung, Sie könnten sich am besten um das Grundstück kümmern.«
Anna horchte auf. »Wie meinen Sie das?«
Er blickte auf die Dokumente in seiner Hand, nickte, dann sah er sie über seine Brille hinweg an. »Oh, das hatte ich vorhin ganz vergessen zu erwähnen: Sie bekommen das Grundstück nur unter der Auflage, alles instand zu halten, und dürfen es mindestens zehn Jahre lang nicht verkaufen.«
»Heißt das, ich muss dort wohnen?«
Anna dachte an ihre Wohnung im Berliner Stadtteil Charlottenburg, die sie mit ihrem Freund Marco bewohnte, und an ihren Job als Projektleiterin bei LifeStyle, einem Unternehmen, das sich auf das Marketing bei Pharmafirmen spezialisiert hatte. Eine Beförderung war ihr bereits in Aussicht gestellt worden. Sie hatte keine Zeit, sich um ein Haus außerhalb der Stadt zu kümmern. Zumindest war ihr Kopf dieser Meinung. Ihr Herz sah das ganz anders: Als der Anwalt ihre Frage bejahte, begann es, freudig erregt zu klopfen. »Wissen Sie, in welchem Zustand sich das Haus befindet?«
Der Anwalt wiegte bedächtig den Kopf hin und her. »Nun ja. Es war alles in Ordnung, als ich vor ein paar Jahren dort war.«
In Annas Gedanken war bei seinen Worten das Bild eines malerischen Bauernhauses entstanden, umgeben von weiten Wiesen. Sie meinte sogar, den frischen Geruch gemähten Grases wahrzunehmen und Vögel zwitschern zu hören. Sie hatte den Wunsch, in der Natur und mit Tieren zu leben und zu arbeiten, schon beinahe vergessen. Das Leben in Berlin entsprach der Vorstellung ihrer Eltern sowie Marcos. Es war eine Vernunftentscheidung gewesen, nach dem Studium ihre Träume hintenanzustellen, die von Marco vermittelte Stelle als Projektleiterin anzunehmen und erst einmal Geld zu verdienen, wie sich ihr Vater auszudrücken pflegte. Ein Haus auf dem Land konnte ihre Chance sein, endlich das Leben zu leben, das sie sich immer vorgestellt hatte. Sie wollte als Verhaltenstherapeutin für Hunde arbeiten. Dafür hatte sie Biologie studiert und nebenher den erforderlichen Sachkundenachweis gemacht. Die Erbschaft erschien wie ein Wink des Schicksals, endlich den Weg zu gehen, den sie von Anfang an hätte einschlagen sollen.
Leider war ihr Vater alles andere als begeistert gewesen, als er nach dem Termin erfahren hatte, dass sie vorhatte, das Erbe mit allen Bedingungen anzunehmen.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen?« Sein Zorn traf Anna gänzlich unerwartet. Sprachlos ließ sie seine Schimpftirade über sich ergehen. »Bisher dachte ich eigentlich immer, du bist vernünftig. Du kannst doch nicht dein ganzes Leben einfach aufgeben! Für ein Hirngespinst.«
Sie hatte sich nicht entmutigen lassen. Im Gegenteil. Letztlich war es seine vehemente Reaktion gewesen, die den Ausschlag gab. »Egal, was du davon hältst. Ich weiß, dass es die richtige Entscheidung ist.«
»Du wirst schon merken, wohin dich dein Eigensinn führt. Komm aber nicht zu mir oder deiner Mutter, wenn du Hilfe brauchst! Wir sind sehr enttäuscht von dir. Ich hoffe nur, dass Marco dir diesen Unsinn ausreden kann.« Er hatte sich umgedreht und war ohne ein Wort des Abschieds gegangen.
Auch Marco hatte anders reagiert als erwartet. Ihre Beziehung hatte in den letzten Monaten sowieso schon stark gelitten. Sie war so sehr in ihre Arbeit eingebunden gewesen, dass sie abends spät nach Hause kam und nur noch müde ins Bett fallen konnte. Sie hatten nur noch nebeneinander her gelebt. Als er von der Erbschaft erfahren hatte, hatte Marco sofort begeistert Pläne geschmiedet, was sie mit dem vielen Geld machen konnten. Er redete von einer größeren Wohnung und von Reisen nach Neuseeland, Südamerika oder Alaska, alles Länder oder Gegenden, die er schon immer hatte sehen wollen. Das Haus war ihm egal gewesen. »Na und? Wir fahren alle paar Monate mal hin und sehen nach dem Rechten, und nach ein paar Jahren kannst du es verkaufen. Dann kräht kein Hahn mehr nach diesen komischen Bedingungen. Es wird schon keiner nachprüfen, ob du wirklich dort wohnst.«
Anna war entsetzt gewesen. Ihre Idee, als Verhaltenstherapeutin zu arbeiten, hatte er mit einem hochmütigen Lachen abgetan und wollte nichts weiter hören. Sie hatten sich so heftig gestritten, dass Anna noch am selben Abend zu ihrer besten Freundin Suzi gezogen war.
Entschlossen schob Anna die Erinnerungen an die vergangenen Wochen beiseite und sang lautstark den Refrain mit. Auch heute sollte der Song ihr Glück bringen. Während die letzten Takte erklangen, fuhr Anna an einem verbeulten Maschendrahtzaun vorbei, der ein großes Stück Wald von der Straße abgrenzte. Von dort erspähte sie auch schon die Einfahrt. Oder vielmehr ein rostiges Tor, das halb in den Angeln hing. An der Seite wuchsen Narzissen und winzige Wiesenblumen. Ein schmaler Lichtstreif fiel durch die hohen Bäume auf das Metall. Ein malerisches Bild, das Anna lächeln ließ.
Sie hielt an und stieg aus. Es war kühl im Wald, mehrere Grad kälter als in der Stadt. Sie nahm ihre Jacke und holte den Schlüsselbund, den sie von Tante Elisas Anwalt erhalten hatte, aus dem Handschuhfach. Wie sich jedoch herausstellte, konnte man das Tor einfach aufschieben. Anschließend fuhr sie langsam den Schotterweg entlang und sah dabei nach links und rechts. Das alles gehörte nun ihr, jede einzelne hohe Kiefer und die dichten Sträucher. Es war ein komisches Gefühl, berauschend, aber auch angsteinflößend.
Nach etwa zweihundert Metern lichtete sich der Wald und gab den Blick auf ein unscheinbares Haus mit graubraunem, bröckelndem Putz frei. Es wirkte abweisend und hatte rein gar nichts mit dem aus ihrer Vorstellung gemein. Selbst die Frühlingssonne konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie schäbig es wirkte.
An der rechten Seite schloss sich ein weiteres Gebäude an, zwischen ihnen befand sich ein schmaler Durchgang.
Anna parkte und atmete tief durch. Im Rückspiegel sah sie das Gepäck auf der Rückbank. Sie seufzte. Ihr ganzes bisheriges Leben befand sich in diesem Auto. Entschlossen stieg sie aus. Sie fröstelte, was nicht nur an der Kühle des Waldes lag.
Sie drehte sich einmal um sich selbst, um alles in sich aufzunehmen, und ging dann zielstrebig zwischen den beiden Gebäuden hindurch. Kurz darauf betrat sie einen gepflasterten Hof, der an drei Seiten vom Wohnhaus und zwei Anbauten umgeben war. Der Zustand der Gebäude konnte nur als jämmerlich bezeichnet werden. Gegenüber dem Wohnhaus lag eine Wiese mit hohem Gras und knorrigen Bäumen, die in voller Blüte standen. Das Gebäude rechts war früher ein Stall gewesen, vermutete Anna, da neben jeder der drei horizontal geteilten Türen ein Ring zum Anbinden von Tieren angebracht war.
Sie öffnete die obere Hälfte einer Stalltür und sah hinein. Es handelte sich um eine Box mit Heuraufe und Wassertrog. Alles war dreckig und voller Spinnweben. Überall bröckelte der Putz von den Wänden. Im Dach waren mehrere Löcher, und der Boden war uneben und ebenfalls löchrig. Hier hatte schon lange kein Tier mehr gestanden. Jedenfalls hoffte Anna das, es hätte ihr sonst leidgetan. Insgeheim war sie überzeugt davon, dass sie mit Tieren besser umgehen konnte als mit Menschen. Vor allem ihr einjähriges Praktikum im Tierheim hatte ihr gezeigt, wo ihre Stärken lagen und ihr letztlich den Weg in ihr Biologiestudium gewiesen.
Anna schloss die Tür zum anderen Nebengebäude auf. Sie quietschte widerstrebend und ließ sich nur mit Mühe aufschieben. Das Dach hier schien dicht zu sein. Wie der Boden aussah, ließ sich nicht beurteilen, da der Raum bis unter die Decke mit Krempel vollgestellt war. Anna verließ der Mut. Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Schnell schloss sie die Tür wieder und wandte sich dem Wohnhaus zu. Der Zustand der Nebengebäude ließ ihre Hoffnung schwinden, dass es sich in einem besseren Zustand befand.
Es gab einen zweiten Eingang vom Innenhof aus. Der passende Schlüssel war schnell gefunden. Es war der einzige, der nicht komplett verrostet war. Anna kniff die Augen zusammen und drehte ihn im Schloss. Die Tür bewegte sich leise knarrend und erstaunlich leichtgängig. Anna wertete das als gutes Zeichen, verbannte jedes negative Gefühl und betrat das Haus. Es roch muffig, als wäre hier drin ewig nicht gelüftet worden, deshalb ließ sie die Tür weit offenstehen.
Die Dielen knarrten unter ihren Füßen, als sie durch das Treppenhaus und ein kleines Zimmer voller verstaubter Bücherregale in eine geräumige Küche ging. Alles machte einen zwar alten, aber zum Glück gut erhaltenen Eindruck. Wunderschöne Messinggriffe zierten die nussbraunen Holzmöbel. Als Anna den Wasserhahn an der Spüle betätigte, lief klares, kaltes Wasser. Der Kühlschrank sah auf den ersten Blick ebenfalls funktionstüchtig aus. Weitere elektrische Geräte fand Anna nicht.
Die Küchenzeile wurde an vier Stellen von Türen unterbrochen. Nebenan gab es eine Abstellkammer. Zwei Türen führten in einen winzigen Flur mit Außentür, an den sich ein noch winzigeres Badezimmer anschloss, und in ein Esszimmer, das von einem großen Holztisch mit sechs Stühlen beherrscht wurde. Annas Finger fuhren langsam über die rissige Oberfläche, greifbar gewordene Erinnerungen an eine vergangene Zeit. Leider lenkte der Tisch nicht von den grauenhaften Tapeten ab. Entweder war Tante Elisa ein großer Fan von Blumenmustern gewesen oder sie war auf ihre alten Tage blind geworden. Anna schüttelte sich und ging schnell weiter.
Vom Esszimmer aus gelangte man zunächst in ein Wohnzimmer mit einem geblümten, antik aussehendem Sofa und einem Holzofen, dann in ein Schlafzimmer.
Sieben Räume und zwei Flure zählte Anna allein im Erdgeschoss. Alles war hoffnungslos altmodisch und alles andere als einladend. Sie konnte sich nicht vorstellen, sich in dieser Umgebung jemals wohlzufühlen.
Dafür, die obere Etage auch zu erkunden, fehlte ihr im Moment die Kraft. Zuerst musste sie das, was sie schon gesehen hatte, verdauen. Also ging sie zurück in den Innenhof und setzte sich auf die Stufe vor der Eingangstür. Dort legte sie ihren Kopf auf die Knie und atmete tief durch. Sie spürte, wie sich die Panik, die sie bisher erfolgreich in Schach gehalten hatte, langsam an die Oberfläche kämpfte.
Was machte sie hier? Was wollte sie sich selbst und der ganzen Welt mit dieser verrückten Idee beweisen, ihr bisheriges, sicheres Leben aufzugeben? Sie hatte alles hinter sich gelassen. Ihre Wohnung war bereits neu vermietet, der Job gekündigt, und die Sache mit Marco war endgültig vorbei. Sie war unendlich euphorisch gewesen, hatte geglaubt, Bäume ausreißen zu können. Zumindest hatte sie nicht eine Sekunde lang gezweifelt. Stattdessen war sie mit Suzi auf Konzerten und im Kino gewesen, hatte in angesagten Klubs getanzt und sich elegante Theateraufführungen angesehen.
Hätte sie die Zeit doch bloß besser darauf verwendet, über die Konsequenzen eines solchen Neuanfangs nachzudenken!
Anna spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Sie zitterte und konnte nur mit Mühe ein Schluchzen unterdrücken. Sie schlang ihre Arme um ihren Körper und krümmte sich zusammen, in der Hoffnung, sich selbst ein wenig Wärme und Zuversicht zu schenken.
Aber alle Tränen der Welt würden ihr jetzt auch nicht weiterhelfen. Sie setzte sich aufrecht hin und wischte die Augen trocken. Sie allein hatte die Entscheidung getroffen, ihr bisheriges Leben aufzugeben. Und sie allein würde sich der Herausforderung stellen. Sie würde sich selbst und ihrem Vater beweisen, dass sie auf eigenen Füßen stehen konnte. Die Renovierung eines alten Bauernhauses war ihr Traum gewesen, seit sie als Kind mithelfen durfte, ihr Elternhaus umzubauen. Nur war ihr Traumhaus in ihrer Vorstellung viel weniger verwahrlost und verfallen gewesen. Nun glaubte sie, einer unlösbaren Aufgabe gegenüberzustehen.
Anna schluckte schwer und rappelte sich mühsam hoch. Sie straffte die Schultern, atmete tief durch und ging um das Haus herum zu ihrem Auto. Für einen kurzen Moment war sie versucht, einfach einzusteigen und zurück in die Stadt zu fahren. Doch sie unterdrückte den Impuls und öffnete stattdessen die Beifahrertür.
Als Erstes suchte sie in ihrer Handtasche nach dem MP3-Player. Sie setzte die Kopfhörer auf und schaltete das Gerät ein. Augenblicklich war Eddi Markgraf bei ihr und sang sich mit seiner tiefen Stimme direkt in ihre Gedanken. Mit jedem Ton entspannte sie sich mehr. Im Moment lief Life changes, ein Song, den Eddi über seinen Durchbruch geschrieben hatte, über seine Dankbarkeit, aber auch über seine Sorgen, dass der Erfolg alles verändern würde. Anna hatte Damn Silence erst nach diesem Durchbruch entdeckt. Sie war bei einer Fernsehshow auf den blonden Sänger aufmerksam geworden. Eddi war mit Mitte Dreißig nur wenig älter als sie, hatte aber schon alles erreicht, was er mit seiner Musik erreichen wollte. Sechs Jahre nach der Gründung stand die Band plötzlich in den Charts ganz oben. Anna wusste nicht, ob sich Eddis Sorgen hinsichtlich seines Erfolgs letztlich bewahrheitet hatten, aber zumindest machte er in Interviews und auf Konzerten nicht den Eindruck, als ob sein Leben sich verschlechtert hätte. Der Gedanke an Eddis Lebensweg gab ihr neuen Mut. Nun war sie bereit, auch das obere Geschoss des Hauses zu erkunden.
Im Takt der Musik schritt sie die Treppe hoch in den ersten Stock. Staub tanzte in der Luft. Sie betrat einen großen Flur, dann ein Badezimmer, und warf einen Blick in fünf weitere Zimmer mit abgedeckten Möbeln. Das ganze Stockwerk sah aus, als wäre es bereits seit mehreren Jahren nicht mehr betreten worden. Es fühlte sich seltsam an, hier oben zu sein, wie eine Reise in eine längst vergangene Zeit.
Wieder unten angekommen, ging sie zu ihrem Auto. Stück für Stück trug sie ihre Koffer und Taschen in die große Küche.
Als das Auto leer war, knurrte ihr Magen bereits vernehmlich. Da sie nicht daran gedacht hatte, Vorräte mitzubringen, musste sie zurück ins Dorf fahren.
2. Kapitel
»Wie schön, dass Sie mich so schnell wieder besuchen kommen. Gefällt Ihnen das Haus?«
Anna hatte gerade erst den Laden betreten und brauchte einen Moment, um sich zu fassen. »Äh, ja, danke. Es ist ziemlich groß.«
Sie wusste nicht so recht, was sie sonst sagen sollte. Sie konnte der Ladenbesitzerin, auch wenn sie nett war, schließlich nicht all ihre Zweifel offenbaren. Doch die hatte offenbar gehört, was sie hören wollte.
»Es muss riesig sein. Sie hätten vor Jahren hier sein sollen. Damals, als es Ihrer Tante noch gut ging … Alle, die mal dort waren, haben geschwärmt, wie schön es gewesen ist. Ich selbst war nie da, aber die Frau Lichtenbühler, die hat für die alte Elisa die Wäsche gemacht und mir immer alles genau erzählt.«
Anna versuchte, den Redefluss der alten Dame zu unterbrechen, indem sie sie nach dem Preis für eine Packung Würstchen fragte. Sie hatte keine Chance.
»Später dann, als es ihr schlechter ging, freilich, da blieb ihr nur noch der alte Karl, ihr Stallbursche. Aber der hat immer zu ihr gehalten und sich um alles gekümmert – ein Euro fünfundneunzig Cent, heute im Angebot.« Die Dame nickte zu der Packung in Annas Hand. Ach ja, die Würstchen.
»Hat Tante Elisa auch bei Ihnen eingekauft?«, fragte Anna neugierig. Nebenbei packte sie ein Brot, etwas Butter, die Würstchen und eine Flasche Ketchup in ihren Einkaufskorb.
»Was? Nein. Der alte Karl hat für sie eingekauft. Wenn Sie mich fragen, war der nicht nur ihr Angestellter, der hat sich noch für ganz andere Dinge interessiert. Der war in Elisa verschossen, sag ich Ihnen.« Theatralisch fasste sich die Dame an die Brust. »Anders kann man das gar nicht erklären, was der alles für sie gemacht hat.«
Dieser Karl weckte Annas Interesse. Vielleicht konnte er ihr mehr über ihre Tante erzählen und lüftete sogar das Geheimnis, warum ausgerechnet sie als Erbin eingesetzt worden war.
»Wohnt Karl in der Nähe?«
»Wollen Sie ihn besuchen? Da freut er sich bestimmt! Ist ganz leicht zu finden. Fahren Sie einfach bei sich die Straße weiter. Nach zwei oder drei Kilometern kommen Sie automatisch zu seinem Haus. Brauchen Sie eine Tüte?«
Die abrupten Themenwechsel brachten Anna aus dem Konzept. Sie blickte auf ihren vollen Einkaufskorb. Mittlerweile lagen noch Eier, Quark und ein paar Brötchen darin. Sie packte eine Salami dazu und eine Packung Würfelzucker. Dann trug sie alles zur Kasse.
Während die Ladenbesitzerin die Einkäufe in die erstaunlich moderne Kasse eintippte, erzählte sie weiter. Annas Tante war wohl eine kleine Berühmtheit hier in Milmersdorf gewesen.
Als Anna aus dem Laden in die untergehende Sonne trat, summten ihr die Ohren, und ihr Magen grummelte erneut. Um ihn zu beruhigen, aß sie auf der Fahrt ein Brötchen und ein kaltes Würstchen.
Eine Viertelstunde später brachte sie die Einkäufe ins Haus und setzte einen Topf mit Wasser für einen Tee auf. Mit einem belegten Brötchen und ihrer Tasse setzte sie sich nach draußen auf die Treppe. Sie genoss die Stille, den wärmenden Tee in ihrer Hand und das Gefühl, endlich etwas im Magen zu haben. Dann wappnete sie sich innerlich für die letzten Aufgaben des heutigen Tages: Sie musste ihre Eltern und Suzi anrufen.
Zuerst der schwierigere Part, beschloss sie, und wählte die Nummer ihrer Eltern. Seit sie sich am Tag der Testamentseröffnung im Streit getrennt hatten, herrschte Funkstille zwischen ihr und ihrem Vater. Ihre Mutter hielt zwar weiterhin den Kontakt, Anna wusste jedoch, dass die Situation sie stark belastete.
Es klingelte ein paarmal, dann ging ihre Mutter an den Apparat. Anna konnte sich lebhaft vorstellen, was gerade bei ihren Eltern abgelaufen war. Ihr Vater war zum Telefon gegangen, da normalerweise er die Anrufe annahm, hatte ihre Nummer gesehen und den Apparat an ihre Mutter weitergereicht.
»Hallo, Kleines, schön, dass du dich meldest!«
»Hallo, Mama, ich wollte nur sagen, dass ich in Tante Elisas Haus angekommen bin.«
Stille am anderen Ende. Was hatte ihre Mutter erwartet? Dass sie es sich doch noch anders überlegt hatte?
»Das ist schön. Und? Ist es so großartig, wie alle sagen? Tante Elisa muss unheimlich reich gewesen sein und einen Palast besessen haben.«
Anna runzelte die Stirn. Wenn man sich das Haus ansah, hatte Tante Elisa in den letzten Jahren nicht viel Geld in dessen Instandhaltung gesteckt.
»Es ist zumindest sehr groß«, antwortete sie zurückhaltend. Es widerstrebte ihr, ihrer Mutter die Wahrheit zu sagen.
Nachdem sie ein paar Belanglosigkeiten ausgetauscht hatten, beendete Anna das Gespräch. Sie seufzte traurig. Früher waren sie wie beste Freundinnen gewesen. Damals hatte Anna allerdings auch getan, was von ihr erwartet wurde. Da sich der Wunsch ihres Vaters nach einem Jungen nicht erfüllt hatte, hatte er Anna alles beigebracht, was ein Mann seiner Meinung nach hätte können müssen. Es hatte ihr Spaß gemacht, unter seiner Anleitung Leitungen zu verlegen, Paneele an die Decke zu nageln oder einen Brunnen für den Garten zu bohren. Sie hatte diese Jahre als sehr harmonisch in Erinnerung. Erst als sie anfing, selbstständig zu entscheiden und zu handeln und sich so immer weiter von den Idealen ihres Vaters entfernte, verschlechterte sich ihr Verhältnis. Ihre Entscheidung, das Erbe anzutreten, war der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Ihre Mutter fühlte sich gezwungen, Position zu beziehen. Auch wenn sie es nachvollziehen konnte, war Anna enttäuscht von ihrem Verhalten. Sie hoffte, ihr Vater würde irgendwann einsehen, dass auch ein anderer Weg als der seine richtig sein konnte. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, sich aufzuheitern, indem sie Suzi anrief. Die hieß mit Nachnamen Fröhlich und machte dem alle Ehre. Aus Spaß nannte Anna sie oft Suzi Sonnenschein.
Sie trank ihren letzten Schluck Tee und wählte Suzis Nummer. Ihre Freundin nahm gleich nach dem zweiten Klingeln ab. »Hey, Anna-Schatz, endlich! Hab mir schon Sorgen gemacht! Und? Wie ist es?«
Annas Stimmung hellte sich sofort auf, als sie Suzis Stimme hörte. »Na ja, ziemlich verwahrlost.« Bei ihrer Freundin konnte sie ehrlich sein. »Aber es ist riesig und es hat echt Potenzial. Stell dir vor, hier gibt es sogar einen Stall.«
Suzi quietschte begeistert auf. »Wirklich? Dann kannst du dir ein Pferd kaufen. Genug Geld hast du ja jetzt. Mensch, ich beneide dich total!« Suzi war ein Pferdenarr.
»Mal langsam! Das Geld ist für die Instandsetzung des Hauses vorgesehen«, versuchte Anna, ihre Freundin zu bremsen. Doch da war nichts zu machen.
Suzi lachte. »Wer braucht denn so viel Geld für ein paar Renovierungsarbeiten? Da bleibt bestimmt genug für dich übrig.«
Anna musste nun auch lachen. Das war typisch Suzi. Von so viel positivem Denken würde sie sich gern eine Scheibe abschneiden. »Ich befürchte, mit der Renovierung allein ist es nicht getan. Eher mit einer Grundsanierung.« Sie verdrehte die Augen bei dem Gedanken an die viele Arbeit.
»Hey, wer wird denn gleich schwarzmalen? Du holst dir einfach jemanden, der sich mit alten Häusern auskennt, und lässt dir erklären, was gemacht werden muss. Dann hast du einen Plan und kannst loslegen. Das wolltest du doch immer tun. Und wenn es eine kann, dann du. Aber mal was anderes: Lust auf ein Konzert? Ich hab Karten.«
Suzi hatte es mal wieder geschafft: In Nullkommanichts hatte sie Anna aufgeheitert. Ein Konzert mit Suzi war ein Erlebnis, das sie sich auf keinen Fall entgehen lassen wollte.
»Damn Silence?«, fragte sie wider besseres Wissen hoffnungsvoll.
»Mensch, Anna«, seufzte Suzi. »Du weißt doch, dass die Konzerte seit Ewigkeiten ausverkauft sind. Und die VIP-Tickets waren auch alle sofort weg. Da hatte ich keine Chance.«
Suzi arbeitete bei Universal Music und hatte die besten Beziehungen und Möglichkeiten. Manchmal bekam sie sogar VIP-Tickets, die einem Zugang zu allen Bereichen verschafften. Aber Damn Silence waren zu berühmt, und Suzi betreute die Band auch nicht direkt, sodass sie praktisch keine Chance hatte, an begehrte VIP-Tickets zu kommen. Trotzdem war Anna ein bisschen enttäuscht.
»Hey, ich hab aber trotzdem zwei echte Schätze hier, fast so gut wie Damn Silence«, versuchte Suzi, sie mit ihrer Begeisterung anzustecken.
»Niemand ist so gut wie Damn Silence«, warf Anna ein.
»Klar. Aber fast so gut. Rate!«
»O Suzi. Ich hasse das. Das weißt du!«, stöhnte Anna.
»Rate trotzdem!«
Anna stellte sich vor, wie Suzis Augen vor Aufregung leuchteten, also tat sie ihrer Freundin den Gefallen. »Die Beatles?«
»Anna! Die gibt es nicht mehr!«
Anna kicherte und machte weiter. »Bon Jovi.«
Das war Suzis Lieblingsband. Es war ihr Traum, eines Tages auf ein Bon-Jovi-Konzert zu gehen. Bisher hatte sie die wenigen sich bietenden Gelegenheiten verpasst, weil sie immer arbeiten musste.
»O Anna, das war echt gemein!«
»Dann sag mir doch einfach, wohin du gehen willst.«
»Du meinst, wohin wir gehen wollen«, korrigierte Suzi sie. Das Wir betonte sie dabei besonders.
Anna musste lachen. Ihre Freundin war unglaublich. Doch schließlich rückte Suzi mit der Sprache raus: »Ich habe Karten für Silbermond!«
Silbermond war Annas Lieblingsband gewesen, bevor sie auf Damn Silence aufmerksam geworden war. »VIP-Tickets?«
»Leider nicht. Tut mir leid.«
Anna lächelte. »Kein Problem. Ich freue mich auf das Konzert. Wann gehen wir?«
»Übernächsten Freitag. Ich dachte, du kommst am besten zeitig her und übernachtest danach hier. Dann machen wir beide uns mal wieder einen schönen gemeinsamen Tag.«
Sie redeten noch eine Weile über dies und das, hauptsächlich über Suzis Arbeit. Nachdem sie aufgelegt hatte, fühlte sich Anna beschwingt. Sie war voller Tatendrang und hätte am liebsten sofort mit dem Renovieren angefangen. Stattdessen ging sie in die Küche und holte ihren Laptop aus dem Gepäck. Sie wollte sich zunächst eine Liste mit allen anstehenden Aufgaben und dem benötigten Material machen. Sie musste auf jeden Fall jemanden finden, den sie wegen der notwendigen Umbaumaßnahmen am Haus fragen konnte. Und sie brauchte Internet.
Anna lebte nach der Philosophie, dass das Internet auf alle Fragen eine Antwort kannte. Das kam also gleich ganz oben auf die Liste: einen Internetanschluss besorgen. Sie wollte sich als erstes ein Arbeitszimmer, das Wohnzimmer und ein Schlafzimmer herrichten. Auch die Küche musste wieder in Schuss gebracht werden, ebenso eines der Badezimmer.
Sie setzte Dinge, die sie für die Einrichtung dieser Zimmer brauchen würde, auf ihre Liste und überlegte, ob sie Tante Elisas Bett behalten sollte. Sie fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, darin zu schlafen.
Sie notierte Bett und weitere Möbel.
Es war schon spät, als sie den Laptop zuklappte. Ihr schwirrte der Kopf, aber sie fühlte sich immer noch gut, wenn auch total erschöpft. Also nahm sie ihr Zahnputzzeug und ein Handtuch mit ins Bad und wusch sich notdürftig. Dann fiel sie auf das Sofa und wickelte sich in ihren Schlafsack.
Obwohl sie müde war, konnte sie nur schlecht einschlafen. Zu viele Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Die fehlenden Stadtgeräusche, die fremden Gerüche und vor allem die Dunkelheit machten ihr zu schaffen, in ihrer Wohnung in Berlin hatte eine Straßenlaterne direkt in ihr Schlafzimmer geschienen. Es dauerte ewig, bis sie endlich in unruhigen Schlaf fiel.
Am nächsten Morgen brauchte sie einige Augenblicke, um zu realisieren, wo sie war und warum. Als es ihr einfiel, beschloss sie, noch eine Weile liegenzubleiben. Sie konnte tun, was sie wollte. Niemand drängelte sie, sie hatte keine Termine. Selbst wenn sie den ganzen Tag auf dem Sofa blieb, würde niemand sie schief angucken. Aber dann dachte sie an ihre Pläne, das Haus zu renovieren, und stand schließlich doch auf.
Barfuß und frierend tapste sie ins Bad. Es war zwar schon Mai, aber über Nacht kühlte es noch stark ab. Der kleine Heizkörper war kalt, obwohl der Regler voll aufgedreht war. Sie musste unbedingt herausfinden, wie man die Heizung anstellte.
Beim Frühstück fiel ihr wieder ein, was die Frau aus dem kleinen Laden über den Stallburschen von Tante Elisa gesagt hatte. Ein Problem mit der Heizung erschien ihr als gute Entschuldigung, bei ihm vorbeizuschauen.
Nach dem Frühstück stieg sie in ihr Auto in der Hoffnung, diesen Karl trotz der mehr als dürftigen Wegbeschreibung zu finden. An der Straße bog sie rechts ab. Der Weg schlängelte sich weiter durch den Wald. Es machte nicht den Eindruck, als würden noch andere Menschen in der Gegend leben. Nach etwas über zwei Kilometern tauchte tatsächlich ein völlig mit Efeu bewachsenes Haus hinter den Bäumen auf. Anna parkte am Straßenrand und ging die kurze Zufahrt entlang. K. Lehmann stand handgeschrieben über der altertümlich anmutenden Klingel. Sie läutete, doch nichts rührte sich. Ein schmaler Weg führte links am Haus vorbei. Zögerlich setzte sie sich in Bewegung und rief laut nach Herrn Lehmann.
Hinter dem Haus erstreckte sich, ganz ähnlich wie bei Tante Elisa, ein kleiner, gepflasterter Innenhof. Auf der rechten Seite befand sich ein Gebäude, das an einen Schuppen erinnerte und in dem Anna es klappern hörte.
»Hallo? Herr Lehmann?«
Ein alter, grauhaariger Mann steckte den Kopf aus der halb offenstehenden Tür. »Ja?«
Anna ging lächelnd und mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. Ihr Gegenüber war nur so groß wie sie und sehr schmächtig, doch seine Augen blitzten lebenslustig. Er trug eine abgetragene blaue Hose und ein rostfarbenes Holzfällerhemd, beides staubig und voller Tierhaare. Den Grund dafür hörte sie im Nebengebäude wiehern.
Karl Lehmann kam ihr entgegen und schüttelte Anna etwas erstaunt dreinblickend die Hand.
»Hallo Herr Lehmann, ich bin Anna Diemer, die Nichte von Elisa Reichert.«
Sofort lächelte er erfreut. »Ach, du bist die Anna? Elisa hat mir von dir erzählt. Wie kann ich dir helfen?«
Anna beschloss, über das vertrauliche Du hinwegzusehen. Viel merkwürdiger fand sie, dass Tante Elisa mit ihm über sie gesprochen hatte. Sie hatten sich doch kaum gekannt. »Die Besitzerin des kleinen Ladens in Milmersdorf hat mir gesagt, dass Sie bei meiner Tante gearbeitet haben und sie gut kannten. Ich komme mit der Haustechnik noch nicht ganz klar und hoffe, Sie können mir helfen.«
Der alte Mann nickte und lächelte versonnen. Dann bot er Anna einen Kaffee an. Sie folgte ihm ins Haus und setzte sich dort auf den ihr angebotenen Stuhl.
Während er sich an der alten Kaffeemaschine zu schaffen machte, schwieg Herr Lehmann. Erst als er sich mit zwei dampfenden Tassen in der Hand zu ihr setzte, fing er an zu erzählen. »Ich habe viele Jahren bei Elisa gearbeitet. Erst als Stallbursche, später habe ich mich um alles gekümmert, was anfiel. Weißt du, in den letzten Jahren war deine Tante nicht mehr bei guter Gesundheit. Ich habe für sie sauber gemacht und eingekauft und mich um ihre Tiere gekümmert. Zum Schluss konnte sie gar nichts mehr machen, da sollte ich alle Tiere verkaufen. Nur Mona habe ich behalten.« Sein Blick driftete in die Ferne.
»Mona? Das Pferd, das ich vorhin gehört habe?«
Lehmann nickte. »Ja, sie war Elisas Liebling. Sie lebte bei ihr, seit sie ein Fohlen war. Jetzt ist sie auch schon alt, aber noch sehr fit. Willst du sie mal sehen?«
Anna nickte. Als der Alte aufstehen wollte, hielt sie ihn zurück. »Ich dachte, Sie könnten mir vorher vielleicht etwas über meine Tante erzählen. Wissen Sie, ich habe sie nicht so gut gekannt.«
Er lächelte. Die Falten um seinen Mund und seine Augen vertieften sich und ließen ihn unheimlich sympathisch wirken. Er dachte eine Weile nach, nahm einen Schluck Kaffee, dann räusperte er sich.
»Deine Tante war eine sehr schöne, gebildete Dame mit den besten Manieren. Und sie hatte ein großes Herz für alle, denen es nicht so gut ging – Menschen und Tiere. Früher war in ihrem Haus stets Leben, sie hatte über viele Jahre Pflegekinder, die in einem Heim nicht klargekommen wären. Und sie nahm jedes kranke, alte oder verletzte Tier auf. Es gab immer viel zu tun bei deiner Tante. Aber ich glaube, gerade das hat den Kindern dabei geholfen, wieder ins Leben zu finden. Soweit ich weiß, führen alle heute ein gutes und selbstständiges Dasein abseits von Drogen und Kriminalität. Etwas anderes hätte Elisa auch nie geduldet. Selbst nachdem alle bei ihr ausgezogen waren, besuchte sie sie regelmäßig oder lud sie zu sich ein. Und wehe dem, der dann nicht brav zur Arbeit ging oder seine Ausbildungsstelle besuchte. Dem las Elisa die Leviten. Ja, ohne Elisa wäre die Welt ein ganzes Stückchen schlechter gewesen.«
Anna hörte erstaunt zu. Ob ihr Vater davon gewusst hatte? Jedenfalls hatte er nie etwas gesagt. Elisa hatte sich also um Kinder und Tiere gekümmert, die niemand mehr wollte? Das erklärte zumindest die vielen Zimmer in ihrem Haus.
Als der Kaffee ausgetrunken war, gingen sie zu dem Nebengebäude, aus dem der Alte vorhin gekommen war. Es dauerte eine Weile, bis Annas Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, doch dann sah sie, dass ein Teil notdürftig mithilfe einer Stellwand abgetrennt war. Dahinter kam ein weißer Pferdekopf zum Vorschein.
»Hallo, Mona, weißt du, wer uns heute besuchen kommt? Das ist Anna, die Nichte von Elisa.« Während er sprach, kraulte der Mann die Stirn des Pferdes, das genießerisch die Augen schloss.
Anna kam langsam näher und streichelte vorsichtig die weiche Nase. Mona prustete sie an.
»Sie mag dich«, kam es unvermittelt von dem alten Mann. »Sollen wir sie rausholen?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm er ein Halfter von der Wand und legte es Mona um. Dann öffnete er die Stellwand und zog die Stute nach draußen. Er band sie nicht an, trotzdem blieb sie in der Sonne stehen und ließ sich bewundern. Man sah deutlich, dass sie nicht mehr die Jüngste war. Die Knochen stachen an einigen Stellen hervor, und auch das Fell war nicht mehr so glänzend, wie es einst gewesen sein musste. Dennoch strahlte sie eine Würde und Haltung aus, die sie um viele Jahre jünger wirken ließen.
»Dürfte ich sie vielleicht einmal putzen?«, rutschte es Anna heraus. Der Gedanke war ihr einfach durch den Kopf geschossen, und sie wurde rot, als sie merkte, dass sie ihn laut ausgesprochen hatte. Das klang ja so, als fände sie, er würde die Stute nicht richtig pflegen.
Doch Herr Lehmann schien sie nicht falsch zu verstehen, denn seine Miene hellte sich weiter auf, und er ging in den Schuppen, um wenige Augenblicke später mit einem Eimer voller Putzsachen herauszukommen. »Da freut sie sich sicher. Sie liebt es, geputzt zu werden. Du kannst sie auch gern reiten, wenn du willst. Sie ist sehr brav.«
Anna freute sich über das Angebot, sie hatte nach ihrem Studium keine Gelegenheit mehr gehabt, reiten zu gehen. Sie nahm einen Striegel und rieb damit in großen Kreisen über den Hals der Schimmelstute. Sie war so versunken in die Arbeit, dass sie das Schweigen des alten Mannes erst nach einer Weile bemerkte. Als sie ihn ansah, wirkte er traurig. Als ob ihm etwas auf dem Herzen lag, das er sich nicht traute, laut auszusprechen. Auf ihren Blick hin gab er sich offenbar einen Ruck, hustete und sagte dann mit leiser Stimme: »Du kannst sie gleich mitnehmen, wenn du willst.«
Anna blinzelte erstaunt. »Wen, die Stute? Warum?«
»Sie gehört dir. Ich habe mich nur um sie gekümmert, weil Elisa es nicht mehr konnte. Ich würde das auch gern weiter tun, aber ich sehe ja, dass du Pferde liebst. Du möchtest sie bestimmt haben, oder?« Das letzte Wort flüsterte er beinahe.
Jetzt verstand Anna. Er hatte Angst, dass sie ihm seine geliebte Mona wegnehmen könnte. Klar, es wäre natürlich prima, jetzt schon ein eigenes Pferd zu haben. Aber selbst wenn Mona rechtlich gesehen ihr gehörte, konnte sie den alten Mann doch nicht einfach von ihr trennen. Das würde ihm das Herz brechen. Für ihn war Mona wahrscheinlich so etwas wie eine lebende Erinnerung an Elisa. Sie überlegte, wie sie ihn beruhigen könnte.
»Ähm, Herr Lehmann …«
»Nenn mich doch bitte Karl und sag du zu mir. Das machen alle. Sonst komme ich mir so alt vor.« Er zwinkerte ihr verschmitzt zu.
»Okay, also Karl.« Sie räusperte sich. »Ich würde mich freuen, wenn S… du dich weiter um Mona kümmern würdest.«
Er blickte sie erst ungläubig und dann sehr erfreut an. »Wirklich?«
»Es stimmt schon, ich hätte gern ein Pferd.« Sie dachte über eine möglichst glaubwürdige Erklärung nach. »Aber ich bin gestern erst angekommen, und im Haus ist noch so viel zu tun. Außerdem glaube ich, dass Mona gern bei dir bleiben würde.«
Jetzt strahlte Karl über das ganze Gesicht. Dann trat er dicht an Mona heran und flüsterte ihr ins Ohr: »Siehst du, altes Mädel, du kannst doch hierbleiben. Bei mir. Freust du dich?«
Mona schnaubte. Die beiden waren wirklich ein Traumpaar.
Anna schmunzelte und bürstete weiter. Nach einiger Zeit kam sie auf ihr ursprüngliches Anliegen zurück und fragte Karl, ob er sich mit der Heizung auskannte und einen Tipp hatte, wen sie wegen notwendiger Sanierungsarbeiten um Rat fragen könnte.
»Ich kann meinen Sohn anrufen und ihn bitten, sich das mal anzusehen. Er hat schon viele Häuser gebaut und kann dir sicher sagen, was getan werden muss. Außerdem kennt er das Haus. Er hat Elisa oft geholfen, wenn etwas zu reparieren war.«
»Das wäre nett. Ich gebe dir nachher meine Handynummer. Anders bin ich zurzeit leider noch nicht erreichbar. Huf«, sagte sie bestimmt zu Mona, nahm den bereitwillig dargebotenen Vorderhuf und kratzte den Schmutz heraus. Karl setzte sich auf einen Stein und sah ihr zu. Diesmal wirkte sein Schweigen zufrieden.
Ihr fiel ihr noch etwas ein. »Du hast vorhin gesagt, dass du für meine Tante eingekauft hast. Bist du dazu immer nach Milmersdorf gefahren?«
»Was sollte ich denn da?«, fragte er erstaunt. Dann dämmerte es ihm. »Ach, du meinst den Laden von der alten Erika? Nein, da bekommt man ja nichts. Ich war meistens in Gerswalde. Da gibt es einen Supermarkt und einen Baumarkt. Ist gar nicht weit weg von hier. Du musst nur die Straße immer weiter fahren. Nach einer Viertelstunde kommt eine Kreuzung. Da biegst du links ab und dann ist der Supermarkt schon ausgeschildert.«
Seine Definition von gar nicht so weit weg war ungewohnt für Anna, die es von Berlin kannte, alles zu Fuß zu erreichen. In diesem Einkaufzentrum wollte sie später auf jeden Fall vorbeisehen. Sie bot Karl an, ihm etwas mitzubringen.
Er lächelte erfreut. »Oh, das wäre gut! Dann bräuchte ich nicht mehr selbst zu fahren. Mein Auto ist nicht mehr das jüngste, über eine Pause freut es sich sicher. Elisa hat recht gehabt. Du bist die Richtige für ihr Haus!«
Der letzte Satz kam so unvermittelt, dass Anna ein paar Sekunden brauchte, um zu realisieren, was er da gesagt hatte.
»Woher wollte sie das wissen? Wir kannten uns kaum. Wir haben uns nur einmal gesehen.«
Karl lächelte sie verschmitzt an. »Elisa war eine gute Menschenkennerin. Sie hat gesagt, dass du ihr Vermächtnis weiterführen würdest, da war sie sich sicher. Du bist ein guter Mensch und liebst Tiere.«
Das war so lieb und rührend, dass sich Annas Augen mit Tränen füllten. Schnell wandte sie den Blick ab und räumte das Putzzeug zurück in den Eimer. Das Angebot, Mona zu reiten, lehnte sie für heute ab. Sie hatte noch viel vor.
Sie gingen ins Haus zurück, wo er ihr eine sehr kurze Einkaufsliste schrieb. Er lachte, als sie sich erkundigte, ob das wirklich alles war. »Wir Alten brauchen nicht mehr viel zum Leben. Außerdem habe ich eigenes Gemüse und eine große, gut gefüllte Tiefkühltruhe. Du musst dir also um mich keine Sorgen machen.«
Er bot ihr noch einen Kaffee an, den sie aber ablehnte. Sie gab ihm ihre Handynummer und verabschiedete sich. Er versprach ihr, gleich seinen Sohn anzurufen.
3. Kapitel
Auf dem Weg zum Einkaufszentrum fand Anna Hinweisschilder zu mehreren anderen Geschäften, auch zu einem Möbelhaus. Dahin wollte sie zuerst.
In der Schlafzimmerabteilung stand in einem Seitengang ein Bett mit weiß lackierten, leicht verschnörkelten Gitterstäben. So eines hatte sie sich schon immer gewünscht. Die Möbel in ihrer Berliner Wohnung hatte Marco ausgesucht. Er bevorzugte klare Linien ohne Schnickschnack.
Doch sie zögerte. Sie hatte heute eigentlich nicht vorgehabt, etwas zu kaufen. Doch dann fand sie auch noch eine passende Kommode sowie zwei Nachtschränkchen, und die Entscheidung war gefallen.
Sie hatte Glück. Sämtliche Möbelstücke waren auf Lager und konnten in drei Tagen geliefert werden.
Im Supermarkt brauchte sie zwei Stunden, bis sie alles für sich und Karl gefunden hatte. Der Wagen war bis obenhin voll, dafür besaß sie nun zumindest eine Grundausstattung für die Küche samt Toaster, Wasserkocher und Handmixer.
Als sie am frühen Abend endlich zuhause war, ließ sie sich erschöpft auf die Couch fallen. Einkaufen konnte wirklich anstrengend sein.
Nach einem reichhaltigen Essen setzte sie sich, gegen den frischen Wind in eine dicke Jacke eingemummelt, auf die Treppe vor dem Eingang. Sie packte ihren MP3-Player aus, steckte sich die Ohrstöpsel in die Ohren und schaltete Damn Silence ein.
So ließ es sich aushalten. In ihrem eigenen Garten und Eddi Markgraf so nah. Besser ging es eigentlich nicht. Sie stellte sich vor, er würde vor ihr stehen und singen. Ein absurder Gedanke. Jemand wie Eddi Markgraf würde sich auf dem Land nie wohlfühlen.
Sie liebte seine tiefe Stimme, die ihr wie dunkler Honig vorkam, und auch seinen Humor, den er in der Öffentlichkeit an den Tag legte. Er nahm sich selbst nicht allzu ernst. Außerdem war er ein richtiger Rebell. Zum Beispiel sein Name, Eddi. Anna wusste, dass er eigentlich Alexander hieß. Irgendwann hatten seine Klassenkameraden seinen Zweitnamen Edmund herausgefunden und ihn deswegen gehänselt. Seitdem nannte er sich aus Trotz Eddi. Anna gefiel diese Geschichte sehr. Vor allem, weil ihr Opa auch Edmund geheißen hatte.
Sie hatte Damn Silence bisher zweimal live gesehen, und natürlich kannte sie Interviews und Konzertmitschnitte aus dem Internet. Auch wenn es natürlich schön wäre, ihn mal persönlich zu treffen, war sie auf der anderen Seite froh, dass ihr Bild von Eddi nicht durch die Realität getrübt wurde. Vielleicht war er in Wirklichkeit gar kein solcher Sonnyboy, sondern durch den Erfolg arrogant und zynisch geworden, und überspielte das gekonnt. Außerdem hatte er angeblich eine Freundin, ein Model namens Caroline.
Die nächsten zwei Tage verbrachte sie damit, die Küche gründlich zu säubern und das Esszimmer auszuräumen. Den großen Holztisch wollte sie am liebsten in der Küche aufstellen. Dann hätte sie im Esszimmer Platz für ihr Büro gewonnen und gleichzeitig eine Sitzmöglichkeit in der Küche geschaffen. Leider widersetzte sich der Tisch ihren Bemühungen, denn er war viel schwerer, als er aussah. Außerdem passte er nicht durch die Tür.
»Wie hat Tante Elisa dich hier rein bekommen?«, überlegte sie laut. Noch während sie ihren Gegner skeptisch beäugte, klingelte es an der Tür. Draußen stand ein hünenhafter Mann, der den Türrahmen fast vollständig ausfüllte. Anna bemerkte erst nach ein paar Sekunden, dass eine zweite Person hinter ihm stand: Karl. Der drängelte sich an dem jüngeren Mann vorbei und schüttelte ihr die Hand.
»Hallo Anna, ich dachte, ich komme gleich mal mit Thomas, meinem Sohn, hier vorbei, dann kann er sich alles ansehen.«
Anna gab auch Thomas die Hand und bat die beiden Männer herein. Verstohlen musterte sie ihre Gäste. Es hätte keinen größeren Unterschied zwischen ihnen geben können. Thomas war riesig und breitschultrig. Seine dunklen Haare lockten sich wild und auf seinem Gesicht war ein Bartschatten zu sehen. Anna fand ihn nicht unattraktiv.
Ohne Scheu liefen Thomas und Karl durch alle Räume. Die Führung hatte Karl übernommen. Während sie nach oben gingen, machte Anna erst einmal Kaffee. Sie wurde ja im Moment nicht gebraucht.
Als der Kaffee durchgelaufen war, hörte sie die beiden draußen auf dem Hof. Sie fand sie im Stall; beide blickten zum Dach und diskutierten, wie man es am besten abdichten könnte.
Annas Einladung zum Kaffee nahmen sie gern an und folgten ihr in die Küche. Nachdem alle versorgt waren, ergriff Thomas das Wort. »Sie haben Glück, Frau Diemer, viel ist nicht zu tun. Zumindest, wenn Sie alles lassen wollen, wie es ist. Die Grundsubstanz ist gut, keine Feuchtigkeit, kein Schimmel.«
»Bitte nennen Sie mich Anna.«
Er nickte freundlich und hielt ihr erneut die Hand hin. »Gerne, Thomas. Möchten Sie denn etwas verändern?«
»Ich möchte das Bad unten vergrößern, wenn das geht. Im Obergeschoss sollen der Boden und eine Wand raus und ich möchte das Badezimmer sanieren.«
Thomas sah sie an, dann Karl, der fast unmerklich nickte, und räusperte sich. »Wie wäre es, wenn ich mir dazu Gedanken machen würde? In ein paar Tagen kann ich Ihnen meine Ideen vorstellen.«
Karl mischte sich ein. »Thomas hat Talent, Anna. Du kannst ihm vertrauen. Was er sich überlegt, hat immer Hand und Fuß.«
Anna blickte von einem zum anderen und ließ sich Thomas’ Vorschlag durch den Kopf gehen. Das klang eigentlich ganz gut.
»Sind Sie Architekt?« Die Frage war ihr so herausgerutscht. Verlegen senkte sie den Blick.
Thomas lachte. »Nein, leider nicht. Ich bin Maurer.«
Nach dem Kaffee gingen sie noch einmal zu dritt durch das Haus. Thomas machte sich Notizen. Im Esszimmer wies Anna auf den Tisch.
»Den würde ich gern in die Küche stellen, bekomme ihn aber nicht aus dem Zimmer.« Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. Wieder verständigten sich Karl und Thomas ohne Worte, packten den Tisch und drehten ihn auf die Seite. So war es kein Problem, ihn aus der Tür zu bugsieren. Beschämt sah Anna zu und ärgerte sich, dass sie nicht selbst auf diese naheliegende Lösung gekommen war.
»Vielen Dank«, murmelte sie verlegen. Thomas winkte nur ab und Karl grinste sie an. Dann verabschiedeten sich die beiden herzlich von ihr.
Anna stand im nun leeren Esszimmer und überlegte, wie sie es in ein Büro verwandeln konnte. Sie brauchte einen Schreibtisch, einen Rollcontainer, Regale und Schränke. Aber wie wollte sie die Wände gestalten? Die großflächig gemusterten Tapeten wollte sie auf keinen Fall behalten.
Der Dielenboden gefiel ihr dagegen ganz gut. Nur leider sah man deutlich, wo die Schrankwand gestanden hatte. Und auch der Tisch und die Stühle hatten Kratzer hinterlassen. Vielleicht konnte man das Holz abschleifen und neu lackieren. Sie schrieb die Idee gleich auf den Einkaufszettel für den Baumarkt. Dort konnte ihr hoffentlich jemand helfen.
Nach einem kurzen Abendbrot und einem erholsamen Bad ging Anna zeitig schlafen. Ihr letzter Gedanke galt dem Bett, das am nächsten Tag geliefert werden sollte.
Zwei Tage später saß sie mit Thomas bei Tee und Keksen vor einigen Zetteln in der Küche. Thomas schlug vor, dass sie den alten Gasofen durch ein neues Brennwertgerät ersetzte, das deutlich effektiver arbeitete. Er erklärte ihr auch, wie sie die Heizung bedienen konnte. Außerdem schlug er vor, die vordere Haustür zuzumauern und die Wand zwischen Flur und Badezimmer einzureißen. Dann wäre es noch immer nicht riesig, aber eine schönere Badewanne und eine Dusche würden locker hineinpassen.
Anna war begeistert von seinen Vorschlägen. Thomas hatte als Maurer gute Kontakte zu vielen Baufirmen und versprach ihr, in der nächsten Zeit Angebote für sie einzuholen.
Voller Euphorie fuhr Anna am Nachmittag zum Baumarkt.
Es dauerte ewig, bis sie Tapete, Kleister und Farbe zusammen hatte. Sie hatte nicht mit der riesigen Auswahl gerechnet. Vermutlich könnte sie all ihre Räume weiß streichen und sie trotzdem mit unterschiedlichen Tapeten-Farben-Kombinationen ausstatten.
Als Nächstes suchte sie nach einer Möglichkeit, den Dielenboden abzuschleifen. Sie musste sehr hilflos wirken, als sie vor all den unterschiedlichen Schleifmaschinen stand, denn ein Baumarkt-Mitarbeiter fragte sie höflich, ob sie Hilfe bräuchte. Das war ihr in ihrem ganzen Leben noch nie passiert.
Mit einem Leih-Schleifgerät, passendem Lack, ihren Tapeten-Kleister-Farben-Einkäufen und Damn Silence im MP3-Player fuhr sie fröhlich singend zurück zu ihrem Haus.
Zwei Tage später war sie fest davon überzeugt, dass Tapezieren die schrecklichste Arbeit beim Renovieren war. Noch schrecklicher als die winzigen Reste der alten Tapete mit den Fingernägeln von der Wand zu kratzen. Die eingeweichte Tapete war schwer und unhandlich und riss dauernd ein. Sie klebte grundsätzlich nur dann an der Wand, wenn sie es nicht sollte, und klappte von oben wieder weg, wenn Anna den unteren Teil andrückte. Mehr als einmal war sie dabei auf ihrem Kopf gelandet, sodass ihre Haare mittlerweile schleimig vom Kleister waren.
Nach einer qualvollen Wand hatte sie eine gewisse Routine entwickelt und kam einigermaßen voran. Man sah zwar, an welcher Seite sie angefangen hatte – dort klafften Lücken zwischen den Tapetenbahnen –, doch sie hoffte, dass das nach dem Streichen nicht mehr sichtbar war. Und wenn doch, würde sie einen Schrank davorstellen.
Das Malern zwei Tage später ging im Gegensatz zu den Vorarbeiten einfach vonstatten. Zum Glück hatte sie gute Farbe bekommen, sodass nach zwei Anstrichen das Zimmer und auch Anna in hellem Weiß erstrahlten. Glücklich drehte sie sich einmal um die eigene Achse und bewunderte ihre Arbeit. Es war all die Anstrengung wert gewesen.
Am folgenden Tag machte sie sich daran, den Boden zu schleifen. Auch das hatte sie sich leichter vorgestellt. Sie musste die schwere und unhandliche Maschine aus dem Baumarkt gleichmäßig über den Boden bewegen. War sie zu schnell, erzeugte das Schleifpapier lediglich Kratzer im Boden. War sie zu langsam, schliff sie zu viel weg. Außerdem atmete sie Tonnen von Staub ein.
Als sie nach zwei Tagen endlich fertig war und ihr Werk mit höllischen Rückenschmerzen betrachtete, musste sie beinahe heulen. Ihre ehemals weißen Wände waren von bräunlichem Staub bedeckt und der Boden hatte vorher auch besser ausgesehen. Erschöpft und desillusioniert schleppte sie sich nach draußen und ließ sich auf die Treppe fallen.
Warum musste das alles so schwer sein? Warum wurden ihr immer wieder Steine in den Weg gelegt? Was hatte sie verbrochen?
Sie atmete mit geschlossenen Augen tief die frische Luft ein. Sie roch den feuchten Waldboden und hörte das Rauschen des Windes, der durch die Baumwipfel fuhr. Langsam klärte sich ihr Kopf.
Als sie die Augen öffnete, dachte sie zum ersten Mal nicht nur an die Arbeit, die noch zu tun war, sondern stellte sich vor, wie schön es einmal sein würde. Im Geiste sah sie Pferdeköpfe in den Stalltüren, Katzen, die im Hof in der Sonne lagen, und Hunde, die über die Wiese tollten. Ganz von selbst schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Mit frischem Elan machte sie sich wieder ans Werk, staubte die Tapete sorgsam ab und saugte dann den Boden. Zum Glück ließ sich der Holzstaub problemlos entfernen. Und nachdem sie zwei Schichten Lack auf die Dielen aufgetragen hatte, sah das Zimmer endlich so aus, wie sie es sich vorgestellt hatte. Jetzt konnte sie sich nach der passenden Einrichtung umsehen.
Am Abend packte sie ihre Tasche für den Besuch bei Suzi in Berlin. Sie freute sich auf morgen. Es war trotz allem schön, einen Tag lang etwas anderes zu tun, als am Haus zu arbeiten oder einkaufen zu gehen.