1 – Dr. Carolina Beeken
„Habt ihr noch Kaffee?“ Carolina betrat abgehetzt das Schwesternzimmer und warf einen hoffnungsvollen Blick auf die Kaffeemaschine.
„Gott sei Dank“, seufzte sie, als sie die Kanne bis zur Hälfte mit dem tiefschwarzen Gebräu gefüllt sah. Zielstrebig und ohne auf eine Antwort zu warten, ging sie zum Küchenschrank hinüber. Mit schnellem Griff nahm sie einen Becher und füllte ihn schwungvoll. Der Kaffee schmeckte zwar scheußlich, aber er erfüllte seinen Zweck. Sie brauchte unbedingt einen ordentlichen Schub Koffein, bevor sie weitermachen konnte. Erst jetzt drehte sie sich erschöpft schnaufend um, lehnte sich an den Küchenschrank und blickte über den Rand der Tasse in die fragenden Augen von Verena und Melli. Die beiden Stationsschwestern saßen gerade beim verspäteten Frühstück.
„Ich muss gleich zur Visite auf die Drei, Sinzenich ist schon wieder ausgefallen und ich springe für ihn ein“, erklärte sie und pustete in den Kaffee.
„‚Schon wieder ausgefallen‘ klingt sehr schmeichelhaft. Erwartest du ernsthaft, dass er in den paar Tagen vor Weihnachten noch mal wiederkommt? Ich denke, der Zug ist abgefahren.“
Melli arbeitete nicht nur wie Carolina im Klinikum Sankt Vith, sie war auch ihre beste Freundin. Carolina und sie hatten oft über Sinzenich, Carolinas Einsatz und die mögliche Nachfolge gesprochen. Sie waren dabei immer wieder zu eben diesem Schluss gekommen. Sinzenich war raus und das führte dazu, dass Carolina vorerst für zwei arbeiten musste.
„Natürlich kommt er vorher noch mal wieder. Er wird doch nicht sang- und klanglos von der Bühne verschwinden. Dafür ist er viel zu lange in der Klinik beschäftigt gewesen.“
„Klar kommt er wieder. Zum Tschüss sagen.“ Verena schlug sich mit ihrer knappen Bemerkung eindeutig auf Mellis Seite.
„Ihr dürft nicht vergessen, dass er krank ist und dazu auch noch gern etwas von seinem Ruhestand genießen würde, bevor er abtritt. Ist doch klar, dass er mehr auf sich achten muss.“ Carolina nahm Oberarzt Sinzenich in Schutz. Sie übernahm die Aufgaben trotz aller Mühe gern. Sie stand so kurz vor der Beförderung und sie wollte sie auch. Der Zeitraum, in dem sie ihn nur vertreten durfte, war absehbar. Noch einen Monat und dann hatte sie es geschafft.
„Wenn du nicht bald mehr auf dich achtest, bist du noch vor Monatsende verhungert. Deine Klamotten sitzen verdächtig locker. Willst du noch schnell was essen?“ Melli schob ihre Tupperdose über den Tisch, in der zwei Vollkornbrote und ein paar Partytomaten lagen.
„Nein, danke.“ Carolina winkte mit erschöpftem Lächeln ab. „Im Moment reicht mir der hier vollkommen“, sie hob die Tasse leicht an, „und ich muss auch sofort wieder los. Irgendwer in diesem Haus muss ja arbeiten.“
„Hört, hört. Ist die Beeken etwa unzufrieden? Und ich dachte, sie wäre scharf auf den Job vom Sinzenich und könnte sich nichts Besseres vorstellen, als sich für alle hier von morgens bis abends den Arsch aufzureißen.“
Melli kicherte und stupste Verena mit dem Ellenbogen an, welche gleich darauf albern hinzufügte: „Wahrscheinlich steht sie auf den Alten und nicht auf seinen Job, so wie sie sich für ihn einsetzt.“
Melli, die sich die Brotdose wieder herangezogen und eine Tomate genommen hatte, ließ diese fallen, riss theatralisch die Augen auf und hielt sich die Hand vor den weitgeöffneten Mund. „Du meine Güte, meinst du etwa wirklich, die Beeken steht auf Sinzenich?! Aber, das wäre ja ein Skandal!“
Beide lehnten sich auf ihren Stühlen zurück, verschränkten demonstrativ die Arme und machten eine bedeutungsschwere Pause, in der sie Carolina von oben bis unten musterten.
„Was wohl seine Frau davon halten mag?“, wendete sich Verena dann wieder an Melli.
„Hoffentlich macht dieses Geheimnis nicht die Runde im Haus. Du weißt doch, wie hier getratscht wird.“ Für den letzten Satz hatte Melli sich mit dem Oberkörper zur offenen Tür gelehnt und ihn deutlich lauter gesprochen als nötig.
Nun gackerten beide amüsiert um die Wette. Carolina seufzte ebenfalls belustigt und zog nachsichtig die Augenbrauen über den Unfug der beiden Krankenschwestern hoch.
„Ihr seid zwei blöde Schnepfen“, erklärte sie dann lächelnd, als Verena und Melli mit Tränen in den Augen nach Luft schnappten. „Ich stehe nicht auf ihn und ich nehme ihn keineswegs in Schutz.“
„Aber?“ Melli wischte sich die Augenwinkel trocken und blickte Carolina neugierig an.
„Kein Aber.“ Carolina gab unter den neugierigen Blicken der beiden Frauen einen kräftigen Schuss Milch in ihren Kaffee. Nicht, weil sie das Getränk mit Milch lieber genoss, sondern um ihn abzukühlen. Dann stürzte sie den Inhalt der Tasse hinunter und stellte sie entschlossen ins Becken für den Abwasch.
„Wenn ich nachher vorbeikomme, spüle ich“, versprach sie, aber Verena winkte ab.
„Falls du später vorbeikommst, sind wir längst fertig. Geh du dich lieber mal um Sinzenichs Visite kümmern, Frau zukünftige Oberärztin.“
Abrupt hielt Carolina in ihrer Bewegung inne. „Weißt du etwa schon was, Verena?“ Sie sah die stämmige Blondine eindringlich an.
„Na ja, nichts Offizielles, nur das Übliche, das, was eh alle wissen. Sinzenich geht und Farbach erzählt, wie sehr du für die Nachfolge geeignet bist“, wehrte sie ab.
Carolina zögerte einige Sekunden. Im Grunde hätte sie bereits auf dem Weg zu Station Drei sein müssen, aber vielleicht wusste Verena noch mehr.
„Aber ich weiß was. Nämlich, dass du den guten Parkplatz los bist, noch bevor du ihn bekommen hast, wenn du dir hier weiter die Beine in den Bauch stehst und schwatzt“, brachte sich Melli belehrend ein und bewegte ihre Hände wedelnd vor ihrem Oberkörper. Gerade so, als wolle sie eine Schar Hühner vertreiben.
„Husch, husch.“
„Schon gut, du hast ja recht.“ Carolina gehorchte und verließ das Schwesternzimmer.
„Von nichts kommt nichts“, hörte sie ihre Freundin rufen, nachdem sie schon einige Meter den Flur entlanggegangen war, und drehte sich nochmals um.
„Ich bin ja schon unterwegs.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen verließ Carolina die Station und war kurz darauf wieder vollkommen in die Arbeit versunken.
An die Beförderung und die Albernheiten im Schwesternzimmer dachte Carolina erst wieder nach Dienstende, als sie durch die große Glastür der Sankt Josef Klinik hinaus in die kalte Dunkelheit schritt. Es war gerade erst vier, aber die Sonne hatte sich bereits hinter den Bergen verkrochen. Sie fröstelte.
Carolina mochte den Winter, die schneebedeckten Felder, die sich weit über die Berge der ostbelgischen Eifel erstreckten und von dunklen, dichten Wäldern begrenzt wurden. Sie liebte den Anblick, wenn sich dicke Schneeschichten auf den Ästen der Bäume sammelten. Jedes Mal, wenn die Wildtiere sich auf der großen Wiesenfläche hinter ihrem Wohnhaus einfanden, weil ihr Sohn Lucas Leckereien aus seinen Kastanien- und Eichelvorräten dort verteilt hatte, ging ihr das Herz auf. Der Siebenjährige hatte den ganzen Herbst über eifrig daran gearbeitet und genoss, wenn die Tiere des Waldes zu Besuch kamen.
Den kurzen Tagen konnte Carolina jedoch nichts abgewinnen. Sie schlugen ihr hin und wieder aufs Gemüt, sodass es sie immer viel Kraft kostete, dieser Schwermut nicht einfach nachzugeben, sondern aktiv und positiv gestimmt zu bleiben.
Ein kräftiger Wind wehte Carolina nun vor dem Klinikum entgegen und trieb den herabfallenden Schnee munter vor sich her. Die dicken Flocken stoben ihr auch ins Gesicht, sodass sie die Augen zusammenkniff und den Kopf zwischen die Schultern zog. Der dicke rote Strickschal bedeckte nun ihren Mund und die Nasenspitze. Die Hände stopfte sie trotz Handschuhen in die Manteltasche und setzte sich vorsichtig in Bewegung. Der neue Schnee knirschte mit jedem Schritt unter ihren Schuhen. Carolina warf einen beiläufigen Blick aus den schmalen Augen auf die klaffende Lücke zwischen den Fahrzeugen der Klinikleitung und denen der anderen leitenden Ärzte. Den freien Stellplatz von Oberarzt Dr. Sinzenich zierte eine dünne Schicht Neuschnee, gleichmäßig wie Zuckerguss. Carolina schnaufte, während sie gegen den Wind und die Schneeflocken anstapfte, immer weiter fort von der Klinik, zum Parkplatz für das normalsterbliche Krankenhauspersonal. Wenn sie wenigstens ausnahmsweise schon hier vorne parken dürfte. Aber nein. Der Parkplatz gehörte Sinzenich, auch wenn er ihn nicht brauchte und Carolina seine Arbeit übernahm. Er könne schließlich jederzeit kurzfristig im Krankenhaus erscheinen, hatte Farbach, der Direktor der Klinik festgestellt und Carolina auf die übrigen Plätze verwiesen, die nun auch keine Weltreise entfernt seien. Sie sah auch ein, dass er recht damit hatte und wusste, dass sie auf hohem Niveau jammerte. Angenehmer war ein Parkplatz vor der Haustür dennoch, vor allem jetzt, da sich der Eifeler Winter von seiner besonders ungemütlichen Seite zeigte.
Selbstredend wünschte Carolina ihrem betagten Kollegen schnelle Besserung, und dass er bald wieder zur Arbeit kommen könnte, und ebenfalls gönnte sie ihm nach so vielen gemeinsamen Arbeitsjahren einen würdigen Abschied in den Ruhestand. Immerhin war der alte Sinzenich ihr stärkster Fürsprecher gewesen, als es darum gegangen war, seine Nachfolge zu planen.
Vier Wochen lagen noch vor ihr. Am ersten Januar würde sie ihren Dienst als Oberärztin Dr. Carolina Beeken antreten. Die jüngste Oberärztin, die diese Klinik je gesehen hatte, und dieser Parkplatz vor der Haustür gehörte selbstredend zum schmückenden Beiwerk ihrer neuen Position. Wichtig war, dass es für Carolina auf der Karriereleiter endlich nach oben ging. Viel zu lang hatte sie sich von anderen Dingen oder Personen ablenken lassen.
Augenblicklich dachte sie an Olaf, den verheirateten Arzt aus Köln. Er hatte sie viel zu lange mit seinen Versprechungen hingehalten, ihr die wahre Liebe vorgegaukelt und dann das Herz gebrochen. Aber er sollte definitiv der Letzte gewesen sein, der sich so etwas mit ihr erlaubte. Carolina war nicht dumm. Das stellte sie an jedem einzelnen Tag bei der Arbeit in der Klinik unter Beweis. In Sachen Männer hatte sie bisher aber immer ein unglückliches Händchen bewiesen. Es war das Gesetz der Serie, hatte mit Phillip angefangen, sich fortgesetzt und mit Olaf geendet. Einer wie der andere hatte sie ausgenutzt und Carolina war klar geworden, dass sie etwas Grundlegendes an ihrem eigenen Verhalten ändern musste. Deshalb hatte sie vor knapp einem Jahr beschlossen, eben dieses unglückselige Händchen gänzlich von den Herren der Schöpfung zu lassen. Sie kam mit ihrem Sohn Lucas, Resultat einer dieser Begegnungen, bestens allein zurecht und er war es auch, der mit seiner Anwesenheit in ihrem Leben dafür sorgte, dass Carolina nicht verbittert darüber geworden war. Egal wie schief alles gelaufen war. Lucas würde sie um nichts in der Welt wieder hergeben. Allein die Vorstellung, ohne ihn zu sein, löste unerträgliche Qualen in ihr aus.
Nachdem sie diese rigorose Entscheidung erst einmal gefällt hatte, war es Carolina unerwartet leichtgefallen, die Suche nach dem Mann fürs Leben aufzugeben. Sie hatte von jetzt auf gleich eingesehen, dass es für sie einfach nicht den Richtigen gab und dass sie auch niemanden brauchte. Rückblickend erkannte sie, dass mit einer Beziehung am Hals die Heirat höchstwahrscheinlich der nächste Schritt gewesen wäre. Ganz bestimmt hätte es dann bald weitere Geschwister für Lucas gegeben und dann wäre möglicherweise die Wahl für Sinzenichs Nachfolge auf einen anderen gefallen.
Damals mit Olaf hätte sie noch Ja zu allem gesagt, aber jetzt … Ihr Herz hatte genug gelitten, genug Trennungsschmerz durchlebt. Offensichtlich war Carolina ein anderer Lebensweg bestimmt und so, wie es jetzt war, schien es perfekt. Sie hatte ein klares Ziel vor Augen und würde sich nicht mehr durch emotionale Achterbahnfahrten aus der Bahn werfen lassen.
Carolina stapfte vorbei an einem der geschmückten Tannenbäume, die den Eingang des Parkplatzes beleuchteten. Am anderen Ende der Freifläche, einsam unter einer dicken Schneedecke sah sie ihr kleines Auto. Nicht mehr lang, nur noch ein paar Wochen, dachte sie sich und kämpfte sich zielstrebig hinüber.
Natürlich musste sie ihre Freude über die Beförderung noch ein wenig im Zaum halten, immerhin war der Vertrag noch nicht unterschrieben, aber im Grunde konnte nichts mehr schiefgehen. Sie wusste von Farbach, dem Leiter der Klinik, dass es bisher nur eine einzige Bewerbung auf diese Stelle gegeben hatte. Dass es sich nur um ihre handeln konnte, war Carolina klar. Schließlich hatte sie die nach etwas Bedenkzeit eingereicht, und Rückendeckung aus dem gesamten Kollegium gab es für sie auch. Dass sie überhaupt ihre Unterlagen hatte einreichen müssen, eine reine Formalie, darauf hatte Farbach sie deutlich hingewiesen. Er bestand immer darauf, dass alles seinen organisatorischen und korrekten Gang nahm. Eine gewisse Nervosität darüber, dass er sich mit der offiziellen Verkündung ihrer neuen Stelle so lange Zeit ließ, konnte sie dennoch nicht abstreiten. Gewiss hing es mit Sinzenichs Abwesenheit zusammen. Es war nur fair zu warten, so lange Dr. Sinzenich unpässlich war. Nun denn, sie übernahm ja bereits zu aller Zufriedenheit dessen Aufgaben, auch wenn es hart war. Sie musste sich nur noch etwas in Geduld üben und ihre Gedanken auf andere Themen lenken. Von diesen anderen Themen gab es dann auch reichlich.
So durften Lucas und Carolina sich in diesem Jahr endlich auf die wohlverdienten gemeinsamen Weihnachtstage freuen. Das allererste Mal seit Lucas’ Geburt konnten sie die ganzen Feiertage bis einschließlich Silvester zusammen verbringen. Ein wohlwollendes Entgegenkommen von Farbach. Wenn sie erst einmal befördert war, rückten freie Feiertage wieder in weite Ferne. Außerdem wollte sich Carolina in diesem Jahr besonders für die Weihnachtsgeschenke ins Zeug legen. Nicht nur für Lucas, sondern für die ganze Familie. Die ewig arbeitende Frau Doktor konnte auch anders. Das wollte sie zeigen und hatte bereits im September damit begonnen, Ausschau zu halten, und eine detaillierte Liste angefertigt. Sie musste nur noch gezielt einkaufen und hatte so den Geschenkestress abgewehrt.
Beim Auto angelangt wischte sie großzügig mit dem Ärmel über die Fahrertür und die Frontscheibe. Sobald der Wagen wenigstens partiell vom Schnee befreit war, klopfte sie Mantel und Handschuhe ab. Um die Tür zu öffnen, musste sie kräftig ziehen, da das Dichtungsgummi zwischen Rahmen und Tür festgefroren war. Dann endlich nahm sie im geschützten Innenraum Platz, schlug die Tür hinter sich zu und zog die Handschuhe aus. Sofort verteilte sich ihre Atemluft im Wageninneren und ließ die Scheiben von innen beschlagen. Mit wenigen Handgriffen hatte Carolina den Motor gestartet, die Lüftung, Front- und Heckscheibenheizung auf Maximum gestellt und wartete auf klare Sicht. Fröstelnd rieb sie die Hände aneinander und lauschte den Klängen des Radios, die sich durch das Rauschen des Gebläses kämpften. In die letzten Takte des Titels quatschte die Moderatorin hinein.
„… und das war der neue Weihnachtshit von Phil Damians. Toller Song, Emotionen, weihnachtliche Romantik und rockige Klänge. Was will man mehr? Da komme ich zumindest in richtige Feiertagsstimmung und stelle mir vor, wie ich mit meinem Liebsten unter dem Christbaum sitze. Feiert ihr mit eurem Schatz? Mail ins Studio, ich freue mich auf eure Nachrichten.“
Es folgte Musik und Carolina gab sich Mühe, den Stich in ihrem Herzen zu ignorieren.
Sobald die Scheibenwischer den verbliebenen Schnee beiseitegeschoben hatten, setzte Carolina langsam zurück und machte sich auf den Weg nach Weidingen. Dort wohnte sie nicht nur auf dem Gutshof ihres Vaters, sondern im Ortskern betrieben ihre Stiefmutter Irina und ihr „Fastschwager“ Nick seit letztem Jahr das Weidinger Caféhaus. Lucas verbrachte oft die Nachmittage dort und sie holte ihn abends nach der Arbeit ab.
Seit Irina und Nick, der Freund ihrer Schwester, am Jahresanfang aus der Bäckerei Mertens das Weidinger Caféhaus gemacht hatten und es nun gemeinsam betrieben, kam Carolina in den Genuss dieser luxuriösen Betreuung für ihren Sohn. Irina hatte in den Jahren zuvor viel Zeit auf dem Gut verbracht und oft Lucas’ Betreuung übernommen, wenn es für Carolina mal wieder eng geworden war. Auch wenn Carolina lange mit der neuen Frau an der Seite ihres Vaters gehadert hatte, hatte sie diese Hilfe angenommen. Andernfalls wäre sie nicht durchs Studium gekommen und könnte nicht wie gewohnt arbeiten. Irina war viel jünger als Carolinas leibliche Mutter und verstand sich ausgezeichnet mit Lucas. Es war trotz aller Vorbehalte, die Carolina gegen Irina von Anbeginn hegte, eine Win-Win-Situation. Mit der Rückkehr von Carolinas Schwester Natalie nach Weidingen entspannte sich die familiäre Situation im Hause Beeken etwas. Allmählich näherten sich die Frauen an. Nach der Eröffnung des Caféhauses hatte Irina sogar angeboten, sich nachmittags auch weiter um Lucas zu kümmern. Der Schulbus hielt nur wenige Gehminuten vom Caféhaus entfernt an der einzigen Haltestelle in Weidingen. So war alles recht einfach geregelt. Lucas bekam bei Irina ein warmes Mittagessen, durfte seine Hausaufgaben im Büro erledigen, wobei immer jemand zur Verfügung stand, der einen prüfenden Blick darauf warf. Wenn es das Wetter zuließ, ging er anschließend auf den in Sichtweite gelegenen Spielplatz und traf sich mit seinen Freunden. Sogar zu seinem geliebten Tischtennistraining konnte der Siebenjährige selbstständig gehen.
Es war ein Traum für Carolina und für Lucas. Wenn die Arbeitszeit so lag wie in dieser Woche, konnten sie die Abende miteinander verbringen. Im Moment spielten sie mit Vorliebe gemeinsam Schach, wobei ihre Motivation unterschiedlicher Natur war. Lucas spielte, weil eine Partie durchaus lange dauern konnte und er somit die Bettgehzeit enorm hinauszögern konnte. Carolina erfreute sich daran, dass er sich in Taktik und Strategie übte.
Noch knapp hundert Meter entfernt von ihrem Ziel lenkte sie den Wagen an den Straßenrand, denn Parkplätze vor dem Eingang des Caféhauses waren rar. Die Gäste kamen von nah und fern, um sich die Weidinger Köstlichkeiten schmecken zu lassen oder sie als Geschenk mit nach Hause zu nehmen.
Zu beiden Seiten der Durchfahrtsstraße hatte das Räumfahrzeug die Schneemassen aufgetürmt. Solche Mengen wie in diesem Jahr hatte es lange nicht mehr gegeben. Die weihnachtliche Dekoration in den Fenstern der umliegenden Häuser und die leuchtenden Girlanden über der Straße versetzten das kleine von Fachwerkbauten geprägte Eifeldorf in eine festliche Stimmung. Das Weidinger Caféhaus bildete in diesem Jahr den hell erleuchteten Mittelpunkt. Nick hatte sich anständig ins Zeug gelegt und für eine ansprechende Dekoration gesorgt. Vor dem Eingang stand eine prächtig geschmückte Tanne, das schneebedeckte Dach und die Fenster wurden von warmweißen Lichterketten beleuchtet. Tannenzweige und rote Schleifen rundeten das Bild ab.
Irina, die unangefochtene Dekorationskönigin Weidingens, gestaltete den Innenraum des Caféhauses zu jeder Jahreszeit mit Herzblut und sorgte dafür, dass die Gäste sich wohlfühlten. Die Adventszeit bildete auch für sie immer den festlichen Höhepunkt des Jahres und so gaben die großen Fenster den Blick in ein so festlich geschmücktes Inneres frei, dass wirklich jedem warm ums Herz werden musste.
Carolina konnte den Besuchen im Caféhaus und auch den Gesprächen mit ihrer Stiefmutter mehr und mehr abgewinnen. Der mühsam in ihr aufrecht erhaltene Gegenwind ließ langsam nach. Als sie nun eintrat, wurde sie von warmer, nach Gebäck duftender Luft und weihnachtlichen Klängen begrüßt. An den festlich dekorierten Tischen entdeckte Carolina fremde und einheimische Gesichter. Sie zog Schal und Mantel aus, legte beides über den Arm und bahnte sich ihren Weg, vorbei an der langen Schlange vor der Verkaufstheke, in den hinteren Bereich. Durch die schwere Holztür betrat sie den privaten Bereich der Räumlichkeiten. Hier hatten Irina, Nick und dessen Mutter Martina nicht nur die Backstube und ein großes Büro, sondern auch einen schönen Aufenthaltsraum für sich und das Personal eingerichtet. Ohne zusätzliche Unterstützung waren die drei schon bald nach der Eröffnung nicht mehr ausgekommen. Sie waren erfolgreich gestartet und konnten sich über mangelnden Zuspruch nicht beklagen.
„Mama!“, wurde sie augenblicklich von Lucas begrüßt, der auf dem Boden saß und mit Pinsel und Farbe eine Gipsfigur bemalte, während Irina an ihrem Schreibtisch saß und Bestellungen bearbeitete.
„Hallo, mein Schatz!“ Carolina hockte sich daneben und schloss ihr Kind fest in die Arme. „Wie läuft es hier? Alles in Ordnung?“
„Ja, klar. Schau mal, ich helfe Oma bei der Dekoration.“ Stolz präsentierte er sein halb fertiges Kunstwerk.
„Oh, wie schön!“, bestaunte Carolina seine Arbeit. Dann endlich drehte sie sich zu Irina um und flüsterte ihr ein aufrichtiges „Danke“ zu.
„Darf ich es noch zu Ende machen?“, bat Lucas, und nachdem sie wortlos Irinas Zustimmung erhalten hatte, willigte Carolina ein. Sie war ihr sehr dankbar für ihre Unterstützung, wollte diese Hilfsbereitschaft aber nicht über Gebühr strapazieren.
„Also gut, dann mache ich mich aber nützlich und koche einen Tee für uns beide.“ Entschlossen nahm sie Irinas benutzte Teetasse vom Tisch und ging damit in den Aufenthaltsraum nebenan. Irina, die ihre Tees selbst trocknete und mischte, hatte sich dort einen ansehnlichen Vorrat zugelegt. Aus den vielen Dosen auf dem Regal suchte Carolina die mit der Beschriftung „Wintertee“ heraus und setzte Wasser auf. Wenige Minuten später kehrte sie mit zwei wohlduftenden, dampfenden Tassen zurück.
„Der Laden brummt mit jedem Tag mehr. Noch nicht einmal ein Jahr habt ihr auf und seid bis weit hinter Sankt Vith bekannt. Meinen herzlichen Glückwunsch.“
„Ja, das hätten wir uns wirklich nicht träumen lassen. Also gehofft ja, aber dass uns der Erfolg so überrennt, ist schon unglaublich.“ Irina lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, atmete tief durch und setzte ihre Lesebrille ab.
„Du, wenn es dir zu viel wird, mit Lucas meine ich …“, begann Carolina, wurde aber sofort unterbrochen.
„Nichts ist mir zu viel. Mich zu kümmern, ist eine willkommene Abwechslung zwischen all dem anderen hier und ich verbringe so gern Zeit mit ihm.“
„Aber falls es doch zu viel wird, sagst du mir bitte Bescheid, okay?“
„Darüber zerbrich dir mal nicht dein kluges Köpfchen, Frau Oberärztin. Dann stellen wir noch jemanden ein. Außerdem flaut das Geschäft mit Sicherheit nach den Feiertagen etwas ab.“
„Noch bin ich keine Oberärztin“, warf Carolina ein, sprach aber nicht weiter, weil die Tür zum Büro polternd geöffnet wurde. Nick, der Freund ihrer jüngeren Schwester Natalie, trat ein.
„Hi, Caro“, grüßte er eilig und wendete sich dann an Irina. „Franz und ich wollen morgen Vormittag den Baum fürs Adventssingen schlagen. Kannst du mich für zwei bis drei Stunden entbehren?“
„Ja, ja, das wird schon. Fahrt ihr ruhig. Das wäre noch schöner, wenn wir über unser Geschäft die Tradition zu Hause vernachlässigen würden.“
„Kann ich mitkommen?“, bat Lucas, der bereits sein Kunstwerk vollendet hatte und dabei war, die Farbe zurück in die Kiste zu stellen.
„Morgen ist doch Schule“, warf Carolina kopfschüttelnd ein und erntete einen enttäuschten Blick.
„Wir fällen ihn morgen nur. Das Aufstellen und Schmücken heben wir uns für das Wochenende auf. Da kannst du mit Sicherheit helfen.“
„Jaaa!“ Lucas riss begeistert beide Hände nach oben.
„Gut, dann sage ich Franz zu und wir sehen uns.“ Er zeigte mit dem Finger auf Lucas und grinste. Dann verabschiedete Nick sich mit einem freundlichen Nicken und verließ das Büro so schnell, wie er eingetreten war.
„Wir fahren jetzt auch. Danke für deine Unterstützung, und wenn du etwas brauchst, dann gib mir bitte unbedingt Bescheid.“ Carolina nahm Lucas’ Jacke vom Garderobenhaken.
„Jetzt, wo du es erwähnst …“ Irina zog einen Stapel Briefe hervor und sah mit einem besorgt abwägenden Blick auf ihre Armbanduhr. „Die sollten noch vor sechs zur Post. Meinst du, du kriegst das hin?“
„Klar, kein Problem“, erklärte sie sich bereit, froh mit einer kleinen Gegenleistung aushelfen zu können.
„Und die hier auch. Bitte kosten und bewerten. Zimtsterne mit geheimer Zutat, die ich gern beim Adventssingen anbieten möchte.“ Sie reichte Carolina eine Tüte mit Plätzchen hinüber.
„Zimtsterne? Wie kommt’s? Hast du etwa keine Lust mehr auf Pralinen?“
„Doch, doch, aber hin und wieder ist mir nach Veränderungen. Pralinen gibt es trotzdem. Keine Sorge. Die Antwortkarte ist wie gewohnt in der Tüte drin, sag mir am Wochenende Bescheid, wie sie schmecken.“
„Klar, mach ich“, erwiderte Carolina und wickelte sich wieder in ihren Schal. „Hopp, Lucas, anziehen und Ranzen nicht vergessen. Wir fahren noch mal nach Sankt Vith, zur Post.“
Es hatte aufgehört zu schneien, die Landstraße war geräumt und sie kamen Viertel vor sechs beim Postamt an.
„Du bleibst hier, ich springe kurz rein“, ordnete Carolina an, nachdem sie in zweiter Reihe gehalten und die Warnblinkleuchten eingeschaltet hatte.
„Hier darf man nicht parken“, protestierte Lucas berechtigterweise, fand aber kein Gehör.
„Du siehst, die Post ist leer, ich gebe nur die Briefe ab und bin in unter drei Minuten wieder da. Das nennt man nicht Parken, sondern Halten.“ Carolina zwinkerte ihm verschwörerisch zu, stieg aus dem Auto und stapfte zielstrebig zum Schalter. Innerhalb weniger Minuten war sie zurück und erklärte: „Siehst du, nichts passiert und jetzt schnell ab nach Hause.“
In der Weidinger Ortsdurchfahrt vor der Pension Janssen blockierte ein schwarzes Fahrzeug mit deutschem Kennzeichen die Straße. Es blinkte rechts und war, so gut es ging, am Straßenrand abgestellt, aber die Schneemassen in der engen Straße erlaubten es Carolina an dieser Stelle nicht, daran vorbeizufahren. Also wartete sie geduldig und starrte auf das Heck des Wagens. In Gedanken war sie bereits dabei, die Waschmaschine anzustellen.
„Mama, wofür steht D auf dem Auto?“, fragte Lucas unvermittelt in die Stille.
„Deutschland, das weißt du doch.“
„Ja, das weiß ich, ich meine das andere D“, fragte Lucas unbeirrt weiter.
Carolina betrachtete das verschmutzte Nummernschild des Fahrzeugs. „Ach, DAS. Das steht für Düsseldorf.“
„Ist das weit weg?“
„Geht so, zwei Stunden mit dem Auto musst du schon einplanen.“
„Können wir da mal hinfahren?“
Carolina warf ihrem Sohn einen ungläubigen Blick zu und kräuselte die Lippen.
„Es gibt zwar schönere Ziele, aber von mir aus, wenn uns einfällt, was wir dort anstellen sollen, können wir uns das fürs nächste Jahr vornehmen.“
„Okay.“ Lucas nickte zufrieden und schwieg. Scheinbar war nun alles, was ihn beschäftigte, besprochen.
Carolina trommelte mittlerweile ungeduldig mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. Sie standen jetzt schon sechs Minuten und warteten. Da sie selbst es zuvor nicht besser gehalten hatte, wollte sie aber ungern hineingehen und nach dem Halter des Fahrzeugs fragen. Die Straße war menschenleer, wie ausgestorben, ungewöhnlich. Unschlüssig starrte sie auf die Tür der Pension, dann kramte sie die Tüte mit Irinas Keksen aus der Handtasche.
„Hier“, sie hielt Lucas die geöffnete Tüte hin. „Oma sagt, dass wir kosten sollen. Es ist eine Geheimzutat drin. Vielleicht kriegen wir raus, was es ist.“
In der Tat waren die Zimtsterne köstlich, doch so sehr sich Carolina auch bemühte, die geheime Zutat schmeckte sie nicht heraus.
„Endlich“, entfuhr es ihr, als die Eingangstür zur Pension geöffnet wurde und ein Mann ohne Jacke auf den Gehweg trat. Den Kopf eingezogen und die Arme vor der Brust verschränkt, bahnte er sich seinen Weg zum Auto. Als er durch die Lücke zwischen den beiden Autos schritt, wendete er Carolina das verfrorene Gesicht zu. Im Scheinwerferlicht ihres Autos hob er für einen Moment entschuldigend den Arm.
„Ja, ja, kein Problem.“ Carolina hob ebenfalls die Hand und sprach leise vor sich hin. Die Gegend lebte nun mal vom Tourismus und der Typ war so was von Touri, dass Verständnis angesagt war.
„Nur im Hemd.“ Sie schüttelte missbilligend den Kopf. „Eben noch im Schnee und morgen mit Lungenentzündung im Krankenhaus.“
Langsam setzte sich das Auto in Bewegung. Bis zur nächsten Kreuzung folgte sie mit etwas Abstand, dann bog der Fremde ab und der Weg nach Hause war frei. Begleitet von weihnachtlichen Klängen aus dem Radio lenkte sie ihr Auto die gewundene Landstraße durch die Dunkelheit. Der Lichtkegel ihres Scheinwerfers erhellte die verschneiten Felder, die das etwas außerhalb liegende Gut Beeken, das Zuhause ihrer Familie, umgaben.
2 – Ein Buffet für die Weihnachtsfeier
Gut Beeken, das waren verschiedene Ländereien und ein Waldstück rund um das ostbelgische Dorf Weidingen. Franz Beeken hatte diese früher noch selbst bewirtschaftet, aber nach und nach seine Aufgaben abgegeben. Nun waren die Flächen größtenteils an die Bauern in der Umgebung für deren Viehzucht verpachtet und die prächtigen Rinder verschiedener Rassen boten einen eindrucksvollen Anblick.
Inmitten der Felder, außerhalb des Ortskerns, auf einer Anhöhe gelegen, befand sich, eingefasst von einer massiven Mauer, das imposante, kastenförmige Wohnhaus. Mehrere Generationen der Familie Beeken hatten bereits hier gewohnt. Familiäre Zerwürfnisse hatte es immer wieder gegeben, zuletzt als Carolinas Mutter die Familie für eine neue verließ. Aktuell lebten Franz Beeken, Carolinas Vater, und seine zweite Frau Irina auf dem Anwesen. Außerdem Carolina selbst mit ihrem Sohn Lucas. Franz hatte das Haus extra umbauen lassen, als Carolina mit Lucas schwanger gewesen war. Es war eine schwere Zeit gewesen.
Von ihrer Beziehung zu Phillip, Lucas’ Vater, hatte sie zuvor niemandem erzählt.
Der Schmerz über die Trennung ihrer Eltern saß tief, auch das Natalie, ihre jüngere Schwester, mit der Mutter nach Köln gezogen war, hatte Carolinas Vertrauen in die Familie erschüttert. Dass sie selbst dann von dem Mann, dem sie ihre Zuneigung geschenkt hatte, so schrecklich verraten worden war, hatte ihr zu schaffen gemacht.
Nachdem sie Phillip von der Schwangerschaft erzählt hatte, war er nicht auf sie zugegangen, hatte sie nicht in den Arm genommen und versichert, dass sie das schon gemeinsam schaffen würden. Nein, er hatte Carolinas Nachricht nur als Taktik bewertet, mit der sie ihn an sich binden wollte. Diese Ablehnung hatte Carolina damals so furchtbar getroffen, dass sie den Entschluss gefasst hatte, Lucas allein zu bekommen und ohne Phillip großzuziehen. Wenn der Vater sich aus der Verantwortung zog, dann würde es einfach keinen Vater geben. Sie würde sich mit aller Kraft um das kleine Wesen in ihrem Bauch bemühen, es versorgen und großziehen. Die Vaterschaft hatte Phillip abgelehnt, damit war er für sie von der Bildfläche verschwunden.
Von damals bis heute hatte sie niemandem preisgegeben, wer denn Lucas’ Vater war. Das hatte anfangs für ordentlich Klatsch im Dorf gesorgt. Mittlerweile hatten sich die Menschen daran gewöhnt. Sie erntete ab und zu teils mitleidige, teils bewundernde Blicke, denn sie arbeitete hart im Krankenhaus und kümmerte sich um ihren Sohn. Im Grunde galt ihre Situation mittlerweile als akzeptiert.
Franz Beeken war damals ebenso betrübt darüber gewesen wie seine neue Frau Irina, dass Carolina partout nicht mit der Wahrheit rausrücken wollte, aber er hatte ihren Wunsch respektiert. Trotzdem hatten sie sich beide sehr um Carolina gesorgt. Das Studium hatte sie bereits abgeschlossen, hätte beruflich durchstarten sollen, aber in Brüssel wollte sie nicht mehr bleiben. Alles schien für Carolina mit einem Mal sinnlos und hoffnungslos geworden. Sie hatte den Halt verloren. So hatte Franz sie gebeten, wieder nach Hause zurückzukehren.
Während Carolina ihre neue Situation verarbeitet und sich um eine Stelle in der Klinik bemüht hatte, war Franz auf Gut Beeken aktiv geworden. Er hatte einen Teil des Hauses in Rekordzeit baulich abtrennen und umbauen lassen. Zunächst hatte sie im Kinderzimmer, das mittlerweile zum Gästezimmer bei Irina und Franz geworden war, wohnen müssen. Aber kurz vor der Geburt waren die nötigsten Arbeiten vollendet worden. Seither bewohnten sie und Lucas eine Dreizimmerwohnung im ersten Stock. Über eine Metalltreppe, die seitlich am Haus angebaut war, konnten sie die Wohnung ungestört betreten und verlassen.
In dieser Zeit war das Verhältnis zwischen Carolina und ihrer Stiefmutter noch recht distanziert gewesen. Aber Irina, die fast zwanzig Jahre jünger war als Franz und selbst keine Kinder hatte, war immer in der Nähe und bereit gewesen, zu helfen. Nun war Lucas bereits sieben Jahre alt und besuchte die Schule in Sankt Vith. Die Zeiten hatten sich geändert. Carolinas Leben spielte sich nun hier ab, auf Gut Beeken mit ihrem Kind.
Nachdem sogar Carolinas Schwester Natalie im letzten Jahr nach Weidingen zurückgekehrt war und dort mit ihrer Jugendliebe Nick wohnte, war ein Großteil der Familie Beeken endlich wieder zusammen.
Carolina und Lucas waren ein eingeschworenes Team. Hatte sie noch bis vor einem Jahr verzweifelt versucht, den Mann fürs Leben und einen guten Vater für ihn zu finden, so war sie jetzt darüber hinweg. An der letzten Enttäuschung mit Olaf hatte sie lange zu knabbern gehabt. Den Himmel auf Erden hatte er ihr versprochen und sie hatte ihm geglaubt. Jede Fortbildung hatte Carolina genutzt, um Zeit mit Olaf zu verbringen, ihn für sich zu gewinnen. Doch als es darauf ankam, zählten Olafs Versprechen nicht mehr. Nach der letzten Fortbildung, immerhin eine zweiwöchige Tagung auf einem Luxusschiff, hatte er Carolina abserviert. Kurz vor dem Weihnachtsfest im letzten Jahr war es gewesen. Sie hatte es nicht verstehen können und der Verlust schmerzte sie sehr. So hatte sie sich das Fest der Liebe damals nicht vorgestellt. Aber Natalie war nach langer Zeit wieder dabei gewesen und so ließ sich in jedem Übel auch etwas Positives, Neues finden.
Nach einer angemessenen Phase des Liebeskummers hatte sich Carolina wie wild in die Arbeit gestürzt und sich gegen viele andere Ärzte behauptet. Sie hatte sich sehr darüber gefreut, als die Wahl für die Stelle der neuen Oberärztin auf sie gefallen war, obwohl sie insgeheim wusste, wie hart sie dafür geschuftet und wie sehr sie diesen Job verdient hatte.
Sie holte ihre Gedanken aus der Vergangenheit, als sie den großen steinernen Torbogen, die Einfahrt zum Gutshof, passierte, und stellte den Wagen im Hof ab. Zur linken Seite erstrahlte die Scheune in wunderbarem weißgoldenen, weihnachtlichen Glanz. Übers Jahr diente die Scheune Irina als Werkstatt, in der sie allerhand handwerkliche Dinge herstellte. Sie hatte ein Händchen und eine Freude daran, kunstvolle Gegenstände und Dekorationsartikel herzustellen. Früher hatte sie noch öfter in der Scheune gearbeitet und in einem kleinen Bastelgeschäft im Dorf ihre Waren verkauft. Doch seit sie in die Bäckerei von Nick und Martina eingestiegen war, die mittlerweile zum angesagtesten Caféhaus der Gegend avanciert war, kam sie nicht mehr so häufig dazu. Trotzdem stellte sie noch genug her, um in dem kleinen Souvenirshop des Cafés ihre Kreationen zu verkaufen.
Auf die Tradition des Adventssingens, die Irina und Franz nach der Heirat ins Leben gerufen hatten, um mit etwas Gemeinsamen auf diesem Hof zu starten, wollten sie aber trotz der vielen Arbeit nicht verzichten. Nur noch wenige Tage lagen zwischen heute und dem Samstag vor dem zweiten Advent, dem Tag, an dem sich das halbe Dorf hier oben auf dem Gut einfand. Das Adventssingen glich einem riesigen Familientreffen, zu dem Freunde und Bekannte eingeladen waren.
Wie jedes Jahr verbreiteten die warmweißen Lichterketten ein besinnliches, heimeliges Weihnachtsgefühl auf dem Hof. Augenblicklich wurde auch Carolina warm ums Herz. Die Gedanken an die Vergangenheit und den täglichen Stress auf der Arbeit verflüchtigten sich und sie fand sich lächelnd im Hier und Jetzt wieder. Hier im Auto mit ihrem Sohn Lucas.
„Na los, Großer, raus mit dir“, forderte Carolina ihn auf, als sie den Motor ausgeschaltet hatte. Eilig öffnete Lucas die Tür und stob davon. Sie hätte es ihm nicht sagen müssen. Während ihr Sohn noch eine letzte Runde durch den Schnee tobte, stieg Carolina aus, legte die Schutzfolie auf die Frontscheibe des Autos und genoss die friedliche Stille. Sie sog die kalte, saubere Winterluft ein, reckte ihr Gesicht dem rabenschwarzen Himmel entgegen und ließ die feinen Schneeflocken auf ihren Wangen landen, wo sie wenig später schmolzen. Dieses Weihnachtsfest würde auch für Carolina den sehnsüchtig erwarteten und herrlich entspannten, festlichen Abschluss eines anstrengenden Jahres bilden. Keine Krankenhausschichten, viel Zeit mit Lucas und dem Rest des Beeken-Klans, Adventssingen, Spaziergänge im Schnee und im neuen Jahr würde sie als Oberärztin ins Krankenhaus zurückkehren. Sie genoss die friedliche Stille und war in diesem Augenblick so glücklich und sorgenfrei wie lange nicht mehr.
„Komm, wir gehen rein!“
Sie beugte sich hinab, formte einen Schneeball und warf ihn in Lucas’ Richtung.
„Nicht getroffen!“, rief dieser belustigt zurück und revanchierte sich mit einem gutplatzierten Wurf auf Carolinas Rücken. Sie lachten und stiegen die Treppe zur Wohnung hinauf.
Dieses wunderbare Gefühl der Zuversicht begleitete Carolina auch noch am nächsten Morgen. Auf dem Weg ins Krankenhaus setzte sie Lucas wie immer an der Bushaltestelle ab, wo er noch ausreichend Zeit hatte, sich mit den anderen Kindern auszutauschen. Der Bus fuhr etwas später ebenfalls nach Sankt Vith, aber Mutter und Sohn fuhren bewusst getrennt. Würde Lucas mit Carolina gemeinsam fahren, so fehlte ihm der morgendliche Austausch mit den Mitschülern, und dank der Extra-Runde zur Schule wäre Carolina jeden Morgen gestresst und spät dran. So hatte sie Lucas zum Abschied gewunken, den Thermokaffeebecher gezückt und fuhr nun tiefenentspannt zur Arbeit. Die Morgensonne tauchte den Himmel und die hügelige verschneite Landschaft in ein herzerwärmendes Orange. Die ersten Strahlen durchbrachen den Winterhimmel und verliehen dem Tagesanbruch einen herrschaftlichen Glanz. Zwischen vorsichtigen Schlucken aus dem Kaffeebecher, das Getränk war noch sehr heiß, sang sie gut gelaunt, doch wenig textsicher die Radiosongs mit. Sie fuhr aufs Klinikgelände, parkte das Fahrzeug und lief beschwingt zum Haupteingang des Krankenhauses.
„Guten Morgen“, trällerte Carolina in Richtung des Glaskastens am Empfang und winkte im Vorbeigehen.
Die junge Frau, die seit Kurzem dort arbeitete, schien etwas schüchtern. Carolina hatte bisher nicht viel mit ihr gesprochen, aber die überdimensionale karminrote runde Brille hatte sich ihr ins Gedächtnis gegraben. Als sie bereits den Fahrstuhl erreicht hatte, ertönte plötzlich eine piepsige, dünne Stimme hinter ihr.
„Warten Sie, warten Sie bitte! Frau Doktor Beeken?“
Carolina drehte sich um und die junge Frau, die eben noch am Empfang gesessen hatte, stand hinter ihr. Sie hielt einen zusammengefalteten Zettel in der Hand, dessen Falz sie mit den Fingerspitzen der anderen Hand nervös nachfuhr.
„Guten Morgen! Was gibt es denn?“ Mit verwundertem Blick musterte Carolina die junge Frau, die kaum größer als eineinhalb Meter maß. Der Zettel erregte ihre Aufmerksamkeit und sie musste sich Mühe geben, die Frau anzusehen, während diese ihr Anliegen mit schwachem Stimmchen vortrug.
„Es gab verschiedene Anrufe für Sie. Keiner der Herren wollte eine Nachricht hinterlassen, sondern sich später noch mal melden, aber ich habe es trotzdem für Sie aufgeschrieben, weil es mir so komisch vorkam. Hier!“ Sie reichte Carolina zaghaft den Zettel und schien ihre Reaktion abzuwarten.
„Ich danke Ihnen sehr“, erwiderte Carolina lächelnd. Ihr Blick streifte das Namensschild der Frau, dann faltete sie neugierig das Blatt Papier auseinander. Vier Namen standen darauf. Ungläubig las sie jeden einzelnen, in ihrem Blick fanden sich unzählige Fragezeichen.
„Verstehe ich das richtig, Bettina? Die Anrufer haben sich mit diesen Namen bei Ihnen gemeldet und wollten alle mit mir sprechen?“
Bettina zog verunsichert die Schultern hoch und schob sich die große Brille auf der Nase zurecht. „Merkwürdig, nicht? Hätte ich es lieber dabei belassen sollen?“
„In der Tat ist das merkwürdig. Aber Sie haben schon alles richtig gemacht. Lassen Sie sich mal davon nicht die Laune verhageln. Da erlaubt sich bestimmt nur jemand einen blöden Scherz mit mir. Vielleicht sogar einer meiner Ärztekollegen.“
„Okay.“ Bettina hob scheu die Hand und begab sich wieder an ihren Arbeitsplatz. Keinen Augenblick zu spät, denn gerade betraten zwei Frauen das Gebäude und hielten auf den Empfang zu.
Carolina steckte den Zettel kopfschüttelnd in die Manteltasche und drückte den Knopf für den Lift. Im Fahrstuhl zog sie das Papier noch einmal hervor und las sich die angeblichen Namen der Anrufer durch.
David Bowie, Freddy Mercury, Kurt Cobain, Chester Bennington. Seltsam. Hatte sich das Kollegium im Krankenhaus etwa gedacht, sie in den letzten Tagen noch aufs Korn nehmen zu können? Sie schüttelte belustigt den Kopf und entschied, auf jeden Fall, achtsam und gewappnet für irgendwelche Scherze zu sein.
Sobald Carolina auf der Station ankam, brach der tägliche Trubel über sie herein. Im Handumdrehen war sie in ihre Arbeitshose geschlüpft und hatte sich den Kasack übergezogen. Wenig später war der Zettel, den sie eilig in die Tasche gesteckt hatte, bereits wieder in Vergessenheit geraten. Erst als sie sich zu einer kurzen Pause auf Station bei Melli und Verena einfand, fiel er ihr wieder in die Hände.
„Na, steckt ihr zwei etwa dahinter?“, fragte Carolina geradeheraus und zeigte den beiden die Liste mit den Namen. Doch sie erntete nur verständnislose Blicke.
„Was ist denn mit denen?“ Verena rümpfte die Nase.
„Heute früh haben diese Männer angeblich versucht, mich über die Krankenhausnummer anzurufen.“ Sie zog forschend die Augenbrauen hoch. Die erwarteten Lämpchen der Erkenntnis über den Köpfen beider Frauen blieben leider aus. Die beiden waren entweder wunderbare Schauspielerinnen oder hatten wirklich keine Ahnung.
„Sagen euch die Namen der Männer auf dieser Liste wirklich nichts?“
„Entschuldige, sind das irgendwelche Kerle, mit denen du mal was hattest?“ Melli beugte sich nach vorn und flüsterte, als gelte es ein Geheimnis zu bewahren. Carolinas Augen wurden vor überraschter Verwunderung beinahe untertassengroß.
„Ist das euer Ernst? Wollt ihr beide tatsächlich behaupten, dass ihr nicht wisst, um wen es hier geht?“
Melli und Verena zuckten synchron mit den Schultern, um ihrer Ahnungslosigkeit Ausdruck zu verleihen.
„Also ehrlich, Mensch! Das alles sind Musiker! Queen, Linkin Park, Nirvana …“
„Und mit denen hattest du was?“ Verenas Stimme verirrte sich augenblicklich in die nächsthöhere Oktave.
„Quatsch!“ Melli schnappte sich mit einer schnellen Handbewegung den Zettel und las die Namen aufmerksam. „Jetzt, wo du es sagst. Von David Bowie habe ich schon mal gehört. Ist der nicht schon tot?“
Carolina rang verzweifelt mit den Armen und zupfte den Zettel aus Mellis Händen. Sie wusste nicht, ob sie amüsiert oder geschockt sein sollte.
„Ja, ihr zwei! Die sind ALLE schon tot!“
„Wie können die dich dann anrufen?“ Verena runzelte die Stirn und wendete sich ab, als wäre sie diejenige, die verladen werden sollte und keine Lust mehr darauf hatte.
„Anders gefragt: Warum ruft dich jemand in ihrem Namen an?“ Melli zupfte den Zettel wieder zurück und begutachtete ihn nochmals aufmerksam.
„Das ist die große Frage“, hielt Carolina fest. „Ich vermute, dass mir jemand im Krankenhaus einen Streich spielt. Euch zwei hatte ich zuerst in Verdacht. Aber wenn ihr es nicht seid, dann wird wohl jemand anderes dahinterstecken. Seid so lieb und haltet die Ohren für mich offen, okay?“ Mit einer schnellen Bewegung angelte sie die Liste wieder aus Mellis Fingern und ließ den Zettel in ihrer Brusttasche verschwinden.
„Machen wir, kein Problem.“ Verena hatte sich wieder gefangen. „Aber wenn du mich fragst, war das keiner von hier.“
„Wie kommst du darauf?“, wollte Melli wissen.
„Weil die alle viel zu spießig und langweilig sind, also bis auf uns beide, aber wir waren es ja nicht.“
Carolina musterte Verena und versuchte, irgendetwas in ihrem Gesicht zu finden, das sie oder Melli doch noch entlarvte. Aber vergebens.
„Apropos spießig“, wechselte Verena augenblicklich das Thema. „Wisst ihr eigentlich schon, was ihr zur Weihnachtsfeier anziehen werdet?“ Sie hatte die Hände in die Seitentaschen ihres weinroten Kasacks gesteckt und balancierte auf den Außenristen. Eine Unart, die ihren Füßen früher oder später zum Verhängnis werden würde, wie Carolina fand, aber hier stieß sie immer wieder auf taube Ohren.
„Mein Outfit ist schon klar und eines kann ich euch verraten, es ist ganz und gar nicht spießig.“ Melli zog vielversprechend die Augenbrauen hoch, grinste und schüttelte ihre Schultern wie eine brasilianische Samba-Tänzerin.
„Und du? Du wirst dich hoffentlich in Schale schmeißen für deinen großen Tag.“
„Nein, ich habe noch nichts. Ich muss noch shoppen gehen. Es wird aber weder spießig noch aufreizend, eher schlicht und elegant. Schließlich wird meine Beförderung bekannt gegeben.“
„Und dann gibt es Champagner!“, juchzte Verena und gleich darauf sprangen die beiden Frauen wie zwei Gummibälle auf und ab, klatschten in die Hände und quietschten aufgeregt.
„Ich hoffe, mit den Vorbereitungen fürs Catering bist du schon ein Stück weiter als mit deiner Garderobe. Schlicht kommt hier bestimmt nicht so gut an und du hast uns den Schampus versprochen.“
Carolina lächelte, obwohl sie sich innerlich gerade wie vom Bus überfahren fühlte. Verdammte Axt, sie hatte versprochen sich um Speisen und Getränke zu kümmern! Im Gegenzug hatte sie die freien Tage über Weihnachten und Neujahr ergattert.
Sie hatte die Organisation immer wieder aufgeschoben und nun war sie ihr durchgerutscht. Ihr, der Organisationsperfektionistin. Unfassbar! Aber, noch waren Hopfen und Malz nicht verloren. Carolinas Gedanken rasten mit Lichtgeschwindigkeit durch ihren Kopf. Es war noch nicht zu spät, den Plan, den sie sich schon vor Wochen zumindest gedanklich zurechtgelegt hatte, durchzuführen. Gleich nach Dienstschluss würde sie die Liste schreiben und dann Irina und Nick bitten, den Auftrag zu übernehmen. Die beiden waren Profis und machten den ganzen Tag nichts anderes, als Essen für fremde Leute zu organisieren.
„Keine Sorge, ich habe alles im Griff. Ihr kriegt euren Schampus. Aber jetzt muss ich mich erst mal um unsere Patienten kümmern. Ich bin schon viel zu lange bei euch beiden Schnattertaschen versackt. Entschuldigt mich, die Arbeit ruft.“ Carolina ergriff die Flucht. Glücklicherweise hatte sie noch knapp zweieinhalb Wochen bis zur Feier. Sie bekam das schon hin.
Nach Dienstschluss auf dem Parkplatz ließ sie den Motor ihres Wagens laufen, damit es warm darin wurde, während sie im matten Licht der Innenbeleuchtung eilig notierte, was für die anstehende Weihnachtsfeier notwendig war. Die Verantwortung und das Budget waren schon vor Wochen an sie übergeben worden. Verärgert über diesen Fehler, den sich Carolina definitiv hätte sparen können, kaute sie auf den Innenseiten ihrer Wangen herum. Sie bemühte sich, den Block auf dem Lenkrad abgelegt, halbwegs leserlich zu schreiben. Immer wieder trommelte sie nervös mit dem Stift auf dem Block herum.
Knapp fünfzig Gäste hatten zugesagt und waren zu bewirten. Speisen und Getränke mussten organisiert werden und es durfte nicht aussehen wie auf den letzten Drücker. Wie peinlich wäre es für sie, wenn sie als künftige Oberärztin nicht einmal mit wochenlangem Vorlauf Partysnacks organisiert bekäme.
„Noch ist nichts verloren“, wiederholte sie wie ein Mantra, während sie auf den Notizblock starrte.
Carolina hatte sich das Blatt in drei Spalten aufgeteilt. Warme Speisen, kalte Speisen und Getränke. Glühwein, Champagner, Bier und Wasser, hatte sie notiert. Glücklicherweise fiel das Adventsingen auf Gut Beeken, wie in jedem Jahr, auf das Wochenende des zweiten Advents. Die Krankenhausfeier fand knapp zwei Wochen später am Freitag vor dem vierten Advent statt. Auf Irinas Hilfe und Erfahrung konnte sie sicher zählen. Diese hatte das Adventssingen auf dem Hof ins Leben gerufen. Sie war Profi im Bewirten vieler Menschen und konnte auch mit einigem Equipment aufwarten. So dachte Carolina beispielsweise sofort an den großen Kübel, in dem sie Glühwein bereitstellen konnte. Sie brauchte nur eine Steckdose, literweise Glühwein und das Ding wurde zum Selbstläufer. Wasser, Champagner und ein Bierfass könnte sie von einem Getränkeservice liefern lassen. Kuchen, Plätzchen und Pralinen würde sie gleich bei Irina in Auftrag geben. Dabei fiel ihr ein, dass sie die Bewertungskarte für die Zimtsterne noch gar nicht ausgefüllt hatte.
„Na, warte. Das haben wir gleich.“
Sofort zog sie die Tüte mit den restlichen Keksbröseln und der Karte, die mittlerweile einige Fettflecken aufwies, aus der Handtasche und beantwortete alle Fragen wahrheitsgemäß. Es war eine ihrer leichtesten Übungen, denn die Plätzchen schmeckten vorzüglich. Vielleicht sollte sie die auch gleich mit auf die Bestellung setzen. Zu guter Letzt fehlte noch etwas Herzhaftes. Schließlich sollten die Gäste satt werden. Auch hier würde sie sich an Irina halten. Sie hatte gute Verbindungen, vielleicht konnte die ihr die Bestellung des Spanferkels abnehmen.
„Puh“, erleichtert seufzte Carolina. Sie steckte Block und Stift wieder in die Handtasche. Sie hatte wieder Oberwasser, alles halb so schlimm.
Im Auto war es mittlerweile ordentlich warm geworden, sodass sie sich ihrer Jacke und des Schals entledigte. Als sie ein paar verirrte Kekskrümel von den Hosenbeinen putzte, fiel ihr das Gespräch mit Verena und Melli ein. Sie brauchte noch Klamotten.
„Eins nach dem anderen“, ermahnte sie sich flüsternd und atmete zur Beruhigung durch. Das Einkaufen würde sie anschließend in Angriff nehmen. Sobald alle Bestellungen platziert waren, konnte sie sich entspannt um die Garderobe kümmern. Zumindest entspannter als Farbach, wenn er sie wieder im Krankenhaus entbehren musste. Aber sie hatte ausreichend Überstunden angehäuft, davon würde sie definitiv einige in Anspruch nehmen.
Nun musste sie sich zügig auf den Weg nach Weidingen machen. Höchste Zeit, Irina mit der Bestellung zu überraschen und ihr etwas Umsatz zu verschaffen. Den Rest des Tages wollte sie nutzen und noch mit Lucas spielen. Doch sie kam nur langsam voran. Es schneite schon wieder und so musste sie sich geduldig in die Autoschlange einfädeln. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Carolina endlich in Weidingen ankam. Auch hier herrschte Hochbetrieb, die wenigen schmalen und gewundenen Straßen waren vollgestopft mit Autos, deren Kennzeichen von teils langen Anreisen zeugten. Es wirkte, als gäbe es etwas umsonst. Eine lange Schlange hatte sich vor dem Eingang des Caféhauses gebildet, einen freien Parkplatz suchte sie vergeblich. Stattdessen stellte sie das Auto in einiger Entfernung ab und ging den Rest des Weges zu Fuß.
Wieder warm in ihren Mantel eingepackt, lief Carolina unter den goldgelben Lichterketten, die über der Straße leuchteten, entlang und sog den Duft nach Weihnachtsbäckerei ein. Sie liebte den Geruch nach frischen Waffeln und anderen Leckereien, der mittlerweile aus der Straße nicht mehr wegzudenken war. Zu ihrer Linken türmten sich Schneeberge und trennten den Gehweg von der Straße. Zu ihrer Rechten drängte sich eine Menschenschlange an der historischen Fachwerkfassade, die teils etwas windschief hinaufragte. Sie überholte die Wartenden. Am Kopf der Schlange, dem Eingang zum Café angekommen, konnte Carolina durch die großen Scheiben des Weidinger Caféhauses trotz üppiger Weihnachtsdekoration schon sehen, dass auch im Geschäft Hochbetrieb herrschte. Sie warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Es war bereits halb sieben. In einer halben Stunde war Ladenschluss. Als sie eintreten wollte, vernahm sie ein ungehaltenes Schimpfen. Ein Herr mittleren Alters, eine blaue Pudelmütze auf dem Kopf und ein Bäuchlein unter der Jacke, echauffierte sich.
„Junge Dame, glauben Sie etwa, dass die Regeln des Anstands nur für alle anderen in der Schlange gelten? Stellen Sie sich gefälligst hinten an. Vordrängeln gibt es nicht.“
Getuschel unter den anderen Wartenden, aber Carolina gab sich gelassen.
„Junger Mann, ich arbeite hier. Ich kann auch Feierabend machen und dann bekommt hier keiner irgendetwas.“
Der Mann schnappte kurz nach Luft, fing sich dann wieder und murmelte etwas, das fast wie „Entschuldigung, ich meinte ja nur …“ geklungen haben könnte, und trat einen Schritt zurück in die Reihe. Carolina quittierte mit einem überlegenen Lächeln und betrat das Gebäude.