Leseprobe Weihnachtsfunken

1. Dezember

Fröhlich-melancholisch tönte Wham!s Last Christmas aus den Lautsprechern meines Autos. Wie von allein krallten sich meine Fingernägel ins Lenkrad. Meine Zähne wollten folgen, doch ich beherrschte mich bis zur nächsten roten Ampel, wo ich in verzweifelter Resignation den Kopf auf das Lenkrad legte. Regentropfen prasselten dick und schwer auf die Windschutzscheibe.

„O klasse, ich liebe das Lied! Mach mal lauter!“ Begeistert klatschte Valentina neben mir in die Hände. Sie war meine beste Freundin – wenn wir uns nicht gerade in der Vorweihnachtshölle befanden.

Ich schaltete den Scheibenwischer eine Stufe höher.

Unverzagt schraubte sie nun selbst an dem Drehknopf meines Autoradios und sang dabei aus voller Kehle mit. Gut gelaunt stupste sie mich an.

Mein Inneres verknotete sich. Dieses Lied war die reinste Folter. Zusammen mit Kevin allein zu Haus, Dominosteinen und Wichteln bildete es die vier apokalyptischen Reiter – zumindest in meiner Welt. Aber wenigstens hatte Valentina eine angenehme Singstimme, das entschädigte für fast alles.

Dennoch schaltete ich das Radio ab.

Sie schnalzte mit der Zunge und gab ein beleidigtes „Och“ von sich. „Du Grinch“, maulte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Zu früh“, grummelte ich. „Zu früh im Jahr und eindeutig zu früh am Morgen.“

„Gar nicht! Es ist genau richtig, den Morgen mit einem der schönsten Weihnachtslieder ever zu beginnen, und sie hätten sich auch keinen besseren Tag dafür aussuchen können.“

Die Ampel schaltete auf Grün. Kopfschüttelnd fuhr ich los.

Val war jedoch noch nicht fertig damit, mich zu triezen. „Ich finde ja, dass die Ampeln im Sinne der Weihnachtsstimmung im Dezember auf das Gelb verzichten sollten. Nur Rot und Grün. Wäre das nicht schön?“ Sie strahlte mich an.

Unwillentlich schob sich ein Lächeln auf meine Lippen. Bevor sie allerdings bemerken konnte, dass sie mich mit ihrem Vorschlag erweicht hatte, räusperte ich mich. „Es ist nicht einmal Dezember. Schlimm genug, dass Spekulatius, Dominosteine – bäh – und Co. schon im September in den Regalen der Supermärkte stehen, während unsereins noch im Minirock seinen letzten Sonnenbrand verarztet. Aber jetzt auch noch die Vorweihnachtszeit vorzuschieben, geht eindeutig zu weit.“

„Was meinst du damit, ‚es ist noch nicht einmal Dezember‘? Natürlich ist heute Dezember. Ich habe heute das erste Säckchen meines Adventskalenders aufgemacht. Weißt du, Frido hat mir nämlich einen Kalender selbst gebastelt. Einen Weihnachtsmannschlitten und hinten drin sind viele kleine Geschenke. Ist das nicht süß von ihm?“

„Klingt nach einem übertrieben großen Teil …“, murmelte ich.

„Ach, Romy!“

„Ihr bastelt euch seit acht Jahren gegenseitig Adventskalender. Es ist also nicht überraschend.“

„Es ist trotzdem süß“, beharrte sie. „Er hat sich richtig Mühe gegeben. Allein die Farben und der Kunstschnee mit viel Liebe zum Detail, auch bei den Schnitzereien des Schlittens.“ Mit den Händen zeichnete sie die Formen nach.

„Okay, das ist wirklich süß“, gab ich zu und schluckte den bitteren Neid um diese Hingabe auch nach so vielen Jahren herunter. „Und? Was war das erste Geschenk?“

„Es war ein kleines Zimtshampoo.“ Sie lächelte selig. „Ich habe mir damit heute Morgen gleich die Haare gewaschen. Hier, riech mal.“

Ehe ich reagieren konnte, hatte ich eine Strähne Vals dunkelbrauner Haare unter der Nase. Unfreiwillig nahm ich tatsächlich eine zimtige Note wahr. „Wie dem auch sei“, sagte ich unwirsch. „Dann sind du und dein Ehemann zu früh dran. Wir haben November.“

„Äh … nein?“

„Äh … doch?“

„Gestern war der dreißigste November. Erinnerst du dich?“

Gerade, als ich etwas sagen wollte, fiel mir wieder ein, dass ich gestern im Büro den Schieber des Wandkalenders dramatisch langsam und in schauriger Voraussicht auf den letzten Tag im November gerückt hatte. „Ich finde, sie sollten den einunddreißigsten November einführen“, brummte ich, während ich den Wagen mit unangenehm quietschenden Scheibenwischern weiter durch die morgendliche Rushhour schlängelte.

Valentina kicherte. „Aber das wäre wiederum ungerecht den anderen Monaten gegenüber. Und wo willst du den Extratag hernehmen?“

„Dann bekommen eben alle Monate mit nur dreißig Tagen einen dazu, der Februar bekommt zwei und wir nehmen sie alle vom Dezember. Am besten von dem Teil des Monats um den vierundzwanzigsten herum.“

„Dann wäre der Dezember aber ziemlich traurig und die einunddreißiger-Monate würden leer ausgehen.“

Ich lächelte. Ich liebte unsere Unterhaltungen dieser Art, weil wohl nur wir beide ihnen folgen konnten. „Diese Monate hatten Jahrhunderte lang einen Tag mehr, irgendwann muss das ein Ende haben. Stichwort Gleichberechtigung.“

Meine Freundin kicherte erneut. Während wir auf der Stadtautobahn an einem LKW vorbeifuhren, stellte ich den Scheibenwischer auf maximale Geschwindigkeit, um trotz der Gischt noch etwas sehen zu können.

„Frido hatte heute übrigens einen Weihnachtskugelschreiber von mir in seinem Kalender.“

„Wow, klingt nach Kitsch.“

„Er ist rot.“

„Wer? Frido?“

„Ha, ha. Der Kugelschreiber natürlich. Der Schaft ist rot und hat in der Mitte einen schwarzen Gürtel und der Klicker oben …“ Sie zeigte auf den imaginären Drücker. „… ist eine Weihnachtsmütze mit Stoffbommel.“

„Mhm.“ Konzentriert manövrierte ich uns weiter durch den Verkehr. Eine Ausfahrt noch, dann konnten wir die Autobahn verlassen. Der Regen hatte zwar nachgelassen, doch auf der Straße stand noch so viel Wasser, dass die Sicht trotzdem keinen Deut besser war.

„Er schreibt rot und grün. Der Kugelschreiber, nicht Frido“, schob Valentina nach, als könne sie ausgerechnet damit meine Begeisterung erwecken.

Ich biss mir auf die Lippen, ließ den aufkommenden Kommentar, wo er war.

Sie beäugte mich, dann seufzte sie schwer. „Ach, Romy. Muss diese miese Stimmung denn wirklich jedes Jahr sein?“

„Jap.“

Diese Frage könnte ich umgekehrt zurückgeben. Sechsundzwanzig Tage mit einem von Santas persönlichen Weihnachtselfen wie ihr zu verbringen, war gewiss kein Zuckerstangenschlecken.

„Aber warum? Weihnachten ist wunderschön, zauberhaft und magisch. Und du verpasst alles wegen deiner Miesepeterlaune.“

„Das ist keine Miesepeterlaune. Das ist rationales Denken, gesunder Menschenverstand.“ Ich zeigte an meine Schläfe. „Diese Dauervermarktung und das scheinheilige Geschwätz, die gestellte Freundlichkeit und Nächstenliebe. Dabei bedeutet Weihnachten nichts als Stress und Hektik, Termine und Geschenke.“ Ich schnaubte. „Ich bin fröhlich, wenn ich es bin, und nicht auf Knopfdruck oder auf Kalendertürchen. Und nur, weil ich nicht mit Begeisterung schon im Spätsommer Dominosteine kaufe, bin ich ein Miesepeter?“

„Du kaufst auch im Winter Erdbeeren“, warf Valentina gewitzt ein.

„Das ist etwas anderes …“

„Und auf Hochzeiten und Feiern bist du auf Knopfdruck fröhlich.“

„Das ist auch etwas anderes.“ Ich konnte förmlich hören, wie sie ein Kichern unterdrückte, und hätte gern noch etwas gekontert, doch der Verkehr forderte meine volle Aufmerksamkeit.

Vielleicht waren meine Argumente nicht die besten. Aber das Gefühl blieb. Weihnachten verbreitete schlechte Stimmung. Überall war es voll und laut. Weihnachtsfeiern reihten sich aneinander, wodurch man neben der Arbeit keine Zeit mehr für die Besorgung von Besänftigungsgesten in Form von Geschenken hatte.

Ich spürte Valentinas Hand auf meinem Arm.

„Es ist Zeit, dass du die Vergangenheit endlich ruhen lässt, Romy.“

Ich presste meine Kiefer aufeinander.

„Glaub mir, Weihnachten kann schön sein und voller Wunder, wenn du dich darauf einlässt, anstatt dich dagegen zu stellen“, sagte sie sanft.

„Das klingt, als wolltest du erreichen, dass ich einer Sekte beitrete …“ Der Sarkasmus half mir, die weiter aufwallenden Emotionen einzudämmen.

„Versuch es doch mal. Es wird dir so viel besser gehen. Ich kenne dich seit der Schule und deine Aversion gegen Weihnachten wird jedes Jahr schlimmer.“

„Ist das ein Wunder?“, fragte ich bitter. Die Knöchel meiner Finger traten weiß hervor. Unauffällig lockerte ich den Griff um das Lenkrad.

„Damals nicht. Aber jetzt? Du bist mürrisch und griesgrämig, weil du dich gegen etwas sträubst, das du nicht ändern kannst. Damit machst du dir nur selbst das Leben schwer. Wie wäre es, wenn du dieses Jahr einen anderen Kurs fährst? Entspann dich und mach es einmal mit. Erlebe Weihnachten. Fühle Weihnachten. Und zwar hier.“ Sie tippte auf ihr Herz.

Ich hatte Valentina so lieb, gerade, wenn sie ihre Begeisterung mit mir teilte. Aber beim Thema Weihnachten erreichte sie mich nicht. Auch ihr elfengleicher Weihnachtszauber hatte dabei keine Chance. „Ich soll also mein Gehirn ausschalten und mit dem Strom schwimmen? Nein, danke.“ Ich setzte den Blinker zum Abbiegen.

Valentina verschränkte die Arme vor der Brust. „Du glaubst, dass du so individuell bist. Dabei motzt doch mittlerweile jeder über Weihnachten. Unsere ganze Clique tut das. Da schwimmst du mit dem Strom.“

Gerade wollte ich kontern, da passierte es.

Ich sah die Bremslichter zu spät.

Mit aller Kraft trat ich auf das Bremspedal, aber wir waren zu schnell.

Auf der nassen Fahrbahn rutschte mein Auto einfach weiter.

Wir würden nicht rechtzeitig zum Stehen kommen.

Valentina schrie.

Verzweifelt riss ich das Steuer herum, versuchte, das Unausweichliche zu verhindern. Doch dadurch geriet der Wagen ins Schleudern. Die Welt rauschte vor meinen Augen vorbei. Meine Hände verkrampften sich um das Lenkrad.

Ein ohrenbetäubender Knall und ein enormer Schlag auf der rechten Seite bremsten uns abrupt. Von überall sprengten sich die Airbags auf. Die Gurte ketteten uns fest an die Sitze, drückten mir die Luft aus den Lungen.

Kaum standen wir, wurden wir noch einmal durchgeschüttelt, dieses Mal von hinten. Immer wieder knallte es.

Schließlich wurde es gespenstisch still.

Zunächst konnte ich mich nicht regen. In meinem Kopf drehte sich alles. Der eiserne Geschmack von Blut füllte meinen Mund. Ich spuckte es aus, wischte mir kraftlos über das Gesicht. Mein rechter Arm schmerzte höllisch, auch mein Nacken tat weh.

Die Geräusche um uns herum nahm ich nur gedämpft wahr.

„Scheiße“, sagte ich – ob laut oder leise wusste ich selbst nicht. „Geht es dir gut?“ Ich sah hinüber zu Valentina und bekam keine Luft mehr.

Auf der Beifahrerseite war der Wagen völlig demoliert. Das Glas der Frontscheibe war zersprungen, die Tür war eingedrückt und ragte ins Wageninnere.

Valentina hing reglos im Gurt, übersät mit den körnigen Splittern des Beifahrerfensters, ihr rechtes Bein verschwand irgendwo in zerknautschtem Metall. Blut lief an ihrem Kopf hinunter über ihren Körper.

„O nein, scheiße!“ Schlagartig waren alle meine Sinne wieder beisammen. Ich riss mich aus dem Gurt und beugte mich zu ihr hinüber. Behutsam rüttelte ich an ihrer Schulter. „Val? Hörst du mich? Geht es dir gut?“

Sie antwortete nicht.

„Val?“ Tränen füllten meine Augen. Mit zitternden Fingern strich ich ihre Haare aus dem Gesicht. Blut rann aus einer Wunde an ihrem Kopf, verfärbte ihr zartes Gesicht. “Val?“, flüsterte ich erneut.

Ein Geräusch ließ mich den Blick abwenden.

„Ist alles okay hier?“ Ein Mann mittleren Alters hatte die Autotür geöffnet und streckte seinen kahlen Kopf herein. „Sind Sie verletzt?“

„Ich nicht, aber meine Freundin. Sie ist eingeklemmt und bewusstlos. Wir brauchen einen Krankenwagen“, wimmerte ich.

„Der Krankenwagen ist bereits verständigt. Kommen Sie aus dem Auto. Bringen Sie sich in Sicherheit.“ Er reichte mir seine Hand.

„Nein, ich bleibe bei meiner Freundin!“

„Bitte kommen Sie da raus“, sagte er eindringlicher. „Die Unfallstelle ist noch nicht abgesichert. Hier können noch immer Autos reinkrachen. Es ist zu gefährlich hierzubleiben.“

„Das ist mir egal. Ich bleibe bei ihr.“ Niemals würde ich sie jetzt im Stich lassen. Und wenn es mich mein Leben kostete.

Er warf einen kurzen Blick auf Val, dann auf mich. Schließlich seufzte er. „Halten Sie durch. Es wird gleich jemand kommen.“ Damit verschwand er.

Mich überkam der Schwindel. Doch ich kämpfte mit aller Kraft dagegen an. Nicht jetzt! Ich brauchte einen Moment, dann wandte ich mich wieder meiner Freundin zu. Sie war schlimm zugerichtet. Ob sie …? Voll unmenschlicher Angst legte ich mein Ohr behutsam an ihren Brustkorb. Ich wusste nicht, was ich tun würde, wenn ich nichts hören würde.

Mit geschlossenen Augen horchte ich und betete.

Ich vernahm ein leises Geräusch. Etwas pochte. Nur ganz zart, aber es war da.

Erleichtert sah ich auf. Ein paar Strähnen waren ihr wieder ins Gesicht gefallen und klebten blutig daran.

Mit bebender Unterlippe strich ich sie ihr hinter das Ohr. „O Gott, Val, es tut mir so leid.“ Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Bitte, bitte, verlass mich nicht. Bleib bei mir, okay? Hilfe ist schon unterwegs. Du wirst sehen, alles wird gut werden.“

Ich streichelte ihren Arm. Weil ich mir nicht anders zu helfen wusste, sprach ich weiter. „Wahrscheinlich nehmen sie dich kurz für eine Routineuntersuchung mit ins Krankenhaus. Da musst du eine Nacht bleiben, aber nur zur Beobachtung. Und wenn du morgen nach Hause kommst, kannst du gleich das nächste Päckchen von deinem selbstgebastelten Adventskalender aufmachen und mir erzählen, was es war, in Ordnung?“

Sie antwortete nicht.

Schniefend betrachtete ich ihr rot überlaufenes Gesicht. Es machte mir eine Wahnsinnsangst, sie so zu sehen. Was war, wenn ich sie verlor? „Okay, vermutlich bist du nicht schon morgen wieder zurück. Aber in ein paar Tagen mit Sicherheit. Und in der Zwischenzeit verspreche ich dir, dass ich deine Weihnachtstradition fortführe.“ Ich wischte mir über das Gesicht. „Hast du gehört, was ich gesagt habe? Ich mache deinen geliebten Weihnachtsquatsch für dich weiter. Aber nur, wenn du wieder gesund wirst, okay?“ Der Tränenstrom lief unaufhörlich über meine Wangen. „Also wag es ja nicht, mir wegzusterben. Denn wenn du das machst …“ Meine Unterlippe bebte so sehr, dass mein Mund kaum die Worte formen konnte. Dieser Gedanke war unerträglich. „Werde ich Weihnachten bis in alle Ewigkeit hassen“, sagte ich mit erstickter Stimme. „Das ist mein Ernst. Und das möchtest du nicht, oder?“

 

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als in der Ferne das erlösende Martinshorn erschallte. „Hörst du das? Hilfe naht. Halt durch.“ Mechanisch strich ich weiter über Vals Kopf.

Das blaue Leuchten durchbrach meinen Tunnelblick zu ihr. Als die Krankenwagen eintrafen, nahm ich meine verbliebenden Kräfte zusammen, kämpfte mich aus dem Autowrack und stolperte los. Ihr musste geholfen werden. Sofort. Nur das zählte. Der erste Sanitäter war gerade aus dem Fahrzeug gestiegen, da war ich bereits bei ihm.

„Bitte, Sie müssen mir helfen. Uns. Ich … meine Freundin. Sie ist eingeklemmt. Sie ist bewusstlos. Sie blutet!“, erklärte ich dem Mann zusammenhangslos.

„In Ordnung, bleiben Sie ruhig. Hilfe ist jetzt da, okay?“

Mein ganzer Körper bebte, mein Herz pumpte wie verrückt und meine Atmung war schneller als nach einem Hundert-Meter-Sprint. Dennoch erlaubte ich mir jetzt keine Schwäche. Möglichst besonnen nickte ich.

„Gut. Können Sie mir zeigen, wo sich Ihre Freundin befindet?“

„Ja, natürlich.“

Der Sanitäter gab seinen Kollegen einen Wink, dann folgte er mir. Ich führte ihn zu meinem Auto. Er stieg hinein und kümmerte sich um Val. Weitere Rettungskräfte mit Trage kamen hinzu. Bereits nach kurzer Zeit übernahm der Notarzt.

Ich stand untätig daneben, hielt meinen schmerzenden Arm, als zwei der Sanitäter zu mir kamen.

„Hallo, wir sind vom Rettungsdienst. Haben Sie irgendwelche Schmerzen?“, fragte einer der beiden freundlich.

Ich antwortete nicht. Die Kälte ließ mich meine tränennassen Wangen spüren, meine Beine drohten nachzugeben. Ich beobachtete die Szenerie, die sich um meinen Wagen herum abspielte. Einer der Sanitäter besprach sich gerade mit einem Feuerwehrmann. Vermutlich ging es darum, wie sie Val aus dem Auto bekamen. Der Schwindel kehrte zurück, ebenso wie der Schmerz in meinem rechten Arm und ehe ich begriff, was geschah, hatte ich mich übergeben. Mein Magen krampfte.

Eine Hand legte sich auf meinen Rücken. „Das ist völlig normal. Kommen Sie mit, ich gebe Ihnen etwas gegen die Übelkeit.“

„Ich … nein, meine Freundin“, protestierte ich, doch im selben Augenblick verschwammen die Geräusche und Bilder und mir wurde schwarz vor Augen.

 

Eine Männerstimme drang in mein Bewusstsein. Aber ich wollte sie nicht hören, ich wollte weiterschlafen. „Geh weg“, brummte ich. Hatte ich alles nur geträumt?

„Ich gehe nirgendwohin. Aufwachen, genug geschlafen.“

Je klarer die Stimme wurde, desto stechender wurde der Schmerz in meinem Arm. Ich stöhnte.

„Wie geht es Ihnen?“

„Ging mir schon besser“, ächzte ich.

„Übelkeit?“

„Nein.“

„Okay, gut. Und jetzt möchte ich, dass Sie mich ansehen.“

Widerwillig öffnete ich die Augen und wurde direkt von grell künstlichem Licht geblendet. Mit einem gequälten Laut schloss ich sie wieder.

„Nein, nein, nein. Die Augen müssen Sie schon offenlassen … genau so. Sehen Sie, so schwer ist das nicht. Tut Ihnen etwas weh?“

Langsam sah ich mich um. Ich lag auf einer Liege in einem winzigen Raum – nein, kein Raum, ein Krankenwagen. Aber warum ich? Ich war die Falsche. „Wo ist meine Freundin?“, stieß ich hervor. „Sie müssen zu ihr! Sie braucht Hilfe, nicht ich.“ Ruckartig wollte ich mich aufsetzen, konnte mich jedoch nicht bewegen. Ich war festgegurtet.

Sofort überkam mich Panik. Verzweifelt versuchte ich mit Armen und Beinen zu strampeln. Ohne Erfolg. Ich schwitzte und bekam keine Luft mehr, Schmerzen schossen durch meinen Körper, ohne dass ich ihren Ursprung festmachen konnte. „Machen Sie mich los!“

Ein Mann mit weißem T-Shirt, roter Weste und dunkelblauer Hose legte eine Hand an meine Schulter, was meine Schmerzen verschlimmerte. Ich sog scharf Luft ein.

„Bleiben Sie ruhig. Das ist gerade sehr kontraproduktiv, was Sie machen. Das Kreislaufmittel müsste jetzt wirken. Wenn Sie mir versprechen, liegen zu bleiben, mache ich den Gurt auf.“

Tatsächlich hatte seine Stimme eine beruhigende Wirkung auf mich. Mit zusammengekniffenen Augen biss ich mir auf die Lippe und nickte.

Er löste die drei Schnallen, die mich an der Trage festhielten. Endlich konnte ich wieder atmen und japste nach Luft.

„Besser?“

„Etwas …“, krächzte ich.

„Schmerzen?“

„Ziemlich.“

„Ich gebe Ihnen noch ein Schmerzmittel.“ Er stand auf und nestelte in den Fächern, bis er fand, was er gesucht hatte.

Die Tür ging auf und eine der Rettungskräfte winkte ihn zu sich. Während ihres murmelnden Gesprächs, von dem ich nichts verstand, drehte sich in meinem Kopf alles um Val und den Unfall. Obwohl ich mittendrin gewesen war, hatte ich keine Ahnung, was eigentlich geschehen war. Aber die Bilder von meiner blutüberströmten Freundin hatten sich in meinen Gedanken festgebrannt.

Schließlich ging der Sanitäter.

„Bitte sagen Sie mir, wie es meiner Freundin geht“, flehte ich.

Ohne zu antworten, injizierte der Arzt eine Flüssigkeit in den Tropf, dessen Schlauch in meiner Hand verschwand. Anschließend schrieb er etwas auf die Tropfflasche und sah mich an. „Es sollte Ihnen gleich bessergehen. Wie heißen Sie?“

„Romy Weilermann.“

„Romy … ein sehr schöner Name“, sagte er, während er etwas notierte.

Ich runzelte die Stirn. „Können Sie mir jetzt bitte sagen, was mit meiner Freundin ist?“

„Eins nach dem anderen. Zunächst einmal, Frau Weilermann, sagen Sie mir, wo genau Sie Schmerzen haben.“

„Nennen Sie mich bitte Romy, Frau Weilermann ist meine Mutter.“

„Die Schmerzen?“

Ich fühlte in mich hinein. „Rechter Arm und Schulter.“

„In Ordnung. Ich werde Sie jetzt untersuchen. Bleiben Sie ruhig und entspannen Sie sich, so gut es geht.“ Er setzte sich zu meiner Rechten und tastete vorsichtig meinen Arm ab. „Ihre Freundin ist versorgt“, sagte er endlich. „Ich darf Ihnen leider keine genauere Auskunft geben, aber alle Verletzten sind notärztlich betreut. Ihre Freundin ist bereits auf dem Weg in die Klinik.“

Er drückte an einer Stelle an der Schulter. Ich schrie auf. Er nickte.

„Was hat sie?“, presste ich zwischen den Schmerzen hervor.

„Das kann man noch nicht genau sagen.“

Diese Antwort war wenig hilfreich. „Wird sie überleben?“

„Wir tun unser Bestes.“ Er bewegte meinen Arm nach oben. Ich schrie auf. Er nickte.

Die Schmerzen und der Frust nahmen überhand. „Können Sie mir nicht irgendwas zu ihrem Zustand sagen?“ Meine Unterlippe bebte.

Er ließ meinen Arm sinken und sah mich bedauernd an. „Wir wissen noch nicht viel. Und was wir wissen, darf ich Ihnen als Beteiligte nicht sagen.“

Ich unterdrückte ein verzweifeltes Wimmern. „Bitte, bitte lassen Sie mich nicht im Ungewissen. Was ist mit der Wunde an ihrem Kopf? Was wird in der Klinik gemacht werden?“ Schwerfällig holte ich Luft. „Bitte, sie ist meine beste Freundin …“

Er sah mich lange an, ehe er den Blick abwandte und durch den Wagen wandern ließ. Mit den Fingern trommelte er auf seinem Bein. Schließlich neigte er sich zu mir und senkte die Stimme. „Ich muss Ihnen vertrauen können, dass Sie nichts von dem erzählen, was ich Ihnen sage.“

Sofort nickte ich.

Er presste die Lippen aufeinander. „Was ich weiß, ist, dass ihre Freundin einige Frakturen am Oberschenkel hat und darum gleich in der Klinik notoperiert wird. Außerdem gehen sie von inneren Verletzungen aus. Allerdings ist noch unklar, wie schwerwiegend diese sind.“

Die Tränen tropften bei diesen Worten mit einem leisen Geräusch auf die Papierunterlage unter mir. „Das ist alles meine Schuld“, schluchzte ich. „Wegen mir ist sie so zugerichtet. Weil ich nicht aufmerksam genug war. Weil ich falsch reagiert habe. Und wenn sie stirbt, dann nur wegen mir.“ Weinend schlug ich den freien Arm vor meine Augen.

„Romy, hören Sie mir bitte zu.“ Er wartete, bis ich widerstrebend den Arm von meinen Augen geschoben hatte. „Es ist wichtig, dass Sie verstehen, dass – egal, was mit Ihrer Freundin geschehen wird – es nicht Ihre Schuld ist. Es war ein Unfall und Sie haben reagiert. Niemand macht Ihnen deswegen einen Vorwurf, in Ordnung?“ Er sah mich derart eindringlich an, dass ich verstummte.

Ich wusste nicht, wie er das machte, aber die Selbstvorwürfe wurden tatsächlich eine Nuance blasser. Vage nickte ich. Erst jetzt, wo er mir so nahe war und die Medikamente ihre Wirkung taten, nahm ich ihn wahr. Er hatte ein kantiges Gesicht mit einem Dreitagebart und dunkle Haare. Seine Augen waren dunkelblau und hatten trotz der Lichtkälte einen warmen Schimmer. Er sah aus, als würde er bei Grey’s Anatomy mitspielen – zu gutaussehend für einen Arzt.

Dieser gedankliche Wandel ließ eine feine Wärme in meine Wangen strömen. Hoffentlich entging ihm das. Doch das leichte Lächeln, das flüchtig über sein Gesicht huschte, als er sich wieder meiner Schulter zuwandte, sprach für sich. Wenigstens kommentierte er es nicht.

Konzentriert tastete er sich zu einer Stelle, die besonders schmerzhaft war. „Sie haben eine Schulterluxation. Entspannen sie sich, damit ich eine Reposition durchführen kann.“

Ich verstand nicht, was er sagte, ahnte jedoch, was er meinte. Sofort brach mir der Schweiß aus. „Aber … müssen Sie die Schulter nicht erst röntgen oder so?“

„Je eher die Reposition erfolgt, desto besser, damit Sie keine Nervenschäden davontragen. Und zufälligerweise bin ich Unfallchirurg und weiß genau, was ich tue.“ Seine Stimme wurde sanfter. „Haben Sie keine Sorge.“

„Okay …“ Die Schmerzmittel begannen zu wirken, sodass es mir leichter fiel, seinen Worten Glauben zu schenken. Ich atmete aus.

„Sehr gut. Bleiben Sie so.“ Er streckte meinen Arm zur Seite aus. „Sind Sie bereit?“

Ich kniff die Augen zu.

Er machte an meiner Schulter eine Bewegung, die sich anfühlte wie ziehen und drehen gleichzeitig. Ein stechender Schmerz fuhr mir kurzzeitig durch die Glieder. Ich biss mir auf die Lippen, um einen Aufschrei zu unterdrücken.

„Das war’s schon. Die Schulter ist wieder eingerenkt“, erklärte er sanft. „Wir nehmen Sie jetzt noch mit in die Klinik, um sie zu röntgen und weitere Frakturen auszuschließen.“ Er notierte wieder etwas.

Automatisch griff ich mir an die Schulter.

„Das wird schon wieder.“ Aufmunternd lächelte er mich an. Dann stand er auf und stieg aus dem Krankenwagen, was diesen unangenehm zum Schaukeln brachte. Die Tür ließ er einen Spalt offen, sodass ich einen Blick nach draußen erhaschen konnte.

Der Regen hatte aufgehört, doch das war das einzig Positive. Bei der Szenerie außerhalb dieses rettenden Metalls stellten sich mir die Nackenhaare auf: Mehrere Autos waren ineinandergeschoben, eingedrückt und verbogen. Einige sahen aus, als hätte man sie zerknüllt wie Papier. Überall standen Einsatzfahrzeuge blau und orange blinkend. Weißes Pulver auf der Straße sog auslaufende Flüssigkeiten auf. Männer und Frauen in verschiedenen Uniformen liefen geschäftig umher.

Und dann sah ich einen Wagen, der schräg auf der Fahrbahn stand – es war meiner. Die Fahrerseite war noch intakt, die Beifahrerseite war im Grunde nicht mehr vorhanden.

Ich japste nach Luft, wieder und wieder, bekam dennoch das Gefühl, zu ersticken. „Val …“

Eine Gestalt schob sich in mein Sichtfeld. „Was machen Sie da, Romy? Das sollten Sie sich nicht ansehen.“ Mit strengem Blick stieg der Grey’s-Anatomy-Arzt wieder in den Rettungswagen und schloss die Tür hinter sich. Er reichte mir ein Taschentuch.

Kraftlos drehte ich den Kopf weg, putzte mir die Nase und trocknete meine Tränen. Meine Gedanken schwiegen. Ich fühlte mich wie in Watte gepackt, nicht ganz anwesend in der Welt.

Das metallene Geräusch der sich öffnenden Wagentür durchbrach die Stille. Ein Mann, groß, breit, vollbärtig und ebenfalls in Notarztuniform, stieg zu uns.

„Romy, ich werde drüben noch gebraucht. Das ist Dr. Hadermann“, mein Arzt deutete auf seinen zugestiegenen Kollegen. „Er wird ab hier übernehmen.“

Dr. Hadermann nickte. „Hallo Romy, machen Sie sich keine Sorgen, wir kümmern uns um Sie. Ihr Kreislauf ist so weit stabil, damit können wir Sie für die weiteren Untersuchungen in die Klinik bringen.“

„Okay“, gab ich matt zurück und sah zu meinem Arzt. „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

„Keine Ursache, dafür bin ich da. Alles Gute für Sie und Ihren Arm. Bis bald.“ Mit einem warmen Lächeln, das hauchzart bis in mein Inneres drang, sprang er aus dem Krankenwagen und schloss die Tür, die unverhältnismäßig laut krachend ins Schloss fiel.

Ich hatte nicht einmal auf seinen Namen geachtet.

 

Den Rest des Tages verbrachte ich im unangenehmen Neonlicht des Krankenhauses. Unzählige Schritte von Gummischuhen quietschten unablässig auf dem Linoleumboden. Ein Geräusch, das – ähnlich dem Ticken einer Uhr – ebenso beruhigend wie aufreibend war.

Mein Arm wurde untersucht, geröntgt und ruhiggestellt. Immer wieder lief der Unfall vor meinem geistigen Auge ab. Immer wieder diese fatalen Bremsleuchten, der Knall, diese Wucht, trotz der mäßigen Geschwindigkeit. Kein körperlicher Schmerz der Welt war so schlimm wie die Schuldgefühle, die meine Schultern in unendlicher Last nach unten drückten.

Ich ließ alle Untersuchungen über mich ergehen, beantwortete bereitwillig mit schwacher Stimme sämtliche Fragen, die mir von Ärzten und Polizisten gestellt wurden. Meine Gedanken waren jedoch bei Valentina. Wie ging es ihr? Hatte sie die OP gut überstanden? Würde jetzt alles wieder gut werden oder schlimmer?

2. Dezember

Meine Nacht endete bereits um vier Uhr dreißig in der Früh. Das Krankenzimmer war zu hell gewesen und die eine Bettnachbarin hatte geschnarcht, als wolle sie einen Wettbewerb gewinnen. Die andere hingegen hatte sich immer wieder übergeben und musste von den Nachtschwestern versorgt werden, weswegen es in unserem Zimmer zuging wie im Taubenschlag. Ich lag zusammengerollt und mit schmerzender Schulter in meinem Bett, mein Kissen durchnässt von Tränen der Schuld. Zwischendurch war ich immer mal wieder eingedöst, bis mich entweder die Bilder des Unfalls oder die Geräuschkulisse weckten.

Um halb fünf beschloss ich, die Augen offenzulassen, egal wie sehr sie zufallen wollten, egal wie sehr sie um Ruhe flehten.

Es war nur eine Nacht, die ich zur Beobachtung bleiben sollte. Ich hatte niemandem Bescheid sagen brauchen, denn zu Hause erwartete mich niemand außer meinem Kater Simba. Und der würde es wahrscheinlich genießen, die Wohnung eine Nacht für sich allein zu haben, sich heimlich Leckerchen zu mopsen und in meinem Bett zu schlafen.

Dieser Gedanke entlockte mir ein vages Lächeln.

Während ich zusammengekauert an einem Zipfel meiner Decke spielte und die erlösenden ersten Lichtstrahlen herbeisehnte, die dieser Nacht ein Ende setzen würden, dachte ich wieder an Val. Wir mochten in unterschiedlichen Zimmern liegen, doch wir befanden uns unter demselben Dach. Wir waren immer noch zusammen. Valentina und ich kannten uns seit ewigen Zeiten, hatten so viel Leid miteinander durchgestanden, so viele schwere Zeiten überwunden und so viel Freude geteilt. Sie war mehr als nur eine Freundin. Sie war meine Familie. Wie die Schwester, die ich nicht hatte. Sobald sie mich ließen, würde ich zu ihr gehen und alles daransetzen, dass es ihr schnell besser ging und sie nach Hause konnte. Ich hatte uns in diese Situation manövriert, ich brachte uns hier auch wieder raus.

Unerwartet tauchte in diesem Moment das Bild des Arztes aus dem Krankenwagen vor meinem inneren Auge auf. Diese tiefblauen Augen, die von sympathischen Lachfältchen umrahmt waren. Eilig schob ich den Gedanken an ihn beiseite. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihn wiedersehen würde, war sehr gering, sofern ich nicht wieder in einen Unfall geriet. Ein Grund mehr, nicht ins Schwärmen zu verfallen.

„Alles in Ordnung bei Ihnen?“ Mit einem warmherzigen Lächeln sah meine Bettnachbarin mich an. Ihre weißen Haare standen am Hinterkopf zu sämtlichen Richtungen ab, aber sie sah ausgeruht aus. Kein Wunder, sie war auch die Einzige gewesen, die hatte schlafen können.

Ich nickte zaghaft und wischte mir über die Augen.

Wieder wurde die schwere, breite Tür zu unserem Zimmer geöffnet. Dieses Mal balancierte eine Krankenschwester konzentriert zwei weiße Plastiktabletts mit dem Frühstück herein. Ihr süßlich duftendes Parfüm erfüllte den Raum, als sie jedem von uns ein Tablett auf den Nachttisch stellte. Obwohl ich keinen Hunger hatte, freute ich mich darüber, denn es bedeutete das offizielle Ende der Nacht. Der Krankenhaustag war eingeläutet und damit würde es endlich weitergehen und ich hoffentlich bald zu Val können.

„Guten Appetit, die Damen.“ Mit diesen Worten rauschte die Schwester so schwungvoll hinaus, wie sie hereingekommen war.

 

Bei der Visite am Vormittag kam ich mir vor wie ein exotisches Tier im Zoo, das man sich besah, aber weder anfassen noch füttern durfte. Dennoch überwog die Erleichterung, als die Ärzte zu dem Schluss kamen, dass sie mich ruhigen Gewissens entlassen konnten. Mein Arm musste jedoch ruhiggestellt werden und Physiotherapie würde ich in Zukunft auch machen dürfen. Mir war alles recht. Ich hätte ihnen meine Seele verkauft, wenn ich dadurch heute gehen durfte. Allerdings hatte ich diese bereits meinem Handyanbieter, dem Tierarzt und der Leasinggesellschaft meines Autos verkauft. Darum hätte ich nur einen ungedeckten Scheck für sie gehabt.

 

Ungeduldig lief ich wenig später mit geschlauftem Arm vor dem Stationszimmer der Pflegekräfte auf und ab, zählte Bilder an den Wänden, Striche auf dem Boden und stoppte die Zeit, wie lange ich die Luft anhalten konnte. Die Minuten fühlten sich an wie Stunden.

Endlich öffnete sich die Tür und eine knubbelige Schwester trat heraus, die mich bereits mehrfach um Geduld gebeten hatte. Lächelnd reichte sie mir den ersehnten Umschlag mit den Entlassungspapieren.

„Haben Sie vielen Dank.“ Überschwänglich wandte ich mich zum Gehen.

„Machen Sie langsam. Nicht, dass Sie in ein paar Stunden wieder hier landen.“

Ich winkte, ohne mich umzudrehen und ließ mir von dem Türöffner die milchgläserne Flügeltür der Station öffnen. Ganz bestimmt würde ich hier heute nicht wieder landen. Zumindest nicht, ehe ich bei Val gewesen war. Danach konnte kommen, was wollte.

 

„Ich würde gerne zu Valentina Kiehn“, sagte ich der jungen Frau an der Information.

Ihr Blick huschte über mein desolates Äußeres, ehe sie nickte und etwas in ihren Computer tippte. Angespannt beobachtete ich jede ihrer Bewegungen, musterte ihr akkurat geschminktes Gesicht, während sie den Bildschirm studierte. Als sie ihren Mund jedoch zu schmalen Lippen verzog, stolperte sofort mein Herz.

„Es tut mir leid. Frau Kiehn befindet sich auf der Intensivstation. Aber ich darf Sie leider nicht zu ihr lassen.“

Ich verstand nicht. „Ich möchte sie nur kurz sehen. Bitte.“

„Das ist die Anordnung des behandelnden Arztes. Da kann ich nichts machen.“

„Dann lassen Sie mich mit dem Arzt sprechen.“ So einfach ließ ich mich nicht abwimmeln. Ich musste zu Val.

Der Blick der Frau wurde bedauernd. Sie klimperte mit ihren langen Wimpern, schüttelte den Kopf.

Mein Brustkorb verengte sich. „Nein, bitte, ich muss zu ihr. Frau Kiehn liegt nur wegen mir auf der Intensivstation. Wir … wir hatten gestern einen … Autounfall.“ Bleiern verließen diese Worte meinen Mund. Ich schluckte. „Ich habe das Lenkrad in die falsche Richtung gerissen, so wurde sie schwer verletzt, anstatt ich. An meiner Kleidung klebt das Blut meiner besten Freundin …“ Meine Stimme brach. Ich holte ein paar Mal tief Luft, blinzelte die aufkommenden Tränen weg. „Verstehen Sie? Ich muss einfach zu ihr. Ich muss mich vergewissern, dass es ihr gutgeht. Bitte schicken Sie mich nicht fort.“ Den Körper bebend vor Anspannung sah ich sie an.

Nachdenklich kaute sie an einem ihrer langen Fingernägel.

„Bitte“, flüsterte ich noch einmal.

Sie sah zu mir, dann zum Bildschirm, dann Richtung Telefon. Schließlich gab sie sich einen Ruck, nahm den Hörer und tippte eine kurze Nummer ein. „Ich kann nichts versprechen“, sagte sie mit auf die Sprechmuschel gehaltener Hand. „Ich weiß auch nicht, ob ich jemanden erreiche.“

Meine Lippen formten ein stummes Okay. Allein, dass sie es versuchte, ließ in meinem Inneren die Hoffnungsfunken sprühen.

„Hallo Dr. Thomas, hier ist Jennifer. Ich weiß, Dr. Millner ist gerade nicht da, aber ich habe hier eine Frau, die unbedingt zu Frau Kiehn möchte … Ja, das habe ich im System gesehen …“ Daraufhin schilderte sie ihm sachlich und in nachvollziehbaren Worten, was ich ihr wesentlich emotionsgeladener nahezubringen versucht hatte. „Ja? … In Ordnung, dann schicke ich sie gleich rauf …“ Sie zeigte mir einen Daumen hoch.

Vor Erleichterung drohten meine Knie unter mir nachzugeben, sodass ich mich mit einer Hand an den Tresen klammern musste.

Jennifer legte auf und strahlte mich an. „Dr. Thomas sagt, eigentlich erst morgen, aber wenn Sie darauf bestehen, könnten Sie Ihre Freundin ausnahmsweise heute kurz besuchen – aber nur zehn Minuten.“ Sie reichte mir ein Taschentuch.

Dankbar nahm ich es und tupfte unter meinen Augen entlang. „Mir ist alles recht.“

„Sie liegt im Cerus-Gebäude, hier gleich die Treppe hoch, dann links zu den Aufzügen, in den vierten Stock, den Flur links bis zum Ende durch, dann rechts.“

„Vielen, vielen Dank.“ Ich warf ihr eine Ladung Kusshände zu, was sie zum Schmunzeln brachte, und eilte los zum Fahrstuhl und mit diesem in den vierten Stock. Die Wartezeit nutzte ich und fuhr mir mit den Fingern ein paar Mal durch die Haare, um sie wenigstens ein bisschen zu bändigen. Bei mangelnder Pflege kräuselten die sich nämlich gern und bildeten unschöne Vogelnester.

Als sich die Aufzugtüren mit einem freundlichen Pling öffneten, schlug mir mein Herz bereits bis zum Hals. Ich trat hinaus und blickte den Flur zu beiden Seiten hinauf.

Was hatte Jennifer nach dem vierten Stock gesagt? Wo sollte ich lang? Treppe hoch, links, Aufzug … und dann? Rechts? O nein, ich hatte es vergessen! Zögernd ging ich ein paar Schritte nach rechts, blieb dann jedoch stehen. Nein, ich sollte den Flur runter und dann rechts abbiegen. Oder?

„Na, haben Sie sich verlaufen?“, sagte eine bekannte Stimme hinter mir.

Erstaunt fuhr ich herum und erkannte den Grey’s-Anatomy-Arzt aus dem Rettungswagen. Er war hier. Und er lächelte mich an.

„Ich … Ich wollte zu meiner Freundin“, stammelte ich.

Sein Lächeln vertiefte sich. „Ich weiß. Als Jenny von dem Autounfall und der Schuldfrage gesprochen hat, konnten nur Sie es sein.“

Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. Darauf fiel mir nichts ein. Er war also Dr. Thomas.

„Ich habe mir schon gedacht, dass wir uns hier wiedersehen würden. Allerdings nicht so schnell.“

„Sind Sie ihr behandelnder Arzt?“

„Nein, ich bin Unfallchirurg auf dieser Station. Einige meiner Patienten betreue ich auf der Intensivstation, ebenso wie Dr. Millner. Er ist Frau Kiehns behandelnder Arzt, aber ich vertrete ihn, weil er heute früher gehen musste. Soll ich Sie zu Ihrer Freundin begleiten?“

„Äh …“

„Nicht, dass die Schwestern Ihnen wegen der Anordnung von Dr. Millner den Zutritt verweigern.“ Er zwinkerte mir zu.

„Gerne, danke.“ Diese Situation überforderte mich. Verwirrt folgte ich ihm den Gang entlang. „Wie geht es ihr?“, fragte ich schließlich.

Einen Moment schwieg er, was mich gleich nervös werden ließ. War das die Art von Schweigen vor einer schlechten Nachricht? Ich hielt die Luft an.

„Sie ist schwer verletzt, aber sie wird überleben. Den Rest besprechen wir am besten, wenn wir bei ihr sind. In Ordnung?“

„Ja …“ Unnachgiebig zwang ich meine Gedanken darüber, was Val alles fehlen und welche Folgeschäden sie erlitten haben könnte, zur Ruhe und konzentrierte mich einzig darauf, neben dem Grey’s-Anatomy-Arzt den Flur entlang zu laufen. Doch auch das fühlte sich eigenartig an – fremd und zugleich irgendwie vertraut.

Als wir die Tür mit der Aufschrift Intensivstation erreichten, begann mein Herz kräftig in meiner Brust zu trommeln, das Blut rauschte laut in meinen Ohren.

Dr. Thomas desinfizierte sich die Hände und bedeutete mir, es ihm gleich zu tun. Ungeschickt verteilte ich das Mittel auf meinen Händen. Der beißende Geruch stieg mir unangenehm in die Nase. Das war jedoch nur eine Unannehmlichkeit im Vergleich zu dem, was jetzt kommen würde.

„Sind sie bereit?“, fragte er.

Mir war so flau im Magen, dass ich froh war, das Frühstück nicht angerührt zu haben. Mit zitternden Beinen atmete ich geräuschvoll aus, ehe ich zaghaft nickte.

Er drückte auf den Türöffner.

Stück für Stück enthüllte sich der Raum in gedämmtem Licht. Vier Betten befanden sich darin. Zwei rechts. Zwei links. Val lag in dem Bett direkt vor mir. Trotz des Kopfverbands und der Beatmungsmaske, die ihr halbes Gesicht bedeckte, erkannte ich sie. Ihr zarter Körper stand im Gegensatz zu denen der anderen Patienten. Überall hingen Schläuche an ihrem Körper und führten zu den Geräten, die um sie herum standen.

Dieser Anblick traf mich tief in meinem Herzen.

Val war ein ausnahmslos fröhlicher und positiver Mensch. Ich kannte niemanden, der aus wirklich jeder Zitrone des Lebens etwas Positives machen oder etwas Schönes darin finden konnte. Und nun lag sie da, in diesem kalten Bett mit dem weißen Bettbezug, dem auch die zartblauen Streifen nicht mehr helfen konnten. Sie verdiente eine Decke, rot wie Santas Mantel, mit Tannengrün und Lebkuchenmännchen, wie sie sie zu Hause hatte. In dieser sterilen Umgebung zwischen all den Geräten wirkte sie klein und zerbrechlich.

Eine Hand legte sich auf meinen Rücken und schob mich behutsam weiter.

Eine Schwester in blauer Krankenhauskleidung kam zu uns. Mit gedämpfter Stimme sprach sie mit Dr. Thomas, der sich daraufhin wegdrehte. Ihr Murmeln verschwamm in meiner Wahrnehmung.

Ich spürte meinen Körper nicht, als ich die letzten Schritte allein ging, bis ich an ihrem Bett stand.

Ihre Augen waren geschlossen. Beinahe sah sie aus, als würde sie schlafen. Ihr Gesicht war hübsch wie immer.

„O Val …“, flüsterte ich erstickt. „Es tut mir so leid.“

„Hier, setzen Sie sich.“ Dr. Thomas war wieder da und schob mir einen Stuhl hin.

Dankbar, nicht mehr auf meinen kraftlosen Beinen stehen zu müssen, setzte ich mich und beobachtete geduldig, wie er die Werte der Geräte überprüfte.

Dann sah er mich an. „Sie hatte eine komplizierte Fraktur des Oberschenkelhalses, die operiert werden musste, außerdem gebrochene Rippen und einige innere Verletzungen. Sie hat viel Blut verloren“, erklärte er sachlich.

Ich nahm seine Worte nur noch gedämpft wahr.

„Die Operation an ihrem Oberschenkel ist sehr gut verlaufen. Dennoch wurde sie aufgrund der inneren Verletzungen in ein künstliches Koma versetzt.“

Künstliches Koma? Für den Bruchteil einer Sekunde wurde mir schwarz vor Augen.

Er erriet meine Gedanken. „Keine Sorge. Bei so schweren Läsionen, wie Ihre Freundin sie erlitten hat, ist das eine Standardprozedur, um dem Körper die Ruhe zu geben, die er für die Heilung benötigt. Und für sie ist es auch angenehmer, die Schmerzen nicht bei Bewusstsein ertragen zu müssen.“

Ich schluckte. „Und … wie lange wird sie in diesem Zustand sein?“

„Ein paar Tage, vielleicht eine Woche, maximal zwei. Das kommt darauf an, wie schnell sich ihr Körper regeneriert.“

„Wird er sich denn wieder … vollständig regenerieren?“, fragte ich vorsichtig.

Er betrachtete Valentina. „Mit absoluter Sicherheit kann man das nie sagen, aber die Chancen stehen sehr gut. Es wird allerdings seine Zeit brauchen.“

Wieder schniefte ich. Das klang furchtbar. Und ich hatte lediglich einen lahmen Arm. Das war nicht fair.

Behutsam nahm ich ihre Hand, in der ein Infusionsschlauch über einen Zugang verschwand. „Spürt sie das?“, fragte ich Dr. Thomas. „Kann sie hören, was ich ihr sage?“

Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Aus medizinischer Sicht ist es nicht belegt, aber es gibt einige aussagekräftige Studien, dass das Unterbewusstsein komatöser Patienten Gesagtes oder Gefühltes durchaus wahrnimmt. Darum würde ich Ihnen empfehlen, das zu tun, was Sie persönlich für richtig erachten.“

„Ich möchte mit ihr sprechen“, sagte ich entschlossen. „Mehr, als mir nicht zuhören, kann sie nicht und das hat sie auch vorher gerne gemacht.“

Amüsiert schnaufte er. „Nur zu. Aber bitte nicht zu laut.“ Mit dem Kugelschreiber deutete er auf die anderen Betten.

„Natürlich.“

„Dann lasse ich Sie beide mal allein.“

„Danke.“

Die Idee eines Lächelns huschte über sein markantes Gesicht, verschwand jedoch zu schnell wieder. Unweigerlich fragte ich mich, wann er hier das letzte Mal ehrliche Freude erlebt hatte und wie viel Leid und Elend sich hier jeden Tag zutrug.

 

An Vals Bett sitzend hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren, als mich eine zarte Stimme aus unserer Welt riss. „Entschuldigung, aber ich muss Sie jetzt bitten zu gehen.“

Ich zuckte zusammen. Es war die Schwester in Blau von vorhin. Ein warmer Ausdruck lag in ihren Augen.

„Darf ich morgen wiederkommen?“, fragte ich hoffnungsvoll.

„Nun ja, eigentlich … Die Angehörigen werden später auch noch kommen …“ Sie sah zu Dr. Thomas, der mit einer dicken Mappe in der Hand gerade vom Nachbarbett zu uns kam.

„Das ist schon in Ordnung. Sie wird keinen Ärger machen.“ Ein gleichsam verschwörerischer wie mahnender Blick huschte zu mir, der eine feine Euphorie in meinem Magen auslöste.

„Werde ich nicht. Versprochen.“

Wenig überzeugt nickte die Schwester. „Nun gut, wenn der Chef es erlaubt …“

Ich schenkte ihr ein dankbares Lächeln, das ihr versichern sollte, dass sie ihre Entscheidung nicht bereuen würde.

„Kommen Sie, ich begleite Sie hinaus.“ Dr. Thomas nickte in Richtung Tür.

Flüsternd verabschiedete ich mich von Val und folgte ihm.

„Soll ich Sie noch zum Aufzug bringen?“, erkundigte er sich, als wir die Intensivstation verlassen hatten.

Eigentlich war das nicht nötig, doch ich genoss seine geerdete Art gerade sehr. „Ja, bitte.“

„Ich würde Ihnen empfehlen, sich psychologische Betreuung zu suchen“, sagte er, nachdem wir ein paar Schritte gegangen waren.

Ich rümpfte die Nase. „Wie kommen Sie darauf, dass ich …“

„Sie grübeln. Das sehe ich Ihnen an. In Gedanken sind Sie wieder bei dem Unfall.“

Bingo.

„So ein Unfalltrauma ist nicht zu unterschätzen und es würde Ihnen helfen, auch von geschulter Seite zu hören, dass Sie nicht schuld am Zustand ihrer Freundin sind.“

„Ich war unaufmerksam und habe zu spät gebremst“, gab ich mit schwacher Stimme zurück. „Und ich habe in die falsche Richtung gelenkt.“

„Sie gehen zu hart mit sich ins Gericht, Romy“, sagte er warm. „Wir sind alle mal unaufmerksam oder reagieren intuitiv. Das ist in Ordnung. Sie müssen sich selbst verzeihen. Das ist wichtig.“

Ich wagte nur kurz, ihn anzusehen. Sein Blick war aufrichtig und ermutigend.

Vor dem Aufzug blieben wir stehen. Ich spürte, dass er auf meine Antwort wartete, doch ich würde ihm keine geben. Das Einzige, was mir half, war, wenn Val wieder gesund werden würde.

„Überlegen Sie es sich.“

Schweigend drückte ich auf den Aufzugknopf. In meinem Kopf ertöne auf einmal Vals Stimme. „Ernsthaft, Romy“, schimpfte sie in ihrer niedlichen Art mit in die Hüften gestemmten Händen. „Ich sage dir schon seit Jahren, dass du dein Päckchen aufzuarbeiten hast. Und jetzt steht dieser hinreißende Arzt vor dir und sagt dir dasselbe, und nicht mal auf den hörst du?“

Ich spürte, wie sich ein Schmunzeln löste. „Valentina hat mir auch immer gepredigt, dass ich …“ Ich schüttelte den Kopf und knibbelte an meinem Pullover. „Wissen Sie, es ist für mich nicht so einfach. In meiner Vergangenheit, da …“

„Es tut mir leid, aber ich muss los“, sagte Dr. Thomas plötzlich. Er deutete auf seinen Pager, den ich nicht hatte piepen hören, und entfernte sich bereits die ersten Schritte. „Finden Sie den Weg zurück?“

„Ich … äh …“ Irritiert über den abrupten Abbruch blinzelte ich ein paar Mal. „Ja, bestimmt.“

„Gut, dann bis zum nächsten Mal.“ Er lächelte mir halb zu und mit einem Wink war er verschwunden.

Verdutzt blickte ich ihm hinterher, bis sich die Fahrstuhltür neben mir öffnete.

 

In der S-Bahn auf dem Weg nach Hause sah ich in der halbbeschlagenen Scheibe das erste Mal meine Erscheinung: die langen Haare kraus, zerzaust und verklebt, die Augen verquollen vom Weinen und dem wenigen Schlaf und eine Kruste an der Lippe. Und war das ein Veilchen unter meinem rechten Auge? Ich konnte es nicht genau erkennen.

Ich zwang mich, nicht weiter an mir hinab zu sehen. Stattdessen ließ ich eine Strähne meiner nussbraunen Haare zwischen meinen Fingern hindurchgleiten und versank in Grübeleien. Ich fand es wirklich lieb, dass sich Dr. Thomas so viel Zeit für mich genommen hatte. Das war bestimmt nicht selbstverständlich.

Auf der anderen Seite fragte ich mich, ob sich sein Pager tatsächlich gemeldet hatte. Diesen stumm zu stellen, würde bei einem Arzt im Dienst wenig Sinn ergeben. Hatte ich es also überhört oder hatte er die dringende Meldung nur vorgegeben, um einem Gespräch über meine Vergangenheit zu entgehen?

Das wäre nichts Neues, hatte mich bislang noch jeder Mann sitzenlassen und das oft sehr ungalant.

Valentina hatte es nie gutgeheißen, wenn mir solche Gedanken gekommen waren. „Wenn du danach gehst, ist jede Beziehung bei jedem Menschen irgendwann gescheitert, außer die aktuelle“, hatte sie einmal gesagt.

„Aber immer wurde ich verlassen, nie umgekehrt.“

Ihr Blick wurde warmherzig, die Stimme einfühlsam. „Die Männer sind gegangen, weil du nicht gehen konntest. Es liegt nicht in deiner Natur, die Liebe aufzugeben und einem Menschen das Herz zu brechen. Du wartest so lange, bis …“

„… er es tut.“

„Aber jeder kann sich glücklich schätzen, dich zu haben, denn du bist liebenswert, humorvoll und fürsorglich. Du bist ein Schatz, im wahrsten Sinne des Wortes.“

Ich verzog den Mund.

„Er wird kommen, der Mann, der dich genau so sieht. Da bin ich mir sicher.“

„Hm“, gab ich zurück. „Klingt langwierig …“

„Wenigstens hast du nicht unmöglich gesagt.“ Sie kicherte.

Sie war wirklich die beste Freundin, die ich haben konnte.

Immer schon.

Diese Erinnerung an frühere Gespräche gab mir neue Zuversicht. Ich brauchte keinen seelischen Beistand. Und die Beachtung irgendeines dahergelaufenen Arztes brauchte ich ebenso wenig. Er war ohnehin außerhalb meiner Liga. Bei seinem Aussehen standen die bildhübschen Frauen mit den perfekten Modelmaßen garantiert Schlange. Ich war zwar nicht unansehnlich – meine türkis-grauen Augen standen im Kontrast zu meinen dunklen Haaren, ähnlich wie bei ihm. Ich war schlank, ohne sportlich zu sein, was schnell dürr wirkte, und hatte ein kleines Nasenpiercing, was auch nicht jedem gefiel.

Am wahrscheinlichsten war jedoch, dass er liiert war.

Sein Abgang war wenig schmeichelhaft gewesen, aber so konnte ich ihn wenigstens abhaken und mich voll auf meine Freundin und das Versprechen konzentrieren, das ich ihr nach dem Unfall gegeben hatte: Die Adventszeit zelebrieren. Das würde ohnehin meine maximale Aufmerksamkeit erfordern …

 

In der Stadtmitte stieg ich aus und lief durch die von Läden gesäumten Gassen. Kleine inhabergeführte Läden standen zwischen den Geschäften großer Ketten. Das war der Grund, aus dem ich die Fußgängerzone dieser Stadt so liebte: Sie war vielfältig und abwechslungsreich.

Der Blick in die Schaufenster war allerdings weniger erfreulich. Wie über Nacht hineingezaubert, leuchteten von überall Lichterketten, deren Schein sich auf der regennassen Straße spiegelte. Kunstschnee zierte in den Fenstern die Umgebung der Ausstellungsstücke. Wenigstens hatten sie das kitschige Rot-Grün und den fassbäuchigen alten Mann gegen modernes Silber und Gold getauscht.

Die vergangenen Jahre hatte ich jeden Blick in die Schaufenster gemieden. Geschenke hatte ich im Internet oder bei Hilda im Buchladen gekauft und war nur für den Glühwein mit der Clique auf den Weihnachtsmarkt gegangen.

Auch wenn mich die vorgegaukelte Besinnlichkeit störte, musste ich zugeben, dass die Weihnachtsdekoration – die ich mir wohl oder übel als Valentinas Weihnachtselfenvertretung zulegen musste – im Vorübergehen gar nicht so unansprechend war. Vor einem Geschäft blieb ich stehen und betrachtete die Dekoration genauer. Recht dezent befanden sich dort Sterne aus Metall, hölzerne Weihnachtsbäume oder weiß-golden glitzernde Mützen aus Porzellan. Ich entdeckte Wichtel, denen spaßige, übergroße Mützen bis über die Augen reichten, und Stoffschneemänner, die mich mit ihren Kohlestückmündern anlächelten. Eigentlich ganz niedlich. Kurzum: Es war viel harmloser als das wahnsinnige Weihnachtswunderland in Valentinas Wohnung. Vielleicht würden die kommenden Wochen doch keine allzu grausame Folter werden.

Mit etwas leichteren Schritten setzte ich meinen Weg fort. Mein Arm machte sich trotz der Schmerzmittel immer mehr bemerkbar. Es wurde Zeit, dass ich nach Hause und auf das Sofa kam.

 

Endlich hatte ich meine Wohnung erreicht, die sich über meinem Lieblingsbuchgeschäft Hensen & Co. befand. Wie jedes Mal zauberte mir die urige kleine Buchhandlung auch heute ein Lächeln ins Gesicht. Valentina und ich kamen mindestens einmal die Woche hierher, um Liebesschmöker zu lesen. Am liebsten im Winter, wenn es draußen kalt und ungemütlich war, so wie jetzt. Aber ohne Val würde es nicht dasselbe werden.

Ich wischte den Gedanken beiseite und ging in die schmale Gasse zwischen dem Buchladen und dem benachbarten Teekontor zur etwas versteckt liegenden Haustür. Der Geruch von fruchtigen, herben und süßlichen Teearomen hieß mich willkommen.

Als ich die Tür zu meiner Wohnung öffnete, kam Simba mir bereits entgegengelaufen. Sein Blick war entweder freudestrahlend oder vorwurfsvoll, das war seinem „Miau“ gerade schwer zu entnehmen. Da er allerdings gestern und heute eine Zwangsdiät hatte einlegen müssen, war sein Mauzen wohl eher anklagend gemeint.

Ich bückte mich zu ihm hinunter und strich ihm durch sein weißes, weiches Fell. „Hallo, mein Katerchen. Hast du hier gut aufgepasst?“ Bevor ich ihn ausgiebig streicheln konnte, drehte er sich um und lief in die Küche, wo sein Napf stand. Kopfschüttelnd zog ich meine Boots aus, ging jedoch aus Gewohnheit als erstes ins Wohnzimmer. Alles sah aus wie immer. Alles stand am selben Platz. Und dennoch hatte sich alles verändert. Nichts war mehr, wie es gewesen war.