Kapitel eins
Dieser trübe Novembermorgen könnte nicht besser anfangen. Natürlich habe ich wieder mal meinen Wecker zu leise gestellt und springe erst aus dem Bett, als meine Mitbewohnerin Joanna laut an meine Tür klopft. Zu Glück hat sie sich gemerkt, wann ich aufstehen wollte.
So renne ich mit knurrendem Magen über die 6th Avenue zu der prunkvoll geschmückten Mall B&C, die ab sofort mein Arbeitsplatz sein wird. Heute geht der Weihnachtswahnsinn offiziell los, und Manhattan zeigt sich von seiner hektischsten Seite. Es ist schließlich Black Friday. Obwohl gestern Thanksgiving war, habe ich bis spät in die Nacht im Coffeeshop gekellnert, weil meine Kollegen natürlich ihre Familien besucht haben und ich zum Abschluss noch eine Doppelschicht schieben musste.
Da ich es wirklich eilig habe, bleibt keine Zeit, um die üppige Weihnachtsdekoration und festliche Beleuchtung zu bewundern, die ab heute das ganze Gebäude erstrahlen lässt. Abgesehen davon habe ich für Weihnachtskitsch echt nicht viel übrig.
Ich nehme den Eingang für Mitarbeiter und laufe die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sich das provisorische Büro meines Chefs, Mr. Brown, befindet. Billie Eilish hat mich die ganze Fahrt über begleitet, und ich ziehe mir noch rechtzeitig die Stöpsel aus den Ohren. Nach dem Anklopfen platze ich abgehetzt hinein und atme erleichtert auf. Ich bin zwar sechs Minuten zu spät, aber meine Kollegen für die nächsten vier Wochen stehen noch locker herum und plaudern miteinander. Mr. Brown und seine Assistentin, Ms. Brody, bemerken mich nicht mal, sie trinken am Fenster ihren Kaffee und unterhalten sich.
„Hey Hope!“, begrüßt mich Susie, eine hochgewachsene Rothaarige, die neben der Tür steht und in den letzten Monaten meine beste Freundin geworden ist.
„Hey“, erwidere ich. „Gott sei Dank habe ich es noch rechtzeitig geschafft, ich habe schon wieder den Wecker überhört.“
„Entspann dich, Mr. Grinch und seine Hexe sind zum Glück noch beschäftigt, wie du siehst. Übrigens, Matthew und Lisa fehlen auch noch.“ Susie lächelt mich ermutigend an und tätschelt dabei meinen Oberarm.
Alles gut. Dann bin ich offensichtlich nicht die Einzige, die morgens gerne verschläft. Gestern war es schon nach zwei, als ich endlich ins Bett konnte. Eigentlich hasse ich Jobs, die meinen Biorhythmus durcheinanderbringen. Doch regelmäßige Ablenkung und keine Zeit zum Grübeln – dazu weit weg von meinem Zuhause in New Jersey – ist gerade das, was ich will und was ich brauche.
Mr. Brown dreht sich zu uns um und Ms. Brody klatscht zweimal kräftig in die Hände, um unsere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die beiden betreiben eine Agentur, die Personal für Veranstaltungen an Einkaufszentren oder Messen vermittelt. Dadurch, dass sie die Darsteller und die Events sorgfältig und vor allem persönlich vorbereiten und beaufsichtigen, haben sie sich einen lukrativen Kundenkreis aufgebaut und genießen einen exzellenten Ruf. Sie arbeiten regelmäßig für diese Mall, und jedes Mal übertreffen sie mit ihren „Inszenierungen“ das vorherige Jahr. Ich habe echt Glück, dass sie mich genommen haben, denn ich schätze meine darstellerischen Qualitäten eher als bescheiden ein. Auch von der Optik her bin ich als Brünette mit haselnussbraunen Augen nicht die erste Wahl für meine himmlische Rolle. Aber irgendetwas an mir hat das ungleiche Duo überzeugt und sie haben mir den Job anvertraut.
Der Chef steckt in einem schicken, doch wie immer etwas zu weiten Anzug, der ihn nicht lässig, sondern unförmig erscheinen lässt. Mit seinem strengen Seitenscheitel im schütteren, grauen Haar und einem schmalen Schnurrbärtchen kommt er mir wie eine Figur aus einem alten Schwarz-Weiß-Film vor. Ms. Brody wiederum, eine kräftig gebaute Afroamerikanerin Ende fünfzig, trägt stets viel zu enge Kleider, die ihre üppige Figur noch mehr betonen. Vielleicht zelebriert sie damit demonstrativ ihre Weiblichkeit, oder sie hat in letzter Zeit stark zugenommen und beharrt weiter auf ihre alte Konfektionsgröße. Mit ihrem farbenfrohen Kleidungsstil und glamourösen Make-up bildet sie einen starken Kontrast zu dem blassen Mr. Brown, der mit seiner Vorliebe zu grauen Kleiderstücken der wahre König von Fifty Shades of Grey ist, wie wir ihn hinter seinem Rücken scherzhaft getauft haben. Mit wir meine ich unsere Weihnachtstruppe. Sie besteht aus ungefähr fünfundzwanzig jungen Männern und Frauen, die ab heute im Einkaufszentrum als Weihnachtselfen, Engel, Märchenfiguren und natürlich Santa unterwegs sein werden. Der Job ist gar nicht so schlecht bezahlt, und ich habe mich schon im Sommer bei mehreren Einkaufszentren und großen Shoppingtempeln in New York beworben. Nun bin ich hier gelandet und werde nach besten Kräften den Weihnachtsengel geben.
„Guten Morgen zusammen! Schön, dass ihr alle es pünktlich geschafft habt.“ Mr. Brown meldet sich mit seiner kratzigen, stets unfreundlich klingenden Stimme. Ms. Brody nickt bloß zur Begrüßung und zieht dabei ihre Mundwinkel kurz hoch. In diesem Augenblick klopft es laut an die Tür, und es erscheinen Matthew und Lisa. Ihre Gesichter haben einen bestimmten Glanz, der bestimmt nicht von der morgendlichen Kälte kommt. Sie sind erst seit zwei Wochen ein Pärchen und können nur schwer die Hände voneinander lassen. Was bei gewissen Kollegen für Neid sorgt.
„Entschuldigung, wir haben den Zug verpasst.“ Matthew zuckt entspannt mit den Schultern, als er einen strengen Blick von Mr. Brown erntet.
Ms. Brody schüttelt missbilligend den Kopf und stemmt ihre Hände in die breiten Hüften. Wenn sie eine Opernsängerin wäre, könnte sie mit ihrer majestätischen Figur und ihrer stolzen Haltung eine perfekte Walküre abgeben.
„Dann nehmt morgen gefälligst einen Zug früher!“, faucht sie die beiden an. Ms. Brody besitzt ein stimmliches Organ, das sie locker ohne die Hilfe eines Megafons für Ansagen in Stadien einsetzen könnte.
„Ja, das machen wir, versprochen“, erwidert Lisa eingeschüchtert.
„Na, schon wieder die ganze Nacht gevögelt?“, murmelt Scott, der vor uns steht, und grinst das Pärchen anzüglich an. Sein pickeliger Kumpel Harry gib ihm dafür ein High five, und sie lachen los.
„Fresse“, zischt Matthew und verpasst Scott einen Klaps auf den Hinterkopf.
„Heeey“, protestiert Scott laut, und Harry prustet schadenfroh los.
„Jetzt reicht’s!“ Ms. Brodys Stimme vibriert bedrohlich durch den Raum, und sogar Mr. Brown zuckt zusammen. „Ihr seid nicht hier, um Spaß zu haben, sondern um die Kinder und ihre Eltern zu bespaßen!“ Ms. Brody macht einen Schritt nach vorne, und ihre Augen funkeln zornig. „Ist das klar?“
„Ja, Ma’am!“, antworten Scott und Harry unisono.
„Ist das euch allen klar?“ Ms. Brodys Stimme erreicht eine Dezibelstärke, die jeden Einbrecher in die Flucht treiben würde.
„Ja, Ma’am!“, wiederholen wir alle brav, um sie zu beschwichtigen.
„So ist es gut“, meldet sich Mr. Brown erleichtert, der ohne seine energische Assistentin keine Chance hätte, einigermaßen Autorität auszustrahlen.
„Na dann, los! Zieht eure Kostüme an und macht euch bereit. In einer halben Stunde öffnen sich unsere Türen.“ Ms. Brody sieht uns an, als ob sie es mit einer Gruppe unmündiger Kinder zu tun hätte, denen man erst Manieren beibringen müsste. Na ja, einige von uns benehmen sich wirklich nicht besser als Teenager und sind diesem Alter auch gerade entwachsen. Aber ich bin wahrscheinlich die Einzige unter uns, die sich mit ihren dreiundzwanzig Jahren richtig alt fühlt, auch wenn meine äußerliche Erscheinung etwas anderes vermittelt. Ich bin eher klein gewachsen, sodass ich auf den ersten Blick recht mädchenhaft wirke. Das liegt auch daran, dass ich vor zwei Jahren fast zehn Kilo abgenommen habe und meine weiblichen Rundungen dadurch stark reduziert wurden. Vielleicht schaffe ich es eines Tages, wieder zuzunehmen und mein Idealgewicht zu erreichen. Im Augenblick ist mir das allerdings ehrlich gesagt ziemlich egal.
Wir ziehen uns in provisorischen Garderoben in den Lagerräumen um, sittenhaft getrennt nach Geschlechtern. Wir Frauen haben sogar zwei Schminktische mit beleuchteten Spiegeln zur Verfügung, um uns schminken zu können. Schließlich sollen wir echt, zauberhaft und authentisch aussehen, hat uns Mr. Brown vor einer Woche verkündet, als wir unsere Rollen mitsamt Kostümen bekommen haben.
Susie, die eine richtige Make-up-Expertin ist, verwandelt mich innerhalb weniger Minuten in einen Engel. Mit meiner goldblonden, gelockten Perücke und viel Glitzer und Goldstaub im Gesicht sehe ich ziemlich passabel aus. Dazu trage ich ein weißes, kurzes Hängerkleid aus Satin und darunter eine weiße Strumpfhose mit weißen und zum Glück flachen Stiefeletten. Susie, die eine richtig sexy Elfe abgibt, muss den Tag nämlich in Stiefeln mit ziemlich hohen Absätzen durchstehen.
Am Ende befestige ich den goldenen Heiligenschein auf meiner Perücke, und Susie hilft mir, die Engelsflügel umzugürten. Die sehen wirklich schön aus: fast durchsichtig, mit regenbogenfarbenen Glitzersteinchen verziert, und sie flattern sanft beim Laufen. Alles Kitsch pur, ohne Frage. Doch Weihnachten ohne Kitsch kann man sich heutzutage kaum noch vorstellen. Ein letzter Blick in den Spiegel, und ich bin bereit. Ich wende mich Susie zu, die in ihrem Elfenkostüm in Grüntönen steckt. Statt Perücke trägt sie ihr langes, rotes Haar ausnahmsweise naturgelockt und offen, was sehr hübsch aussieht. Ihr eng geschnittenes, kurzes Kleid zeigt ziemlich viel Dekolleté. Die Väter müssen beim Einkaufen auch ihren Spaß haben, hat Ms. Brody trocken erklärt, als sich Susie bei der Anprobe darüber gewundert hat.
„Dann wollen wir mal“, sagt sie, und wir greifen zu unseren Körbchen, die üppig mit Süßigkeiten und kleinen Plastikfiguren gefüllt sind.
„Es widerstrebt mir zwar, den armen Kindern so viel ungesundes und sinnloses Zeug unterzujubeln, aber was soll’s – it’s Christmas time!“ Susie lacht und wir fangen an, Last Christmas von Wham zu singen. Die anderen Mädels, die sich neben uns angezogen und geschminkt haben, lassen sich von uns mitreißen.
Einen Augenblick lang fühle ich mich wieder wie ein Kind, das in der Weihnachtszeit liebend gerne durch die Mall spaziert ist, die märchenhafte Dekoration bewundert und sich gefreut hat, von Santa und seinen Helfern diese oder jene Süßigkeit ergattern zu können. Es war die schönste Zeit des Jahres und ich überglücklich. Damals, in einem anderen Leben …
Und jetzt werde ich dafür bezahlt, Kindern etwas Weihnachtszauber, Magie und Freude zu schenken. Schon komisch. Wo ich eigentlich vor Weihnachten weglaufen wollte. Um zu verhindern, dass mich die schrecklichen Erinnerungen, die ich seit zwei Jahren zwangsläufig mit dem Fest verbinde, nicht in ein dunkles, trostloses Loch stürzen lassen, aus dem ich gerade einigermaßen heil herausgekrochen bin.
Wie blöd bin ich eigentlich, mir gerade diesen bescheuerten Job auszusuchen, statt lieber Klamotten zu verkaufen oder in einem tollen Buchladen auszuhelfen? Doch während dieser Zeit gibt es so gut wie keine Arbeit, bei der man Weihnachten aus dem Weg gehen könnte. Ich wette, sogar wenn ich in einem Krankenhaus putzen gehen würde, würde mich die Weihnachtsstimmung einholen. Und noch viel schlimmere Erinnerungen in mir wachrufen …
Ich werde einfach das Beste aus diesem Job machen und so tun, als ob ich selbst ein Teil der allgemeinen Weihnachts-Glückspsychose bin.
Mr. Brown und Ms. Brody beäugen uns sorgfältig, als wir in unseren Kostümen stramm wie Soldaten in einer langen Reihe stehen.
„Ihr seht, nun ja, entzückend aus!“
Ms. Brodys Stimme klingt tatsächlich freundlich und sie lächelt sogar. Mr. Brown stimmt ihr zu, und auch sein griesgrämiges Gesicht deutet so etwas wie ein Lächeln an.
„Allerdings. Die kleinen Gäste werden sich freuen, wenn sie euch erblicken. Vergesst nicht, immer freundlich, herzlich und begeistert zu sein! Wenn die Kunden gute Laune haben und ihre Kinder nicht herumnörgeln, geben sie noch mehr Geld aus als geplant.“
Na klar. Das Weihnachtsgeschäft ist die hauptsächliche Treibkraft und Motivation, die hinter unseren zauberhaften Kostümen steckt, nicht die Nächstenliebe. Schließlich bin auch ich hier, um schnell etwas Kohle zu verdienen – und nicht, um kleine Nervensägen glücklich zu machen.
„Ja Sir, wir werden daran denken“, meldet sich stellvertretend für uns alle Joey, der die Rolle des Santa spielt, und grinst dabei.
„Gut, dann sind wir alle so weit.“ Ms. Brody blickt auf ihre Uhr. „In fünf Minuten öffnen sich die Türen. Auf eure Positionen bitte! Und viel Spaß!“
„Ja, das wünsche ich euch auch! Merry Christmas!“ Mr. Brown bemüht sich wieder um eine steife Grimasse, die wohl ein Lächeln sein soll.
„Wow, die alte Hexe und der Grinch haben uns viel Spaß gewünscht und dabei gelächelt“, flüstert mir Susie zu. „Weihnachten macht tatsächlich etwas mit Menschen. Richtig unheimlich.“ Wir prusten los und folgen den anderen.
Als wir im zweiten Stock ankommen, empfängt uns schon festliche Weihnachtsmusik aus unsichtbaren Lautsprechern. Ich muss zugeben, die Dekoration ist atemberaubend. Ein Meer aus Lichterketten, glitzernden Weihnachtskugeln und mit künstlichem Schnee bedeckten Weihnachtsbäumen verwandelt die Mall in einen märchenhaften, wunderschönen Wintertraum. Susies Augen glänzen, und ihr hübsches Gesicht strahlt wie bei einem Kind. Auch ich merke, dass ich mich diesem Zauber nicht völlig entziehen kann. Die Geschäfte links und rechts versuchen, sich in der festlichen Gestaltung ihrer Schaufenster gegenseitig zu übertreffen, und die Verkäuferinnen öffnen ihre Türen mit vor Aufregung geröteten Gesichtern.
In der Mitte der Etage wurde ein eingezäunter Zauberwald aufgebaut, mit vielen echten Tannenbäumen und mehreren Märchenhütten aus Holz. Sogar das dunkelgrüne Moos scheint echt zu sein. Die Attraktion des Zauberwaldes ist ein hübsches Rentierpärchen, das entspannt in seinem kleinen Gehege im Heu buddelt und noch nicht ahnt, welche Menschenmassen sich gleich in diese künstliche Idylle stürzen werden. An einem Tannenbaum hängt ein großer Vogelkäfig mit einer wunderschönen Schneeeule mit halb geschlossenen Augen. Der arme Vogel tut mir jetzt schon leid, auch wenn sein Käfig in einer kindersicheren Höhe angebracht wurde. In der Mitte des Waldes steht das Knusperhäuschen mit gruselig echt wirkenden, lebensgroßen Hänsel- und Gretel-Figuren. Die Wände sind in der Tat mit echten Lebkuchen bedeckt, sodass ich am liebsten ein Stückchen abbrechen würde. Ein neben dem Häuschen platziertes Schild mit klaren Worten „Berühren verboten“ hält mich jedoch rechtzeitig davon ab.
Neben mir und Susie werden weitere Kollegen in ihren Kostümen Stellung beziehen, und Joey, der als Santa durch alle drei Etagen pendelt, kommt mehrmals täglich vorbei und nimmt den Platz auf seinem rot-goldenen Thron ein, der sich vor dem Eingang des Zauberwalds befindet. Dort kann man mit ihm Fotos machen, und auch wir müssen uns auf Wunsch für Selfies bereitstellen. Die Kinder werden zweifelsohne viel Spaß haben.
Pünktlich um neun öffnen sich die Pforten zum Konsumtempel, und die Menschenmassen stürzen sich wie erwartet in die Schnäppchenjagd.
Innerhalb weniger Minuten ist es vorbei mit der Ruhe und Besinnlichkeit, und ich werde Zeugin des hektischen Treibens um mich herum. Die Kinder, die hinter den Erwachsenen hergezogen werden, bleiben nur selten bei mir stehen, oder sie greifen im Vorbeilaufen hastig nach den Schokopralinen, die ich mit einem Dauerlächeln anbiete. Wenn sich eine Mutter doch die Zeit nimmt, um mit ihrem Kind kurz bei mir oder einem meiner Kollegen zu verweilen, merke ich die innere Unruhe, die sie daran hindert, sich selbst eine kleine Verschnaufpause zu gönnen. Der Weihnachtszauber in der Mall, der fairerweise wirklich nicht zu bemängeln ist, lässt die Erwachsenen noch ziemlich kalt. Die Kinder werfen nur einige Blicke auf den stimmungsvollen Winterwald; ihre Aufmerksamkeit ist von kurzer Dauer.
Als ich selbst noch ein Kind war, konnte ich stundenlang die festliche Dekoration betrachten und meine Nase dabei staunend an die beleuchteten Schaufenster pressen.
Aber vielleicht wird es in den kommenden Tagen und Wochen besser werden. Schließlich war gestern noch Thanksgiving, und man muss sich erst mal von diesem herbstlichen Feiertag auf die weihnachtliche Saison einstellen.
Kapitel zwei
In der Mittagspause löffle ich in den Räumlichkeiten für Angestellte aus meinem Chinabecher, und Susie packt ihr üppig belegtes Sandwich aus. Wir sind beide ziemlich still. Das Herumlaufen, Dauerlächeln und die stets freundlichen Bemühungen, die Kundschaft kurz zum Verweilen anzuhalten, sind anstrengend. Auch den Geräuschpegel in der Mall empfinde ich nach einigen Stunden als belastend.
„Einfach das Gehirn ausschalten und weitermachen“, sagt Susie ermutigend zu mir, als wir unsere Erfahrungen austauschen. „Irgendwann werden wir abstumpfen, und das zehnte Mal Last Christmas an einem Vormittag wird uns nicht länger foltern, sondern uns ein Dauergrinsen ins Gesicht zaubern. Wir werden zu fröhlichen Weihnachtszombies mutieren und alles wird gut. Merry Christmas!“
„Merry Christmas!“ Dankbar erwidere ich Susies Grinsen. Sie schafft es meistens, alles mit Humor zu nehmen. Nun, sie kennt nicht die wahren Gründe für meine Abneigung gegen Weihnachten, das Fest der Liebe und der Familie. Wenn man eine Familie hat …
Da wir erst seit sechs Monaten befreundet sind, habe ich ihr noch nicht viel über meine Vergangenheit anvertraut.
Bevor mich Schwermut überfällt, ziehe ich eine alberne Grimasse und begebe mich zum Winterwald, um nach der Eule zu sehen. Ich habe noch ein paar freie Minuten, bevor die Pause offiziell zu Ende ist. Am Vormittag hat sie auf mich ziemlich nervös gewirkt. Das arme Tier. Es wird bestimmt ein Trauma bekommen, wenn es die nächsten vier Wochen hier in diesem Irrenhaus verbringen muss. Der schöne Vogel kauert auf seiner Stange und blickt ergeben drein.
„Na du?“, spreche ich die Eule an. Sie sieht mich nicht an, plustert sich nur etwas auf. Ich würde sie gerne anfassen, doch ich riskiere es lieber nicht. Der Tierpfleger, der sich um die drei Tiere kümmert, meinte vorher, sie mag nicht berührt werden und könnte aggressiv werden. Ich denke, er macht sich nur wichtig. Die Eule wirkt keineswegs aggressiv, sondern eher depressiv. Was in Anbetracht ihres Käfigs kein Wunder ist. Irgendwann guckt sie in meine Richtung und öffnet halbwegs interessiert ihre gelben Augen.
„Meine Schöne, ich würde dir gerne eine Schokopraline anbieten, aber ich befürchte, die sind nichts für dich“, sage ich entschuldigend zu ihr. „Bestimmt bekommst du gleich ein paar Mäuse.“ Bei dem Gedanken zucke ich angeekelt zusammen, denn Mäuse sind nicht gerade meine Lieblingstiere. Um mich abzulenken, vernasche ich schnell eine Schokopraline.
Die Pralinen, die ich an die Kinder verteile, schmecken wirklich lecker, und immer wieder stecke ich mir heimlich eine in den Mund. Nach Weihnachten werde ich in keine Jeans mehr passen, wenn ich so weitermache.
Irgendwie schaffe ich, den ersten Tag zu überstehen. Langsam gewöhne ich mich daran, Kinder stets freundlich lächelnd mit den eingeübten Floskeln anzusprechen und sie in ein kurzes Gespräch zu verwickeln. Ich wette, am Abend bekomme ich von dem Dauergrinsen Muskelkater im Gesicht. Den gestressten Eltern diene ich oft als Auskunft und bin heilfroh, dass ich von meinen Arbeitgebern darauf vorbereitet worden bin. Mit den verschiedenen Bereichen des Einkaufszentrums kenne ich mich gut aus, sodass ich die Fragen der Kundschaft rasch beantworten kann. Denn Geduld und Gelassenheit sind wohl Tugenden, die die Menschen heutzutage verlernt haben. Es muss alles schnell und nach Plan gehen, sonst bekommen sie gleich miese Laune. Statt mal gemütlich durch die Etagen zu schlendern und sich die festliche Deko in den Schaufenstern anzusehen, rasen sie gezielt von Geschäft zu Geschäft. Und dann wundern sie sich, wenn ihre Kinder quengeln und bei dem Anblick eines Engels kein entzücktes Gesicht machen, sondern nur abwesend nach Süßigkeiten in meinem Körbchen greifen. Was soll’s. Ich werde mich daran gewöhnen und routiniert die kommenden Wochen überstehen. Die nächsten drei Stunden vergehen doch schneller als erwartet und ich blicke mit großer Freude auf mein Handy, das ich unter den Süßigkeiten im Korb aufbewahrt habe. Noch drei Minuten bis zu meinem Feierabend! Sechs Stunden am Tag reichen mir vollkommen und für den ersten Tag bin ich ziemlich geschafft. Jessie, meine Ablösung, muss gleich ankommen, wenn sie pünktlich ist.
Wie gestern abgesprochen, warte ich auf der kleinen Sitzbank vor dem Knusperhäuschen auf sie und stecke mir genüsslich eine Marzipanpraline in den Mund. Wegen meiner zarten Engelsflügel darf ich mich nicht zurücklehnen, und die Praline belohnt mich für meine unbequeme Sitzhaltung. Es ist gerade nicht viel los im Winterwald, wo ich mich die meiste Zeit aufhalte, und ich fühle mich unbeobachtet. So seufze ich entspannt, als ich nicht gerade engelhaft meine schmerzenden Beine strecke und dehne.
Auf der Bank vor dem Baum mit dem Eulenkäfig fällt mir plötzlich ein kleiner Junge auf. Ganz alleine und zusammengekauert sitzt er dort und sieht zu Boden. Ich schätze ihn auf höchstens vier Jahre. Sein dunkles Haar ist lockig und lang, und wenn er nicht ausgesprochen jungenhafte Klamotten tragen würde, könnte man ihn für ein süßes Mädchen halten. Als ich mich umblicke, bemerke ich keinen Erwachsenen in der Nähe, der ein Elternteil sein könnte, und sein Anblick weckt meinen Beschützerinstinkt. Der Junge wirkt zwar traurig, jedoch nicht verängstigt, und er weint nicht. Trotzdem kann ich ihn nicht einfach so alleine lassen. Bestimmt ist er seinen Eltern unbemerkt entwischt, und sie suchen schon verzweifelt nach ihm. Am besten, ich bringe ihn zum Informationsstand und lasse sie ausrufen, schließlich gehören solche Dinge auch zu meinem Job.
Entschlossen stehe ich auf und nähere mich ihm langsam. Erst als ich vor ihm stehen bleibe, hebt er seinen dunklen Lockenkopf und sieht mich von unten an.
„Hallo Engel“, begrüßt er mich mit seinem hellen Stimmchen. Er klammert sich fest an einen Plüschhund, den er in seinen Armen hält.
„Hallo ihr zwei“, erwidere ich und knie mich vor ihm hin. „Alles gut bei euch?“
Der Junge nickt nicht gerade überzeugend und blickt mich kurz an. Seine großen Augen sind dunkelblau und von einem dichten, schwarzen Wimpernkranz umrandet. Er ist ein wirklich hübsches und niedliches Kind.
„Wie heißt ihr denn?“, frage ich seinen Dalmatinerhund und streichle ihm kurz über die Pfote.
„Er heißt Bobby“, antwortet der Junge und zieht den Stoffhund fester an sich.
„Hallo Bobby! Und wie heißt du?“ Lächelnd sehe ich den Jungen an.
„Ethan“, erwidert er und rutscht auf der Bank zur Seite, um mir Platz zu machen.
„Ich darf mich zu dir setzen?“, frage ich vorsichtig. Erst will ich sichergehen, dass ich seine Geste richtig interpretiert habe. Ethan nickt, und ich lasse mich neben ihn fallen. Von der Seite beobachtet er interessiert, wie ich dabei meine Flügel mit der Hand hochhalte, um mich nicht daraufzusetzen.
„Ist nicht so einfach mit den Flügeln“, murmele ich unbeholfen. Eigentlich kann ich nicht besonders gut mit kleinen Kindern umgehen, doch dieser Junge berührt mich irgendwie. In seinen großen, ernsten Augen erkenne ich schon wieder einen Schatten der Traurigkeit, die bei so einem süßen Fratz völlig fehl am Platz ist. Er müsste lächeln und bei dem Anblick der märchenhaften Kulisse vor uns vor Freude und Begeisterung strahlen!
„Bist du ein richtig echter Engel?“ Er spricht mit einem leichten britischen Akzent, und seine unschuldige, doch fordernde Frage bringt mich kurz in die Zwickmühle. Normalerweise erzähle ich immer die Wahrheit. In diesem Fall muss ich jedoch kurz überlegen. Der Junge ist in einem Alter, in dem man getrost noch an Engel und den Weihnachtsmann glauben darf, und ich werde unter anderem dafür bezahlt, Kinder in ihrem Glauben zu bestärken.
„Ja, ich bin ein echter Engel“, antworte ich überzeugend und erröte trotzdem. „Sag mal, bist du alleine hier?“ Lieber wechsele ich das Thema, um mich vor weiteren Lügen zu schützen. Abgesehen davon bin ich der Meinung, dass ein so kleines Kind nicht unbeaufsichtigt auf der Bank im Winterwald sitzen dürfte, auch, wenn die Eltern vielleicht bloß in dem Geschäft gegenüber einkaufen.
Ethan schüttelt den Kopf, und ich atme erleichtert auf. Bestimmt erscheint seine Mutter gleich und sorgt dafür, dass er wieder lächelt.
„Hast du meine Mami gesehen?“, fragt er, als ob er meine Gedanken erraten hätte. Seine großen Augen fixieren mich, und plötzlich spiegelt sich so viel Hoffnung darin, dass sich mein Herz zusammenzieht. Der Kleine weckt wahrlich Mutterinstinkte in mir. Und das tut mir nicht gut.
„Das weiß ich nicht, Ethan. Es sind so viele Menschen hier unterwegs und ich habe keine Ahnung, wie sie aussieht“, antworte ich ehrlich. Wieder sehe ich mich um und suche vergeblich nach einer Frau, die seine Mutter sein könnte.
„Ich meine nicht hier“, antwortet der Junge ernst. „Sie ist auch ein Engel und wohnt im Himmel.“
Als ich die tragische Bedeutung seiner Worte begreife, zieht sich mein Herz noch mehr zusammen. Armes kleines Kind! Das kann doch nicht wahr sein!
„Hat sie auch solche schönen Flügel wie du?“
Bei seiner Frage blinzele ich mühsam ein paar Tränen der Rührung weg und schlucke den dicken Kloß in meinem Hals herunter. „Ethan, ich befürchte, ich habe deine Mami noch nicht getroffen“, erwidere ich mit belegter Stimme. Am liebsten würde ich ihn auf meinen Schoß nehmen, ihn fest an mich drücken und ihn liebevoll in meinen Armen wiegen. Doch ich tue es nicht, ich fühle mich wie gelähmt. „Aber ich bin sicher, ihre Flügel sind noch viel schöner als meine“, murmele ich stattdessen unbeholfen. Ethan dreht sich plötzlich zu mir und lehnt sein lockiges Köpfchen zutraulich an meine Brust. Mit beiden Händen umklammert er weiter seinen Hund, und ich muss mich mit aller Kraft zusammenreißen, um nicht loszuheulen. Ich halte die Luft an, umarme ihn und streichele behutsam über sein lockiges Köpfchen. Die alte Wunde in meinem Herzen brennt wieder höllisch, als ich die Trauer dieses Kindes so deutlich spüre. Ich weiß nur zu gut, wie es ihm geht. Alles, was ich will, ist ihm etwas Trost zu spenden. Das tun Engel doch, oder?
Der Junge weint nicht, und das macht mir noch mehr zu schaffen, denn ich spüre seinen stillen Schmerz. Wahrscheinlich hat er irgendwann in seiner Verzweiflung gelernt, nicht länger zu weinen, wenn er an seine Mama denkt. Nun, er hält mich für einen echten Engel und sucht Trost bei mir. Dass mein Job so verdammt anspruchsvoll sein könnte, hätte ich nicht gedacht.
„Alles wird gut“, murmele ich beschwichtigend und streichle über seinen Lockenkopf. Natürlich glaube ich selbst nicht, was ich da erzähle, denn wie soll in dem Leben dieses Kindes etwas wieder gut werden, wenn seine Mutter tot ist! Aber man gibt halt solche leeren Phrasen vor sich hin, wenn man sonst nichts zu sagen hat. Diese Worte habe ich selbst oft genug gehört …
Daher bin ich von allen Menschen, die in diesem Augenblick im Einkaufszentrum unterwegs sind, am wenigstens dafür geeignet, Ethan Trost und Zuversicht zu spenden. Alles was ich tun kann, ist über seinen Kopf zu streicheln und ihn zu umarmen. Er duftet süß nach Apfelshampoo, und seine dunklen Locken sind seidig weich. Ich kann nicht anders, ich beuge mich zu ihm und küsse ihn voller Zuneigung auf sein Köpfchen. Wo er doch ein völlig fremdes Kind für mich ist.
„Ethan, mein Junge, ich bin wieder da! Alles gut bei dir?“ Plötzlich steht ein hochgewachsener Mann neben uns und greift schwungvoll nach Ethan. Der Junge lässt sich von dem Mann hochheben. Er wirft seine Ärmchen um dessen Hals und seufzt erleichtert: „Daddy, du bist endlich wieder da.“
„Natürlich bin ich wieder da! Ich habe dir doch gesagt, ich bin in paar Minuten wieder bei dir“, erklärt Ethans Vater beruhigend und küsst seinen Sohn auf die rosige Wange. „Ich musste nur kurz für große Jungs, und du hast gesagt, du wartest lieber bei der Eule auf mich. Hattest du etwa Angst?“
„Nein, ich hatte keine Angst.“ Ethan schüttelt so energisch den Kopf, dass seine dunklen Locken nur so um sein Gesicht fliegen. „Der Engel war doch bei mir und hat auf mich aufgepasst.“ Er zeigt auf mich und versteckt sein Gesicht an der Schulter seines Vaters. Schon wieder muss ich den Kloß in meinem Hals herunterschlucken.
Erst in diesem Augenblick nimmt mich sein Vater so richtig wahr. Ein Paar ozeanblaue Augen mustern mich aufmerksam. Obwohl die Situation traurig ist, muss ich feststellen, dass der Mann ausgesprochen attraktiv ist. Ich schätze ihn auf Mitte dreißig. Er trägt einen grauen, maßgeschneiderten Anzug und ein schwarzes Hemd und wirkt wie ein Geschäftsmann. Sein mittellanges, dunkles Haar ist gewellt, und ein gepflegter Fünf-Tage-Bart ziert ein Gesicht mit ebenmäßigen Zügen. Nach einigen Augenblicken des gegenseitigen Betrachtens streckt er mir seine Hand entgegen und begrüßt mich mit einem halbherzigen Lächeln. „Entschuldigen Sie bitte. Ich war wirklich nur wenige Minuten weg und lasse normalerweise mein Kind nicht unbeaufsichtigt. Doch er hat darauf bestanden, hier alleine auf mich zu warten, weil er ein großer Junge sein möchte. Ich habe dem Security-Mann da vorne Bescheid gesagt, dass er ein Auge auf ihn hat. Aber vielen Dank, dass Sie sich sofort um ihn gekümmert haben. Übrigens, ich heiße David Bailey.“
Ich stehe endlich auf, und wir schütteln uns die Hände. „Hope. Hope Roberts“, sage ich und hoffe, meine Stimme klingt wieder ganz normal. „Kein Problem, ich habe mich gerne um ihn gekümmert. Ethan hat mich gebeten, mich kurz zu ihm zu setzen, als ich ihn angesprochen habe. Es ist schließlich mein Job.“ Mit einem Zwinkern versuche ich, der Situation etwas von der Schwere zu nehmen, und David Bailey lächelt erneut. Diesmal erreicht das Lächeln auch seine Augen, nicht bloß seine Lippen.
„Hope? Ein passender Name für einen Engel.“ Ethan, der immer noch beide Arme um den Hals seines Vaters geschlungen hat, unterbricht ihn plötzlich ernst: „Papa, Hope hat Mami im Himmel nicht gesehen, ich hab sie gleich gefragt, ob sie sie kennt.“
David Baileys Gesicht verdunkelt sich augenblicklich, und ich entdecke in seinen Augen die gleiche Traurigkeit wie schon zuvor bei seinem Sohn. Hilflos ziehe ich meine Schultern hoch und weiß nicht, was ich sagen soll. Ich ahne, wie er sich in diesem Augenblick fühlt, ahne die tiefe Wunde, die er in sich trägt.
„Er hat es Ihnen also erzählt. Entschuldigen Sie bitte.“ David atmet schwer aus und streichelt seinem Sohn über den Rücken. „Meine Frau … Sie ist kurz nach letztem Weihnachten an Krebs verstorben“, sagt er bemüht ruhig und mit einem leicht finsteren Blick, in dem sich so viel Schmerz spiegelt, dass ich unwillkürlich zusammenzucke. Ich spüre so deutlich, wie schwer es ihm fällt, darüber zu reden, wie viel Kraft es ihn kostet, diese schrecklichen Worte aussprechen zu müssen. Und ich kann ihn so gut verstehen, dass es mir selbst in der Seele weh tut.
„Und dann ist Mami ein Engel geworden und wohnt jetzt im Himmel, nicht wahr?“ Ethan ergänzt ihn entschlossen und will herunter. Sein Vater nickt und stellt ihn langsam auf dem Boden ab. Dabei wirft er mir einen halb hilflosen, halb entschuldigenden Blick zu. Was erzählt man sonst einem kleinen Kind, wenn seine Mutter wegstirbt? Die ganze bittere Wahrheit kann man einem so jungen Menschen nicht zumuten.
Ich finde es nur natürlich, dass David Bailey versucht, seinem Sohn etwas Trost zu verschaffen, indem er ihn glauben lässt, seine Mutter lebe weiter, an einem Ort, der viel schöner ist als diese grausame Welt. Dafür muss man nicht mal besonders religiös sein. Dieser Notlüge würde man sich wahrscheinlich auch als Atheist bedienen, um sein Kind zu trösten.
„Selbstverständlich tut sie das“, murmele ich und mache ein zuversichtliches Gesicht. David Bailey reagiert darauf mit einem dankbaren Lächeln.
„Haben Sie nochmals vielen Dank, dass Sie sich um Ethan gekümmert haben, und es tut mir leid für die Unannehmlichkeiten“, sagt er förmlich und nimmt Ethan an die Hand.
„Kein Thema!“, entgegne ich. „Es war mir eine Freude, Ethan kennenzulernen.“
„Wir müssen jetzt los. Auf Wiedersehen, Ms. Roberts.“ David Bailey nickt mir zu. „Ethan, sagst du Hope auch auf Wiedersehen?“
„Auf Wiedersehen, Hope.“ Ethan winkt mir zu, und mir entweicht unwillkürlich ein „Merry Christmas“.
Wie bescheuert von mir! Bei meinen unbedachten Worten verzieht David Bailey kurz die Lippen.
„Ja, sicher, Merry Christmas“, entgegnet er leicht zynisch. Wahrscheinlich hasst er Weihnachten genauso wie ich und würde es am liebsten überspringen, um den bösen Erinnerungen aus dem Weg zu gehen. Und ich Dumpfbacke lege noch einen Finger in die Wunde, indem ich ihm und seinem Sohn frohe Weihnachten wünsche! Dafür würde ich mich am liebsten ohrfeigen. Beschämt blicke ich den beiden hinterher. Davids breite Schultern sind leicht gebeugt, und von hinten wirkt er älter. Die Last, die er mit sich trägt, ist ihm deutlich anzusehen.
Ethan sieht plötzlich über die Schulter zu mir und schenkt mir ein so bezauberndes Lächeln, dass mir unmittelbar warm ums Herz wird. Ich hoffe wirklich, die beiden werden die Weihnachtszeit gut überstehen. Der Mann scheint ein liebevoller Vater zu sein und tut bestimmt sein Bestes, um seinem kleinen Sohn so weit wie möglich den schrecklichen Verlust zu ersetzen, den er schon so früh erleben musste.
David Bailey bleibt stehen und dreht sich auch um. Unsere Blicke treffen sich, und wie von alleine hebe ich meine Hand zum Abschied. Wir lächeln uns an und sehen uns lange in die Augen. Aber wir flirten nicht. Es ist eher eine instinktive Reaktion darauf, dass wir uns irgendwie erkannt haben, eine Ahnung, dass uns beide etwas verbindet, das tiefer und bedeutungsvoller ist als eine zufällige Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau.
Ich würde ihn und seinen Sohn gerne wiedersehen, und ein seltsames Gefühl in meiner Brust sagt mir, dass es den beiden ebenso geht.