Leseprobe Weihnachtspost und Winterliebe

Neuwerk erleben und verzweifeln

Die ersten Schneeflocken begannen träge, von einem eisigen, stetig wehenden Wind getrieben, zur Erde zu fallen. Eiskristalle, zart, beinahe verloren, bildeten sich an Fensterscheiben, schmolzen gleich wieder und liefen als eine schmutzige Bahn hinter sich herziehender Tropfen daran hinab.

Dort, wo der Schnee den Boden berührte, er kurz liegen blieb, zeichneten sich für jene, die aufmerksam ihre Umgebung im Auge behielten, plötzliche Reifenspuren ab. Dicht gefolgt für ein sensibles Gehör, ein Klingeling

***

„Du wirst dich schon einleben“, meinte Erwin Budden abwinkend, nachdem er in Eva-Maries Gesicht gelesen haben musste wie in einem Buch. „Ein wenig Farbe hier und ein wenig Tapete da und du wirst sehen, im Handumdrehen wird alles genau so sein, wie du es gerne hättest. Wenn das Telefon erst einmal funktioniert, ist das schon die halbe Miete, oder was meinst du? Du ist doch okay für dich, oder?“

„Vollkommen.“ Eva-Marie, die keinen schlechten Eindruck machen wollte, wischte sich eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn. „Du ist perfekt.“

„So haben wir es hier am liebsten“, versicherte ihr der kleine Mann, dessen rote Gesichtsfarbe Eva unweigerlich sagte, dass Erwin mit Bluthochdruck zu kämpfen hatte. „Wir sind wie eine …“

„… Familie“, beendete sie seinen Satz. „Ich weiß.“

„Muss man sein“, erklärte er ihr, ohne sich davon beeindrucken zu lassen, dass Eva-Marie verkrampft lächelte und sich in dem Raum umschaute, in dem eine lose unter der Decke hängende Lampe leuchtete.

Ein Zimmer, wie sie bestürzt feststellen musste, das alles hielt, nur nicht das, was es versprochen hatte.

Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel Gerümpel und abgewetzte Tapeten an den Wänden gesehen wie hier. Da waren Kisten vor eine in einen weiteren Raum führende Tür geschoben worden, die Fenster waren verdreckt, sodass das herbstliche Mittagslicht nur gedämpft durch das Glas fiel und mit Mühe die schummerige Dunkelheit vertrieb.

„Familie ist alles“, murmelte sie, um den an ihr vorbeieilenden Erwin erneut die Worte aus dem Mund zu nehmen.

So nett er sich auch benahm und sich um Freundlichkeit bemühte, dass Eva-Marie es richtig niedlich von ihm fand, konnte sie seine ständig und gern angebrachten Floskeln nicht mehr hören. Bei den vier miteinander geführten Telefonaten hatte er sich dieser Äußerungen ebenso bedient wie auch in dem Augenblick, als sie auf Neuwerk angekommen war und er ihre beiden Töchter im Wagen entdeckt und ihnen zugewunken hatte.

Als sie mit einem Pferdekarren rüber zur Insel gebracht worden war, hatte er sie willkommen geheißen und gesagt: „Wie ich sehe, hast du deine Mädchen schon dabei. Sehr schön. Familie ist alles.“

Er hatte es erneut gesagt, als er sie hüpfenden Schrittes durch den auf der Insel liegenden Ort führte, in dem der Geruch nach Schnee ebenso in der Luft lag wie der nach Salz und Fisch. Eva-Marie, die Meersalzgerüche schon immer geliebt hatte und sich dadurch an gute und bessere Zeiten erinnert fühlte, setzte ihn nun plötzlich mit ihrem Versagen gleich.

Es kam ihr so vor, als wären alle einmal erdachten Traumblasen mit einem lauten Knall zerplatzt.

Damals, als sie mit ihren Eltern in den Sommerferien hier gewesen war, hätte sie sich niemals träumen lassen, dass ihr Leben einmal in solch schwungvollen Kurven verlaufen und sie aus der Bahn werfen würde.

Sie lächelte aufgesetzt, während Erwin einen der Kartons anhob, der vor der geschlossen gehaltenen Tür stand. „Hier geht es eigentlich in ein kleines Büro, aber jetzt ist es ebenfalls, wie alles hier, ein Lagerraum. Wir haben es nicht mehr geschafft, aufzuräumen. Hatten wir uns allerdings fest vorgenommen. Doch es kam leider zu viel dazwischen. Die Touristen und Tagesausflügler, meine eigene kleine Gastwirtschaft, du verstehst …“

„Nicht schlimm. Also das mit der Unordnung hier.“

„Wir helfen dir natürlich beim Entrümpeln. Postamt und kleiner Krämerladen … sagt man das überhaupt noch so?“, fragte Erwin mehr sich selbst als Eva, um dann schulterzuckend weiterzureden: „… sollen ja spätestens nächstes Jahr wieder in Betrieb genommen werden. Wir brauchen dringend mehr Leben auf der Insel.“

„Ihr habt ja jetzt mich“, sagte sie liebevoll und hoffte inständig, dass Erwin den ernsten Unterton, der in ihrer Stimme mitschwang, nicht wahrnahm. Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen. All ihre Ängste, ihr Kummer, jede erlittene, persönliche Niederlage der letzten beiden Jahre türmte sich plötzlich vor ihr auf, wie eine uneinnehmbare Festung.

„Und zwei Mädchen. Konstantin wird sich riesig darüber freuen, neue Schülerinnen begrüßen zu dürfen!“

„Hattest du ja erzählt. Eure Schule hat wieder neu eröffnet.“

„Endlich“, sagte Erwin. „Zu deinen beiden Mädchen kommen noch drei weitere Kinder. Es ist fast wie früher, als ich hier zur Schule ging.“

„Wir müssen wieder wachsen. Platz genug ist ja da!“

Eva-Marie spürte erneut das beklemmende Gefühl von Versagen in sich aufsteigen.

Obwohl ihr der Verstand sagte, dass es richtig und wichtig gewesen war, dass sie mit Klara und Merle ans Ende der ihr bekannten Welt gezogen war, war es ihr Herz, das unentwegt spitze, tiefe Wunden reißende Pfeile auf ihre Seele abschoss.

Sie wollte sich keine Vorwürfe machen, die traurigen Blicke ihrer Töchter nicht wieder vor ihrem geistigen Auge aufsteigen sehen.

Und nicht meinen Zweifel in mir jaulen hören.

Aber jetzt, wo der Raum, in dem sie stand, all das widerspiegelte, was sie gerade war, trafen Erwins Worte sie.

Der, überrascht, wie es schien, von ihrer plötzlichen Stille, sagte etwas, das sie nicht gleich verstand. Erst als sie die Hand hob, mit dem Handrücken unter ihrer Nase entlangwischte, und den in ihrer Kehle geborenen Schluchzer unterdrückte, murmelte er: „Wenn ich etwas Falsches gesagt habe, tut es mir leid, men Deern.“

Sie hob die Hand. „Nein, nein. Schon gut.“ Eva-Marie schüttelte den Kopf.

„Ich …“

„Wirklich. Alles gut“, murmelte sie, schlug die Augen nieder und wollte dem in ihr aufsteigenden Gedanken keinerlei Raum geben. Sie drängte ihn zurück, wehrte sich innerlich gegen die gehässig klingenden Worte, die die ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagende Tonlage ihrer Mutter besaßen.

Sie konnte die einmal in Gang gesetzten Empfindungen nicht mehr stoppen. Es war ihr unmöglich, sie zu beruhigen. Sie hatte keine Chance, tief durchzuatmen und zu verschnaufen. Es war wie eine Selbstgeißelung, mit der sie ihre Fehler wieder und wieder aufzählte und sie feinsäuberlich – geputzten, dunklen, traurigen Trophäen gleich – in ihre Seelenvitrine stellte, damit sie diese betrachten und bestaunen konnte.

Erst als Erwin meinte: „Soll ich dir die Wohnung zeigen?“, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen.

„Was?“

„Die Wohnung, die an den Laden anschließt. Durch die Küche kommst du in deine eigenen vier Wände.“

„Ähm …“

„Muss nicht, wenn du nicht möchtest“, sagte er mit einem auf sie gerichteten Blick, der etwas Liebenswertes, etwas Eva Berührendes, Freundliches an sich hatte, sodass sie mit Tränen in den Augen den Kopf schüttelte.

„Ich würde mich freuen“, flüsterte sie und hörte draußen die Stimmen ihrer Töchter, die polternd und scheppernd die steinernen Stufen hinaufgeeilt kamen, die zum Postamt führten.

Erwin verharrte mitten in der Bewegung. Eva-Marie wusste, was nun kommen würde. Insgeheim rechnete sie damit, dass der untersetzte Mann auf sie zukommen und die Hand nach ihr ausstrecken würde. Dass er ihr zureden und ihr alles Gute wünschen und ihr versichern wollte, dass jeder hier auf Neuwerk zu ihr stand, egal, was damals in Hamburg passiert war.

Sie setzte – geübt war geübt – ein abwehrendes, Freundlichkeit ausstrahlendes Lächeln auf und wollte sagen: „Ich werde auf dein Angebot zurückkommen, aber nicht im Moment“, als sie begriff, dass Erwin in keiner Art und Weise mit dem Gedanken gespielt hatte, auf sie zuzukommen, geschweige denn ihr die Hand auf den Unterarm oder die Schulter zu legen.

Er blieb regungslos stehen, lächelte schmal und sagte nur: „Die Vergangenheit ist das, was wir sind, die Zukunft wird durch unser Tun zu dem, was wir sein wollen.“

***

Eva legte den Kopf schief.

Sie kniff die Augen zusammen, überlegte, was es für ein Geräusch gewesen sein könnte, das ihr an die Ohren gedrungen war.

Sie hätte nicht sagen können, woher es kam.

Ob von draußen oder von drinnen.

Um sich dann zu fragen, als sie in sich hineinlauschte, ob das Geräusch nicht direkt in ihrem Kopf erklungen war. Ein leises, schüchtern wirkendes Klingeling, das sich mit Vehemenz gegen Evas tobenden Gedanken durchsetzen musste.

Während sie die Hand zur Schläfe führte, sie die Stirn runzelte und anfing, zu begreifen, was es war, was sie da hörte, warf sie einen Blick aus dem Fenster. Hinaus auf das freie Feld, das hinter ihrem neuen Heim lag, dorthin, wo eine in einem Rollstuhl sitzende Frau zu sehen war, die grüßend die Hand gehoben hielt.

Sie lächelte Eva zu, winkte und setzte sich schwungvoll in Bewegung, um kurz darauf, als Eva zu Erwin schaute, zu verschwinden … ganz plötzlich. So, als wäre sie von jetzt auf gleich verschwunden.

„Alles gut bei dir?“, riss ihr Nachbar sie aus ihren Beobachtungen.

„Du hast mich mit dem, was du gesagt hast, berührt“, flüsterte sie verwirrt; ihre Gedanken auf die Frau im Rollstuhl gerichtet.

Eva war ehrlich zu sich selbst und gestand sich ein, dass sie Erwin so einen Satz niemals im Leben zugetraut hatte.

Da war eine plötzlich in ihr geöffnete Tür, die sie in den letzten vier Monaten sorgsam verschlossen gehalten hatte. All ihre Versuche und all ihr emotional zur Verfügung stehendes Handwerkszeug hatten dafür gesorgt, dass sie nach dem großen persönlichen Crash nicht zusammengebrochen war.

Denn sie hatte funktionieren müssen.

Eva war wie in einem Tunnel gewesen.

Jetzt, hier, wo sie ihr neues Leben beginnen wollte, pfefferte ihr ein ihr wildfremder Mann einen solchen Satz an den Kopf, dass ihr ganz schwindelig wurde.

Noch immer das mit mildem Spott versehene Lächeln auf den Lippen, merkte sie, wie ihr Kinn zu zittern begann. Tränen stiegen ihr in die Augen und als sie begriff, wie in ihrer Kehle ein tiefer, ehrlicher, all ihre Verletzungen nach außen tragender Seufzer aufstieg, war es Klara, die ihre Hand ergriff und rief: „Das ist hier viel kleiner, als ich gedacht habe, Mama!“

Ihr erster, abwehrender Gedanke war gewesen, dass ihre älteste Tochter ihr einen Vorwurf machte. Nur um dann, während sie Luft holte, zu merken, dass da ein anderer Klang in ihrer Stimme mitgeschwungen hatte. Eine Nuance Fröhlichkeit, wenn nicht sogar Heiterkeit, die sie seit Wochen bei ihrer Großen nicht mehr vernommen hatte.

Eva-Marie wandte den Kopf, schaute ihrer ihr bis zum Kinn reichenden Tochter in die grünen Augen und erkannte eine längst verloren geglaubte Lockerheit in ihr.

Eva lächelte und wollte wissen: „Gefällt es dir?“

„Klar. Hier kann man es aushalten.“

„Die Internetverbindung ist nicht gerade die beste, um nicht zu sagen schlecht“, meldete sich die ihr Handy vor der Nase haltende Merle und klang dabei fast emotionslos. „Ich habe kaum Empfang.“

„Sobald der Router steht und die Leitung offen ist, wird es besser“, versprach Erwin.

„Schon gut“, meinte Eva-Marie. „Merle tut es mal ganz gut, wenn sie ihre Nase nicht immer in die elektronischen Dinger da steckt.“

„Diese elektronischen Dinger haben uns hierhergeleitet. Du wärst an Cuxhaven vorbeigefahren.“

„Ich hatte nur einmal nicht auf Google Maps geguckt.“

„Du hast die Hinweise konsequent ignoriert, wie und wann wir abbiegen sollen“, erklärte Merle, um dann, während sie den Blick hob und über den Rand ihres Handys zu ihrer verlegen lächelnden Mutter schaute, hinterherzuschieben: „Dein Handy war nicht ausreichend geladen. Mal wieder. Ich hatte eine Powerbank dabei.“

„Du bist auch die Beste.“

„Ich bin vorausschauend“, erklärte Merle altklug, und wirkte nicht wie eine Zwölfjährige. Sie verdrehte die Augen und sah mit dieser Geste erschreckend wie die junge Eva-Marie aus. Die damals immer gemeint hatte, alles besser zu wissen, auf einer Wolke des Selbstvertrauens der kindlichen Jugend schwebend, in der man ernsthaft annahm, keine Fehler zu begehen und alles durchschauen zu können.

Es war immer wieder verwirrend zu sehen, wie ähnlich sie sich waren und gleichzeitig amüsant, wie unterschiedlich.

„Die Wohnung?“, wollte Erwin wissen und riss Eva-Marie aus ihren Gedanken.

Sie schaute auf und wusste, wie sie gerade aussehen musste.

In ihren Erinnerungen hin- und hergerissen, von ihren Emotionen geschüttelt, ihre Gesichtszüge nicht mehr unter Kontrolle.

„Mädels?“, fragte Eva. „Wollt ihr eure Zimmer sehen?“

„Natürlich“, sagte Klara, die die Hand ihrer Mutter hielt, sie drückte und ihr einen weiteren, aufmunternden Blick schenkte. „Deshalb sind wir doch hier, oder?“

„Deshalb sind wir hier“, murmelte Eva-Marie.

Die Enge in ihrem Hals ignorierte sie.

***

Im ersten Moment dachte Eva, sich geirrt zu haben; einer kurzen Sinnestäuschung erlegen zu sein. Von solcher Intensität, dass sie merkte, wie all ihre Sinne in Spannung gerieten und sich ein Gefühl in ihr breitmachte, von dem sie glaubte, es längst vergessen zu haben.

Hoffnung.

In dem Augenblick, als sie meinte, aus dem Augenwinkel jemanden erkannt zu haben, den sie seit Jahren, ach was, seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte, schaffte sie es, ihre Sorge, die Kinder könnten sich hier nicht wohlfühlen, beiseitezuwischen.

Es war nur eine flüchtige Handbewegung gewesen, die ihr aufgefallen war. Eine Handlung, schnell vergehend, kaum wahrnehmbar, die einer ins Gesicht fallenden Haarsträhne glich.

Was nicht der Rede wert war.

Nicht von Bedeutung, erklärte sie sich selbst, wollte sich damit beruhigen und die hinter ihrer Stirn aufsteigenden Bilder wieder zurückdrängen. Sich nicht dem sich leerenden Füllhorn aus Erinnerungen stellen, die sie an jenen Punkt ihres Lebens zurückbrachten, an denen sie gedacht hatte, glücklich gewesen zu sein.

Hin zu den Momenten, als sie sich verwirrt gefragt hatte, ob sie sich … verliebt hatte.

Ein sie heute verdrießlich schmunzeln lassender Gedanke. Damals aber eine für sie noch nie gemachte Erfahrung, verbunden mit einem sie erschreckenden Schritt in eine Richtung, von der sie niemals angenommen hatte, ihn jemals machen zu müssen.

„Warte mal“, murmelte sie, indem sie die Hand hob und Karlas Redefluss zum Erliegen brachte. Ihre Tochter sagte noch etwas, das Eva nicht verstand. Sie schaute an Karla vorbei, in den schmalen, mit Kartons gefüllten Gang, wo sie irgendwann einmal einen Getränkekühlschrank stehen haben wollte.

„Ich räume hier aber nicht allein auf“, rief ihre Große ihr hinterher, während Eva verwirrt den Kopf schüttelte. „Merle kann auch mal was machen!“

Alles rückte für Eva in den Hintergrund.

Was sie interessierte, war die in einem Rollstuhl sitzende Frau, die durch den Laden fuhr. Diese dunkelblonde Frau, deren ganze Körperhaltung und Spannung sie an jenen Moment erinnerte, als Eva das Gefühl gehabt hatte, in eine tiefe Bodenspalte zu fallen.

Als ihr der Gedanke kam: Du bist dumm.

Daran, wie sie mit überkreuzten Beinen auf der Couch ihrer Eltern gesessen hatte, in das Gesicht eines Jungen geschaut hatte, dessen Anblick sie verrückt zu machen drohte. Eine Chipstüte vor sich; vertieft in ein Gespräch mit ihrer Freundin. Behaftet mit der Ahnungslosigkeit der Jugend, dass Dinge, Haltungen und Empfindungen sich von einer Sekunde zur nächsten in Luft auflösen konnten.

Ebenso wie die Frau im Rollstuhl, die schwungvoll um die Ecke bog, zu dem einmal werdenden Postschalter fuhr, hatte damals auch ihre beste Freundin Barbara die Kurven genommen. Elegant. Zielsicher. Auf zwei Beinen gehend.

„Ba… Babara?“, traute sie sich, zu fragen, während sie einen Stapel alter Zeitungen passierte, von denen ein muffiger Geruch ausging und sie meinte, einen kalten Hauch zu fühlen, der ihr unter die Kleidung fuhr.

Eva blinzelte, als sie die Stimme von Merle hörte.

Was?“, fragte Eva und schaute hoch, zu ihrer Kopfhörer tragenden, ein Handy in der Hand haltenden Tochter.

„Ob ich dir helfen kann?“, wiederholte diese ihre Frage mit einem für sie typischen, skeptischen Blick.

„Helfen?“

Ihre Jüngste nickte und fragte: „Suchst du etwas?“

„Ich dachte … äh …“, Eva blinzelte und schaute dorthin, wo sie eben gemeint hatte, Barbara gesehen zu haben.

„Ja?“

Eva fing sich und fand ihre Frage albern, bevor sie sie stellte. „Hier war doch gerade eine Frau im Rollstuhl, oder?“

„Wo? Hier? Bei mir?“

„Ja.“ Eva nickte und bekam Schweißausbrüche, als sie sah, wie Merle den Kopf schüttelte.

„Erkläre mir mal, wie das gehen soll, Mami! Ich passe hier nicht einmal hin. Wie soll da jemand mit einem Rollstuhl durchpassen?“

***

Es klingelte.

Eva, die im Schneidersitz auf einem Kissen vor dem hüfthohen Holztisch saß, die Gabel mit einer aufgespießten Kartoffel gerade zum Mund führen wollte, schaute verwundert auf.

„Ich gehe schon“, sagte Klara, die mit dem Rücken zur Tür gesessen hatte und immer der heimliche Fels in Eva-Maries hochschäumenden Ozean war.

Seit sie hier nach oben gekommen waren, ein heilloses Chaos aus leeren Kartons sowie Fetzen von an den Wänden hängenden Tapeten vorgefunden hatten, war sie es gewesen, die gesagt hatte: „Wenn wir hier einen Schrank stehen haben, sieht es toll aus“ oder „Da steht dann das Sofa, auf dem wir abends zusammen kuscheln und Fernsehen gucken.“

Eva, die bei dem Wust an auf sie einprasselnden Aufgaben für einen kurzen Augenblick meinte, die Orientierung zu verlieren, war ihrer Ältesten ausgesprochen dankbar dafür, dass sie zurzeit da stark war, wo Eva-Marie schwächelte.

Das soll so nicht sein, dachte sie, während sie die Kartoffel mit einem leisen Seufzer in den Mund schob und kauend nach der Serviette griff, um sich die mit Soße benetzten Lippen trocken zu wischen.

Als sie sich erhob, hörte sie, wie Klara jemanden mit einem freundlich distanziert klingenden: „Ja?“, begrüßte.

Als sie fragte: „Wer ist denn da, Schatz?“, schritt sie durch das verwinkelt geschnittene Wohnzimmer zum Flur. Dorthin, wo sie vorhin gemeint hatte: So schlimm sieht es hier nicht aus, nur um dann beinahe einen Schlag zu bekommen, als Erwin die Tür aufschloss.

Sie hatte nur einen kurzen Blick in den vom Flur abgehenden Raum geworfen und sich bis unter die Decke stapelnde Kisten erkannt, in denen nichts lagerte, außer Staub. Der nächste Schock war die Küche. Die so gigantisch groß war, dass man sich in ihr verlieren konnte. Am schlimmsten war das vom Wohnzimmer abgehende Zimmer gewesen, in dem Merle ihr Domizil aufschlagen wollte.

Ein quadratischer Raum, in dem ein alter, klappriger Schrank, ein bis unter die Decke reichendes Regal sowie drei nebeneinandergestellte Hochbetten standen, die so massiv waren, dass Eva-Marie sie nicht hatte bewegen können, egal, wie sehr sie an ihnen zog und zerrte.

Jetzt, wo sie sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht wischte, versuchte, freundlich und ungestresst auszusehen, hörte sie eine weiche, sanft klingende Stimme sagen: „Ich wollte euch nur in der Nachbarschaft willkommen heißen. Ich bin Konstantin Gude. Dein Lehrer.“

„Oh“, vernahm Eva von ihrer Tochter.

Sie schmunzelte.

Obwohl Klara keinerlei Hemmungen oder Schwierigkeiten in der Schule gehabt hatte, war es bei ihr immer schon so gewesen, dass sie autoritären Personen mit Respekt begegnete.

Was sie von mir hat, dachte Eva. Ich fühle mich in der Nähe von Persönlichkeiten dumm.

Was auf erschreckende Art und Weise stimmte.

Schon immer hatte sie unter dem Komplex gelitten, nicht intelligent zu sein. Es hatte in der Schule angefangen, als sie sich nicht getraut hatte, sich zu melden, um bei den Mathematikaufgaben nachzufragen, wie man Minus rechnete oder eine Divisionsaufgabe löste.

Es ging so weit, dass sie anfing, sich in der Gegenwart ihrer Freundinnen zurückzuhalten. Während ihre Freundinnen unbekümmert quatschten, angeführt von – Barbara? – sich über diese und jene Theorien austauschten und es billigend in Kauf nahmen, Denkfehler zu begehen und diese auszusprechen, war Eva-Marie stets zurückhaltend gewesen. Immer von der unterschwelligen Angst behaftet, jemand könne ihr vorwerfen, doof zu sein.

Wie albern es war und wie bescheuert, wusste sie selbst.

Besonders, weil sie damals in einen ehrlichen und echten, niemals zuvor geführten Streit geschliddert war, der ihr heute noch nachhing.

Sie hatte es gehasst, Trivial Pursuit zu spielen.

Jede Frage, die darin gestellt wurde, war ein Angriff auf ihre Intelligenz. Sie wusste weder, wer das erste Automobil vom Förderband laufen ließ, noch wie die Post von Europa nach Amerika gelangte, bevor es Flugzeuge gab. Sie hatte nie zuvor von den Mormonen und ihrem gottgleichen Schöpfer Smith gehört.

Alles vor dem niedlichsten Jungen, den sie damals gekannt hatte.

Noch heute erinnerte sie sich gerne an Erik zurück.

Daran, wie süß er lächelte, wie einschmeichelnd seine Stimme geklungen hatte und wie unergründlich tief seine blauen Augen gewesen waren. Hinzu kamen die unwiderstehlichen und immer gut in Form gebrachten braunen, lockigen Haare.

Gerade vor ihm hatte ihre beste Freundin Barbara, als Eva-Marie auf die Frage, in was für Landschaftsebenen die ersten Pferde gelebt hatten, nicht hatte antworten können, spöttisch gefragt: „Weißt du das auch nicht? Hast du in der Schule denn nicht einmal aufgepasst?“

Das war es für Eva-Marie gewesen.

Sie hatte zuerst geweint, dann geschimpft und war in einer wahren Flut aus roter, vor ihren Augen aufsteigender Wut explodiert. Sie hatte geschrien und getobt, hatte gezetert und wild mit den Armen gefuchtelt, bis sie erschöpft und müde wurde und mit einem verzweifelten Schluchzen und Jammern auf der Couch zusammenbrach und am liebsten eingeschlafen wäre.

Eben dieses Gefühl der persönlichen Ohnmacht, das sie damals verspürt hatte, befiel sie nun wieder, als sie hörte, wie sich der neue Klassenlehrer von Karla und Merle an der Tür vorstellte.

„Äh, hi, ich bin Eva-Marie“, sagte sie und schob hinterher: „Neukamp.“

Konstantin lächelte.

Ein Lächeln, wie Eva verwirrenderweise feststellte, das ihr äußerst gut gefiel. Es war nicht aufgesetzt oder künstlich. In seinem Mundwinkel saß ein ehrliches, freundliches, nur für sie – für sie? – bestimmtes Schmunzeln, das ihr einen unerwarteten, warmen Schauer durch den Körper rieseln ließ.

Sie schluckte, beruhigte sich, durch tiefes Ein und Ausatmen, als ihre Gedanken anfingen, hinter ihrer Stirn entlangzuspringen und ihr unentwegt zuzurufen, dass Konstantin gut aussah. Dass sie seine dunklen, mit einer Spur Gel in Form gebrachten Haare gut leiden konnte. Da war diese eine, ihn verwegen wie einen Surfer aussehen lassende Welle, die sie damals schon im Fernsehen bei John Travolta in Grease schmachten ließ.

Hinzu kam, dass er nicht sonderlich groß war. Er überragte sie um wenige Zentimeter und besaß dabei die Ausstrahlung eines freundlichen, liebevollen Mannes, dessen Interessen nicht darauf ausgelegt zu sein schienen, unflätige und anzügliche Bemerkungen zu machen.

Konstantin strahlte mit jeder Pore seines Körpers die Gelassenheit eines Lehrers aus, der wusste, wie er ihm fremden Menschen gegenübertreten musste.

Auch der sonore, weiche Klang seiner Stimme war Eva-Marie nicht verborgen geblieben, als er Karla begrüßte. Ihr entging auch das anerkennende, wohlwollende Blitzen in seinen braunen Augen nicht, als sie an die Tür kam.

„Konstantin“, stellte er sich seinerseits vor, lächelte charmant und schob hinterher: „Gude, wenn du es lieber förmlich halten möchtest.“

„Du ist okay.“

„Prima.“

„So habt ihr es hier ja am liebsten“, wiederholte sie Erwins Worte und stützte sich am Türrahmen ab, in der irrwitzigen Annahme, so eine lockerleichte Pose einnehmen zu können.

„Mom“, entfuhr es Karla, die ihre Mutter mit schreckgeweiteten Augen anstarrte.

„Ja?“, fragte sie verwirrt.

„Das ist mein Lehrer!“

„Ja, und?“

Mein Lehrer!

Aus dem Wohnzimmer kam, ohne große Emotion in der Stimme: „Karla ist es peinlich, wenn du ihren Lehrer mit dem Vornamen ansprechen würdest, Mom. Sie hat die Befürchtung, dass du dich mit Herrn Gude verbünden und dann gegen sie stehen könntest.“

„Merle!“, rief Evas Große, schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hände, um in Konstantins Richtung zu sagen: „So ist das nicht.“

Dieser lachte und erwiderte beschwichtigend: „Keine Sorge. Ich bin jetzt nicht als dein Lehrer hier, sondern als Nachbar, der euch willkommen heißen möchte, und der euch sagen will, dass wir hier auf Neuwerk zwar einen tollen Weihnachtsmarkt planen, der in Cuxhaven aber auch sehr sehenswert ist. Den solltet ihr euch auf jeden Fall mal anschauen.“

„Und Sie kommen mit, oder was?“, platzte es aus Karla heraus.

„Karla!“, rief Eva ihre Tochter empört zur Räson.

„Nur, wenn es okay ist“, antwortete Konstantin mit einem zuckersüßen Lächeln und schaute von Karla zu Eva-Marie, die sich plötzlich falsch angezogen fühlte. „Ich bin hier auf der Insel mit dafür zuständig, dass sich die neuen Bewohner schnell einfinden. Und ganz ehrlich: Ich würde euch Neuwerk und Cuxhaven wirklich gerne zeigen.“

Sie strich sich erneut eine Haarsträhne hinters Ohr und lächelte schief, als sie unsicher fragte: „Möchtest du reinkommen? Äh … zu trinken haben wir nur etwas Wasser und ich glaube …“ Sie schaute über die Schulter zu der unaufgeräumten, im Müll erstickenden Küche. „Eine Dose Cola.“

„Ein Wasser wäre nett“, meinte er und nickte ihr freundlich zu, während er einen Schritt nach vorne machte.

„Mom!“, rief Karla wieder mit weitaufgerissenen Augen, in denen eine unmissverständliche, jugendliche Panik stand.

„Ich bleibe nicht lange“, versicherte ihr Konstantin.

„Er bleibt nicht lange“, versprach Eva-Marie ihrer Tochter und musste schmunzeln, als sie sah, wie Konstantin schwörend drei Finger in die Luft hob, um kurz darauf eine Panikattacke zu erleiden. „Ich sehe nicht immer so aus.“

„Das dachte ich mir.“

„Eigentlich bin ich immer hergerichtet.“

Karla warf ihr einen fragenden Blick zu. Merle lachte.

„Ey!“

„Macht euch meinetwegen keine Umstände.“ Konstantin schenkte Eva ein aufmunterndes Lächeln, das er mit einem ihr die Knie weich werden lassenden Blinzeln untermalte.

Konstantin, der nicht mitbekommen zu haben schien, wie Eva-Marie die Schamesröte in die Ohren, Wangen und Stirn schoss, sagte: „Ich störe auch nicht lange. Versprochen.“

Dabei liebte sie ihren abgetragenen Sweater und ihre Jogginghose. Nach einem anstrengenden Tag im Büro und mit dem Wissen, dass sie heute nichts anderes mehr erwartete als die Couch und der gedankenverlorene Blick auf den Fernseher, waren diese Kleidungsstücke das, was sie tragen wollte – tragen musste.

„Wir haben gerade gegessen. Nichts Besonderes. Nur Kartoffeln mit Soße, ein Stück Fleisch und Bohnen. Es ist nicht mehr viel da, aber wenn du etwas möchtest …“

„Nein, nein, alles gut. Ich habe gerade zu Abend gegessen.“

„Stört es dich, wenn wir …“

„Nein, nein, überhaupt nicht. Lasst es euch schmecken. Nur zu.“

***

Nach Hause kommen war für Eva ein Gefühl des Ungleichgewichts. Obwohl sie wusste, dass in der Wohnung ihre Töchter auf sie warteten, hatte sie immer mit dem in ihr aufsteigenden Gefühl von Beklemmung zu kämpfen.

Da waren plötzlich Gedanken, irritierend und fremd, die ihr zuraunten, dass es ein Fehler gewesen sei, Hamburg zu verlassen. Dass es schlicht und einfach die falsche Entscheidung gewesen war, hierher, nach Neuwerk, zu kommen.

Eva seufzte, als sie den Haustürschlüssel hervorholte, ihn ins Schloss steckte und herumdrehte.

Natürlich hatte sie den Abend bei Erwin genossen. Sich gerne seine kleine Gastwirtschaft angeschaut.

Aber jetzt, hier zu stehen, auf ihr Postamt zu schauen, die Fensterfassade zu betrachten, durch die man irgendwann einmal ihre angebotene Ware erblicken konnte, bereitete ihr Magenschmerzen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Arbeit so sehnsüchtig erwartet wurde.

Erst heute Morgen war eine ältere Dame zu ihr gekommen – eine Liste in der Hand, mit der Bitte, diese Dinge zu besorgen.

Was Eva wollte.

Natürlich.

Aber in dem Moment, als sie die ihr gereichte Liste betrachtete, die sorgsam aneinandergereihten Buchstaben zu Wörtern verband, hatte sie begriffen, auf was sie sich hier einließ.

Sie eröffnete einen Laden.

Sie besorgte die Post.

Sie war für die Menschen da.

Was sie erschreckte und zurück in die Vergangenheit führte.

Mit der Hand am Kragen, mit dem Rücken gegen die Wand gepresst, sich sicher, dass sie gleich eine Ohrfeige bekommen würde.

Das hier ist besser.

Viel besser.

Warum fühlt es sich dann noch nicht so an?

Sie schaute sich um. Sah die dunklen, schweren Wolken am Himmel hängen. Der Geruch nach Schnee lag in der Luft.

Neuwerk im Schnee, dachte sie, als sie ihren Blick über die mit Papier- oder elektronischen Sternen geschmückten Fenster wandern ließ, die von den Nachbarn aufgehängt worden waren. Kleine, bunte Dekorationen, die ein Gefühl von Vertrautheit in ihr aufsteigen ließen.

Als sie den schmalen Weg, gesäumt von ordentlich zurückgeschnittenen Büschen, passierte, sie den Haustürschlüssel klimpernd im Schloss herumdrehte, meinte sie, ihr würde ein ihr wohlbekannter Geruch in die Nase steigen. Eine kurze Brise frisch gemähten Rasens.

So wie Barbara immer gerochen hat, dachte sie irritiert und musste an ihre Einbildung von vorgestern denken. Daran, wie sie sich vor Merle lächerlich gemacht und einen skeptischen Blick von Karla kassiert hatte.

Wie im Laden, war es auch jetzt. Ein kurzer, intensiver Schauer des Erkennens, der sie innehalten und zweifelnd die Augenbrauen zusammenziehen ließ.

War sie doch hier?, fragte sie sich mit einem Anflug ehrlichen Zweifelns und drehte den Schlüssel.

Als die Tür aufschwang, leise und leicht, hielt sie inne und glaubte, von einer Duftwolke mitten am Kopf getroffen zu werden.

Eindeutig.

Es roch nach Barbara!