Leseprobe Wenn ich auf dein Gewissen höre

Prolog

Sacramento, Kalifornien
Fünf Monate zuvor
April

 

Chelsea

Es ist ein heißer Frühlingsabend. Die Temperaturen kühlen in letzter Zeit auch in der Nacht nicht runter und meine Klamotten kleben an mir wie feuchte Lappen. Ein paar Mücken schwirren um meinen Kopf, surren mir ins Ohr und machen mich nur noch nervöser.

Ich wedle sie mit der Hand weg, obwohl das bisher auch nicht viel gebracht hat.

»Dämliche Biester«, zische ich, dann halte ich mir den Mund zu und ziehe den Kopf ein, um mich noch tiefer hinter den Sträuchern zu verstecken.

Ich habe keinen Schimmer, was das für ein Grünzeug ist, aber der Geruch raubt mir fast den Atem.

Irgendetwas Minziges. Mit Zitrone. Wie ein schlecht gewordener Mojito.

Am besten ist es, wenn ich die Luft anhalte, damit ich mich nicht in den winzigen Garten übergebe.

Ich atme tief ein und – srrrrt.

Hustend spucke ich einen der kleinen Blutsauger aus, der weiterfliegt, als hätte er gerade keinen Abstecher in meinen Rachen gemacht.

Diese Mistviecher werden mir noch zum Verhängnis werden.

Schnell sehe ich zu dem Häuschen hinüber, in dem Sullivan wohnt, aber er scheint weder meine Beschimpfung noch den Hustenanfall gehört zu haben.

Durch die Glasfront des Hauses, das zwar keine Villa, für einen ehemaligen Kunststudenten ohne feste Anstellung aber trotzdem viel zu teuer ist, erkenne ich ihn im obersten Stockwerk auf dem Bett liegen. Er hat die Deckenlampe an und trägt nur eine von diesen Boxershorts, die ich so lächerlich finde. Sie ist rot und ich weiß, dass sie mit bunten Eistüten überzogen ist.

»Willst du mal lecken?«, war Sullivans Lieblingsfrage, immer wenn er diese Shorts getragen hat. Dabei war das, was ich bei diesem Anblick im Kopf hatte, ungefähr genau so weit von Sex entfernt wie eine Nonne in einem Kloster.

Ich beobachte ihn noch eine Weile weiter, wie er auf dem Bett liegt und auf den flirrenden Fernseher starrt. Er hat sich schon seit mehreren Minuten nicht mehr gerührt, wahrscheinlich ist er eingeschlafen, wie er es meistens tut, wenn er sich einen Film ansieht.

»Es wird Zeit, Chelly«, raune ich mir zu und der Mückenschwarm surrt um mich herum, als wolle er mich anfeuern. »Dann wollen wir mal«, starte ich den zweiten Anfeuerungsversuch, aber meine Beine gehorchen mir einfach nicht.

Ich bin so aufgeregt, dass mein Herz so schnell schlägt wie ein Presslufthammer.

Es ist nicht gerade so, dass ich die geborene Einbrecherin wäre. Genau genommen habe ich noch nie jemandem etwas gestohlen. Aber da ich bis vor drei Wochen noch selbst in diesem Häuschen gewohnt habe, sollte ich meinen abendlichen Besuch auch nicht als Einbruch bezeichnen.

Und das, was ich mitnehmen werde, steht mir zu, also ist es auch kein Diebstahl.

Alles halb so wild.

Ich atme noch einmal tief durch und diesmal schaffe ich es sogar ohne unfreiwillige Besucher in meinem Mund.

Dann husche ich geduckt über das kleine Rasenstück zur Terrassentür. Sie steht wie immer von März bis Oktober sperrangelweit offen, nur die Fliegengittertür ist zugezogen.

Vorsichtig schiebe ich sie auf und lasse sie auch gleich geöffnet, damit meine blutsaugenden Freunde sich in allen Zimmern ausbreiten und über Sulli hermachen können.

Die Bodendielen knarren nur ganz leise, als ich Richtung Badezimmer gehe. Ich hoffe, dass Sullivan nicht ausgerechnet jetzt zur Toilette muss. Denn in diesem Fall müsste ich mich hinter dem Duschvorhang verstecken und käme mir wahrscheinlich vor wie in Psycho. Nur mit vertauschten Rollen, versteht sich. Und ohne Messer.

Na ja, der Vergleich hinkt vielleicht etwas, aber …

Schluss damit.

Das ist nur die Nervosität.

Sie sorgt dafür, dass ich mir den größten Blödsinn ausmale.

Das war schon als kleines Kind so, als ich am ersten Schultag –

Es reicht jetzt!

Konzentration aufs Wesentliche.

Schritt eins meiner Mission lautet: Sullis Shampoo mit Enthaarungscreme mischen.

Das ist vielleicht ein bisschen gemein, aber verdient ist verdient.

Ich lehne die Badtür hinter mir an und mache nur mit meinem Handy Licht.

Dann hole ich die Tube aus meiner Umhängetasche und mixe die Creme unter Sullivans Lieblingsshampoo. Ich würde das Ergebnis zu gerne sehen, aber ich schätze, dazu wird es nicht kommen.

Ich verstaue den Rest der Enthaarungscreme wieder in meiner Tasche und schiebe das Shampoo zurück in seine ursprüngliche Position.

Schritt eins wäre erledigt, kommen wir zu Schritt zwei.

Jetzt ist die Zahnpasta an der Reihe. An ihrer Stelle lege ich eine Tube Alleskleber in den Badschrank. Eventuell habe ich Glück und Sulli sieht im Halbschlaf nicht so genau hin.

Das wird ein Spaß.

Vielleicht verstecke ich mich bis zum Morgen in seinem Garten und sehe zu, wie er sie benutzt. Nein, das wäre zu riskant, auch wenn ich wirklich gerne sehen würde, wie Sullivans Mund an der Zahnbürste festklebt.

Ich lasse die richtige Zahnpasta ebenfalls in meine Tasche fallen und spüre, dass ich übers ganze Gesicht grinse.

Es freut mich, dass Sullivan kriegt, was er sich mühsam erarbeitet hat. Eine Abreibung à la Chelsea.

Kommen wir nun zu Schritt drei der Mission.

Dem schwierigsten Teil.

Ich muss nach oben gehen und mir das von Sullivan holen, was mir zusteht.

Wenn alles gut geht, bin ich in zehn Minuten wieder draußen und meinem Traum ein großes Stück näher. Wenn nicht, kann man mich in vier Monaten wohl eher im Knast besuchen als an der University of California in Berkeley.

Jetzt geht es um alles oder nichts.

Showtime.

 

Berkeley, Kalifornien
Am selben Tag

Tom

Ich sehe angewidert zu Lea herüber. Sie liegt neben mir in dem winzigen Bett und schläft so friedlich, als wäre rein gar nichts vorgefallen.

Wie kann sie nur?

Ist ihr eigentlich klar, was sie angerichtet hat?

In ihrer Eifersucht wollte sie mich mit K.O.-Tropfen gefügig machen.

Mich. Ihren Freund!

Tja, blöd, dass sie stattdessen Slater erwischt hat. Meinen besten Kumpel.

Das wird sie also gleich doppelt bereuen.

So leise ich kann, schwinge ich die Beine aus dem Bett. Das ist mit über einem Meter neunzig gar nicht so leicht, ohne Lea zu wecken. Aber sie hat von der Party gestern Abend so viel Alkohol intus, dass sie gar nicht merkt, wie ich aufstehe und mich anziehe.

Gut so.

Ich schleiche zu ihrer Tasche hinüber, in der sie die Tropfen verstaut hat, nachdem sie sie in meinem Cabrio deponiert und dort fotografiert hatte, um mich später damit erpressen zu können.

Unglaublich, was sie mir unterschieben wollte. Als hätte ich Lea jemals etwas antun können.

Bis gestern Abend wäre mir das nicht einmal im Traum eingefallen. Aber nach ihrer hinterhältigen Aktion sieht die Sache etwas anders aus.

Alles, was ich jemals für sie empfunden habe, ist fort. Weggewischt wie Kreide von einer Tafel. Ich fühle nur noch Abscheu, Wut und absolute Fassungslosigkeit.

Wie habe ich mich nur so in ihr täuschen können?

Eigentlich dachte ich immer, dass ich eine gute Menschenkenntnis habe. Aber in Leas Fall hat sie mich im Stich gelassen.

Liebe macht blind, oder wie heißt es so schön?

Ich habe Lea geliebt, doch gestern Abend ist mir eins klar geworden: Einem Menschen zu vertrauen, jemanden zu lieben, ist nichts als eine Schwäche.

Und ich bin niemand, der Schwächen hat.

Es ist falsch, sich mit mir anzulegen und das wird Lea gleich zu spüren kriegen.

Ich öffne ihre Tasche und achte penibel darauf, die K.O.-Tropfen nicht zu berühren. Bisher befinden sich nur Leas Fingerabdrücke darauf und das soll auch so bleiben.

Mit meinem Handy schieße ich ein paar Fotos von dem Fläschchen, dann stelle ich die Diktierfunktion ein und stehe wieder auf.

Unsanft rüttle ich an Leas Schulter. »Aufwachen.«

Lea öffnet die Lider und sieht mich schlaftrunken an. »Tommy …?«

Sie soll mich nicht so nennen, das weiß sie. Aber ich werde mich jetzt nicht provozieren lassen.

»Wenn du auch nur irgendwem gegenüber andeutest, dass ich dich betäuben und vergewaltigen wollte –«

»Du wolltest nicht, du hast«, sagt Lea und setzt sich auf.

Ist das zu fassen? Wir wissen beide, dass ich das ganz sicher nicht getan habe.

»Das ist nicht wahr«, zische ich.

»Du weißt, dass es nicht wahr ist, ich weiß es … aber die Polizei …« Lea zuckt mit den Schultern. »Wem werden sie glauben? Dir, dem einschüchternden Eishockeyspieler oder mir, der armen, kleinen Studentin?«

»Mir«, beharre ich.

»Gut möglich, wären da nicht diese Fotos, die ich geschossen habe. Von den Tropfen. In deinem Auto, Tom.«

»Die du dort deponiert hast.«

»Ja, aber das kannst du nicht beweisen, also rate ich dir, mich nicht zu verlassen, denn sonst war es das ganz schnell mit deiner Karriere als Eishockeyprofi.«

»Deine Fingerabdrücke befinden sich an der Flasche, nicht meine«, erkläre ich ihr, dann öffne ich die Galerie meines Handys. »Außerdem stecken die Dinger in deiner Tasche.« Ich präsentiere ihr das Foto, das ich gerade geschossen habe und sehe zufrieden zu, wie ihr Mund aufklappt. »Und«, setze ich noch eins drauf, »ich habe dieses Gespräch mitgeschnitten.«

Lea sieht mich an und schüttelt den Kopf. Wieder und wieder, als könnte sie so ungeschehen machen, was hier gerade passiert. »Du … Das kannst du doch nicht machen, Tom!«

»Oh doch. Ich kann. Und wenn du auch nur ein falsches Wort über mich sagst, dann zeige ich dich an. Von mir aus kannst du eine Gegenanzeige stellen, das ist mir egal. Aber sei dir sicher: Wenn ich untergehe, dann reiße ich dich mit.«

Leas Unterlippe zittert wie die eines trotzigen Kindes. »Was willst du?«

»Dass du die UC verlässt und dich nie wieder dort blicken lässt. Ein falsches Wort von dir, nur eine Geste, die mich nervt und ich lasse dich auffliegen, Lea.«

»Das ist Erpressung!«

»Ich weiß.« Damit wende ich mich ab und verlasse Leas Leben.

Kapitel 1

Berkeley, Kalifornien
Fünf Monate später
September

 

Tom

Fabiennes Kopf ruckt etwas tiefer, als ich durch ein Schlagloch fahre und ihre Lippen schließen sich fester um meinen Schwanz.

Ich keuche auf, dann grinse ich zu ihr hinunter. »Beiß ihn nicht ab.«

Fabienne nuschelt mit ihrem französischen Akzent: »Würde mir nischt einfallen im Traum.« Ihre Lippen saugen spielerisch an mir und ich bin zufrieden.

Im Kopf hake ich sie bereits auf meiner Liste ab.

Austauschstudentin mit sexy Akzent.

Zuerst wollte ich Viktorija nehmen, aber sie ist vor ein paar Tagen frühzeitig zurück nach Russland geflogen, also blieb nur Fabienne.

Während sie über mich gebeugt ist und mir zeigt, was sie mit ihren Lippen alles anstellen kann, steuere ich das Auto vor unser Tor und warte, bis der Sensor meinen Wagen erkennt.

Es schwingt viel zu langsam auf.

Ich kann es kaum erwarten, Fabienne endlich flachzulegen. Schon den ganzen Abend über macht sie Dinge, die mir fast den Verstand rauben. Erst kommt sie in diesem hautengen Kleid, das mich praktisch jedes Detail ihres Körpers erkennen lässt, zu unserem Date, dann der Handjob im Kino und jetzt das.

»Wir sind da«, sage ich und meine Stimme klingt etwas heiser.

Fabienne sieht zu mir auf und wischt sich über den Mund. »Wir sind noch nischt fertisch, mein Lieber.«

»Wir bringen das drinnen zu Ende«, verspreche ich ihr und schließe meine Hose wieder.

In Fabiennes Augen leuchtet es vorfreudig auf. »Isch kann es kaum erwarten«, sagt sie, was ich heute bestimmt bereits fünfmal gehört habe.

Ihr Englisch ist nicht besonders gut und beschränkt sich vielleicht auf zwanzig Sätze. Aber das macht nichts.

»Bereit?«

Sie nickt und ich steige aus, um ihr die Tür aufzuhalten.

Fabienne lässt sich aus dem Auto helfen und begleitet mich auf die Villa zu. Doch mit jedem Schritt, den wir näherkommen, macht sich ein ungutes Gefühl in mir breit. Nicht wegen Fabienne oder dem, was wir vorhaben, sondern wegen Ivy. Ich glaube irgendwie nicht, dass wir es in mein Bett schaffen, ohne ihr dabei über den Weg zu laufen.

»Wow, das ist wirklisch ein sehr großes Haus«, flötet Fabienne und fügt irgendwas von einer Studentenverbindung an.

Ich höre ihr gar nicht richtig zu. Von mir aus soll sie denken, dass ich in einem Verbindungshaus wohne.

Mit einer unguten Vorahnung schließe ich die Tür auf und mir wird gleich klar, dass ich mit meinem Gefühl recht hatte. Von drinnen schallt uns Jazz-Musik entgegen und das Licht ist gedimmt.

»Oh, Party«, freut sich Fabienne und klatscht in die Hände, als wäre sie drei und nicht dreiundzwanzig.

Das ist das Problem mit leichtzuhabenden Frauen. Sie haben in der Regel den IQ einer Küchenschabe.

»Lass uns ein bisschen feiern.« Fabienne packt mich am Kragen, presst ihre Lippen auf meine und schiebt mich ins Haus.

Einen Moment erwidere ich ihren Kuss, dann drücke ich sie von mir. »Du musst jetzt gehen.«

»Isch muss …? Non.« Sie schüttelt den Kopf. »Isch muss nischt gehen.«

»Doch, das musst du«, sage ich und hole einen Hunderter aus meinem Portemonnaie. »Ruf dir ein Taxi, ja?«

Fabienne sieht mich verständnislos an, dann auf den Geldschein.

»Nimm schon.« Ich drücke ihr den Schein in die Hände und schiebe sie wieder in Richtung Tür. »Bis dann.«

»Aber …« Fabienne scheint die Welt nicht mehr zu verstehen.

Am liebsten hätte ich sie mit nach oben in mein Apartment genommen, aber ich weiß, dass das, was ich gleich im Wohnzimmer zu sehen bekomme, mir jede Lust auf Sex rauben wird. Also schiebe ich sie sogar noch ein Stück weiter, bis sie draußen auf der Türschwelle steht.

»War ein toller Abend«, sage ich und schließe die Tür, bevor Fabienne richtig reagieren kann.

Ich höre sie über die Musik hinweg gedämpft gegen das Holz hämmern, doch damit wird sie schon irgendwann aufhören. Oder auch nicht. Von mir aus kann sie sich dort draußen auch die ganze Nacht die Beine in den Bauch stehen.

Zuerst muss ich mich um Ivy kümmern.

Ich bin jetzt schon wütend und stampfe aufs Wohnzimmer zu, aus dem die Jazz-Musik kommt. Mit einem Blick überschaue ich die Lage.

Ivy liegt halbnackt auf dem Sofa. Sie trägt nur ein dünnes Negligé, das für meinen Geschmack viel zu viel von ihrem Körper zeigt. Sie hat die Augen halb geschlossen und lächelt so entrückt, als wäre sie auf irgendeinem Trip.

Über ihr hängt ein Typ, der aussieht wie die schleimige Version von Adam Sandler und macht irgendwas an ihrem Oberschenkel, das ich mir gar nicht genauer ansehen will.

Außer ihm befinden sich noch ein Dutzend weiterer Personen im Raum, überwiegend Männer, die allesamt total betrunken zu sein scheinen.

Die werde ich mir gleich vornehmen, aber erstmal ist Adam Sandler an der Reihe. Kurzerhand packe ich ihn am Kragen und zerre ihn von Ivy runter. Sie scheint es gar nicht zu bemerken, er hingegen schlägt fahrig nach mir, als wäre ich eine lästige Fliege. Ich ziehe ihn hinter mir her und ignoriere seine Proteste. Ich bin es gewohnt, Kerle wie ihn aus unserem Haus zu befördern.

Er beschimpft mich, hat aber nicht die Eier, mich anzugreifen.

Kein Wunder. Ich überrage ihn um einen guten Kopf und kann mir vorstellen, dass der Bleistift im Büro das größte Gewicht ist, das diese Lusche stemmen kann.

»Raus«, sage ich, öffne die Haustür und erwarte für einen Moment, dass Fabienne immer noch dort steht.

Glücklicherweise ist sie nicht mehr zu sehen.

Ich stoße Adam nach draußen und knalle die Tür hinter ihm zu. Dann stürme ich zurück ins Wohnzimmer und drehe die Musik aus.

Erst jetzt scheinen die Feiernden wirklich Notiz von mir zu nehmen.

»Alle raus! Die Party ist vorbei.«

Ich schließe den Schnapsschrank ab und verstaue den Schlüssel in meiner Hosentasche. Aus Erfahrung weiß ich, dass spätestens jetzt auch der letzte Hirni begreift, dass es nichts mehr zu feiern gibt.

Und tatsächlich. Die Ersten packen unter leisem Murren ihre Sachen, während ich mich Ivy zuwende, die immer noch auf dem Sofa liegt.

»Hey.« Ich setze mich zu ihr und fasse sie an der Schulter. »Wach auf.«

Ivy öffnet die Augen und sieht sich orientierungslos um. »Was ist denn los, Schatz?«

»Die Feier ist vorbei.«

»Was? Schon …?« Ivy setzt sich schwankend auf und ich frage mich, wie viel sie getrunken hat.

»Ja, Mom. Zeit, ins Bett zu gehen, klar?«

»Aber …« Sie streckt die Hand nach mir aus und ich stehe ruckartig auf.

»Geh ins Bett, Ivy.«

Ich lasse sie auf dem Sofa zurück und stürme die Treppe nach oben.

Wenn ich eins nicht leiden kann, dann sind es diese ausufernden Party-Orgien, die meine Mutter mindestens einmal im Monat in unserem Haus veranstaltet.

Wobei einmal im Monat noch geschönt ist.

Mittlerweile finden diese Feiern eher einmal in der Woche statt und ich weiß nicht, wie lange ich das noch mitmachen kann, bis mir endgültig der Kragen platzt.

Ich betrete mein Apartment, das sich im ersten Stock des Hauses befindet, und schließe die Tür hinter mir ab.

Manchmal kommt Ivy im betrunkenen Zustand auf die Idee, nachts ein Mutter-Sohn-Gespräch mit mir führen zu wollen, aber das kann sie schön vergessen.

Es wird Zeit, nicht weiter über sie nachzudenken, sondern sich dem Wesentlichen zu widmen.

Ich gehe zu meinem Schreibtisch, über dem die Liste hängt, die neben dem Eishockey meinen Alltag bestimmt.

1. Eine Cheerleaderin✔

2. Eine Streberin✔

3. Ein Dreier✔

4. Eine der Gothic-Bräute✔

5. Eine aus dem Uni-Chor✔

6. Eine mit mindestens zwanzig Piercings (mind. 1 Intimpiercing!)

7. Eine Vergebene✔

8. Eine Austauschstudentin (mit sexy Akzent, keine Deutsche oder Britin)

9. Eine von den Kunstspinnerinnen (Malerei oder bildende Kunst, keine Fotografie!)

10. Eine aus der Technik-AG✔

Ich betrachte die Liste zufrieden, die ich eine Weile nach meiner Trennung von Lea vor fünf Monaten angelegt habe. Seitdem ist viel passiert. Lea wird bald der Prozess gemacht und momentan sieht alles danach aus, als würde sie für drei Jahre ins Gefängnis wandern.

Trotzdem kann ich nicht sagen, dass ich wirklich über sie hinweg bin.

Zwar liebe ich sie nicht mehr, aber die ganze Sache hat mir einen ziemlichen Knacks verpasst und mir gezeigt, wie bescheuert ich war, als ich mich ernsthaft auf eine Frau eingelassen habe.

Uni und feste Beziehungen sind zwei Dinge, die so gar nicht zusammenpassen wollen.

Sex-Listen und Unis passen da schon viel besser zusammen.

Ich lasse meinen Blick über die Zeilen schweifen und bleibe an Punkt 8 hängen. Sie durchzustreichen, wäre eigentlich Betrug an mir selbst.

Oder zählt ein Blowjob?

Ich beschließe, Nummer acht erst einmal stehen zu lassen.

Wer weiß, was sich mit Fabienne noch ergibt …

***

»Wie war dein Wochenende?«, frage ich Slater, als wir am nächsten Tag Seite an Seite die Eissporthalle betreten.

»Ziemlich gut.« Slater grinst und ich erkenne, dass er an Mia, seine neue Freundin denkt.

Seit zwischen den beiden alles geklärt ist, geht es ihm richtig gut. Sogar die Tatsache, dass sein Vater in einer psychiatrischen Klinik untergebracht ist, scheint ihn nicht mehr so stark zu belasten, jetzt, wo sie an seiner Seite ist.

»Heißt?«, frage ich ganz automatisch, obwohl ich auf Bettgeschichten eigentlich bestens verzichten kann.

»Wir waren zusammen beim Wasserski. Ich sag dir, auf Kufen stehen ist hundertmal einfacher.«

Ich nicke, höre aber nur noch halb zu, als ich sehe, was in der Vorhalle los ist.

Überall laufen Studenten herum und hängen Bilder auf. Gemalte Kunstwerke, vergrößerte Fotografien.

»Was soll der Quatsch?« Ich sehe Slater stirnrunzelnd an. »Soll das eine Protestaktion sein? Irgendeine Klima-Scheiße?«

Ich bleibe stehen und sehe mich um. Direkt neben der Eingangstür zur Tribüne befinden sich zwei grottenhässliche Gemälde. Das eine zeigt eine gemalte Orange, die so stark vergrößert ist, dass man jede einzelne Unebenheit in der Schale erkennt. Und das andere die Fotografie einer siffigen Turnschuhsohle. Ich bin froh, dass das Foto eine Schwarz-Weiß-Aufnahme ist, denn ich möchte gar nicht so genau erkennen, wo der Träger alles reingelatscht ist.

»Ist ja abartig«, sage ich, dann fällt mir siedend heiß ein, dass Slaters Freundin Fotografie studiert und ich füge schnell hinzu: »Dass die Kunstdozentin einen Rock trägt, meine ich.«

Slater sieht zu Mrs Landers hinüber, die wirklich einen Rock trägt, der ihr allerdings bis zu den Waden reicht, dann schaut er mich verständnislos an.

Ich zucke mit den Schultern. »Hast du gesehen, wie unförmig ihre Knöchel sind?« Weil ich mich nicht weiter um Kopf und Kragen reden will, steuere ich die Umkleiden an und Slater folgt mir.

»Arts on Ice heißt die Aktion«, erklärt er mir.

War ja klar, dass Mia da irgendwie mit drinhängt, sonst wüsste Slater gar nicht so gut darüber Bescheid. Bis er mit ihr zusammengekommen ist, hatte er mit Kunst genauso wenig zu tun, wie ich.

»Hm«, mache ich unbestimmt und lasse meine Augen über weitere »Kunstwerke« wandern.

Eine Ansammlung bunter Bleistifte, die aussieht, als hätte ein zorniger Schüler sein Etui ausgeschüttet.

Eine nebelige Landschaft irgendwo im Nichts.

Silhouetten vor einem Sonnenuntergang, wie es sie schon zu hunderten gibt.

Die Großaufnahme von dem Inneren irgendeiner Maschine – wie originell.

»Zehn Tage lang gibt es Ausstellungen in allen Eishallen entlang der Westküste. Das war Professor Dohertys und Mrs Landers’ Idee. So kriegen die Kunststudenten eine Möglichkeit, ihre Sachen auszustellen und zu verkaufen. Am Ende wird hier in Berkeley das Bild von irgend so einem bekannten Maler für den guten Zweck versteigert, bei unserem Spiel gegen die San Diego Rockets. Doherty will Eishockeyfans für Kunst begeistern und Kunstbegeisterte dazu bringen, sich die Spiele anzusehen.«

»Eine Win-Win-Situation«, knurre ich, denn ich finde die ganze Sache total schwachsinnig. Kunst und Sport haben nun wirklich nichts miteinander zu tun.

»Kann man so sagen.«

Es nervt, dass Slater nicht meiner Meinung ist, aber was soll ich machen? Mias Bilder hängen sicher auch hier irgendwo, deshalb –

»Du findest es scheiße«, mutmaßt Slay.

Er kennt mich einfach zu gut.

»Ja«, gebe ich zu. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass sich irgend so ein Kunstfreak ernsthaft für Eishockey interessiert und umgekehrt. Oder denkst du, Matt würde eins von den Bildern kaufen? Die schrumpelige Orange vielleicht? Die Sachen sind so hässlich, dass …«

Auf einmal bleiben mir die Worte weg. Ganz automatisch bin ich vor einer schwarz-weißen, großformatigen Fotografie stehengeblieben.

Sie zeigt eine Frau mit offenem dunklem Haar, das im Wind weht. Mit ausgebreiteten Armen steht sie im seichten Wasser an einem Strand, ihr weites weißes Hemd ist nass und halb transparent. Ihre langen Beine sind nackt, Tropfen perlen daran hinab.

Erst als ich näher herangehe, verstehe ich, dass es gar kein Foto ist. Aus der Nähe erkenne ich die feinen Pinselstriche.

Das nenne ich wirklich mal Kunst.

»Ach, nee.« Slater verschränkt die Arme und lehnt sich grinsend neben das Kunstwerk. »Kaum siehst du ein Paar Titten, ist Kunst gleich doch nicht mehr so ätzend, oder was?«

Unwillig schüttle ich den Kopf, dabei hat er recht. Die Frau auf dem Bild ist der Wahnsinn. Ihre Augen sehen so lebensecht aus, dass ich mich von ihr beobachtet fühle. Sie haben etwas Lauerndes … Und ihre Lippen haben einen sinnlichen und gleichzeitig ironischen Zug.

Sie erinnert mich an einen Raubvogel.

Frei, wild und irgendwie unberechenbar.

Auch wenn auf meiner Liste kein Model vorgesehen ist, würde ich für sie ganz bestimmt einen Platz finden.

»Wer sie wohl ist?«, höre ich mich fragen.

Fuck, das wollte ich eigentlich gar nicht laut sagen. Aber jetzt ist es zu spät.

Slater lacht mich bereits aus. »Alter. Das ist gemalt. Die Frau gibt es nicht wirklich. Das ist dir schon klar, oder?«

Richtig. So muss es sein.

»Scheiß drauf«, sage ich, schaffe es aber nicht, den Blick auch nur einen Moment von der halbnackten Frau am Strand zu nehmen.

Wenn es sie gäbe, würde sie sofort ganz oben auf meiner Liste landen, soviel steht fest.

Dumm nur, dass ich ihren schlanken Körper wohl niemals unter mir spüren werde.

 

Chelsea

Ich helfe Elizabeth, ihr drei mal vier Meter großes Gemälde in die Eishockeyhalle zu schleppen. Ihr Kopf ist bereits rot wie eine Tomate, dabei ist das Bild überhaupt nicht so schwer, wie sie tut. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass sich so ziemlich alle Augen auf uns richten, als wir das mit Müllsäcken umwickelte Kunstwerk in den Vorraum bugsieren wie eine Leiche, die wir verschwinden lassen wollen.

Mir ist es egal, ob die Leute mich anglotzen oder ihre eigenen Füße betrachten, aber Beth ist da ein bisschen anders. Ihr sind alle möglichen Dinge superschnell peinlich, wohingegen ich das Talent habe, dass meine Gegenwart viele Leute dazu bringt, sich unwohl zu fühlen. Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich kein Blatt vor den Mund nehme.

»Wo soll es hin?«, frage ich und sehe mich in der Halle um.

»Am besten neben deins.«

Neben meins, alles klar. Dann wollen wir doch mal sehen, ob da noch Platz genug für dieses Ungetüm ist.

»Okay, du gehst rückwärts, ich dirigiere dich«, schlage ich vor und Elizabeth willigt ein.

In einem unbeholfenen Manöver wenden wir zwischen all den anderen und haben es nach gefühlten zehn Minuten endlich geschafft.

»Los geht’s.« Langsam schiebe ich Beth mit dem Bild an.

Sie macht winzige Schritte und trippelt rückwärts vor mir her. Niemand scheint Notiz davon zu nehmen, dass die Leinwand wirklich unhandlich ist und Beth hinten keine Augen hat – ständig steht ihr jemand im Weg.

»Vorsicht, hinter dir laufen andauernd irgendwelche Idioten rum.«

»Warum bist du so sauer?«, keucht Beth; sie ist bereits nach wenigen Metern schon wieder aus der Puste.

Tja, warum bin ich das?

»Weil …« Ich entscheide mich erstmal für die zweite Wahrheit. »Weil ich diese Idee total bescheuert finde. Sport und Kunst. Mal im Ernst, keinen hier interessieren unsere Bilder. Die Uni macht das doch nur, weil sie unsere Sachen nicht gut genug für eine echte Ausstellung findet.«

Beth sieht mich über die Leinwand hinweg an und schüttelt den Kopf. Mit der dicken Brille und ihren gerade mal eins sechzig Körpergröße sieht sie viel jünger aus, als sie ist. Auch sonst ist sie optisch so ungefähr das Gegenteil von mir. Ihre Kleidung wirkt immer extrem ordentlich, meine ist eher lässig. Tattoos oder Piercings hat sie im Gegensatz zu mir nicht. »Das glaube ich nicht.«

»Sonst würden sie –«, beginne ich mit meiner Erklärung, aber Beth unterbricht mich einfach.

»Nein, das glaube ich dir nicht. Ich denke, du bist nicht sauer, weil wir keine richtige Ausstellung kriegen, sondern weil Mrs Landers darauf bestanden hat, dass du das Selbstporträt hier aufhängst.«

Das Selbstporträt.

Dieses dämliche Bild wird mir irgendwann nochmal das Genick brechen.

»Ich habe bessere«, sage ich und sehe über Beth hinweg auf die Malerei, die mich viel zu nackt am Strand von Cagnes-sur-Mer zeigt. Es ist gut gemalt, keine Frage. Aber es sollte beim besten Willen nicht hier hängen.

»Eigentlich nicht.« Beth kommt neben mir zum Stehen und legt ihr eigenes Bild zwischen uns auf dem Boden ab. »Landers hat recht. Es ist dein bestes und deshalb ist es für eine Ausstellung auch perfekt geeignet.«

»Perfekt geeignet, damit die Sportler in ihren Pausen was zum Ansabbern haben«, sage ich und sehe finster an Beth vorbei.

Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn und klingt jetzt ein wenig bestürzt. »Das glaubst du?«

Ich nicke mit dem Kinn zu den beiden Typen in Sportklamotten und blauen Collegejacken hinüber, die vor meinem Bild stehen und es betrachten.

Der eine hat braunes Haar, der andere eher dunkelblondes, dessen Schnitt stylish aussieht, auch wenn ich ihm so spontan keinen Namen geben könnte.

Er ist, genau wie sein Freund, groß, seine Haut ist leicht gebräunt und sein Gesicht sieht aus wie die männlichere Version von dem eines Hollywoodstars. Er ist zweifellos attraktiv, hat aber auch einen arroganten Zug.

Oder vielleicht bilde ich mir das nur ein – wegen der Dinge, die ich über ihn gehört habe.

Tom Turner.

Ein absolutes Oberarschloch.

»Das glaube ich nicht, ich weiß es.«

Und als wäre es nicht genug, dass sie mir so unverhohlen auf den Körper starren, hebt Tom das Bild in diesem Moment auch noch ein Stück an, um dahinter gucken zu können.

Was zur Hölle sucht er da?

Den Weg nach Narnia?

 

Tom

»Alter, jetzt hör auf damit. Das fällt dir noch runter.« Slater klingt so nervös, als würden wir hier gerade eine Straftat begehen.

»Ich will nur sehen, wer es gemalt hat.« Aber leider kann ich nicht die ganze Rückseite des Bildes und somit auch nirgendwo eine Signatur sehen. »Du könntest mir ja mal –«

»Kann ich euch helfen?«, fragt eine Stimme hinter mir, die auf unerklärliche Weise samtig und kratzig zugleich klingt.

Schnell lasse ich die Leinwand wieder zurück an ihren Platz gleiten, drehe mich um und erlebe eine Überraschung, die dafür sorgt, dass mir der Atem stockt.

Vor mir steht eine langbeinige Schönheit, die der Frau auf dem Bild verdammt ähnlich sieht. Sie trägt einen brünetten Dutt, eine Frisur, auf die ich eigentlich gar nicht stehe. Aber in diesem Fall ist es anders.

Das hochgebundene Haar sorgt dafür, dass nichts von dem feinen und trotzdem kämpferischen Gesicht der Braunhaarigen ablenkt. Sie hat einen Ring in der Nase, eisgraue Augen und der Schwung ihrer Lippen bringt mich dazu, direkt austesten zu wollen, wie es sich anfühlt, sie zu küssen. Ihr Körper steckt in engen Jeans und einem dünnen Top, das ein paar kleine, kunstvolle Tätowierungen an ihren Handgelenken und Armen enthüllt. Ornamente, die keinen tieferen Sinn zu ergeben scheinen, ihr aber verflucht gut stehen.

»Wollt ihr es kaufen?«, faucht sie und funkelt mich aus ihren Raubvogelaugen an.

Sie wäre die perfekte Vorlage für ein neues Eagles-Logo. Bei ihr kriegen die Gegner sicher Angst.

»Tut Chelsea den Gefallen und kauft es«, bettelt eine kleine Brillenträgerin neben ihr, die so unscheinbar aussieht, dass ich sie zuerst gar nicht bemerkt habe. »Sie möchte nämlich nicht, dass es hier hängt.«

Ich bin immer noch total perplex, dass die gemalte Schönheit von der Leinwand plötzlich vor mir steht und jetzt auch noch einen Namen hat. Während ich noch versuche, sie einzuordnen, schaltet Slater bereits.

»Du hast das gemalt?«, fragt er.

Dabei interessiert mich plötzlich gar nicht mehr, wer der Künstler des Bildes ist. Ich hatte bisher nur gedacht, dass ich über seinen Namen an sein Model herankommen könnte. Oder seine Muse. Oder wie auch immer man die Vorlagen von einem Maler nennt.

Chelsea macht den Mund auf, um Slater eine Antwort zu geben, aber ihre kleine Freundin grätscht schon wieder dazwischen. »Nicht nur das, sie ist auch auf dem Gemälde zu sehen.«

»Na besten Dank auch, Beth. Jetzt wissen die zwei Hirne wenigstens, wessen Möpse sie da bestaunen.«

Die zwei Hirne?

Hat sie das gerade wirklich gesagt? Die Frau hat wohl richtig miese Laune.

Und all das nur, weil ihre Freundin verraten hat, dass sie auf dem Bild zu sehen ist?

Als wäre das nicht offensichtlich.

Heimlich sehe ich an ihr herunter in Richtung Dekolleté, um zu vergleichen, ob ihre Oberweite genauso gut getroffen ist wie ihr Gesicht. Leider bin ich nicht so unauffällig, wie ich dachte, denn sie verschränkt sofort die Arme vor der Brust und funkelt mich jetzt noch eine Spur wilder an.

Es würde mich nicht wundern, wenn sie gleich vorschlägt, dass wir beide uns duellieren. Oder beim Schlammcatchen gegeneinander antreten – wogegen ich nicht das Geringste einzuwenden hätte.

»Also? Kauft ihr es jetzt?«, fragt Chelseas Freundin hoffnungsvoll.

Nein. Ich gebe mich nicht mit einer Kopie zufrieden, wenn ich das Original haben kann.

»Wir können ja mal bei einem Kaffee darüber reden, was meinst du?«, frage ich die dunkelhaarige Schönheit und ignoriere dabei die flehenden Blicke ihrer Freundin.

»Meinen Kaffee trinke ich morgens«, gibt Chelsea zurück und packt Elizabeth am Arm, wahrscheinlich, um mit ihr den Rückzug anzutreten.

Aber so schnell kommt sie mir nicht davon.

»Kein Problem.« Ich grinse sie an. »Dann komme ich morgen früh zu dir.«

»Wenn du sterben willst.« Chelsea zuckt mit den Schultern und ihre Freundin saugt scharf die Luft ein, als wäre das von ihr nicht nur ein blöder Spruch, sondern bitterer Ernst. »Vor dem ersten Kaffee bin ich nämlich absolut tödlich.«

»Wir können auch was anderes trinken«, schlage ich vor.

Ich kann sie nicht einfach so von der Angel lassen. Sie ist perfekt für meine Liste. Und noch dazu offenbar schwer zu knacken. Das gefällt mir.

»Tom«, raunt Slater leise neben mir, aber Chelsea kann sich schon ganz gut allein wehren.

»Wir können es auch lassen«, schleudert sie mir entgegen, dann wendet sie sich ihrer Freundin zu. »Hängen wir dein Bild auf.«

Damit lassen uns die beiden einfach stehen.

Zuerst will ich hinterher, aber Slater hält mich fest. »Tom, lass es. Das war eine klare Abfuhr.«

Oh ja. Das war es.

Aber das bedeutet nicht, dass Chelsea schon gewonnen hat.

 

Chelsea

»Was war das denn jetzt?«, zischt mir Beth zu und sieht mich dabei entsetzt an.

Was hat sie denn? Ich habe lediglich Tom Turner eine Abfuhr erteilt und nicht ihre Leinwand zertreten oder so.

Ich zucke mit den Schultern und tue, als wüsste ich nicht einmal, wovon sie redet. Dann bringe ich den nächsten Befestigungshaken an der Rückseite ihres Bildes an, das wir mittlerweile von den Müllsäcken befreit haben, in denen es steckte.

»Lass mich mal zusammenfassen: Er sieht gut aus, er ist der beste Freund von Slater Thorn, er spielt hervorragend Eishockey, er liebt deine Kunst und er hat dich um ein Treffen gebeten.« Beth legt die Haken weg, steht auf und stemmt die Hände in die Hüften.

Anscheinend bin ich hier die Einzige, die ihr Bild wirklich aufhängen will.

»Und du verpasst ihm eine Abfuhr!«

Dass sie nicht auch noch die Hände über dem Kopf zusammenschlägt bei so viel Empörung, wundert mich.

»Ja«, sage ich nur und zeichne die Stelle für die nächste Halterung auf den Leinwandrahmen.

»Warum?«

Ich muss lachen. So verzweifelt habe ich sie ja noch nie erlebt. Ihre Stimme überschlägt sich sogar, also beschließe ich, dass es Zeit wird, sie zu erlösen.

»Weil er der Kerl mit der Liste ist.« Ich stehe jetzt ebenfalls auf und schaue hinüber zu der Stelle, an der er bis vor kurzem noch mit seinem Freund Slater stand.

»Was für eine Liste?«

Himmel, manchmal glaube ich wirklich, Elizabeth lebt hinter dem Mond.

»Die Sex-Liste!« Ich versuche, leise zu reden, trotzdem drehen sich ein paar andere zu uns um. Ich ziehe eine Grimasse in ihre Richtung und sie wenden sich sofort wieder ab. Dann widme ich mich Beth. »Turner hat eine Liste mit Frauen, die er flachlegen will. Jeder an der Uni ist scharf darauf zu wissen, wer drauf steht. Und ein paar Dämliche wollen sogar gerne draufstehen.« Ich sehe Beth zweifelnd an, weil sie so etwas Weltbewegendes nicht mitbekommen hat.

Elizabeth schlägt sich eine Hand vor den Mund und macht große Augen. »Oh mein Gott«, flüstert sie. »Und du stehst drauf.«

Sie sagt das, als wäre das etwas Tolles und nicht total frauenverachtend, was Turner da treibt.

»Ich hab keine Ahnung, ob ich das tue«, murre ich. »Ist mir auch egal.«

Beth packt mich am Arm und schüttelt ihn, als würde das, was sie zu sagen hat, so besser bei mir ankommen. »Ganz bestimmt stehst du drauf, Chelly!«

Ich mache mich los und verschränke die Arme vor der Brust. »Ja, na und? Ich werde ganz sicher nicht mit ihm in die Kiste hüpfen.«

Auch wenn Tom Turner nicht schlecht aussieht, lasse ich mich von ihm doch nicht zur Uni-Schlampe machen, während in Wahrheit er sich wie eine Schlampe verhält.

In Beth’ Augen sehe ich trotz meiner Worte ein paar Funken Begeisterung. »Das ist doch ein Kompliment!«

Ich kann es einfach nicht fassen.

»Ernsthaft?!«, frage ich entgeistert.

»Na klar! Wenn er von all den vielen Frauen auf der Uni ausgerechnet dich ausgesucht hat, dann musst du ihm ganz besonders aufgefallen sein.«

»Ja.« Ich hocke mich wieder hin, um die nächste Halterung in den Rahmen zu schlagen. »Oder er braucht einfach noch eine, die er unter der Kategorie ‚Freak‘ abhaken kann.«

 

Tom

Ich ziehe meine Schnürsenkel fester, schaue dabei auf die Eisfläche unter mir und versuche, das Geplärre der Firebirds auszublenden. An gleich mehreren Wochentagen trainieren die Cheerleaderinnen vor uns und sorgen dafür, dass Slater zu nichts mehr zu gebrauchen ist. Zumindest nicht, bis sie die Halle endlich geräumt haben.

Skeptisch sehe ich zu ihm rüber. Er sieht seiner Freundin Mia und den anderen dabei zu, wie sie übers Eis fahren und ihre Glitzerpuschel schwingen, als stecke irgendein höheres Talent dahinter.

Machen wir uns nichts vor. Seine Freundin hat sich verbessert, ist aber noch weit davon entfernt, wirklich gut zu sein. Aber er himmelt sie an, als hätte sie den Stanley Cup im Alleingang gewonnen.

Ich stehe auf und lehne mich neben Slater an die Bande. Einerseits freue ich mich für ihn, dass er in Mia die Richtige gefunden hat und ich mag sie mittlerweile auch. Andererseits geht mir dieser stets etwas verklärte Blick, immer wenn sie in der Nähe ist, gehörig auf die Eier.

»Die Kleine gerade«, beginnt Slater und ich weiß sofort, wen er meint.

Chelsea.

Chelsea Johnson, um genau zu sein. Ich habe sie gerade in der Kabine kurz gegoogelt. Es gibt ein paar Einträge zu ihr und ihren Bildern, aber keine Infos, die mich ihr auch nur ein Stück näher bringen.

»Setz sie nicht auf deine Liste«, bittet mich Slater.

Ich verdrehe die Augen und sage nichts dazu. Slay hält meine Liste für Schwachsinn. Aber was weiß er schon?

Sie ist etwas, worauf ich mich fokussieren kann. Ein Freizeitziel, das es zu erreichen gilt. Alle an der Uni wissen davon und das macht es für mich umso interessanter und auch ein Stück weit schwieriger. Wenn sich die Frauen trotzdem auf mich einlassen, sind sie doch selbst schuld, was will er mir also plötzlich ins Gewissen reden?

»Sie scheint klug zu sein, schlagfertig, hat einen eigenen Kopf.«

»Du klingst wie diese Tussi vom Teleshopping.« Ich versuche, ein bisschen höher zu sprechen und Tamara Young vom Shopping-Kanal nachzuäffen. »Sie ist außerdem einen Meter siebzig groß und passt in jede Ecke. Kaufen Sie jetzt Chelsea Johnson, solange der Vorrat reicht!«

Slater sieht mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle.

»Ist doch wahr«, sage ich und höre selbst, dass ich ein bisschen trotzig klinge.

»Johnson also.« Slater nickt.

Was soll denn dieses verständnisvolle Nicken jetzt schon wieder? Ich habe ihren Nachnamen gegoogelt, na und?

»Woher weißt du, dass sie so heißt?«

»Aus dem Internet«, blaffe ich. Das ist ja wohl naheliegend.

»Du hast sie also schon gegoogelt«, stellt Slater fest.

»Ja, Sherlock. Gut erkannt. Ich habe sie gegoogelt und ihr keinen Heiratsantrag gemacht.«

Slater sieht mich an und ich würde ihm dieses wissende Grinsen am liebsten aus dem Gesicht wischen.

»Setz sie nicht auf deine Liste«, beharrt er, dann stößt er sich von der Bande ab und fährt zu Mia hinüber, die in diesem Moment fertig ist.

Sie nicht auf die Liste setzen.

Er spinnt doch.

Chelsea ist eine Frau, die mich vom ersten Moment an fasziniert hat. Ich wäre ein Idiot, wenn ich nicht versuchen würde, sie rumzukriegen. Und weil für mich nichts anderes als die Liste infrage kommt, werde ich sie drauf setzen müssen. Ganz egal, ob es Slater passt oder nicht.

Ich brauche eine zweite Chance bei ihr.

Und ich habe auch schon eine Idee, wie ich sie mir verschaffen kann …