Leseprobe Wer braucht schon einen Duke?

Prolog

London, April 1800

Als er endlich den Titel Duke of Thornstock geerbt hatte, lehnte sich Marlowe „Thorn“ Drake an eine Säule und ließ den Blick über die Gäste des Balles im Devonshire House schweifen. Warum war seine Zwillingsschwester nicht mit ihm nach England zurückgekommen, als er sie darum gebeten hatte? Wenn Gwyn hier wäre, würde sie sich über all die Dandys mit den übertriebenen Krawatten lustig machen und mit ihm wetten, welcher der Herren sich als Erster zum Narren machen würde, wenn er betrunken war.

Sie würde ihn gut unterhalten. Gott, wie sehr er sie vermisste. Bis jetzt waren sie nie getrennt gewesen und es machte ihm immer noch zu schaffen, dass sie ihn seelenruhig allein hatte abreisen lassen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er sich in seinem Geburtsland so einsam fühlen würde. Er war Engländer, verdammt noch mal, und das hier war sein rechtmäßiges Zuhause. Er hatte sich in Berlin nie heimisch gefühlt, obwohl er seit frühester Kindheit an dort gelebt hatte, und er hatte erwartet, dass es in seinem Heimatland anders sein würde.

Stattdessen roch und schmeckte alles sonderbar, von dem dünnen Kaffee, den seine Diener morgens machten, bis zu dem seltsamen Gebräu, das er jetzt trank und das ihn ein wenig – sehr wenig – an den Glühwein erinnerte, den er in Preußen getrunken hatte, das jedoch nicht annähernd so gut war.

„Nun, wie gefällt dir dein erster Heiratsmarkt?“, fragte sein Halbbruder Grey, der sich zu ihm gesellt hatte. Fletcher „Grey“ Pryde, der Duke of Greycourt, war schon mit zehn Jahren nach England zurückgekehrt, um auf seine künftige Rolle als Herzog vorbereitet zu werden. Das erklärte wahrscheinlich, warum er sich in England wohlzufühlen schien. Er war schon fünfzehn Jahre hier, Thorn erst seit sechs Monaten.

Doch er ließ sich seinem älteren Bruder gegenüber nichts von seinem Unbehagen anmerken. „Das soll ein Heiratsmarkt sein?“, schnaubte Thorn. „Ich hatte es mir etwas … geschäftsmäßiger vorgestellt, mit Müttern, die Witterung aufnehmen wie Jagdhunde, um Heiratskandidaten für ihre hübschen Töchter aufzuspüren.“

Grey lachte. „Das ist nicht weit daneben, jedenfalls nicht für Damen, die außer ihrem Aussehen nichts vorzuweisen haben. Bei Erbinnen sind es eher die Väter, die Unrat wittern – sie versuchen, die Mitgiftjäger zu erkennen.“

„Dann sollte ich wohl froh sein, dass Gwyn nicht mit mir gekommen ist.“ Thorn stieß sich von der Säule ab. „Vater und ich hatten schon in Berlin genug damit zu tun, die Mitgiftjäger fernzuhalten.“

„Dabei hätte ich euch geholfen.“ Grey schaute nach oben. „Gwyn hätte diese Zimmerdecke geliebt. Sie hätte versucht, sie in ihrem Buch mit architektonischen Wunderwerken zu skizzieren. Deshalb kann ich mir nicht erklären, warum sie nicht mit dir zurückkommen wollte.“ Er richtete den Blick auf Thorn. „Weißt du, warum sie in Berlin geblieben ist?“

„Sie sagte, Mutter brauche sie“, erwiderte Thorn.

„Unsinn. Mutter kommt gut allein zurecht. Und außerdem hat sie Maurice, der sie vergöttert. Es muss einen anderen Grund geben.“

Thorn konnte sich gut vorstellen, was der Grund war, aber Gwyn hatte es nie zugegeben, und er wollte Grey gegenüber nicht spekulieren. „Was machst du überhaupt auf einem Heiratsmarkt?“

Grey machte ein grimmiges Gesicht. „Ich habe eine Wette verloren.“

„Ah. Wie sind die Bedingungen?“

„Ich muss bis Mitternacht bleiben … oder bis mir Lady Georgiana vorgestellt wird, je nachdem, was eher passiert.“

„Devonshires Tochter? Die in dieser Saison ihr Debüt hat?“

„Genau.“

„Dann kannst du bald gehen“, sagte Thorn. „Sie werden sie dir als Erstes vorstellen.“

„Und dir. Oder hast du deinen neuen Status vergessen?“

„Nein.“ Wie konnte er? Jedes Mal, wenn er ein Zimmer betrat, verbeugten sich die Leute und knicksten, was das Zeug hielt.

„Vergiss nie, wer du bist“, sagte Grey. „Du weißt noch nicht, wie listig kuppelnde Mütter und ihre Töchter sein können. Sieh es von dieser Seite: Sie sind Jägerinnen, die noch ein Herzoginnendiadem in ihrer Trophäensammlung brauchen. Also sei auf der Hut.“

„Das habe ich ohnehin vor. Sobald ich die Devonshires kommen sehe, ergreife ich die Flucht.“

„Ich meinte nicht, dass du vor den Devonshires auf der Hut sein sollst, um Himmels willen“, sagte Grey. „Sie stehen im Rang über uns. Mit einer Flucht würdest du sie vor den Kopf stoßen. So kühn bin nicht einmal ich. Vielleicht brauche ich eines Tages noch einen von ihnen.“

Thorn wäre lieber dieses Risiko eingegangen, als im Gespräch mit ihnen einen Fehltritt zu begehen. Bei einer Veranstaltung hatte ihn schon einmal jemand auf sie aufmerksam gemacht, aber dies war das erste Mal, dass er den mächtigen Duke of Devonshire und dessen Herzogin begegnen würde, und er hatte etwas weiche Knie beim Gedanken an das Protokoll. In Preußen war Thorn der einzige englische Herzog in seiner Umgebung gewesen, seit Grey nach England gegangen war.

„Erstens“, sagte Thorn, „habe ich im Gegensatz zu dir nicht den Ehrgeiz, halb London zu besitzen. Zweitens kann ich aus einem Ballsaal fliehen, ohne dass es jemand merkt, wenn es sein muss.“

„Meinst du? Sieh dich um, kleiner Bruder. Die Hälfte der jungen Damen hier haben dich im Visier.“

„Oder dich. Wenn der erhabene Herzog und die Herzogin dich ihrer Tochter vorstellen, wird dieses große Ereignis alle so sehr fesseln, dass niemand mein Verschwinden bemerkt.“ Thorn grinste. „Außerdem muss ich nicht so dringend eine gute Partie machen wie du. Ich kann mich mit einer hübschen kleinen Hexe begnügen, solange sie intelligent und amüsant ist.“

Er hörte ein Schnauben hinter sich, doch als er sich umblickte, sah er nichts. Wahrscheinlich hatte er es sich eingebildet.

Grey runzelte die Stirn. „Nach allem, was ich gehört habe, ist Lady Georgiana keins von beidem. Angeblich stellt ihre Mutter sie in dieser Hinsicht in den Schatten – und auch im Aussehen.“
„Das ist eine verdammte Schande. Für dich jedenfalls. Würdest du sie trotz allem wegen ihrer Beziehungen heiraten?“

„Nur, wenn der Klatsch über sie falsch ist und sie sich als, wie du es nennst, intelligent und amüsant entpuppt. Und hübsch.“ Er lächelte Thorn an. „Ich will alles bei einer Frau.“

Und er würde es wahrscheinlich auch bekommen, wenn er sich erst einmal entschieden hatte, sich häuslich niederzulassen. Grey hatte schwarzes welliges Haar, das immer aussah, als sei er gerade aus dem Bett einer Frau gekommen. Seine blaugrünen Augen und seine kantigen Züge garantierten, dass er jederzeit wieder dorthin zurückkehren konnte. Zum Leidwesen der Damen war er sehr wählerisch.

„Wahrscheinlich bist du deshalb noch nicht verheiratet. Du legst die Messlatte sehr hoch.“ Thorn nippte an dem geheimnisvollen Likör in seinem Glas und schnitt eine Grimasse.

„Wie bringst du es fertig, dieses Zeug zu trinken?“, sagte Grey.

„Ich versuche herauszufinden, was es ist. Es schmeckt wie Portwein, ist jedoch zu dünn dafür und viel süßer. Ich denke auch nicht, dass es auf einem Ball für junge Debütantinnen Portwein geben würde.“

„Und doch ist es Portwein. Genauer gesagt, es ist Negus, ein Punsch, den die Engländer aus mit Wasser verdünntem Portwein und allen möglichen Gewürzen zusammengebraut haben. Zu dem Schluss bin ich gekommen, nachdem ich jahrelang versucht habe, ihn zu trinken, ohne das Gesicht zu verziehen.“

„Er ist scheußlich.“ Thorn sah sich nach einem der Diener um, die den Gästen die Gläser abnahmen. Stattdessen entdeckte er die Devonshires, die auf sie beide zusteuerten. „Und ich glaube, es ist Zeit, dass ich mich rar mache. Unsere Gastgeber sind im Anmarsch.“

Grey nickte. „Ich sehe sie. Ich kenne Devonshire gut genug, um mit ihm zu reden, aber der Herzogin und ihrer Tochter bin ich noch nie begegnet. Die Herzogin soll eine faszinierende Frau sein. Bist du sicher, dass du nicht bleiben willst?“

„Ein andermal vielleicht“, murmelte Thorn. Mit seinen einundzwanzig Jahren war ihm noch nicht nach Heiraten zumute. Er schaffte es kaum, sich im Labyrinth von Londons gesellschaftlichen Regeln zurechtzufinden und seinen Besitz zu verwalten. Er konnte sich nicht auch noch um eine Frau kümmern. Doch er war noch nicht vertraut genug mit seinem Bruder, den er jahrelang nicht gesehen hatte, um das zuzugeben.

Die Devonshires blieben stehen, um mit einem anderen Bekannten zu reden, und er umrundete die Säule auf der Suche nach einem Balkon, auf den er flüchten konnte. Dabei stieß er mit einem anderen Gast zusammen und bekleckerte sich mit Negus.

Er starrte auf die roten Flecken hinunter. „Verdammt! Warum passen Sie nicht auf, wo Sie hingehen?“

„Warum tun Sie das nicht selbst? Ich stand nur hier und dachte an nichts Böses.“

Er blickte ruckartig auf und sah eine hinreißende Frau mit feurigen Augen, die ihn anstarrte. Wie so viele der jungen Damen trug sie weiße Seide, doch die seltsame goldene Stickerei auf ihrem Kleid lenkte den Blick auf ihre großen Brüste. Und er mochte üppige Frauen.

Er änderte sofort sein Auftreten. „Verzeihung. Ich wollte Sie nicht kränken. Ich habe einfach nicht aufgepasst, wo ich hintrete.“

„Natürlich, Euer Gnaden. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, der armen Lady Georgiana aus dem Weg zu gehen. Dabei ist sie der liebenswürdigste Mensch, den man sich vorstellen kann!“

Er schnitt eine Grimasse. „Ich verstehe – Sie haben meine Unterhaltung mit meinem Bruder mitangehört.“ Das erklärte, warum seine Entschuldigung sie nicht milder stimmte. Und er würde sich nicht dafür entschuldigen, dass er Lady Georgiana nicht kennenlernen wollte. Warum sollte er auch? Diese Gans hatte kein Recht, private Gespräche zu belauschen.

Er zog sein Taschentuch heraus und fing an, die Flecken auf seiner Weste abzutupfen.

Sie schüttelte den Kopf und ihre blonden Locken wippten. „Damit machen Sie es nur noch schlimmer. Kommen Sie mit, ich kann es säubern.“

„Wirklich? Wie in aller Welt wollen Sie das bewerkstelligen?“

„Mit Champagner und Soda-Bikarbonat“, sagte sie, als sei das völlig selbstverständlich.

Es weckte seine Neugier. „Was ist Soda-Bikarbonat und wo wollen Sie es herbekommen?“

„Ich habe es natürlich in meinem Pompadour.“

Natürlich? „Weil alle jungen Damen so etwas in ihrer Handtasche haben, nehme ich an.“

„So? Ich dachte, ich wäre die Einzige.“ Bevor er antworten konnte, fügte sie hinzu: „Aber wenn wir uns nicht beeilen, ruinieren diese Flecken Ihre Weste für immer.“

Er konnte sich zehn neue Westen leisten, doch da er bisher noch nicht einmal Gelegenheit hatte zu tanzen, war ihr Angebot, die Flecken zu entfernen, durchaus reizvoll. Außerdem wollte er sehen, was für Zaubertricks sie mit ihren seltsamen Zutaten vollbringen würde – und ob sie wirklich Soda-Bikarbonat in ihrem Pompadour hatte. „Dann zeigen Sie mir, wo es lang geht.“

Sie nickte, nahm ihm sein Glas Negus ab und drückte ihm stattdessen ein Glas Champagner in die Hand, das auf einem Tablett in der Nähe stehen gelassen worden war. Dann führte sie ihn auf einen Balkon hinaus. „Das Vorzimmer der Bibliothek ist nicht weit weg. Wir machen es dort.“

Was machen wir?, hätte Thorn beinahe gefragt. Wollte das hübsche Mädchen wirklich die Flecken wegwischen? Oder hatte sie andere, schlüpfrige Absichten? Nun, dagegen hätte er nichts einzuwenden. Das Kleid der Frau war aufreizend tief ausgeschnitten. Aus der Farbe schloss er, dass sie Debütantin war, doch vielleicht hatte er Glück und war an eine verheiratete Frau mit lockerem Lebenswandel geraten.

Wenn die junge Dame eine solche war, hätte man erwartet, dass sie Knickse machte und flirtete wie alle anderen Frauen, die er in der Gesellschaft getroffen hatte. Allerdings war die Londoner Gesellschaft turbulenter als die von Berlin. Er versuchte immer noch, die Regeln herauszufinden. Vom Stiefsohn des britischen Botschafters in Preußen hatte man erwartet, dass er sich gut benahm, und das bedeutete meistens, dass man keinen Spaß hatte. Doch in den sechs Monaten, die seit seiner Rückkehr nach England vergangen waren, hatte er angefangen, seine Fesseln abzustreifen, und andere junge Männer, denen er begegnet war, hatten ihn ermutigt. Trotzdem war dies das erste Mal, dass eine junge Dame ihn dazu verlockte, sich daneben zu benehmen. Sie sind Jägerinnen, die noch ein Herzoginnendiadem in ihrer Trophäensammlung brauchen. Also sei auf der Hut. Das würde er. Aber er würde auch dieses spannende Zusammentreffen genießen. Er hatte seit seiner Rückkehr so wenig davon erlebt.

Sie überquerten den Balkon und gingen dann durch ein Paar Flügeltüren in einen Flur, in dem sich keiner der übrigen Gäste aufhielt. Das weckte seine Neugierde noch mehr.

„Da Sie meine unglückselige Weste retten wollen, sollten wir uns vielleicht vorstellen“, sagte er. „Ich bin …“

„Ich weiß, wer Sie sind, Sir“, sagte sie kurz. „Alle wissen es. Meine gute Freundin Lady Georgiana hat mich gleich auf Sie aufmerksam gemacht, als wir den Ballsaal betreten haben.“

„Haben Sie deshalb mein Gespräch mit meinem Bruder belauscht?“

„Kaum.“ Sie warf ihm einen rebellischen Blick zu. „Ich war zuerst da, denn ich wollte mich vor meiner Stiefmutter verstecken.“

„Warum?“

Sie stieß einen frustrierten Seufzer aus. „Sie versucht ständig, mich mit Herren zu verkuppeln, die mir nicht gefallen. Ich brauche keinen Mann und will auch keinen, aber sie glaubt mir nicht.“

Er hielt es für besser, nicht zu sagen, was er dachte – nämlich, dass ihre Stiefmutter vielleicht recht hatte. So mürrisch seine namenlose Begleiterin auch war, so wirkte sie doch wie eine sonderbare Mischung aus Unschuldsengel und Verführerin, genau der Typ Frau, der mit einem Herrn leicht in Schwierigkeiten geriet. Er wusste noch nicht, was er von ihr halten sollte.

„Ich verstehe“, sagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel. „Aber ich weiß immer noch nicht, wie Sie heißen.“

„Oh! Richtig.“ Sie lächelte matt. „Ich neige dazu, solche Petitessen zu vergessen.“

„Das habe ich schon gemerkt.“

Ihr Lächeln erstarb. „Nun, Sie müssen es mir nicht unter die Nase reiben.“

Er brach in Gelächter aus. „Ich schwöre, Sie sind die seltsamste Frau, die ich je gesehen habe. Das heißt, abgesehen von meiner Zwillingsschwester.“ Er beugte sich zu ihr und flüsterte: „Ich sage Ihnen ihren Namen, wenn es Ihnen hilft, mir ihren zu nennen. Sie heißt Gwyn. Und Sie heißen …“

„Miss Olivia Norley.“

Sie sagte es sehr korrekt, was ihm gefiel, obwohl er etwas enttäuscht war, dass sie keine lüsterne verheiratete Frau war. Dann blieb sie vor einer offenen Tür stehen. „Jedenfalls sind wir jetzt da. Wollen wir hineingehen?“

„Wenn Sie möchten, Miss Norley. Das ist schließlich Ihr Unternehmen.“

„Genau.“ Sie marschierte, ohne zu zögern, hinein.

Er folgte ihr und verkniff sich das Lachen über ihre Zielstrebigkeit. Wenigstens war sie klug genug, mit ihm in die hinterste Ecke des Zimmers zu gehen, wo man sie nicht sofort sehen würde, falls jemand vorbeikam. Sie stellte das Champagnerglas auf einen Tisch, auf dem auch ein Kerzenleuchter stand, öffnete ihren Pompadour und holte eine kleine Schachtel heraus. Die Schachtel enthielt eine Menge kleiner Fläschchen.

„Lieber Himmel, was ist das denn alles?“, fragte er.

„Riechsalz und Kosmetika für Mama. In ihrer eigenen Handtasche ist nicht genug Platz.“ Sie öffnete ein Fläschchen und schüttelte es ein wenig, bis ein weißes Puder auf ihre Handfläche rieselte. „Das ist Soda-Bikarbonat. Es ist gut gegen Magenverstimmungen.“

„Und gegen Weinflecken?“

„Ganz recht.“ Sie lächelte ihn an und ihm stockte der Atem. Ihr Lächeln verwandelte die hübsche Frau in eine hinreißende Göttin. Als sie den Kandelaber näher heranrückte, konnte er sehen, dass ihre Augen von einem warmen Grün waren – wie Jade. Sie hatte volle Lippen, Pfirsichwangen und eine Stupsnase. Er fand alles charmant.

„Verzeih mir“, sagte sie und schien nicht zu merken, dass er sie anstarrte, „aber um den Fleck richtig zu entfernen, muss ich Ihnen unter die Weste fassen.“

„Ist es Ihnen lieber, wenn ich meine Weste ganz ausziehe?“, fragte er. Er wusste, dass das Ansinnen unangemessen war, und fragte sich, was sie antworten würde.

Sie strahlte. „O ja! Das würde es viel leichter machen.“

Sie ließ sich nicht abschrecken und das fand er amüsant. Er streifte seinen Mantel ab, knöpfte seine Weste auf, zog sie aus und gab sie ihr. Sie schob ihr Taschentuch unter die Weste und machte sich an den Flecken zu schaffen. Zuerst beträufelte sie sie mit Champagner und streute das weiße Puder auf die verblassenden Flecken. Zu Thorns Überraschung schäumte es.

Sie streckte die Hand aus. „Geben Sie mir bitte Ihr Taschentuch.“ Sie nahm es und wischte den Schaum weg. Entgeistert stellte Thorn fest, dass die Flecken kaum noch sichtbar waren. Es sah aus, als habe er seine Weste nur mit etwas Wasser bekleckert.

„Wo haben Sie das gelernt?“, fragte Thorn.

Sie brachte seine Weste zum Kamin und schwenkte sie in der Hitze des Feuers hin und her, damit auch noch das Wasser verdampfte. „Von meinem Onkel. Er ist Chemiker.“

Was für eine seltsame Familie. Zweifellos hatte sie einen ganzen Stapel mit Reinigungsanleitungen von ihrem Verwandten bekommen. Laut Gwyn wurde von Frauen erwartet, dass sie sich mit solchen häuslichen Dingen auskannten, auch wenn sie die Reinigungsarbeiten nicht selbst erledigten.

Miss Norley kam mit seiner Weste auf ihn zu. „Hier. So dürften Sie wenigstens durch den Abend kommen. Doch Ihre Diener sollten die Weste gründlich reinigen, sobald Sie nach Hause kommen.“

„Ich werde daran denken“, sagte er und versuchte, ebenso ernst zu klingen wie sie. Er nahm ihr die Weste ab und zog sie wieder an. „Wie kann ich das wieder gutmachen? Vielleicht mit einem Molchauge und einem Froschzeh, um Ihre Fläschchen aufzufüllen?“

„Warum sollte ich die haben wollen? Sie würden mir überhaupt nichts nützen.“

Offenbar hatte sie nie Macbeth gelesen. Oder wenn doch, hatte sie die Fleiß-und-Mühe-Szene mit den Hexen vergessen. Schmunzelnd knöpfte er seine Weste zu. „Dann darf ich Sie vielleicht um einen Tanz bitten.“

Aus ihrer Miene sprach schieres Entsetzen. „Unterstehen Sie sich! Ich bin die schlechteste Tänzerin der Christenheit! Und da junge Damen die Aufforderungen von Herren nicht ablehnen dürfen …“

„Was? Die Regel kannte ich noch nicht. Das erklärt allerdings, warum meine Aufforderungen immer angenommen werden.“ Er blinzelte ihr zu. „Und ich dachte, es liege an meinem unwiderstehlichen Charme und meinem blendenden Aussehen.“

„Alle nehmen Ihre Aufforderungen an, weil Sie ein Herzog sind, Sir. Also bitten Sie mich bitte nicht um den Tanz, sonst mache ich uns beide zum Narren. Es würde Ihnen ganz sicher nicht gefallen.“

Er schüttelte den Kopf. „Sie sind eine ungewöhnliche Frau, Miss Norley. Das muss ich Ihnen zugestehen.“

Als er ein Stück seiner Krawatte am oberen Rand herauszog, runzelte sie die Stirn. „O je. Sie haben da auch Flecken. Ich sollte …“

„Nicht nötig. Wenn Sie nur die Falten der Krawatte zurechtzupfen, um die Flecken zu verbergen, merkt niemand etwas. Ich würde es selbst tun, aber hier ist kein Spiegel.“

„Richtig.“ Sie fing an, hier zu ziehen und da zu stopfen, und das erinnerte ihn an seinen anfänglichen Verdacht, warum sie ihn hierhergelotst hatte.

„Sie machen das sehr gut“, sagte er. „Sie haben offenbar Übung.“

„Mein Onkel hat keinen Diener. Manchmal muss ich seine Gäste empfangen.“

„Geben Sie es zu, Miss Norley. Sie haben mich nicht nur hierhergeführt, um meine Weste zu reinigen und meine Krawatte in Ordnung zu bringen.“

Sie sah ihn an. „Ich weiß nicht, was Sie meinen. Warum hätte ich es sonst tun sollen?“

Er lächelte sie an und nahm ihr Gesicht in ihre Hände. „Damit wir uns amüsieren können. So zum Beispiel.“ Er küsste sie zärtlich und sie wich zurück und machte große Augen. „Oh, Himmel!“

Ein Lachen entfuhr ihm. „Oh, Himmel, allerdings“, murmelte er und küsste sie noch einmal.

Diesmal packte sie ihn um die Taille und stellte sich auf die Zehenspitzen, um seine Lippen genauer zu treffen. Ah ja. Süß wie Kirschen war ihr Mund. Aber auch kühn, als ob sie das schon einmal getan hätte. Nicht, dass es ihn kümmerte. Wahrscheinlich hatte es sie zu der herrlichen Frau gemacht, die sie war, eine, die er gern die ganze Nacht geküsst hätte. Ihr Mund war wunderbar und schmeckte nach Champagner, wie er bald herausfand. Nach einem Augenblick wand sich ihre Zunge um seine, und sein Puls ging schneller. Oh, zum Teufel. Sie brachte ihn so weit, dass er am liebsten alle Vorsicht in den Wind geschlagen und mehr getan hätte, als sie nur zu küssen, doch er wagte es nicht. Also beschränkte er sich darauf, jeden Winkel ihres Mundes zu erforschen und all dessen herrliche geheime Stellen zu entdecken. Mit einem Stöhnen schlang sie ihm die Arme um die Taille und heizte sein Verlangen noch mehr an.

Gott, sie roch köstlich, wie tropische Blumen in einem Gewächshaus. Er wollte in ihrem Duft versinken wie in einem heißen Bad.

Er ließ eine Hand über ihre Schulter, unter ihren Arm und über ihre Rippen wandern. Warum nicht? Er fragte sich gerade, ob er es wagte, die Hand auf eine ihrer üppigen Brüste zu legen, als eine andere Stimme durch das Zimmer donnerte.

„Olivia Jane Norley! Was in aller Welt treibst du da?“

Olivia riss sich von ihm los. Sie sah etwas verwirrt aus, nicht zuletzt derangiert.

Ihm drehte sich der Magen um. Man hatte ihn auf frischer Tat ertappt. Er fürchtete, dass er ganz genau wusste, was das bedeutete.

Er drehte sich um und sah eine elegant gekleidete ältere Frau, von der er annahm, sie sei Olivias Stiefmutter. Wie hatte sie sie beide gefunden, wenn Olivia sich wirklich vor ihr versteckt hatte, wie sie ja behauptet hatte? Die Frau war auch noch in Begleitung einiger Freundinnen. Zeuginnen. Das war schlecht. Sehr, sehr schlecht.

Mit einem Schlag fiel ihm wieder ein, wo er den Namen Norley schon einmal gehört hatte. Baron Norley war angeblich ein Mitglied von Greys Klub, den Thorn ein paar Mal besucht hatte, um sich zu entscheiden, ob er eintreten wollte. Das hieß, dass Miss Norley die Ehrenwerte Miss Norley war, wahrscheinlich auf der Suche nach einem Ehemann und einfach schlauer als die anderen jungen Damen auf diesem Ball.

„Es ist nicht so, wie es aussieht, Mama“, fing Miss Norley an. „Seine Gnaden hat seine Weste mit Negus bekleckert und ich habe sie sauber gemacht.“

Lady Norleys Freundinnen lachten bei der bloßen Vorstellung.

Doch Lady Norley lachte nicht mit. „Olivia, geh bitte wieder in den Saal. Ich muss unter vier Augen mit dem Herzog reden.“

„Aber …“

„Kein Aber, junge Dame.“

Miss Norley schlich mit hängenden Schultern hinaus.

Lady Norley verbannte auch ihre Freundinnen mit einem Wort in den Saal. Dann waren sie und Thorn allein.

„Lady Norley“, begann er.

„Ich erwarte Sie morgen früh in unserem Stadthaus – mit einem Heiratsantrag.“

Heirat! Gott steh ihm bei!

Er versuchte, sich aus der Falle zu winden, in die er unklugerweise getappt war. „Lassen Sie uns nichts überstürzen. Ich habe Ihre Stieftochter erst heute Abend kennengelernt und auch wenn sie ein nettes Mädchen ist …“

„Ja, sie ist ein nettes Mädchen – und erst achtzehn. Ich werde nicht zulassen, dass ihr Ruf Schaden nimmt wegen Ihrer … tierischen Triebe.“

Er versuchte, wie ein Herzog auszusehen, richtete sich auf und sprach mit eisiger Stimme. „Es war nur ein freundschaftlicher Kuss.“

„Für den Sie Ihre Weste ausgezogen haben!“

Verdammt! Er hatte vergessen, dass er in Hemdsärmeln vor ihr stand! Das war schlimm und er hatte es selbst verschuldet.

Er erinnerte sich an Greys Warnungen und machte ein finsteres Gesicht. Wahrscheinlich hatte Miss Norley ihn absichtlich hereingelegt und ihre Stiefmutter hatte ihm aufgelauert, um die Sache zu Ende zu bringen. Der Gedanke machte ihn wütend.

Man sah ihm seinen Ärger wohl an, denn Lady Norley näherte sich ihm und senkte die Stimme. „Falls Sie erwägen, nicht zu erscheinen, zwingen Sie mich, ein bestimmtes Geheimnis über Ihre Familie öffentlich zu machen – ein Geheimnis, das ich all die Jahre für mich behalten habe.“

Ein Schauer überlief ihn. „Sie kennen meine Familie doch gar nicht! Was für Geheimnisse wollen Sie da gehört haben?“

„Vor vielen Jahren kannte ich Ihre Eltern sogar sehr gut. Ihre Mutter und ich haben gemeinsam debütiert und Ihr Vater war ein Freund meiner Familie. Darum weiß ich genau, wo er hin wollte, als er diesen verhängnisvollen Kutschenunfall hatte.“

Das traf ihn unerwartet. „Er wollte nach London“, sagte Thorn misstrauisch. „Das ist kein großes Geheimnis.“

„Ja. Aber er fuhr hin, um sich mit seiner Geliebten zu treffen.“

Für einen schrecklichen Augenblick verlor er den Boden unter den Füßen. „Was?“

„Er hatte eine Geliebte, bevor er Ihre Mutter kennenlernte, und die hat er nie aufgegeben.“

Thorn wäre nicht überrascht gewesen, wenn Greys Vater eine Mätresse gehabt hätte, aber sein eigener? Unmöglich!

Er versuchte, sich zu erinnern, ob seine Mutter je erzählt hatte, warum sein Vater so plötzlich von Berkshire nach London aufgebrochen war, aber ihm fiel nichts ein. Mutter hatte immer gesagt, dass sie und Vater ineinander vernarrt gewesen seien. Wenn man ihr glauben durfte, war diese zweite ihrer drei Ehen die einzige Liebesheirat gewesen. Entweder hatte sein Vater nie eine Geliebte gehabt oder er hatte es so geschickt verheimlicht, dass seine Mutter nie etwas geahnt hatte. Es gab noch eine dritte Möglichkeit – Mutter hatte es gewusst und ihm und Gwyn die ganze Zeit etwas vorgemacht. Gott, der Gedanke war ihm zuwider. Denn das hieß, dass die große romantische Liebe, von der Mutter ihm und Gwyn immer vorgeschwärmt hatte, ein Trugbild gewesen war.

Wenn Lady Norley überhaupt die Wahrheit sagte. Die Frau musste wissen, dass es keine Möglichkeit gab, das „Geheimnis“, mit dem sie ihn erpressen wollte, zu beweisen oder zu widerlegen, jedenfalls nicht, solange seine Mutter im Ausland war. Es dauerte immer Monate, bis seine Briefe in Berlin ankamen. Doch selbst wenn es eine Lüge war, konnte die Baronin die Geschichte trotzdem verbreiten. Sie wusste vielleicht sogar genug, um ihr den Anschein von Wahrheit zu geben. Und er wollte dieser Teufelin nicht erlauben, seine Mutter auf diese Weise zu kränken. Derartiger Klatsch in den Gazetten würde Mutter zutiefst verletzen, sobald er erst einmal die Botschaft erreichte. Der Karriere seines Stiefvaters, des britischen Botschafters in Preußen, wäre es auch nicht dienlich.

„Verstehen wir uns, Euer Gnaden?“, fragte Lady Norley ohne einen Hauch Unentschlossenheit oder Furcht in der Stimme. Sie wusste, dass sie ihn in die Enge getrieben hatte.

Er sagte so gelassen wie möglich: „Ich komme morgen früh.“

 

Am nächsten Tag saß Olivia reglos auf dem Sofa, während ihre Stiefmutter sich an ihren Locken zu schaffen machte. „Wenn du Seine Gnaden heiratest, muss ich deiner neuen Zofe erklären, wie man deine Haare richtig frisiert.“

„Falls ich Seine Gnaden heirate“, sagte Olivia hölzern.

„Nicht das schon wieder.“ Ihre Stiefmutter kniff Olivia in die Wange. „Natürlich wirst du ihn heiraten. Er ist reich und sieht gut aus. Du kannst nichts falsch machen. Das musst du selbst gemerkt haben, so pfiffig, wie du ihn in die Falle gelockt hast.“

„Ich habe nicht … nicht erwartet, dass wir …“

Ihre Stiefmutter zog eine Augenbraue hoch.

Olivia seufzte. Sie sollte wahrscheinlich nicht zugeben, dass sie nicht erwartet hatte, allein mit ihm überrascht zu werden. „Was sagt Papa?“ Sie hatte ihn gestern Abend nicht mehr gesehen, denn er war schon in seinen Klub gegangen.

Ihre Stiefmutter winkte ab. „Du kennst doch deinen Vater – er ist zu sehr mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, um sich noch um deine zu kümmern. Doch er hat versprochen, dass er, sobald du den Antrag des Herzogs angenommen hast, selbst mit ihm über die Details sprechen wird. Zu diesem Zweck bleibt er in seinem Arbeitszimmer, bis der Herzog mit dir fertig ist.“

Olivias Mutter war gestorben, als Olivia acht gewesen war. Danach hatte sich Papa aus ihrem Leben zurückgezogen und sie der Obhut von Kindermädchen und Gouvernanten anvertraut, während er sich selbst die Zeit vertrieb, wie es ein Gentleman eben tat – mit Trinken, Spielen und Klubbesuchen. Manchmal argwöhnte sie, dass er ihre Stiefmutter nur geheiratet hatte, damit er sich nicht um seine Tochter kümmern musste.

Seine unbeholfene, in die Chemie verliebte, mit den Füßen auf dem Boden stehende Kuriosität von Tochter.

„Habt ihr beide es so eilig, mich loszuwerden?“, fragte Olivia und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie gekränkt war.

Zu ihrer Ehrenrettung muss gesagt werden, dass ihre Stiefmutter bei der Frage wirklich schockiert aussah. „Dich loszuwerden? Sei nicht albern, meine Liebe. Wir wollen nur, dass du gut heiratest. Und wenn du das erst einmal getan hast, können wir beide uns amüsieren – einkaufen, auf der Rotten Row ausreiten und die besten Leute besuchen.“

Mama fiel immer etwas ein, das Olivia nicht annähernd amüsant fand. „Du gehst davon aus, dass der Herzog mir wirklich einen Antrag macht.“

„Oh, mach dir deswegen keine Sorgen.“ Ihre Stiefmutter klang plötzlich stahlhart. „Er wird um dich anhalten.“

Seltsam, dass sie anscheinend so sicher war. Nicht zum ersten Mal seit der letzten Nacht fragte sich Olivia, wie es Mama gelungen war, ihn zu überreden. Oder war er einfach so durch und durch Gentleman? Irgendwie bezweifelte sie das, sie hatte ja sein Gesicht gesehen, als er gestern Abend aus der Bibliothek gestürmt war. Er hatte ihr nicht einmal auf Wiedersehen gesagt. Das hatte sie gekränkt, aber daran konnte sie jetzt nicht denken. Sie musste sich überlegen, was sie sagen würde, wenn er ihr einen Antrag machen würde. Es war eine schwere Entscheidung. Schließlich war er der erste Mann gewesen, der sie auf den Mund geküsst hatte. Es war ein Schock gewesen. Herrlich. Völlig unerwartet. Sie hatte immer geglaubt, Küsse auf den Mund seien unangenehm, aber sie hatte es genossen. Sehr sogar. Es bereitete ihr immer noch ein flaues Gefühl im Magen. Wer hätte das gedacht? Und als seine Zunge in ihrem Mund gewesen war … O Gott, es hatte sie völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Er hatte seine Zunge hinein- und herausgeschoben, so listig und genüsslich, dass es sie dazu verleitet hatte, das Gleiche mit ihrer zu tun.

Das schien ihn zu erschrecken, aber nicht für lange. Mit einem Stöhnen hatte er sie um die Taille gefasst und sie an sich herangezogen. Es war wahnsinnig aufregend gewesen. Sie nahm an, dass es die meisten Frauen es als romantisch bezeichnet hätten, aber sie war sich da nicht so sicher. Sie war sich nicht sicher, was „romantisch“ genau war, da sie es nie wirklich selbst erlebt hatte. Die Uhr schlug, und sie sprang auf. Jetzt war die Zeit, um die alle Besuche machten. Nicht, dass sie jemals Besuch bekam. Olivia war nicht gut darin, Höflichkeiten auszutauschen oder sich über das Wetter zu unterhalten, also scharten sich nicht so viele Verehrer um sie wie um einige andere Damen. Das hatte sie jedoch nie gestört. In der Tat war das tägliche Ritual des Wartens auf Besucher nur etwas, das sie überstehen musste, damit sie zu ihrem Onkel gehen und ihm bei seinen Experimenten helfen konnte. Sie hoffte halbwegs, dass der Herzog gar nicht auftauchen würde. Dann müsste sie nicht entscheiden, was sie antworten würde. Sie hatte die ganze Nacht damit verbracht, das Für und Wider abzuwägen, und sich immer noch nicht entschieden. Einerseits sah er gut aus und fand sie anscheinend attraktiv genug, um sie zu küssen. Er konnte auch gut küssen – allerdings hatte sie ja keinen Vergleich. Und noch etwas sprach für ihn – wenn sie ihn heiratete, müsste sie nie wieder Small Talk halten. Er kam ihr nicht wie ein Mensch für Small Talk vor. Das war eindeutig ein Vorteil. Andererseits bezweifelte sie, dass Seine Gnaden ihr erlauben würde, selbst chemische Experimente zu machen oder ihrem Onkel bei seinen zu helfen. Ein Mann wie er würde eine gehorsame Hausfrau erwarten und das war sie nicht. Himmel, sie war nicht einmal sicher, ob sie Kinder haben wollte. Und ein kleiner, törichter Teil von ihr – der Teil, der als Mädchen Märchen gelesen hatte – wünschte sich Zuneigung, sogar Liebe, in der Ehe. Aber bei Thornstock war das wohl zu viel verlangt.

Der Türklopfer ertönte an der Tür unten, und sie erstarrte. Ein paar Minuten später wurde der Duke of Thornstock angekündigt.

Als er eintrat, standen sie und ihre Stiefmutter auf und knicksten. Seine Gnaden sah ausgesprochen grimmig aus und das bestärkte Olivia in ihrer Befürchtung, dass Mama ihn irgendwie unter Druck gesetzt hatte, einen Antrag zu machen. Der Eindruck wurde bestätigt, als er sie anstarrte und dabei offenbar durch sie hindurch sah. „Guten Morgen, Miss Norley. Sie sehen gut aus.“

„Sie auch, Euer Gnaden.“ Himmel, es stimmte. Sein glattes dunkelbraunes Haar hatte einen rötlichen Schimmer und seine Augen waren so hellblau, dass sie beinahe durchsichtig wirkten.

Er warf erst ihrer Stiefmutter einen Blick zu und schaute dann wieder sie an. „Miss Norley, ich hoffe, dass Sie mir die Ehre erweisen, meine Frau zu werden.“

Sie erstarrte. Abrupter ging es nicht. Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, es hätte etwas mehr Small Talk gegeben. „Warum?“

Das brachte ihn aus dem Konzept. Dann spießten seine eisblauen Augen sie förmlich auf. „Weil ich Ihren Ruf gestern Abend irreparabel beschädigt habe. Und da ist eine Heirat der übliche Ausweg.“

Natürlich. Doch hier stimmte etwas nicht. Für einen Herzog gab es bestimmt Mittel und Wege, eine Heirat zu umgehen, wenn die Frau praktisch ein Niemand war. Aber er stand da wie ein armer Sünder, der zum Galgen geschleift wurde.

Sie hatte kein Verlangen, den Henker zu spielen. Wenn sie heiraten musste, dann nicht, um ihren Ruf zu retten. Und schon gar nicht einen Mann, der sie jetzt offenkundig verachtete. „Danke, Euer Gnaden, für Ihr gütiges, großzügiges Angebot. Doch ich bedaure, dass ich es ablehnen muss.“

„Olivia!“, sagte Mama.

Olivia hörte sie kaum, so sehr konzentrierte sie sich auf den Herzog. Sie hatte Erleichterung erwartet, doch stattdessen wich seine kühle Arroganz blanker Wut. Mit welchem Recht war er wütend? Sie hatte ihn davor bewahrt, zur Ehe mit ihr gezwungen zu werden. Er sollte wenigstens dankbar sein!

Ihre Stiefmutter versuchte, die Wogen zu glätten. „Meine Stieftochter meinte …“

„… genau das, was ich gesagt habe“, warf Olivia ein. „Ich habe nicht den Wunsch, Seine Gnaden zu heiraten. Und ich habe den Verdacht, dass das auf Gegenseitigkeit beruht.“ Sie ging auf die Tür zu, die zum Salon führte. „Wenn die Herrschaften mich nun bitte entschuldigen würden …“

Sie musste flüchten. Sie wollte seine triumphierende Miene nicht sehen, wenn er begriff, dass er frei war.

Doch sie kam nur bis in die Halle, dann wurden ihr die Knie weich und sie sank auf den nächsten Stuhl und versuchte, sich zu beruhigen.

Sie hörte, dass ihre Mutter im Zimmer sagte: „Euer Gnaden, Sie müssen Ihr eine Chance geben. Meine Stieftochter ist wie alle jungen Frauen, sie möchte umworben werden. Mit der Zeit wird sie sicher …“

„Ich mag es nicht, wenn man mit mir spielt, Madam“, unterbrach er. „Was mich betrifft, so habe ich Ihre Vertragsbedingungen erfüllt.“

Vertragsbedingungen! Oh, dieser Tag wurde immer schlimmer. Was hatte ihre Stiefmutter ihm angeboten, um ihn zu überzeugen? War Olivia wirklich so schrecklich, dass ein junger Mann sie nicht von sich aus als Ehefrau in Betracht zog? Sicher, sie hatte ein passables Vermögen, aber das war kein Anreiz für ihn. Er war bekanntlich reich wie Krösus.

Er fuhr in einem Ton fort, aus dem die Verspieltheit von gestern Abend verschwunden war. „Ich habe ihr einen Antrag gemacht und sie hat abgelehnt. Damit sind wir quitt. Und wenn Sie jemals Ihre Drohung von gestern Abend wahrmachen sollten, werde ich Ihnen – und Ihrer Stieftochter – das Leben zur Hölle machen. Guten Tag, Lady Norley!“

Diese Worte schreckten sie auf. Er würde das Zimmer verlassen! Und sie wollte nicht beim Lauschen ertappt werden. Sie sprang auf, eilte zur Treppe und betete, dass er es nicht zu eilig hatte, ihre Mutter stehen zu lassen.

Als sie zurückblickte, merkte sie, dass er sie nicht einmal auf der Treppe gesehen hatte. Er war zu sehr mit seiner eigenen Flucht beschäftigt. Zweifellos hatte er genug Verstand, um zu begreifen, dass er um Haaresbreite der Ehe mit einer fast völlig Fremden entkommen war. Für den Bruchteil einer Sekunde wünschte sie, dass sie seinen Antrag angenommen hätte. Ihr Kuss hatte sie in Versuchung geführt und sie verzaubert. Sie wusste, dass sie nie wieder einen solchen Kuss erleben würde.

Doch Küssen reichte nicht. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie das Leben mit einem Mann wie ihm sein würde. Er würde sie Tag und Nacht herumkommandieren. Genau wie Papa würde es ihn nicht kümmern, was sie wollte. Ihr Wunsch, Chemikerin zu werden, würde verblassen, wie es anscheinend der Ehrgeiz jeder Frau tat, wenn sie ihre Träume den Bedürfnissen eines Mannes unterordnete.

Es klang schrecklich. Und wer wollte schon einen Herzog heiraten? Sie ganz bestimmt nicht.

1. Kapitel

London, Oktober 1809

Thorn lächelte, als er sah, wie Gwyn ihren bescheidenen Ballsaal durchquerte und auf ihn zukam. Er gönnte es seiner Schwester und ihrem Mann, dass sie den Kauf ihres neuen Stadthauses mit einem Ball feierten. Er bereute nicht, dass er ihnen das Haus verkauft hatte. Sie hatte ein Zuhause daraus gemacht und das sah man, vor allem hier drinnen. Der neue Boden hatte genau die richtige Politur zum Tanzen und die neuen Kronleuchter erleuchteten den Raum viel besser als die alten. Es hieß, dass sie eine Weile in der Nähe bleiben würde, Gott sei Dank. Und jetzt, da sie Major Wolfe geheiratet hatte, der sie gut beschützen konnte, durfte Thorn sich entspannen und musste sich keine Sorgen mehr machen, dass irgendein Taugenichts sie wegen ihres Erbes kaperte. Er konnte sich zur Abwechslung auf seine schriftstellerische Tätigkeit konzentrieren, doch es wurde immer schwieriger, das zu verheimlichen, vor allem vor Gwyn. Sie hielt ihn für einen Lebemann. Seine ganze Familie dachte so. In Wirklichkeit war „Thorn der Lebemann“ eine Rolle, ebenso wie „Thorn der Bühnenautor“ und „Thorn der Herzog“. Keine dieser Rollen fühlte sich echt an, bis auf eine – „Thorn der Bruder“ natürlich. Zumindest das war nicht nur eine Rolle, die er spielte.

„Du lächelst so verdächtig geheimnisvoll.“ Gwyn küsste ihn auf die Wange. „Was für einen Schabernack planst du für heute Abend?“

„Nichts, was dich kümmern muss, Liebchen.“

Sie lachte. „Wie enttäuschend. Ich wirke nur zu gern bei deinen Intrigen mit. Jedenfalls habe ich das zu Hause immer getan.“

Zu Hause. Auch für ihn war Preußen immer noch „zu Hause“. „Fehlt dir Berlin?“, fragte er mit echter Neugier.

„Manchmal.“ Ihr Gesicht bekam einen fernen Ausdruck. „Ich würde meine Seele für Eisbein mit Sauerkraut verkaufen.“

„Das hättest du eher sagen sollen. Meine neue Köchin kann es machen.“

Sie starrte ihn an. „Und ist es gut? So gut wie in Berlin?“

„Da meine neue Köchin Deutsche ist – ja.“

„Wie hast du eine deutsche Köchin gefunden?“

„Es gibt Deutsche in London, wenn man nach ihnen Ausschau hält, Schwesterchen.“ Er grinste. „Ich lasse dir morgen Eisbein mit Sauerkraut bringen.“

„Du bist ein feiner Kerl.“ Sie nahm seinen Kopf in die Hände und küsste ihn auf beide Wangen. „Ich werde dich daran erinnern.“

Er schmunzelte. „Das erwarte ich auch von dir.“

„Ich bin froh, dass ich dich noch erwischt habe, bevor du die Flucht ergreifst.“ Sie zupfte ihre Handschuhe zurecht. „Du machst dich bei solchen Anlässen immer so schnell davon.“

„Was für Anlässe meinst du?“

„Heiratsmärkte. Du weißt schon.“

„Es ist Oktober! Zu spät im Jahr für Heiratsmärkte. Außerdem dachte ich, dieser Ball sei eure Einzugsfeier. Ich sehe jede Menge Gäste, die man nie zu einem Heiratsmarkt einladen würde. Zum Beispiel William Bonham.“

„Hör auf!“, sagte Gwyn und gab ihm einen Knuff. „Ich weiß, dass dir sein Interesse an Mama ein Dorn im Auge ist, doch ihr gegenüber ist er ein vollendeter Gentleman.“

„Er ist Geschäftsmann.“

„Er ist Papas Geschäftsmann. Wirklich, du bist nach fast zehn Jahren in England furchtbar hochnäsig geworden. Und Mama sagt, sie habe keine romantischen Gefühle für ihn.“

„Das hat sie über unseren Stiefvater auch gesagt. Es hat sie jedoch nicht davon abgehalten, ihn zu heiraten.“

„Aber darüber beschwerst du dich doch wohl nicht. Ohne Papa hätten wir unsere Brüder Sheridan und Heywood nicht. Und wir hätten nie so viel erlebt – Reisen durch Europa und Aufwachsen in Preußen.“

„Stimmt.“ Ohne ihren Stiefvater hätte er sich auch nicht zwischen seiner Zwillingsschwester und seinem Herzogtum entscheiden müssen. Nein, das war nicht gerecht. Er hatte es sich selbst verdorben, weil er nicht ehrlicher zu Gwyn gewesen war, bevor er Preußen verlassen hatte. Er hätte ihr von Anfang an sagen sollen, dass er ihren bevorzugten Verehrer bezahlt hatte, damit er verschwand, dass der Schweinehund das Geld genommen und sich aus dem Staub gemacht hatte. Er und Gwyn kamen sich langsam wieder näher, doch er fürchtete, dass immer eine Kluft zwischen ihnen bleiben würde. Sie waren früher immer einer Meinung gewesen, aber in den Jahren der Trennung war er vorsichtiger geworden und sie … unabhängiger.

Man erkannte es am besten daran, dass er ihr nie etwas von seiner schriftstellerischen Tätigkeit erzählt hatte. Oder von dem schmerzlichen Geheimnis über ihren Vater. Von der Frau, der Thorn einen Heiratsantrag gemacht hatte. Was zum Teufel? Wieso dachte er jetzt an die? Vaters Geheimnis hatte Thorn jahrelang gewahrt, weil ihm der Verdacht gekommen war, dass es vielleicht stimmte. Nach dem Ball bei den Devonshires hatte Thorn an seine Mutter geschrieben, um zu sehen, was sie antworten würde, wenn er erwähnte, dass er ihrer angeblichen „Freundin“ Lady Norley begegnet war. Zu seiner Überraschung hatte Mutter gesagt: „Grüße meine gute Freundin Lady Norley von mir.“ Offenbar hatte die Baronin nicht gelogen, was die Freundschaft betraf, und deshalb hütete er sich davor, Mutter gegenüber etwas anderes zu erwähnen.

„Wenn Mama Mr. Bonham mag und er nett zu ihr ist“, sagte Gwyn, „wo ist das Problem? Es ist ja nicht so, dass sie noch mehr Kinder haben werden.“

„Gott sei Dank.“

„Und da wir gerade von Heirat und Kindern reden …“

„Du bist schwanger.“

„Woher weißt du das? Ich dachte, meine Gewänder würden es gut verbergen.“ Sie seufzte. „Joshua hat es dir erzählt, nicht wahr?“

Thorn grinste. „Was hast du erwartet? Er ist ganz der stolze Papa.“

„Ich sehe schon, ich werde niemanden mit der Nachricht überraschen können“, sagte sie gereizt. „Das wollte ich auch gar nicht andeuten. Ich wollte dich darauf aufmerksam machen, dass hier reichlich unverheiratete Damen sind.“

Er verkrampfte sich. Jetzt, da sie glücklich verheiratet war, wollte sie alle anderen genauso glücklich sehen. Nach den Ehen seiner Mutter, der möglichen Untreue seines Vaters und den vielen Frauen, die sich wegen seines Titels und Reichtums an Thorn herangemacht hatten, hielt er Liebe in der Ehe für ein Hirngespinst. Gwyns Versuche, ihn zu verkuppeln, waren daher vergebliche Liebesmühe.

Er wollte es ihr gerade sagen, als sie hinzufügte: „Mehr als eine dieser Damen ist verzweifelt auf der Suche nach einem Tanzpartner.“

Ah. Er hatte sie missverstanden. Sie machte ihm Vorwürfe, weil er sich als Junggeselle auf einem Ball vor seinen Pflichten drückte. Das war etwas anderes.

Er kannte die Regeln. „Ich sage dir etwas. Bevor ich gehe, tanze ich eine Reihe von Tänzen mit der Dame deiner Wahl. Bin ich damit entlastet?“

„Vielleicht.“ Sie sah ihn durchdringend an. „Und danach?“

„Willst du noch mehr Tanzpartnerinnen für mich aussuchen?“

„Ich weiß es besser. Mir wäre es natürlich lieber, wenn du länger bleiben würdest, aber was ich eigentlich meinte, war: Wo willst du hin, wenn du gehst?“

„Keine Ahnung. Covent Garden wahrscheinlich. Oder in meinen Klub.“ Er tippte sich mit den Fingern ans Kinn. „Ist Vauxhall noch offen? Ich frage mich, ob mich die Leute, die es gekauft haben, eine Runde Seiltanzen lassen. Ich habe nur ein Glas Wein getrunken – ich könnte es schaffen.“

Sie rollte die Augen. „Du solltest lieber diese Theaterstücke schreiben!“

Er erstarrte. „Was für Theaterstücke?“

„Solche, wie dein deutscher Freund sie schreibt – Mr. Jahnke. Das erste hieß, glaube ich, The Adventures of a German Gentleman Loose in London.

„Erstens heißt er Juncker und nicht Jahnke“, sagte er ärgerlich. „Und zweitens steht im Titel nichts davon, dass der Held Felix Deutscher ist. Das Stück heißt A Foreign Gentleman, nicht A German Gentleman.

Sie sah ihn forschend an. „Ich denke, es spielt keine Rolle, ob Felix Deutscher oder ein anderer Ausländer ist. Ich sage nur, dass du die Abenteuer noch spannender machen würdest.“

Thorn war nicht sicher, ob sie ihn aufzog. Hatte sie erraten, dass sein dichtender Freund, Konrad Juncker, eigentlich Thorn selbst war? „Laut Juncker gefallen die Stücke dem Publikum so sehr, dass er damit reich geworden ist. Das erste Werk läuft schon seit Jahren und die Fortsetzungen haben …“ Gwyn fing an zu lächeln und er hielt inne. „Ich finde sie gut, so wie sie sind.“

„Natürlich. Du hältst zu deinem Freund. Persönlich mag ich die Szenen mit Lady Grasping und ihrer unglückseligen Tochter, Lady Slyboots, am liebsten.“ Sie grinste. „Mir gefallen ihre Dummheiten. Sie bringen mich immer zum Lachen.“

„Mich auch.“

Er hatte die komischen Charaktere eigentlich gar nicht beibehalten wollen, als sich sein Ärger über Miss Norleys Ablehnung gelegt hatte. Doch mittlerweile waren die beiden ein fester Bestandteil seiner Werke. Vickerman, der Direktor des Parthenon Theaters, das alle Stücke von Juncker aufgeführt hatte, hatte darauf bestanden, dass Grasping und Slyboots in jedem neuen Stück vorkamen.

Gwyn beobachtete ihn immer noch. „Ich vergesse manchmal, dass du der Einzige aus unserer Familie bist – außer Mama natürlich –, der wirklich gern ins Theater geht. Mamas Trauerzeit ist ja nun zu Ende – bist du mit ihr schon in die Stücke von Juncker gegangen? Ich glaube, die würden ihr sehr gefallen.“

„Noch nicht. Ich war beschäftigt.“ Und er wollte nicht riskieren, dass Mutter Ausdrücke wiedererkannte, die von ihm waren. Sie war oft schlauer, als seine Geschwister ihr zutrauten. Wenn ihm jemand auf die Schliche kommen würde, dann sie. Oder Gwyn.

„Ja, ich kann mir denken, womit du beschäftigt warst.“ Gwyn ließ den Blick durch den Ballsaal schweifen. „Apropos beschäftigt, ich sollte zu meinen Gästen zurückkehren. Du bist mein Lieblingsgast, aber leider nicht der einzige.“ Sie drohte ihm mit dem Finger. „Vergiss nicht – du musst mit der Dame meiner Wahl tanzen. Ich komme gleich wieder und stelle sie dir vor.“

Er verkniff sich ein Stöhnen. Gwyn würde sicher ein Mauerblümchen anschleppen. Sie hatte keine Ahnung von seinem Geschmack in Bezug auf Frauen. Er verlor sie aus den Augen, als sie davon stapfte, doch gleich darauf fiel sein Blick auf eine andere Frau.

Es konnte nicht sein. Aber es war so. Das Gesicht hätte er überall erkannt. Sie war es.

Nach all den Jahren, in denen sie sich nie gesehen hatten, hatte Miss Olivia Norley – oder wie auch immer sie jetzt hieß – die Dreistigkeit, im Haus seiner Zwillingsschwester aufzutauchen. Sie hatte kein Recht, hier zu sein. Nun, Thorn würde dem Mädchen die Meinung geigen und sie dann aus dem Ballsaal schleifen. Er wollte auf einen Diener zugehen, doch da sah er ihre Begleiterin – eine Frau, die ebenso attraktiv, aber nicht annähernd so hinterhältig war: seine neue Schwägerin, Greys Frau Beatrice, die Duchess of Greycourt. Miss Norley und Beatrice waren Verbündete? Was zum Teufel ging hier vor? Er sah zu, wie sie durch den Raum schritten und immer näher auf ihn zukamen. Glücklicherweise blieb Beatrice alle paar Schritte bei irgendwelchen Bekannten stehen und das gab ihm Gelegenheit, die Veränderungen in Augenschein zu nehmen, die die Zeit bei Miss Norley bewirkt hatte. Es waren nicht viele. Sie musste jetzt ungefähr siebenundzwanzig sein, hatte aber immer noch das jugendliche Aussehen einer Frau, die noch keine Kinder geboren hatte. Sie trug ihr blondes Haar noch fast genauso wie vor Jahren, doch ihr waldgrünes Kleid schmeichelte ihrer Figur mehr als ein Ehemann, ein Beweis dafür, wie sich die Mode geändert hatte. Und auch er hatte sich verändert. Nach seiner Begegnung mit ihr hatte er Frauen nicht mehr mit den gleichen Augen gesehen wie vorher. Nun fragte er sich immer, was sie insgeheim wirklich planten, bevor er sich mit ihnen einließ. Und er hatte sich mit vielen eingelassen – dank des Klatsches, den Lady Norley verbreitet hatte. Sie hatte überall herumerzählt, ihre Tochter habe seinen Antrag abgelehnt, weil er ein Frauenheld sei.

Dieser Tratsch hatte ihn tatsächlich attraktiver gemacht. Leute, die ihn wegen seiner deutschen Gewohnheiten seltsam gefunden hatten, betrachteten ihn jetzt als typischen englischen Herzog. Und da Lady Norley ihm nun einmal den Stempel eines Hallodris aufgedrückt hatte, fand er, dass er dann auch wie ein solcher leben durfte. Doch mittlerweile nutzte er seine Ausflüge in die Freudenhäuser hauptsächlich als Stoff für seine Stücke. Er wurde allmählich zu alt für Bordellbesuche.

Ein Diener brachte Gläser mit Ratafia und er nahm eins. Heute Abend brauchte er etwas Stärkeres und der Brandy mit Saftgeschmack war genau das Richtige. Er hatte gerade daran genippt, als Beatrice mit Miss Norley, deren Augen im Kerzenlicht funkelten, auf ihn zukam. Offensichtlich war ihr diese Begegnung ebenso unangenehm wie ihm. Das war eine Überraschung, angesichts ihrer Neigung, Männer einzufangen.

„Gwyn hat mich gebeten, dich an dein Versprechen zu erinnern, Thorn“, sagte Beatrice. „Deshalb möchte ich dir meine neue Freundin vorstellen, Miss Olivia Norley. Miss Norley, das ist der Duke of Thornstock, mein Schwager.“

Es kam ihm vor, als sei sie bei den letzten Worten blass geworden, doch er war nicht sicher. Jedenfalls war ein Rätsel gelöst – sie war nach all den Jahren immer noch unverheiratet. Er allerdings auch.

„Wir kennen uns schon“, sagte er kurz und bündig und machte nur die Andeutung einer Verbeugung. Wenn er Gwyn nicht dieses alberne Versprechen gegeben hätte, hätte er Miss Norley einfach stehen gelassen. Doch nun blinzelte Beatrice ihn an und war offensichtlich verblüfft, dass er so unverschämt zu einer Frau war. Sie ahnte wohl nicht, dass Miss Norley keine Frau war – sie war eine Hexe, genau wie ihre Stiefmutter.

Doch Miss Norley verstand sein Verhalten, denn sie reckte das Kinn und sagte frech: „Sie trinken Ratafia, Euer Gnaden? Ist das nicht etwas unklug, wenn man bedenkt, dass Sie dazu neigen, sich auf Bällen zu bekleckern?“

Er sah sie durchdringend an. „Und wie geht es Lady Norley dieser Tage? Ich nehme an, sie ist hier irgendwo.“ Er ließ den Blick suchend durch den Ballsaal schweifen. „Versucht Sie immer noch, Ihnen einen Herrn mit Titel vor die Füße zu legen?“

Miss Norley errötete nicht einmal. „Zum Glück nicht. Mittlerweile gelte ich als alte Jungfer und meine Stiefmutter lässt mich auf Bällen in Ruhe.“

„Wie schön für Sie“, fuhr er sie an. „Und eine Gnade für die armen Kerle, die sie sonst für Sie einfangen wollte. Doch ich würde Sie nicht als alte Jungfer bezeichnen. Sie sind jünger als meine Schwester und der ist es gelungen, sich Major Wolfe zu angeln.“

„Thorn!“, sagte Beatrice scharf. „Was ist in dich gefahren? Du bist sehr unhöflich zu Miss Norley. Sie ist unser Gast – noch dazu ein sehr wichtiger für mich und Grey.“

Das ließ ihn aufmerken. „Wieso?“

„Hat er es dir nicht erzählt? Er hat Miss Norley beauftragt, mit ihrer neuen chemischen Methode die sterblichen Überreste seines Vaters auf Arsen zu untersuchen. Wir drei fahren morgen früh nach Carymont.“

Carymont in Suffolk war der Stammsitz der Dukes of Greycourt und Greys Vater war dort in dem prächtigen Mausoleum der Familie beigesetzt. Beatrices Eröffnung traf Thorn wie ein Blitz. Ja, Grey hegte seit einiger Zeit den Verdacht, dass sein Vater, der angeblich an einem Fieber gestorben war, in Wirklichkeit vergiftet worden war. Doch dass er so weit ging, den Mann zu exhumieren, fand Thorn extrem. Und warum beauftragte Grey ausgerechnet Miss Norley, die Überreste zu untersuchen? Das war doch verrückt.

Thorn stürzte seinen Ratafia hinunter und sah sich dann im Ballsaal um. „Wo ist Grey?“

„Warum?“, fragte Beatrice. „Du sollst mit Miss Norley tanzen.“

Miss Norley schob das Kinn vor. „Es gibt keinen Grund, warum Seine Gnaden …“

„Oh, ich werde schon mit Ihnen tanzen, Miss Norley“, sagte Thorn eisig. „Aber vorher muss ich mit meinem Bruder sprechen.“

„Was willst du wissen?“, fragte eine sonore Stimme hinter ihm.

Thorn fuhr herum und sah Grey. Thorn packte ihn am Arm und murmelte: „Komm mit. Ich möchte unter vier Augen mit dir reden.“ Thorn steuerte Wolfes Arbeitszimmer an … und dessen gut gefüllten Spirituosenschrank. Als sie eingetreten waren und Thorn die Tür geschlossen hatte, sagte Grey: „Du benimmst dich so theatralisch wie sonst Mutter. Was hat dich so aus der Fassung gebracht?“

„Ich habe gehört, dass du die Überreste deines Vaters auf Arsen testen lassen willst.“

Grey ging auf den Dekanter zu. „Das hoffe ich, ja.“

„Bist du sicher, dass das überhaupt möglich ist?“

„Ja. Vor Kurzem habe ich in den Hinterlassenschaften unseres Stiefvaters eine preußische Zeitung von 1803 gefunden. Sie enthielt einen Artikel über Sophie Ursinus, eine Berliner Giftmörderin. Ein deutscher Chemiker namens Valentin Rose entwickelte einen Test, um die Leiche eines der Opfer von Ursinus auf Arsen zu untersuchen, und die Ergebnisse wurden im Prozess verwendet.“

Grey goss sich ein Glas der bernsteinfarbenen Flüssigkeit ein und genehmigte sich einen kräftigen Schluck. Dann spuckte er es wieder ins Glas. „Gott, das ist ja Rum!“

„Der Major bevorzugt Rum. Wahrscheinlich, weil er so lange auf See war.“ Thorn leerte sein eigenes Glas. Wenn kein Branntwein da war, nahm er mit Rum vorlieb. „Und wechsele bitte nicht das Thema. Suchst du deshalb nach einem Chemiker?“

„Genau.“

„Und da bist du ausgerechnet auf Miss Norley gestoßen?“

„Ja.“ Greys Miene versteinerte sich und er stellte sein Glas hin. „Warum kümmert es dich überhaupt? Es geht um meinen verstorbenen Vater und ich kann mit der Untersuchung beauftragen, wen ich will!“

„Aber du möchtest doch sicher jemanden, der zumindest etwas Ahnung von dem Gebiet hat. Miss Norleys Interesse ist sicher nur das einer Dilettantin. Warum fragst du sie und nicht einen studierten Chemiker?“

Grey machte ein finsteres Gesicht. „Ich habe versucht, einen studierten Chemiker zu finden, wie du es nennst. Doch alle, mit denen ich gesprochen habe, haben abgelehnt.“

„Warum?“

„Viele waren nicht mit dem Test vertraut, den Rose entwickelt hat. Einige sagten, in einem Körper, der schon so lange tot sei, könne man nichts finden. Und wieder andere meinten, sie hätten keine Zeit. Ich denke, das ist eine höfliche Umschreibung dafür, dass sie nichts mit dem möglichen Mord an einem Herzog zu tun haben wollen.“

„Das kannst du ihnen eigentlich nicht vorwerfen. Tote Männer von Rang haben lebende Freunde von Rang, die nicht riskieren wollen, vor den Kadi gezerrt zu werden, und die vielleicht sehr weit gehen würden, um es zu vermeiden. Dann wäre der Chemiker, der die Vergiftung nachgewiesen hat, in einer peinlichen Lage.“

„Genau. Ich habe mich sogar an Mrs. Elizabeth Fulhame gewandt, eine Chemikerin, deren Arbeiten veröffentlicht und bewundert werden, doch sie ist zu sehr mit ihren eigenen Experimenten beschäftigt. Sie hat mir jedoch eine Freundin empfohlen …“

„Miss Norley.“

„Ja. Und als ich von Miss Norleys Erfahrung als Chemikerin hörte, hielt ich es für die beste Lösung.“

Thorn nippte an seinem Rum. „Das Mädchen hat also tatsächlich Erfahrung?“

„Du hast wohl wirklich wenig Vertrauen in mich, wenn du glaubst, dass ich diese Aufgabe einfach irgendwem übertrage. Miss Norley wurde mir wärmstens empfohlen, von ihrem Onkel, der selbst ein bekannter Chemiker ist, und von Mrs. Fulhame.“

Thorn hatte ihren Onkel, den sie bei ihrer ersten Begegnung erwähnt hatte, ganz vergessen. „Also ein Verwandter und eine andere Frau. Ich hoffe, du zahlst Miss Norley nicht zu viel für ihre zweifelhafte Erfahrung.“

Greys Augen wurden dunkelblau – ein Zeichen, dass sein Geduldsfaden fast zu Ende war. „Es geht dich zwar nichts an – aber ich bezahle sie gar nicht.“

Das überraschte Thorn. „Warum tut sie es dann?“

„Warum kümmert es dich?“ Grey lehnte sich an einen Tisch, der in der Nähe stand. „Und woher kennst du Miss Norley überhaupt?“

Thorn seufzte. „Erinnerst du dich an den Ball in Devonshire House und daran, dass ich in einer kompromittierenden Situation mit einer jungen Dame erwischt wurde? Ich glaube, ich habe dir erzählt, dass sie meinen Heiratsantrag abgelehnt hat.“

Er war so in Rage gewesen, als er aus dem Stadthaus der Norleys gestürmt war, dass er sich bei Grey Luft gemacht hatte. Selbst nach all den Jahren bereute er das noch. Er mochte es nicht, dass jemand, und sei es sein Halbbruder, seine Geheimnisse kannte.

Grey fiel die Kinnlade herunter. „Miss Norley?“

„Genau die. Ihre Stiefmutter hatte mir eine Falle gestellt und die Tochter war der Köder.“ Noch dazu mit ihrem Wissen über Chemie. Doch dass sie wusste, wie man einen Fleck aus einer Weste entfernte, hieß nicht, dass sie Untersuchungen durchführen konnte, die vor Gericht Bestand hatten. Es war kaum mehr als ein Taschenspielertrick. „Jetzt verstehst du, warum es mir Sorgen macht, dass du darauf bestehst, dass sie die Untersuchung vornimmt.“

„Ehrlich gesagt, Nein.“

„Glaub mir, Miss Norleys Gründe für ihr Handeln sind immer verdächtig. Sie will dich verführen und deine Ehe ruinieren – für ihre obskuren Ziele.“

Grey lachte. „Lieber Gott, die Frau hat dich ja wirklich in Harnisch gebracht. Du vergisst, dass ich sie schon kenne. Sie kommt mir nicht wie die durchtriebene Lügnerin vor, die du in ihr siehst. Und auch nicht wie die ausgekochte Verführerin.“

„Der Schein kann trügen“, murmelte Thorn. Den logischen Argumenten seines Bruders war er nicht gewachsen.

Grey warf den Kopf zurück. „Wenn Miss Norley dir eine Falle gestellt hat, warum hat sie dann deinen Antrag abgelehnt?“

Diese Frage hatte ihm nachts den Schlaf geraubt. Im Laufe der Jahre war Thorn nur ein Grund eingefallen. „Sie hoffte, ihre Ablehnung würde mich dazu anstacheln, ihr den Hof zu machen – und die Eifersucht irgendeines Mannes erregen, den sie wirklich wollte.“

Das war besser, als wenn sie ihn zurückgewiesen hätte, weil er ihr nicht gut genug gewesen war – in der kurzen Zeit zwischen dem Augenblick, in dem sie ihn in die Bibliothek gelockt hatte, und dem Moment, an dem ihre Stiefmutter wie gerufen auftauchte, um sie zu „ertappen“.

„Meinst du, sie hätte irgendeinen anderen Mann einem reichen Herzog vorgezogen?“, fragte Grey. „Warum hat dann dieser andere Bursche nicht um ihre Hand angehalten? Da sie nie geheiratet hat, ist sie offenbar schlecht darin, Männern Fallen zu stellen.“

Nun völlig in Rage, marschierte Thorn auf seinen Halbbruder zu. „Auf wessen Seite bist du?“

Grey verschränkte die Arme vor der Brust. „Ergreifen wir jetzt Partei? Wegen meiner Entscheidung für eine Chemikerin?“

„Sie ist keine richtige …“ Thorn unterdrückte einen Seufzer. „Hör mal, dass sie ein paar Chemikalien in der Handtasche mit sich herumträgt, hat nichts zu bedeuten.“

„Woher weißt du, was sie in der Handtasche hat? Für einen Mann, der sie kaum kennt, weißt du eine ganze Menge über ihre Gewohnheiten und bist sicher, dass du ihren Charakter einschätzen kannst.“ Grey sah hochnäsig aus. „Gib es zu, du denkst nicht rational. Du magst sie nicht, weil sie die Frechheit besaß, deinen Antrag abzulehnen.“

„Das hat Bea auch getan“, schlug Thorn zurück, „als du das erste Mal um sie angehalten hast.“

Wie erwartet wischte diese Bemerkung die Belustigung aus Greys Gesicht. „Wer hat dir das erzählt?“

„Ihr Bruder.“ Thorn grinste Grey an. „Der nun mein Schwager ist. Glaub mir, ich habe all deine schmutzigen Geheimnisse erfahren.“

„Von Wolfe? Das wage ich zu bezweifeln. Er ist noch wortkarger als ich.“ Grey verschränkte die Arme vor der Brust. „Und beim zweiten Anlauf hat Beatrice meinen Antrag angenommen. Vielleicht solltest du es bei Miss Norley auch noch einmal versuchen.“

„Nie im Leben.“ Thorn versuchte, keine Grimasse zu schneiden. Warum war Miss Norleys Ablehnung immer noch so ein wunder Punkt? Es lag doch schon Jahre zurück.

„Dann halte um eine andere Frau an. Du wirst langsam zu alt für einen Junggesellen.“

„Sei nicht albern“, sagte Thorn, obwohl er vorhin fast dasselbe gedacht hatte. „Ich bin erst dreißig. Nur weil du Bea ins Netz gegangen bist, muss ich mein unbeschwertes Junggesellenleben nicht zu früh aufgeben. Außerdem gibt es eine Menge Frauen, die man haben kann, ohne sie zu heiraten.“

„Ah, jetzt verstehe ich“, sagte Grey träge. „Du hast nicht um eine andere Frau angehalten, weil Miss Norley deinen Charme durchschaut und dich verunsichert hat.“

„Sie war von meinem Charme so beeindruckt, dass ich sie vor Jahren küssen durfte.“

„Oho!“ Grey grinste ihn an. „Den Teil der Geschichte hast du mir unterschlagen, du Schwerenöter. Dann war sie wohl nicht zufrieden mit deinen Küssen.“

Thorn knirschte mit den Zähnen. „Damals wirkte sie recht enthusiastisch.“

„Willst du damit sagen, dass sie eine Schlampe ist?“

„Natürlich nicht. Aber erlebe sie einmal gemeinsam mit ihrer Stiefmutter, die mich gezwungen hat, um Miss Norley anzuhalten, dann erkennst du, dass die beiden …“

„Wer hat etwas von ihrer Stiefmutter gesagt?“ Grey hob eine Augenbraue. „Miss Norley hat unmissverständlich klargemacht, dass sie Lady Norley aus dem Spiel lassen will. Die Baronin ist nicht einverstanden mit den Experimenten ihrer Stieftochter.“

„Warum hat Lady Norley dann erlaubt, dass sie mit euch wegfährt?“

„Weil sie nicht weiß, warum wir Miss Norley eingeladen haben. Wir haben ihr erzählt, die junge Dame würde mit auf den Landsitz kommen, um Beatrice während des Wochenbetts Gesellschaft zu leisten. Ich denke, Lady Norley war sehr froh, dass ihre Stieftochter die Chance hat, sich mit einem Herzog und einer Herzogin abzugeben. Wir hielten es nicht für sinnvoll, zu verraten, was Miss Norley wirklich vorhat.“

„Du weißt selbst nicht, was sie wirklich vorhat“, knurrte Thorn.

„Du auch nicht.“ Grey straffte die Schultern. „Versteh mich nicht falsch, doch Miss Norleys Ablehnung deines Antrages macht sie in meinen Augen noch vertrauenswürdiger. Sie hat Rückgrat, was den meisten Damen der Gesellschaft fehlt, und dein Titel und dein Reichtum lassen sie unbeeindruckt. Betrachte mich also als vorgewarnt, aber ich bleibe bei meiner Entscheidung, sie diese Tests machen zu lassen.“

Greys Weigerung, zu sehen, was Thorn für offensichtlich hielt, kränkte seinen Stolz. „Nun gut. Dann komme ich mit euch allen nach Carymont.“

„Ich habe dich nicht eingeladen.“

„Ich werde deine Frau schon dazu bringen.“

„Wahrscheinlich, du nichtsnutziger Überredungskünstler. Sie will keinen Ärger in der Familie.“ Grey dachte einen Moment nach. „Also meinetwegen. Komm mit. Das ist vielleicht sogar sinnvoll. Wenn wir erst einmal die Ergebnisse der Untersuchung haben, können wir beide uns überlegen, wie wir weiter vorgehen – um herauszufinden, wer das Arsen verabreicht hat.“

Thorn leerte sein Glas. „Vorausgesetzt, dass sie etwas findet. Und dass ihre Ergebnisse verlässlich sind.“

Grey ging zur Tür, blieb stehen und sah sich nach Thorn um. „Ich warne dich. Wenn du versuchst, meine Pläne mit unbegründeten Vorwürfen gegen Miss Norley zu ruinieren, schicke ich dich wieder nach Hause, bevor du bis drei zählen kannst. Verstanden?“

„Vollkommen.“

Wenigstens konnte er in der Nähe sein und dafür sorgen, dass Miss Norley keinen Ärger machte. Oder ihre Stiefmutter, die sehr wohl in Suffolk auftauchen konnte, um Miss Norley vor den zügellosen herzoglichen Halbbrüdern zu „retten“. Schließlich hatte Grey sich den Ruf eines Lebemannes erworben, bevor er geheiratet hatte. Und in Thorns Augen steckten Miss Norley und Lady Norley unter einer Decke, egal, was die junge Frau Grey erzählt hatte.

Lady Norleys „Geheimnis“ über Vater konnte Mutter jetzt noch schwerer treffen als damals, als sie im Ausland gewesen war. Bisher hatte die Baronin in der Öffentlichkeit kein Wort darüber verloren, deshalb war es wohl am besten, die Familie nicht unnötig aufzuregen, indem er etwas davon erzählte. Er hatte all die Jahre geglaubt, es sei Vergangenheit … bis Miss Norley hier aufgetaucht war. Mutter zu beschützen, hatte jetzt Vorrang davor, ans Licht zu bringen, wer vielleicht ihre Väter umgebracht hatte. Wenn er und seine Halbbrüder bewiesen, dass ihre Väter ermordet worden waren, hatte sie mehr als genug Geheimnisse, mit denen sie fertig werden musste.

Es sei denn, sie hatte es schon die ganze Zeit gewusst. Es sei denn, Mutter hatte Vater umgebracht, weil sie von seiner Geliebten erfahren hatte.

Thorn schüttelte den Kopf. Die bloße Vorstellung war absurd. Wie hätte sie eine Kutsche so beschädigen können, dass es zu dem Unfall kam? Wenn die Kutsche überhaupt beschädigt worden war! Nicht einmal das stand fest.

Aber es war möglich, dass die Geliebte seines Vaters – wenn er eine gehabt hatte – einen eifersüchtigen Ehemann gehabt hatte. Sie sollten es alle in Betracht ziehen … nachdem Thorn den Unfall untersucht hatte. Er hatte es lange genug hinausgeschoben. Wenn Grey Schritte unternahm, um herauszufinden, wer die Herzöge in der Familie umbrachte, war es höchste Zeit, dass Thorn das Gleiche tat.

Doch bis er dafür nach Hause fahren konnte, musste er Miss Norley im Auge behalten, auch wenn er die Situation nicht entschärfen konnte. Jetzt musste er es mit ihr aufnehmen. Es war Zeit, sie wissen zu lassen, dass er jeden ihrer Schritte beobachten würde. Und auch wenn er es sich nur ungern eingestand – er freute sich darauf.