Leseprobe Wer braucht schon Weihnachten?

Kapitel 1 – Boden, tu dich auf

Tagesbruch, der (auch Tagebruch, Tagbruch): spektakulärer Gruß aus der Vergangenheit des Bergbaus, der einen mit zeitlicher Verzögerung erreicht und für aufregende Momente sorgt. Aufgrund unzureichender Dokumentation oft in Gegenden anzutreffen, in denen niemand damit rechnet.

„Verdammte Scheiße!“ Ich betrachtete meine Hose, an der die Wasserfontäne, die mich voll erwischt hatte, in Rinnsalen hinablief. Den Kerl in seinem fetten SUV interessierte es null die Bohne, dass ich dank seiner freundlichen Unterstützung nun wie ein begossener Pudel anmutete. Meine Haare klebten in breiten Strähnen an meiner Stirn. Nicht, dass ich vorher eine Frisur gehabt hätte, denn es schüttete wie aus Eimern und bei dem Sturm half mein Mini-Regenschirm nur wenig. Seufzend stellte ich mich in einen Hauseingang und inspizierte das Unheil. Jetzt war ich nicht nur nass, sondern auch teilweise mit Dreck bespritzt. Natürlich ist so eine Regenpfütze kein sauberes Quellwasser.

Super. Ganz großes Kino. So konnte ich unmöglich bei der Weihnachtsfeier aufkreuzen. Obwohl ich nun endlich eine echte Ausrede hatte, war mir nicht wohl bei dem Gedanken, die Feier zu versäumen. Ich arbeitete noch nicht lange in der Werbeagentur und tat mich sowieso schwer, in dem eingeschworenen Team Fuß zu fassen. Jetzt fürs Umziehen umzudrehen und mich wieder auf den Weg zu machen, hieße zu spät zu kommen und möglicherweise den gesamten Abend der guten Stimmung hinterherzuhinken wie ein angeschossenes Reh. Oder ein begossener Pudel.

Außerdem hatte ich keine Lust, Jamal im Hausflur zu begegnen – dann lieber nass bis auf die Unterwäsche zur Feier. Mit einer winzigen Frage hatte er den bis dahin entspannten Nachmittag, den wir ausgiebig miteinander ausgekostet hatten, verkompliziert. „Können wir über uns reden, Leonie?“

Über uns. Bei diesen Worten war es mir eiskalt den Rücken hinuntergelaufen, denn es gab kein uns. Nicht so, wie jeder es sofort im Sinn hatte. Diese romantische Gefühlsduselei mit der Heirat als Höhepunkt einer jeden Beziehung, drolligen Kindern und dem ganzen Schwachsinn. Statt Jamal zu antworten, hatte ich den armen Kerl vertröstet und mich hastig für die Weihnachtsfeier fertiggemacht. Ich wollte nicht über unsere Beziehung reden, hatte ich nie gewollt, würde ich nicht wollen. Alles war perfekt, wie es lief. Unkompliziert, heiß.

Ich schüttelte den Kopf, Regentropfen flogen in alle Richtungen. Anscheinend stand ich allein mit dieser Meinung.

Während ich meinen Gedanken nachhing und gleichzeitig fieberhaft nach einer Lösung für meine durchweichten Klamotten suchte, fiel mein Blick zu einer kleinen Boutique auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Wie ein sonnenbeschienenes Juwel leuchtete sie zwischen den grauen Hausfassaden. Fehlte nur noch der Engelschor, der diese Entdeckung anpries. Das Lädchen war mir vor ein paar Wochen bereits aufgefallen, aber zum einen hatte mir die Zeit für einen Bummel gefehlt, zum anderen hatte ich dem Braten nicht getraut. Die Gegend war – nun, wie sollte ich ausdrücken – nicht die Beste für ein hübsches Lädchen mit hochwertiger Kleidung. Dönerbuden und orientalische Restaurants zur Linken, ein Ausblick auf die Zukunft des Viertels. Eine verwaiste Kneipe sowie eine Filiale der Stadtsparkasse zu Rechten, Relikte aus längst vergessenen Tagen.

Was solls, dachte ich, die Not ist groß.

Ich überquerte die Straße und huschte in den Laden. Ein Glöckchen an der Oberkante der Tür verkündete meine Ankunft, wenige Sekunden später lugte eine Mittvierzigerin hinter der Ladentheke hervor. Sie trug eine rundglasige Brille mit breitem knallblauen Rand und ein farblich abgestimmtes grobes Strickkleid, das ein paar Speckröllchen betonte. Ich ignorierte die anfliegende Frage der skeptischen Stimme in meinem Kopf, ob sie mir eine gute Beraterin sein könnte, denn ihr stand das Kleid wirklich gut.

„Himmel, was ist denn mit Ihnen passiert?“, fragte sie mich frei heraus.

Ich schnaubte und fasste die Situation zusammen: „Typ mit zu großem Auto, zu kleinem Penis und ein zu tiefes Schlagloch mit zu viel Wasser.“

Sie lachte und ihre Augen blitzten vergnügt. „Verstehe. Das Wetter macht seinem schlechten Ruf alle Ehre. Ich finde, es könnte sich etwas zusammenreißen. Egal, was kann ich für Sie tun?“

„Ich brauche dringend etwas Weihnachtsfeiertaugliches, schaffe es aber nicht mehr nach Hause, um mich umzuziehen.“

„Ah! Da habe ich genau das Richtige!“ Mit triumphal erhobenem Zeigefinger marschierte sie in Richtung des Kleiderständers, der sich hinter mir befand.

Als ich die grell gemusterten Weihnachtspullover entdeckte, schwante mir Übles. „Es darf ruhig etwas klassisch sein. Bitte keine Rentiere, Weihnachtsmänner …“

„Tannenbäume?“, fragte die Verkäuferin und zog eine cremefarbene Bluse hervor, auf der Hunderte kleiner Tannenbäume abgebildet waren, die aus der Ferne als dunkelgrüne Punkte durchgehen würden.

„Die gefällt mir“, antwortete ich zu meiner eigenen Überraschung. „Ich mag die Millefleurs-Optik und das Dezente.“ Schon inspizierte ich die Bluse aus der Nähe und befühlte den Stoff. „Seide?“

„Satin. Ist günstiger, aber trägt sich ganz wundervoll.“

„Klingt gut. Haben Sie dazu eine passende Hose oder einen Rock? Oh, und passende Ohrringe? Goldene Creolen oder so etwas?“

„Aber natürlich.“ Sie grinste verschwörerisch und innerhalb weniger Minuten war ich um ein festliches Outfit reicher und mein Bankkonto fast zweihundert Euro ärmer. Um einem neuerlichen Regenfontänenfiasko vorzubeugen, rief ich mir ein Taxi. Die Wartezeit im Laden überbrückten wir mit Small Talk über das Wetter, das, wie sie bereits erwähnt hatte, in den letzten Tagen wirklich grässlich war, und den Trend zu hässlichen Weihnachtspullovern, der sich auch in diesem Jahr ungebrochen fortsetzte. Egal, wo man war, man kam an diesen Dingern nicht vorbei.

Wir verabschiedeten uns mit der Überschwänglichkeit Verbündeter, die einen guten Plan geschmiedet hatten und besten Wünschen für die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage. Hoffentlich würde ihr Fest besser werden als meines. Die Messlatte hing niedrig, lag quasi auf dem Boden.

Mit Jamal hatte ich unseren obligatorischen Anti-Weihnachten-Filmemarathon geplant, doch der stand nach seiner romantischen Eröffnung in den Sternen. Und selbst wenn ich ein Bein verlöre oder einen Karibikurlaub gebucht hätte, vor einem Mittagessen mit der buckeligen Verwandtschaft konnte ich mich nicht drücken. Was das anging, waren mein Bruder und seine ach so reizende Ehegattin Isabella unerbittlich. Der erste Weihnachtsfeiertag gehörte der Familie. Ob man sich verstand oder nicht, spielte keine Rolle. Bei dem Gedanken daran drehte sich mir der Magen um. Da war der heutige Abend als Fremdkörper im neuen Team ein wahres Vergnügen.

 

„Wo soll’s denn hingehen?“, fragte der Taxifahrer im tiefsten Ruhrpottregiolekt.

„Auf die Rüttenscheider. Zum Gin & Jagger.“

„Ecke Martinstraße?“

„Passt.“

Er nickte, stellte das Taxameter an und düste los. Beseelt über die glückliche Wendung und dem guten alten Zufall, dem ich zu verdanken hatte, dass mein Blick im rechten Moment die Boutique erhascht hatte, lehnte ich mich ins Polster und betrachtete das triste Grau der vorbeziehenden Gebäude. Dunkle Regenschlieren verfärbten die Fassaden. Die Stadt war anders, wenn es regnete. Lauter und bedrückender. Kein Wunder, dass das Ruhrgebiet nach Jahrzehnten der Zechenschließungen immer noch mit seinem schmutzigen Image kämpfte. Neulich hatte ich mich von Dortmund nach Duisburg über die Herzschlagader des Ruhrpotts gestaut, die A40. Graffitibeschmierte Lärmschutzwände, hinter denen verwitterte Mehrfamilienhäuser hervorlugten wie neugierige Kinder am Nachbarszaun.

Der Wetterfrosch orakelte Schneeregen bei zwei bis drei Grad für die kommenden Tage. Wieder keine weiße Weihnacht. Zu warm, zu nass, zu sehr Ruhrgebiet.

Mir war das egal. Bruce Willis würde auch bei Schneeregen die Welt vor Terroristen retten.

„Soll nur schütten“, sagte der Taxifahrer, als hätte er meine Gedanken gelesen.

„Hab ich auch gehört.“

„Machste nix. Meine Kinners haben sich so gefreut. Die Jüngste kriegtn Schlitten. Wenn nich Schnee kommt, müssen wa zur Skihalle fahren. Da is in den Ferien Halligalli.“

„Vielleicht wird es ja noch was.“ Ich schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, das er mit einem Nicken quittierte. Um sich vorzustellen, dass in der Skihalle Wände wackelten, genügte die Fantasie einer Amöbe.

Wir näherten uns schweigend dem Szenestadtteil Essens. In Rüttenscheid steppte das gesamte Jahr der Bär. Ein Restaurant grenzte ans andere, und wer nicht die hippsten oder leckersten Gerichte präsentierte, konnte die Ladentür dauerhaft abschließen. Als im Teammeeting der Vorschlag aufgekommen war, ins Gin & Jagger zu gehen, waren alle Feuer und Flamme gewesen, vor allem wegen der umfassenden Getränkekarte. Ich mochte das kosmopolitische Flair. Während ich grübelte, welchen Drink ich mir als Erstes genehmigen würde, blubberte das Radio vor sich hin.

„Ker, is denn das zu fassen?“ Der Taxifahrer trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und schüttelte heftig den Kopf, dass seine mittellangen Haare flogen.

Da ich von einer rhetorischen Frage ausging, reagierte ich nur mit einem unbestimmten Laut.

„Wo soll’n dat noch hinführen? Die verdammte Stadt is ein einzigster Schweizer Käse.“

Ich bekam eine Gänsehaut, während mein Gehirn in Gedanken seine Grammatik korrigierte. Ich liebte den Ruhrpott, meine Heimat, aber unsere Sprache war schon speziell. Insbesondere seitdem ich in der Agentur arbeitete, hatte ich diesen Tick, meine Mitmenschen ständig in Gedanken zu verbessern. Trotz seiner Ausdrucksweise war es ihm gelungen, meine Neugierde zu wecken. „Was ist denn los?“

„Schon wieder ein Tagesbruch. Oben in Altenessen.“

Ich horchte auf. „Wo genau?“

Der Taxifahrer zog die Stirn zusammen wie eine Ziehharmonika, was ihn gleich zehn Jahre älter aussehen ließ. „Irgendwas an der Altenessener Straße, Ecke Stankeitstraße oder so.“ Er schielte zu mir rüber. „Wo wohn‘ se denn?“

„Ziemlich genau da“, erwiderte ich mit schwacher Stimme.

„Oh.“

„Ja. Oh.“

Betretenes Schweigen.

Schließlich ergriff der Taxifahrer das Wort: „Soll ich umdrehen?“

„Nein, nein. Ich ruf meine Vermieterin an, die wohnt im Haus und ist so gut wie immer da. Wenn etwas passiert ist, weiß sie es.“ Mit klammen Fingern fummelte ich das Handy aus meiner Handtasche und schaute aufs Display. Vier verpasste Anrufe. Allesamt von Frau Nolte, besagter Vermieterin. Mir rutschte das Herz in die Hose und anscheinend gleich die Fassung aus meinem Gesicht, denn dem Taxifahrer entwich ein weiteres „Oh“. Er musste mich aus den Augenwinkeln beobachtet haben.

„Ja. Oh. Bitte drehen Sie doch um“, sagte ich mit tonloser Stimme.

Damit hatte sich die Weihnachtsfeier erledigt. Rasch schrieb ich eine Nachricht in die Chatgruppe und fügte den Link aus den Lokalnachrichten hinzu, um meiner Absage Gewicht zu verleihen, weil mich das schlechte Gewissen, auf den letzten Metern abzusagen, zwickte. Egal wie wenig Lust ich auf die Feier verspürt hatte: Die Gelegenheit, das Team in neutralem Umfeld kennenzulernen, würde sich so schnell nicht wieder bieten. Während die Häuser an uns vorbeizogen, drückte ich mit zittrigen Fingern auf zurückrufen. Frau Nolte ging sofort dran und berichtete mir aufgelöst, dass der Tagesbruch ein riesiges Loch in die Straße direkt vor unserer Haustür gerissen hatte.

„Vor einer halben Stunde bebte der Boden. Ich dachte mir, das sei ein Erdbeben. Bleib ruhig, Marianne, leg dich unter einen Tisch. Sie müssen wissen, das hab ich mal in einer Dokumentation gelernt. Wer hätte geglaubt, dass die Erde hier beben würde? Wobei, damals irgendwann in den 80ern hat die Erde schon mal gewackelt wie so ein Wackelpudding. Seitdem hab ich ‘nen Riss in der Küchenwand. Mein Mann, Gott hab ihn selig, hat ihn nie ausbessern lassen. Warum weiß nur der liebe Gott allein.“ Wenn Frau Nolte loslegte, kam kein Buchstabe dazwischen. Mir blieb kein Raum für eine klugscheißerische Bemerkung, dass ein Tagesbruch kein Erdbeben sei. „Jedenfalls, das müssen Sie sehen! Mehrere Meter Durchmesser! Die ganze Straße ist abgesackt. Zack, einfach weg, als wäre unten drunter nichts. Unfassbar. So etwas hab ich noch nie gesehen! Ich bin Augenzeugin, müssen Sie wissen. Also, nicht so ganz direkt, aber fast. Ich stand im Türrahmen, weil ich hab’s so schlimm in den Knien und da schien mir der Tisch wirklich unpraktikabel. Tja, jedenfalls, jetzt wissen die, dass dort mal ein Schacht war“, endete sie mit hörbarer Erschütterung. „Ist denn das zu glauben?“

Das war leider nicht ungewöhnlich, denn über viele Bergbaustollen fehlten bis heute Aufzeichnungen. So war es in der Region keine Seltenheit, dass sich ein Loch im Boden auftat, nachdem das Überbleibsel des Bergbaus unter der Erde in sich zusammengebrochen oder der permanente Druck von Gebäuden auf der Oberfläche zu groß geworden war. Allein die Bombenfunde aus dem Zweiten Weltkrieg schafften es ähnlich häufig in die Lokalpresse.

„Was ist mit dem Haus? Dürfen wir rein?“, fragte ich.

„Wir sind beim Willi nebenan in der Kneipe. Niemand darf das Haus betreten. Sie müssen wissen, das Loch reicht bis fast zur Fassade und bei dem Schietwetter sehen wir das Ausmaß nicht. Vermutlich haben sich Risse gebildet. An der Hausfassade, meine ich. Was soll ich denn bloß tun?“

Das war eine ausgezeichnete Frage. Zwar übte das Problem eine gewisse Faszination aus und ich fing an, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, aber eine Lösung hatte ich leider auch nicht parat. „Ich bin in zehn Minuten da“, sagte ich stattdessen und wimmelte die gute Dame ab.

„Ausgerechnet kurz vor Weihnachten.“ Der Taxifahrer brachte damit den Kern des Dramas auf den Punkt.

Kapitel 2 – Manta rot-weiß

Mantaschale, die: Pommes frites rot/weiß; Kartoffelstreifen mit viel Mayonnaise und Ketchup; typisches Gericht in Ruhrgebiets-Pommesbuden – gern in Verbindung mit dem Ausruf: „Pommes?“ Um nicht als Tourist aufzufallen, empfiehlt sich, die folgende Antwort zu verwenden: „Ich bin die Pommes!“

Frau Nolte hatte nicht übertrieben. Unsere Straße wies eine Kuhle auf, um die eine großzügig provisorisch errichtete Absperrung prangte. Zwei Autos hingen kopfüber in ebenjenem Loch, ihre Hecks ragten mahnend in die Höhe. Schaulustige mit Regenschirmen und Wettermänteln hatten sich versammelt. Überraschenderweise besaßen sie Anstand, sie ließen die Polizei ihre Arbeit tun.

Der Krater umfasste mehrere Meter und reichte von einer Häuserreihe zur gegenüberliegenden, sodass insgesamt sechs Mehrfamilienhäuser betroffen waren. Darunter auch das, in dessen erster Etage sich meine Wohnung befand. Niemand außer den Fachleuten durfte die Häuser betreten und wenn ich mich richtig an vergangene Presseberichte erinnerte, musste sich die Stadt vermutlich unter Hinzuziehung der RAG – vormals unter dem einprägsameren Namen „Ruhrkohle AG“ bekannt – nun um die Beseitigung des Schadens kümmern. Der Laden war auf ewig verpflichtet, dafür zu sorgen, dass das Ruhrgebiet nicht im Grubenwasser ersoff. Mein Mitgefühl hielt sich in Grenzen, denn ohne den Raubbau am Erdboden wäre das Ruhrgebiet heute keine Buckelpiste. Und ja, mir war bewusst, dass die Region heute anders aussähe, vielleicht nie eine Metropolregion geworden wäre, wenn nicht pfiffige Herren wie Franz Haniel während der Industrialisierung Löcher gebuddelt hätten.

Ich betrachtete einige Minuten die Lage, dann ging ich zu Willis Kneipe. Es war eine dieser Spelunken, die seit meiner Kindheit existierten – und zwar unverändert. Äußerlich versprach das Gebäude mit seinen grünlichen Fensterscheiben, die in gewölbten Quadraten angeordnet waren, dem altmodischen sonnengebleichten Schriftzug und den verglasten Öffnungszeiten, an die sich niemand hielt, eine Zeitreise in die Vergangenheit, die sich im Innenteil mit bemerkenswerter Konsequenz fortsetzte. In der Ecke stand ein alter Spielautomat, der in allen Farben dieser Welt blinkte und ab und an nervtötende Geräusche von sich gab, voller Hoffnung, jemand würde sich erbarmen und einige Euros in ihm versenken. Seit Jahren herrschte in Kneipen ein striktes Rauchverbot. Obwohl sich alle daran hielten, kroch der Qualm von Jahrzehnten aus jeder Ritze. Wenn man ehrlich war, sollte das Gebäude weggesprengt und neugebaut werden.

Ich entdeckte Frau Nolte sowie die anderen Mieter unserer Hausgemeinschaft an einem Tisch in der Ecke. Jamal fehlte. Ob er bei einem Freund war? Oder im Fitnessstudio? Vielleicht wusste er gar nicht, was sich gerade in unserer Straße abspielte.

„Da sind Sie ja“, begrüßte Frau Nolte mich, als würde es für die Situation einen Unterschied machen, ob ich anwesend war oder nicht.

„Guten Abend zusammen“, grüßte ich in die Runde und ließ mich auf das durchgesessene Polster mit feschem Achtziger-Jahre-Muster eines wackeligen Holzstuhls nieder. „Wie schaut’s aus?“

„Nicht gut“, sagte Bernd, bärtiger Typ, erstes Obergeschoss. „Heute Abend dürfen wir auf keinen Fall zurück in die Wohnungen. Wir müssen auf den Experten warten, der sich die Häuser anguckt. Wann der da sein wird, ist unklar.“

„Na super.“ Ich seufzte.

Bernd nickte mit düsterer Miene. „Uns wurde geraten, woanders unterzukommen. Die sind lustig.“ Er deutete auf eine Box zu seinen Füßen, die mir zuvor nicht aufgefallen war. Zwei grüne Augen schauten zurück. „Mit Begleitschutz durfte ich gerade noch rein, um Mimi rauszuholen.“

Die Katze sah ich zum ersten Mal. „Sonst hat niemand Haustiere?“

Alle schüttelten den Kopf. Immerhin.

„Haben Sie jemanden, bei dem Sie wohnen können?“, fragte Frau Nolte in neugierigem Tonfall einer für den Ruhrpott typischen Kissen-Omma (in Gedanken streiche ich ein M, wie gesagt, unsere Mundart ist besonders). Jene Kissen-Ommas (oder Oppas – das zweite P selbstredend streichen!) hängen den gesamten Tag auf einem geblümten Kissen gestützt halb kopfüber aus dem Fenster, um die Straße mit Argusaugen zu hüten. Vor Wochen hatte mich die personifizierte Überwachungskamera im Hausflur abgefangen und gefragt, was denn aus dem netten jungen Mann geworden sei, der eine Zeit lang bei mir gewohnt hatte. Ich hatte ihr von unserer Trennung im Sommer erzählt, dabei allerdings wohlweislich verschwiegen, dass es mir sehr gut ging und ich das Leben in vollen Zügen genoss. Am liebsten mit Jamal. Kissen-Großeltern haben die unangenehme Eigenart, gleichzeitig Klatschbasen zu sein.

Seit dieser Unterhaltung hatte sich etwas in Frau Noltes Blick verändert. Mitleid und Missbilligung hatten sich eingeschlichen. Wenn es nach ihr ging, waren Frauen nicht dafür geschaffen, allein zu leben. Sie hatten einen Mann zu umsorgen, eine Familie großzuziehen. Das Konzept Freundschaft Plus würde sie monieren und sonntags für meine Seele beten.

„Ich kenne ein, zwei gute Hotels, da rufe ich mal eben an.“

Sie machte große Augen. „Ob Sie da ein bezahlbares Zimmer finden? Sie müssen wissen, morgen ist schließlich das Konzert.“

„Welches Konzert?“

„Na, das von André Rieu in der Philharmonie! Sie kennen doch wohl André Rieu!“

„Natürlich! Ich bin ja nicht vom Mond.“ Mühsam unterdrückte ich ein Augenrollen, erhob mich und trat einen Schritt zur Seite, damit die anderen sich ungestört weiterhin im Kreis drehen konnten.

„Was machen Sie?“, fragte Frau Nolte.

„Ich rufe die Hotels an.“ Meine Vermieterin betrachtete mich, als wäre ich minderbemittelt. Dabei verstand ich sehr genau, wie sich die Anwesenheit eines Superstars auf Essen und die Nachbarstädte auswirkte. Morgen Abend würde um die Philharmonie herum Ausnahmezustand herrschen. Aber ich war obdachlos: Grund genug, einen Versuch zu wagen. Während ich die Nummer googelte, fragte ich mich, ob in so einem Fall die Stadt für die Unterbringung sorgen musste. Oder diese Ewigkeitsgesellschaft. Oder sprangen die nur im Ernstfall ein? Obwohl Bergbauschäden und Funde von Fliegerbomben ihren Stammplatz in den lokalen Medien hatten, wusste ich überraschend wenig über die Vorgehensweise. Klar, Anwohner mussten ihre Häuser verlassen. Wohin? Wie lange? Da verlor sich die Spur.

„Die Kosten werden bestimmt übernommen“, mutmaßte Frau Nolte, worauf ich innehielt. „Später, meine ich, wenn alles geklärt ist. Erst müssen wir in Vorkasse gehen. Sie müssen wissen, so ein Hotel kann einem auch eine Rechnung ausstellen. Das hat mein Sohn mir mal erzählt, denn Sie müssen wissen, der reist sehr viel. Dienstlich leider nur. Er sieht nie viel von den wunderbaren exotischen Orten, an die es ihn verschlägt. Armer Kerl, hat das Paradies vor der Zimmertür und keine Zeit, es sich anzusehen. Jedenfalls, vielleicht bekommen Sie das Hotel überredet Ihnen das Zimmer auf Rechnung zu geben. Oder die Stadt stellt ein Schreiben aus, mit dem Sie ein Zimmer anmieten können. Sie machen das schon. Ich bin jedenfalls heilfroh, dass ich bei meiner Schwester unterkommen kann. Sie müssen wissen, die Gute wohnt in Bochum. Erst kürzlich hat die Arme erzählt, dass ihr Garten abgesackt ist. Da sagte ich noch zu ihr, ‚Hilde‘, sagte ich, ‚du Arme, jetzt ist der Rasen ganz buckelig.‘ Daraufhin meinte sie, ‚Marianne, macht nichts, wir bekommen alle einen Buckel im Alter.‘ Daraufhin haben wir gelacht und sie hat den Gärtner kommen lassen. Aber eins können Sie mir glauben: Die Stadt ist noch durchlöcherter als unsere. Da gibt es keinen Quadratmeter, der nicht vom Bergbau zerfressen ist. Und kürzlich hat meine Hilde dann noch erfahren, dass man auch noch das abgestandene Grubenwasser hat anheben lassen. So etwas können die doch nicht einfach machen! Und wussten Sie, dass …“

„Warum sollte denn die Stadt das Zimmer bezahlen?“, fiel ich ihr ins Wort. Im hintersten Winkel meines Gedächtnisses erinnerte ich mich an eine Reportage. „Bei alten Bergbauschäden kommt die RAG für die Kosten auf?“ Die RAG-Aktiengesellschaft war ein, jedenfalls für mich, undurchsichtiges Konstrukt aus diversen Sparten, zu denen bis vor einigen Jahren auch der Energieriese Evonik gehört hatte. Der ganze Energiebereich wurde ausgegliedert, sodass die Klimaschützer, die regelmäßig vor der Firmenzentrale von Evonik am Hauptbahnhof demonstrierten, nicht mehr das Problem der RAG waren. Wenn ich mich richtig erinnerte, war zur Abdeckung ebensolcher Fälle, wie wir ihn nun erlebten, eigens eine Stiftung ins Leben gerufen worden. Gerade als meine Gedanken sich in der Firmengeschichte der Ruhrkohle verhedderten, antwortete Frau Nolte im düsteren Tonfall, der Nostradamus alle Ehre machte: „Von denen hört man nichts Gutes. Ob wir unser Geld wiedersehen?“

Dass ich bis hierher nicht einen Cent ausgegeben hatte, behielt ich für mich, denn natürlich waren ihre Sorgen berechtigt. Die Klärung der Kosten war elementar wichtig, insbesondere für den Fall einer Sanierung des Hauses. Nach Weihnachten, wenn sich der Staub gelegt hatte, würden wir unsere Antworten bekommen, davon war ich überzeugt.

Ich nutzte Frau Noltes rhetorische Geldfrage, der Bernd ins Netz gegangen war, und telefonierte mit dem Atlantik Kongresshotel an der Messe. Dass sie mich nicht allein für die Frage, ob ein Zimmer für morgen Abend frei war auslachten, grenzte an ein Wunder. Im Arosa erreichte ich niemanden, das Ghotel und das Premier Inn waren ausgebucht. Im Motel One landete ich immerhin in der Warteschleife, was zarte Hoffnung in mir weckte.

„Sind Sie noch dran?“, meldete sich die Stimme am anderen Ende der Leitung, die das Bild eines maximal zwanzigjährigen Azubis mit wuscheligem braunem Haar heraufbeschwor.

„Ja.“

„Wir hätten da noch die Juniorsuite frei.“

Mein Puls beschleunigte sich. Endlich, ein freies Zimmer! Die Preise im Motel One lagen an regulären Tagen bei unter einhundert Euro die Nacht, da würde die Suite bestimmt nicht mehr als maximal zweihundert Euro kosten. Immer noch sündhaft teuer, keine Frage, und weit über dem, was ich eigentlich bereit war auszugeben und was ich ausgeben konnte, ohne im Dispo zu landen. Aber hey, eine Suite! Da wäre genug Platz für … ja, das war überhaupt die Idee! Ich würde Jamal fragen, ob er mich begleiten würde, sobald ich herausgefunden hatte, wo er steckte. Wir könnten uns Naschkram aus Zimmer bestellen und dort unseren Filmmarathon gucken und …

„Hat die Suite eine Badewanne?“, rutschte mir die Frage heraus.

„Selbstverständlich. Darf ich Sie einbuchen?“

„Ja!“ Mein Herzschlag beschleunigte sich.

„Mit Frühstück?“

„Sehr gern!“ Das wurde immer besser.

„Auf Kreditkarte?“

Ich kramte meine Karte hervor und begann euphorisch, ihm die Ziffern vorzulesen, da fiel mir ein, dass er mir den Preis noch gar nicht genannt hatte. „Was kostet das Zimmer?“

„Fünfhundertneunundvierzig Euro und fünfzig Cent.“

„Wie bitte?“ Mir fiel die Karte aus der Hand.

„Fünfhundertneunundvierzig Euro und fünfzig Cent.“

Entschuldigen Sie, ich wollte keine Anteile kaufen, schoss es mir durch den Kopf. Deutlich kleinlauter antwortete ich. „Oh, dann lieber nicht.“

„Schönen Abend noch“, antwortete der Wuschelkopfazubi und legte auf.

Verdammter André Rieu mit seinem scheiß guten Violinspiel und seinem smarten Mona-Lisa-Schmunzeln. Dem würde ich eine gepfefferte Mail schicken.

Sollte ich Jamal fragen, wo er untergeschlüpft war? Während der Gedanke sich formte, hatte ich bereits Jamals Kontakt geöffnet, doch mein Daumen schwebte über dem Anrufsymbol, als würde eine unsichtbare Kraft ihn hindern, das Display zu berühren. Können wir über uns reden? Mist, Mist, Mist. Warum war alles so verzwickt?

Schließlich wählte ich Annas Nummer. Wenn eine Person auf diesem Planeten Rat wusste, dann meine beste Freundin. Nach zwei Mal tuten ging sie dran. In knappen Worten erzählte ich ihr, was passiert war.

„Du weißt, du hast immer einen Platz bei uns“, sagte sie in einem Tonfall, aus dem ich die Einschränkung bereits heraushörte. „Aber Nils ist seit gestern Abend da und blockiert dein Zimmer – also das Gästezimmer. Du weißt schon. Dieser Raum, in dem sonst niemand pennt außer dir. Ich musste sogar das Bett neu beziehen.“ Sie gluckste. Erinnerungen an lustige, bunte, gesellige Abende, die darin geendet hatten, dass ich vor Müdigkeit oder Trunkenheit in ihrem alten Jugendzimmerbett gelandet war, prasselten auf mich ein. „Wenn du willst, kannst du natürlich auf dem Sofa schlafen. Ist nicht sehr bequem, aber besser als nichts. Wann dürft ihr denn wieder ins Haus?“

„Keine Ahnung. Wir hoffen, dass der Statiker oder wer auch immer morgen kommt und die ganze Sache schnell begutachtet. Sieht ziemlich übel aus. Ich will nicht pessimistisch sein, nur glaube ich nicht, dass sich so schnell etwas tun wird. Erst recht nicht vor oder während Weihnachten.“ Ich seufzte. Die Vorstellung, tagelang bei Anna auf dem Sofa zu schlafen, umgeben von einem festlich geschmückten Tannenbaum, Kerzen- und Lebkuchenduft, missfiel mir. Sie schien mein Zögern zu spüren.

„Was ist mit Jamal? Ihr könntet euch zusammentun? Immerhin habt ihr ja sonst auch keine Probleme mit …“

Ich überging die Anspielung. „Keine Ahnung, der ist verschwunden.“

„Wohin?“

„Weiß nicht.“

Anna schnaubte. „Dein Ernst? Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert – du besitzt so ein Ding, mit dem du nicht nur durch Instagram scrollen kannst, sondern auch telefonieren. Es sei denn … was ist los?“

„Es ist kompliziert“, antwortete ich zögerlich.

„Seit wann das denn?“

„Seit heute. Hör mal, können wir darüber in Ruhe quatschen? Ich kann mich nicht an ihn hängen. Auch nicht, falls er irgendwo ein Hotelzimmer aufgetan und eine freie Betthälfte hat.“ Das folgende Schweigen ließ mir genug Raum, mir ihren Gesichtsausdruck vorzustellen. Wir kannten uns seit Kindestagen. Ich sah sie bildlich vor mir, die hochgezogene rechte Augenbraue krönte ihren prüfenden Blick und bildete einen harten Kontrast zu ihren sonst freundlichen weichen Gesichtszügen.

„Na schön“, grummelte sie. „Ich komme drauf zurück.“

„Einverstanden. Ich will dir nichts verheimlichen, nur gerade muss ich gucken, wie ich die Sache regle. Vielleicht fahre ich nach Düsseldorf und gehe dort in ein Hotel. Hier bekomme ich keines, das bezahlbar ist“, sagte ich, während mein Blick zur Decke glitt. Ob Willi Gästezimmer hatte?

„Bist du bei Trost? Das kostet ein Vermögen über die Feiertage, egal wo. Ich habe vorhin noch auf Radio Essen gehört, dass superviel los ist im Ruhrgebiet. Düsseldorf wird nicht anders sein. Die Leute kommen nach Hause, um Weihnachten zu feiern. Überall sind Veranstaltungen und viele verlängern ihren Aufenthalt ins neue Jahr.“

„Auch wieder wahr.“

„Was ist mit deinem Bruder? Der hat ’ne fette Butze in Bredeney“, warf sie ein, als wüsste ich nicht, wo mein Bruder wohnte. Ich stöhnte. Willi – ich sollte ihn eindeutig fragen, ob er eine Besenkammer im nicht ausgebauten Dachgeschoss hatte. „Ausgerechnet du fragst mich, ob ich sie noch alle habe? Mir reicht’s schon, dass ich am ersten Weihnachtsfeiertag dort aufschlagen muss. Die vier Stunden werden die Hölle. Du weißt, wie Isabella aufdreht. Du erinnerst dich an diese eine Geschichte mit den Servietten? Wahr. Oder an den Braten, der zwei Minuten zu lange im Ofen war? So etwas von wahr. Alles muss perfekt sein, vom Sims bis zum Keller. Wie in einer dieser amerikanischen kitschigen Liebeskomödien, die du dir immer reinziehst.“

„Hach, die sind schön“, sagte Anna im schwärmerischen Tonfall.

Jetzt verdrehte ich doch noch die Augen, was sie nicht sehen konnte, aber als beste Freundin garantiert fühlte. „Mag sein. Glaub mir, wenn du das live erlebst, verfliegt der Zauber. Das ist wie eines dieser megageilen Fotos auf Instagram von Sehenswürdigkeiten, die den Eindruck vermitteln, man steht bei Sonnenuntergang ganz allein am Schiefen Turm von Pisa. Und wenn du da bist: Pustekuchen.“

„Ich denke, du solltest deinen Bruder fragen. Vielleicht könnt ihr euch aus dem Weg gehen. Hat der nicht sogar einen Gästetrakt?“

„Du meinst eine Einliegerwohnung.“

„Ist dasselbe“, behauptete sie mit felsenfester Überzeugung.

„Überhaupt nicht. Du stellst meinen Bruder als Bonzen dar, der ein …“, ich suchte nach dem richtigen Wort, „… ein Anwesen mit Park und je ein Haus für die Gäste und das Gesinde hat.“

„Er ist Scheidungsanwalt. Ist der Gedanke so abwegig?“

Erneut seufzte ich und dachte an die großzügige Stadtvilla, die sich mein Bruder vor Jahren im besten Stadtteil Essens gegönnt hatte. Sieben Zimmer plus einer Einliegerwohnung in der Größe einer Stadtwohnung. Neben den großzügig geschnittenen Zimmern buhlten der Wintergarten, der parkgroße Garten mit dem Seerosenteich und dem Pavillon im römischen Stil sowie das Schwimmbad um die Wette. Wann immer ich mich in einem der drei Bereiche aufhielt, verliebte ich mich aufs Neue. Natürlich hatte Christoph die Bude kernsanieren lassen und ausschließlich Materialien von bester Qualität verwendet. Marmorboden, Stuck an den Decken – und zwar nicht den billigen aus Styropor, sondern echter Gipsstuck, für den er irgendeinen besonderen Künstler beauftragt hatte. Nicht, dass ich meinem Bruder sein bescheidenes Heim neidete oder dort hätte leben wollen, aber so dann und wann ins eigene Schwimmbad mit Gartenblick einzutauchen oder im Winter am Kaminfeuer ein Buch zwischen Palmen zu lesen, hatte was. Wäre nicht der ständige Zwist mit der lieben Familie. Alles in mir sträubte sich, ihn anzurufen und um Obdach im Gesindehaus zu bitten.

„Ich hab ihm geschrieben“, sagte meine Freundin beinahe nebensächlich.

Ich hörte auf, die Rillen zwischen den eiche-rustikalen Wandpaneelen zu zählen, und horchte auf. „Wem?“

„Deinem Bruder. Er sagte, ich soll dir ausrichten, dass du deinen Arsch zu ihm bewegen sollst. Natürlich darfst du bei ihnen wohnen, du bist immerhin seine Schwester.“

„Verarschst du mich?“

„Ich käme nie auf die Idee.“

Entgeistert starrte ich auf das vergilbte Filmplakat von Manta Manta an der Wand, das schief zwischen dem neunzehnten und dreiundzwanzigsten Paneel hing. Til Schweiger und Tina Ruland, alias Bertie und Uschi, lächelten mit dem gelben Opel Manta im Vordergrund auf mich nieder. „Jetzt im Ernst.“

„Das ist mein Ernst“, erwiderte Anna trocken.

„Mein Bruder würde nie sagen, ich solle meinen Arsch zu ihm bewegen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob das Wort in seinem Wortschatz Gebrauch findet.“

Anna lachte. „Erwischt.“ Ich atmete aus. „Den Arsch hab ich hinzugefügt, auch wenn ich mir sicher bin, dass er weit unflätigere Wörter im Repertoire hat. Der Rest ist wahr. Fahr zu ihm, Leo. So schlimm wird’s schon nicht werden.“

Ich wusste nicht, ob ich sie knutschen oder erwürgen sollte.