Leseprobe Wer frech ist, stirbt

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Meine Manolos

Saarlouis, Anfang Juni 2012

Immer wenn ich weinen muss, passiert eine Katastrophe.

Kennen Sie das auch?

Ich bin keine Heulsuse, wirklich nicht. Ich, Lucinda Schober, bin eine typische deutsche Singlefrau in den Dreißigern, Sternzeichen Zwilling.

Meine kleine Schwester Kat behauptet ja, dass dieses Sternzeichen der Grund für viele meiner Probleme ist. Vielleicht hat sie damit recht, vielleicht nicht; es spielt keine Rolle. Man sagt, ich sei innerlich permanent hin- und hergerissen und könne keine Entscheidungen treffen. ›Man‹ bezieht sich dabei auf meine Eltern und meine beiden anderen Geschwister. Sie sind natürlich keinesfalls der Ansicht, dass mein Sternzeichen da eine Rolle spielt, sondern behaupten, die wahre Ursache für meinen Lebenswandel – ja, das Wort benutzen sie oft und gerne – liege in einer tief verwurzelten, alles überschattenden Faulheit. Damit begründen sie, dass ich das Abitur erst im zweiten Anlauf schaffte, nachdem ich dank meines mangelnden Lerneifers beim ersten Mal heftig auf die Nase gefallen war. Damit begründen sie die Wahl meines Studienfachs, Grundschulpädagogik, nachdem ich während des gesamten letzten Schuljahres zwischen vier weiteren Möglichkeiten geschwankt hatte. Und damit begründen sie meine Entscheidung, das Studium nach der Zwischenprüfung zu schmeißen und mich stattdessen in einem Callcenter zu verdingen, wo ich mir das ›schnelle Geld‹ erhoffte.

Sie irren sich. In Wahrheit wollte ich, glaube ich, nie studieren, und schon gar nicht Grundschulpädagogik. Das tat ich nur, weil ich damals zu jung war, um mich gegen die elterliche und geschwisterliche Übermacht aufzulehnen. Schließlich sollte ich als Arzt- und Apothekerinnentochter etwas »Sinnvolles« werden. Abitur war Grundvoraussetzung und ein Studium Pflicht. Wenigstens bei der Fächerwahl rebellierte ich damals ansatzweise, denn Lehrerin von kleinen Monstern zu werden, hatten meine Eltern sich nicht gerade für mich erträumt.

Meine große Schwester Anna Maria und mein kleiner Bruder Rouwen, der durch meinen Fauxpas im selben Jahr wie ich sein Abitur hinlegte – er natürlich mit Einserschnitt –, zeigten mir doch im Grunde sehr deutlich, in welche Richtung ich gehen sollte, um eine neue, akzeptable Familientradition zu festigen, mit der der Arzt und die Apothekerin zufrieden sein konnten: Jura.

Mir rollen sich selbst jetzt die Fußnägel ein, wenn ich dieses Unwort schreibe. Ich meine: ausgerechnet J U R A.

Medizin wäre natürlich ebenfalls standesgemäß gewesen … oder Biochemie, um in die Forschung zu gehen. Oder wenigstens Theologie. Dinge, die einen Menschen erden. Nicht solch wenig einträgliche Fächer wie Kunstgeschichte, Übersetzungswissenschaft, Theaterwissenschaft. Ich hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, Sozialpädagogik zu studieren, aber ich muss ehrlich gestehen, dass mich der Anblick der Studierenden in dieser Fachrichtung abschreckte, weil sie modisch komplett anders gepolt waren als ich. Ich wäre immer die Außenseiterin gewesen. Wollte ich mit ihnen einen entscheidenden Teil meiner Jugend verbringen? Nein.

Das etwas langweilige Volk der angehenden Grundschullehrerinnen sagte mir da schon eher zu, auch wenn ich mich unter ihnen ein bisschen wie ein Paradiesvogel fühlte. Tatsächlich empfand ich es als entspannend, dass in dem Studiengang überwiegend Frauen zu finden waren. Noch ein Punkt mehr, in dem ich mich von der Fächerwahl meiner beiden älteren Geschwister unterschied.

Hm, wenn ich es recht bedenke, hat Kat, meine rebellische Schwester – sie betreibt gemeinsam mit meiner besten Freundin und Exkommilitonin Susa einen Biohühnerhof in der Nähe von Saarlouis –, am Ende doch recht mit ihrer Zwillingstheorie.

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.

Einerseits entschied ich mich also für die etwas biedere Grundschulpädagogik, andererseits hob ich mich von meinen Mitstreiterinnen durch meine Kleidung ab. Damals unterstützten meine Eltern meine Bemühungen noch monetär, und ich konnte meine Garderobe ganz nach meinem Geschmack zusammenstellen. Geld spielte keine Rolle. Da meine Mutter selbst sehr auf ihr Äußeres achtet, gestand sie mir zu, die Marken zu tragen, die ich bevorzugte. Ja, wenn ich zurückdenke, war es eine leichte und irgendwie auch schöne Zeit. Doch dann setzte sich wieder die andere Zwillingshälfte in mir durch und stellte auf stur. Ich bemerkte, dass mir das Studium überhaupt nicht lag, und verkündete, dass ich damit aufhören wollte. Sofort wurde mir der Geldhahn zugedreht. Ich suchte und fand rasch eine Alternative: das Callcenter am Großen Markt mitten in der Stadt Saarlouis. Dort arbeite ich schon seit gut zehn Jahren. Hm, dieser Zeitraum überrascht mich selbst ein bisschen. Von wegen Faulheit und Sprunghaftigkeit, sage ich da nur.

Aber jetzt komme ich zurück auf das, was ich eigentlich erzählen wollte: Immer wenn ich weinen muss, passiert eine Katastrophe.

Auf meinem Weg vom Parkplatz zum Bürogebäude bewundere ich heute in den Schaufenstern meine neuen Schuhe. Mein Herz schlägt jedes Mal höher, wenn ich das Sonnenblumengelb strahlen sehe. Ach, ich habe im Lauf der Jahre beinahe vergessen, wie sehr Manolos einen Frauenfuß umschmeicheln. Seit Monaten habe ich auf diese Traumschuhe gespart. Habe mir alle Restaurantbesuche mit Susa und Kat verkniffen, keine Trüffelpralinés mehr gekauft, dem guten Kaffee entsagt und stattdessen stinknormalen Brühkaffee getrunken. Natürlich verzichtete ich auch auf jegliche Aufstockung meiner Garderobe. Nur so konnte ich das nötige Geld zusammenkratzen, um diese einzigartige Gelegenheit zu ergreifen. Die High Heels stammen aus der letztjährigen Kollektion, sie verstaubten weitgehend unbemerkt in einer Ecke des exklusiven Ladens, den ich wiederum nur deshalb aufsuchte, weil meine Juristenschwester Anna Maria sich ein Paar neue Schuhe gönnen wollte und angeblich Wert auf meinen fachkundigen Rat legte. Möglicherweise wollte sie mir auch einfach demonstrieren, was sie sich dank ihres Berufs alles leisten kann, und ich nicht. Vielleicht hatte sie auch vor, mir ins Gewissen zu reden, was sie dann aber doch unterlassen hat.

Die gelben Peeptoe-Manolos hatten jedenfalls dort im Laden in der dunklen Ecke auf mich gewartet; sie zogen mich an wie ein Magnet. Keine der Kundinnen oder der Verkäufer bekam etwas davon mit. Ich griff unauffällig nach dem Paar, sah das Preisschildchen und überschlug rasch, wie viele Wochen ich dafür von Tütensuppe leben musste, wenn ich die Geldgeschenke von meinem Geburtstag dazurechnete. Dann schlich ich, während Anna Maria mehrere Paar Overknees anprobierte, zu der zweiten Verkäuferin im Laden. Das Glück war mir hold: Sie kennt mich noch von früher und sie mag mich. Sie legte die Schuhe für mich zurück (»Die will eh keiner mehr, sie sind nicht mehr up to date.«) und versprach mir, sie sechs Wochen lang aufzuheben.

So kam das.

Ich stolziere auf meinen High Heels zum Bürogebäude, achte dabei peinlich darauf, an dem Lüftungsgitter neben dem Eingang vorbeizustöckeln, und treffe in der Halle auf den guten Maurice, unseren Jungen für alles. Er sieht nicht auf meine Schuhe, sondern in mein Gesicht, und lächelt mich strahlend an. Dann kommt der Fahrstuhl, ich gehe hinein und Maurice folgt mir. Der Gute ist etwas langsam und redet nicht viel und nicht so oft. Vielleicht mag ich ihn deshalb so gern, genau wie unser gesamtes Personal.

Alle lieben Maurice. Er räumt hinter uns auf, putzt und wischt Staub, und auch Kaffee hält er jederzeit bereit. Im Grunde ist Maurice der einzige ruhende Pol in dem Gewusel und Lärm. 30 Mitarbeiterinnen, fast nur Frauen, teilen sich einen großen Raum und telefonieren ohne Unterbrechung. Allesamt sind wir am Ende unserer Schichten aufgedreht und kribbelig, und dann steht Maurice bereit, um uns mit seinem Kinderlächeln wieder herunterzuholen. Er wirkt wie ein Beruhigungsmittel ohne Nebenwirkungen. Ja, ich habe mich oft gefragt, was wir ohne ihn machen würden. Bestimmt ist sich unser Chef, der Dürrbier, über Maurice’ Bedeutung im Klaren, sonst würde er jemanden, der so unproduktiv ist und überhaupt nichts verkauft, nicht dulden.

Maurice bemerkt anscheinend, dass ich mich heute besonders wohlfühle, denn er öffnet tatsächlich den Mund, um das Wort an mich zu richten.

»Un? Geht’s gut?«

»Oh ja, Maurice, heute ist ein toller Tag. Ich trage zum ersten Mal meine neuen Schuhe. Siehst du?«

Stolz drehe ich meinen Fuß, damit er die Manolos bewundern kann. Er sieht sie sich ganz genau an und gibt mir wohltuenderweise nicht das Gefühl, dass er am liebsten mit seinem Blick meine Beine entlang nach oben wandern und mich ausziehen würde. Natürlich trage ich heute ausnahmsweise nicht Jeans und T-Shirt, sondern habe zur Feier der Schuhe meinen Minirock und ein Blüschen ausgegraben. Maurice hat mich so noch nie gesehen, aber er macht keine anzüglichen Bemerkungen und zieht auch nicht missfällig die Brauen hoch, sondern nickt einfach.

»Scheen sind die.«

Pling, sind wir im dritten Stock angekommen, und die Tür öffnet sich. Sofort umfangen uns das leise Summen der Computer, das Klingeln der Telefone und die unterschiedlichen Tonlagen der schnatternden Frauen und vereinzelten Männer. Irgendwo zischt eine Kaffeemaschine. Erhebend ist der Anblick meiner täglichen Arbeitsstätte nicht gerade. Alle tragen Headsets und starren auf ihre Bildschirme, die meisten haben eine Kaffeetasse neben dem Papierstapel auf ihrem Tisch und klappern hektisch mit den Tastaturen, um die eingehenden Bestellungen zu erfassen oder Notizen über die Wünsche oder Abneigungen der Kunden zu machen.

Nur die drei dem Fahrstuhl am nächsten sitzenden Kolleginnen heben den Kopf. Sie ziehen nacheinander leicht irritiert die Augenbrauen hoch, nicken mir zu, drehen dann die Köpfe wieder weg und reden weiter mit ihrem jeweiligen Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung.

»Maurice, bringst du mir einen Kaffee an meinen Platz?«

»Gern, Lucinda.«

Ich lege die Hand auf seinen Unterarm, er bleibt wie angewurzelt stehen und betrachtet sie wie einen Fremdkörper, worauf ich sie verlegen wegziehe. »Du sollst mich doch Lucy nennen.«

Seine blassblauen Augen strahlen. »Jo, richtig. Lucy. Ich bring dir gleich ’nen Kaffee.«

Den Catwalk durch den schmalen mittleren Gang zu meinem Schreibtisch genieße ich in vollen Zügen, auch wenn es sehr gemischte Empfindungen sind, die mir von meinen Kolleginnen entgegenschlagen. Ob sie überhaupt erkennen, was das für Schuhe sind, die sie angaffen? Na, es spielt keine Rolle. Mir geht es ja nicht darum, hier aufzutrumpfen, sondern einzig und allein um das luxuriöse Gefühl, das mir diese Schuhe bescheren. Es geht um mich, nicht um die anderen.

Ich kann es mir nicht verkneifen, mich seitlich auf den Bürostuhl plumpsen zu lassen, um die angewinkelten Beine dann in einer grazilen Bewegung unter den Tisch zu ziehen. Ein bisschen prätentiös muss frau ab und zu einfach sein.

Ich bewege die Computermaus, um zu sehen, welche Liste ich heute abtelefonieren muss, und stöhne. Unzählige Adressen. Ich bin gespannt, wie viele von ihnen ich schaffen werde. Davon hängt ab, wie bald ich wieder die echten Trüffelpralinés essen werde und wann ich mit meiner kleinen Schwester und meiner besten Freundin zum Italiener in der Fußgängerzone gehen kann. Nun gut, nicht umsonst habe ich mir ein dickes Fell antrainiert und meine Stimme geschult. Nachdem Maurice mir meine Lieblingstasse mit frischem Kaffee gebracht hat, ziehe ich mir das Headset über, lächle Lena, die mir gegenübersitzt, an unseren Bildschirmen vorbei zu und wähle die erste Nummer.

»Krämer.« Eine männliche Stimme, nicht schlecht gelaunt, nicht gut, sondern neutral.

»Einen wunderschönen guten Tag, hier ist Lucinda Schober von der Mediaboutique. Es geht um Ihre Fernsehzeitschrift, Herr Krämer.«

»Was ist damit?«

»Wir haben derzeit ein einmaliges Angebot. Wenn Sie die ›TVfix‹ abonnieren, bekommen Sie ›Kleine Katzen‹ kostenlos für drei Wochen im Probeabo dazu. Und für die ›TVfix‹ zahlen Sie 45 Cent weniger pro Monat, als wenn Sie sie am Kiosk kaufen. Wäre das was für Sie?«

Die Uhr läuft. Er denkt nach, endlos lange. »Äh …«, kommt es dann zögerlich. »›Kleine Katzen‹, sagten Sie? Ist das so ein … äh … Heft mit Frauen?«

Ach, so einer ist das. Ich öffne am Bildschirm rasch eine Seite mit Spaßartikeln, die wir für einen unserer Großkunden verkaufen. Sofort finde ich ein Heftchen der Sorte, die Herr Krämer meint.

»Nein, Herr Krämer, ›Kleine Katzen‹ ist eine Zeitschrift für Katzenfreunde, aber ich könnte Ihnen die ›Duftende Haut‹ zu den gleichen Konditionen anbieten. Sie können das Abonnement jederzeit widerrufen.«

»Die Fernsehzeitung brauche ich nicht, aber die andere interessiert mich. Die kriege ich dann kostenlos, sagen Sie?«

»Ja, drei Monate lang kostenlos, danach wird jährlich ein Betrag von 60 Euro abgebucht. Sie können aber rechtzeitig kündigen, dann zahlen Sie gar nichts. Bloß das Abo der ›TVfix‹ ist dann für ein Jahr bindend. Darf ich dieses Angebot für Sie buchen?«

Herr Krämer sagt ja! Prima, der erste Abschluss für heute. Ich schließe den Auftrag zügig ab und muss den netten Herrn Krämer am Ende ein wenig abwürgen, weil er sich in Lobeshymnen über meine Stimme ergeht und fragt, ob wir uns treffen könnten. Ich checke kurz seine Daten und sehe, dass er glücklicherweise in Hamburg wohnt. Weit, weit weg.

Der Vormittag läuft so weiter, ich gewinne einen Neukunden nach dem anderen. Besonders die Babyartikel in Kombination mit den Zeitschriften für junge Eltern gehen heute wie warme Semmeln.

In die Pause begleitet mich Lena. Sie hat so überhaupt kein Auge für meine Schuhe, dass ich auch kein schlechtes Gewissen zu haben brauche, ob sie neidvoll reagieren könnte. Nein, Lena interessiert sich nur für Rubbellose und ein deftiges Mittagessen. Zum Glück findet sie in der Fußgängerzone das, was sie liebt. Wir suchen uns ein Plätzchen auf einem Mauervorsprung bei den Kasematten neben einer mächtigen Linde. Lena beißt herzhaft in ihr Döner Kebab, und ich picke mit meiner Holzgabel ein Salatblatt aus der Pappbox. Der Frühsommer lässt Saarlouis in all seiner Pracht erstrahlen. Die Sonne scheint durch die Baumkrone und malt kleine Kringel auf das Sonnenblumengelb meiner Schuhe. Ich kann mich gar nicht daran sattsehen. So macht das Leben Spaß.

»Wie läuft’s heut bei dir?«, fragt Lena zwischen zwei Bissen. Sie hat die Beine ebenfalls von sich gestreckt, und der Anblick ihrer abgewetzten Turnschuhe neben meinen Manolos hat durchaus einen besonderen Reiz.

»Eigentlich super. Ich hatte fast nur Zusagen heute. Und bei dir?«

»Nit so. Alle meckern nur rum.« Sie wischt sich mit dem Handrücken einen Klecks weißer Soße von der Wange.

Ich nicke mitfühlend. »Ja, manchmal hat man eine schlimme Liste erwischt. Ich frage mich echt, woher das kommt. Hast du einen Unfreundlichen am Apparat, dann gibt’s gleich noch mehr davon.«

Wir brechen langsam auf, und ich genieße die Blicke der glücklichen Menschen, die in der Fußgängerzone vor den Lokalen zu Mittag essen, während wir zum Großen Markt zurückschlendern. Wir plaudern weiter darüber, warum es an manchen Tagen ganz leicht ist, Zeitungen, Wein, Babyspielsachen oder neckisches Spielzeug für Erwachsene zu verkaufen und an anderen so wahnsinnig schwer. Als ob eine höhere Macht die Listen für uns zusammenstellte – eine Macht, die alle Kunden kennt.

Als wir das Büro betreten, werden wir vom Chef erwartet. Der Dürrbier steht in der Nähe des Fahrstuhls und hat nichts Besseres zu tun, als bei jedem, der hereinkommt, auf die Uhr zu sehen. Sein verkniffener Mund legt es nahe, schweigend den Kopf zu senken und in schnellster Gangart zu seinem Stuhl zu hasten. Ich spüre seine Blicke im Rücken wie Nadelstiche und frage mich, ob es Lena vor mir genauso geht, vermute aber, dass ihre etwas fülligere Form sie vor Pieksern dieser Art schützt. Dürrbier steht auf Dürre, was auch zu seiner gesamten Lebenseinstellung passt. Lena bewegt sich etwas zu langsam für meinen Geschmack! Dürrbiers Blicke pieken jetzt nicht mehr nur in meine Schultern, sondern streichen wie eisige Finger hinunter und über meine Beine bis zu den Manolos. Beinahe glaube ich, seine kratzige Stimme in meinem Kopf zu hören: »Wieso kann die Schober sich solche Schuhe leisten und meine Frau nicht?«

Schnell, Lena, beeil dich doch ein bisschen! Unser geteilter Schreibtisch ist schon ganz nahe, da passiert es: Hat eine der netten Kolleginnen einen Fuß vorgestreckt oder lag ein Kabel im Weg? Jedenfalls gerate ich ins Straucheln. Kennen Sie »Tom und Jerry«? Wenn der dumme Kater losrennt und plötzlich merkt, dass er mit allen vieren über einem Abgrund in der Luft hängt, dann kriegt er so einen ganz bestimmten Gesichtsausdruck. Tja, ich bin mir sicher, dass ich genauso dumm aus der Wäsche gucke, als ich das Gleichgewicht verliere, mich Lenas breitem Rücken gefährlich nähere und registriere, dass ich mich definitiv nicht mehr abfangen kann, ganz gleich, wie sehr ich mit den Armen rudere. Ich muss dabei ein Warngeräusch ausgestoßen haben, denn Lena springt unerwartet behände zur Seite, bevor ich mich Halt suchend an ihr festklammern kann. Und dann liege ich da, auf Mund und Nase. Einziger Trost ist mir die Vorstellung, dass meine Hacken elegant die Manolos in die Höhe recken – für alle weithin sichtbar.

Bei so einem Sturz schießt das ganze Blut ruckartig nach vorn. Deshalb spüre ich es nicht nur, sondern ich weiß, dass mein Gesicht geradezu wie ein rotes Alarmsignal leuchtet, als ich mich aufrapple. Im Büro herrscht für unendliche Sekunden lähmende Stille, bis ein Telefon klingelt und damit das Zeichen setzt, dass alle wieder losreden, schreiben, wählen, tippen müssen. Außer Lena, die mich fragt, ob ich mir wehgetan habe, zeigen alle den Anflug eines Lächelns. Der Dürrbier ist schon mit zackigen Bewegungen im Anmarsch, den Rücken durchgestreckt, als habe er einen Stock verschluckt. Kennen Sie Christoph Maria Herbst als Alfons Hatler in den Slapstickkrimis vom »Wixxer«? Dann wissen Sie, wie Dürrbier aussieht, bevor er mich erreicht hat und seine Gesichtszüge unter Kontrolle bringt.

Er schaut auf meine Schuhe, meine Beine, meinen Rock, meine Brüste und dann in mein Gesicht. Ja, ja, ich weiß schon, so viel Zeit muss sein. Nach Ansicht eines Mannes. Mich überkommt spontaner Brechreiz, als er sich mit der Zunge über die schmalen Lippen leckt und dann mit einem Lächeln die von seinen stinkenden Zigarillos gelblich verfärbten Mausezähnchen zeigt. »Haben heute noch was vor, wie? Gefährliches Schuhwerk, Mädchen!«

Pfffff, lasse ich langsam den Atem entweichen und bemühe mich, meinen empört beschleunigten Herzschlag zu ignorieren. Ich lächle und nicke vage, dann versuche ich, mich so unelegant wie möglich auf meinem Sitz niederzulassen und verstecke rasch meine Beine vor seinen gierigen Augen. Er beugt sich zu mir – erschrocken halte ich die Luft an. Kennen Sie diese Mischung aus schlecht getrockneter Kleidung, Kaffee und Zigarillorauch? Dann wissen Sie, was ich meine.

Dürrbier greift quer über meinen Schreibtisch nach der Maus und sucht im PC eine Adressliste für mich heraus, die er mit einem seiner persönlichen Kennwörter versehen hat. Dann bedenkt er mich erneut mit seinem widerlichen Grinsen.

»Machen Sie jetzt hiermit weiter. Sie sind eine unserer besten Verkäuferinnen, und die Statistik hat mir gezeigt, dass Sie heute Morgen schon über Ihrem Schnitt lagen. Also sollten Sie die richtige Energie haben, um ein paar unserer Spezialkunden zu überzeugen.«

Lena atmet zischend ein und versichert mir mit diesem Geräusch ihr Mitgefühl. Ich merke, wie meine Sicht sich vernebelt, und kämpfe gegen die aufsteigenden Tränen an. Wie gesagt, ich bin keine Heulsuse. Jedenfalls der eine Zwilling in mir ist keine. Der andere leider schon. Tapfer, wie ich bin, schaffe ich es trotzdem, nicht loszuheulen.

Mit einem letzten Blick in meinen Ausschnitt verzieht der Dürrbier sich pfeifend, und ich bewege den Cursor zur ersten Adresse auf der Liste. Ich glaube, jeder im Callcenter hat mit den Personen, deren Namen auf dieser Liste stehen, schon zu tun gehabt. Wir nennen sie auch »Horrorliste«, und es ist nicht die einzige ihrer Art. Der Dürrbier hat sich einen Spaß daraus gemacht, für jedes Bundesland eine Horrorliste zu erstellen. Er hat, wie er sagt, den Ehrgeiz, auch die widerwilligsten Kunden durch Beharrlichkeit weichzukochen. Dabei unterschlägt er natürlich großzügig die Tatsache, dass wir es sind, die die Beharrlichkeit an den Tag legen müssen, und nicht er.

Ich spüre, dass jemand neben mir steht, und sehe auf. In Maurice’ Kindergesicht liegt ein mitleidiges Lächeln, als er mir einen Becher von Starbucks hinstellt. »Den han ich für dich besorgt. Der Chef hat heit schlechte Laune.«

Der verführerische Duft eines Karamell-Latte steigt mir in die Nase und breitet sich von dort aus wohltuend und stresslindernd in meinem Körper aus. »Maurice, du bist ein Schatz. Danke!«

Er entfernt sich auf leisen Sohlen und überlässt mich meiner Arbeit. Ich atme tief durch, dann wähle ich die erste Nummer. Norbert Trauensieck aus Sankt Wendel.

Eine dünne weibliche Stimme. »Trauensieck, hallo, wer is ’n do?« Das muss seine Frau sein. Steht irgendwo geschrieben, dass ich unbedingt mit Herrn Trauensieck sprechen muss, um ihm den überteuerten Wein anzudrehen, den er dreimal geordert, die letzten siebenmal aber abgelehnt hat?

»Schönen guten Tag, hier ist Lucinda Schober von der Mediaboutique …«

»Ach!«, unterbricht sie mich und hört sich nicht sehr begeistert an, »Sie wolle bestimmt mei Mann spreche?«

»Nein, ich kann mich auch mit Ihnen unterhalten, Frau Trauensieck. Sicher kennen Sie den guten Rotwein, den Ihr Mann über unseren Dienst bezogen hat?«

»Ja-a, den kenne ich.«

»Wir können Ihnen ein hervorragendes Ange…«

»Trauensieck hier«, fährt die barsche Stimme ihres Mannes dazwischen. Ich sehe regelrecht vor mir, wie er seiner Frau den Hörer entrissen hat und jetzt ins Telefon blafft. »Lassen Sie uns in Ruhe, Sie blöde Kuh. Herrgott noch mal. Ich will Ihren Wein nicht mehr, geht das nicht in Ihren minderbemittelten Schädel?«

»Entschuldigung, aber …«

»Nichts Entschuldigung. Streichen Sie uns endlich von der Liste, hohle Nuss!«

Tut, tut, tut. Er hat aufgelegt. Lena lehnt sich neben ihren Bildschirm, um mir einen fragenden Blick zuzuwerfen. Ich blase meine Wangen auf, schüttle den Kopf. Sie beißt sich auf die Unterlippe und lächelt dann komisch-verzweifelt. Wir sitzen halt alle in einem Boot, soll das heißen.

Okay, das war ja erst Kunde Nummer eins. Weiter mit der Liste.

Henrietta Stunk.

Henrietta hat keine Lust auf irgendwelche Zeitungsabos, auch nicht auf Kinderkram für ihre Nichten und Neffen, Wein trinkt sie nicht mehr, seit sie trocken ist, und überhaupt kauft sie nichts am Telefon. »Lasse Sie mir um Himmels wille mei Ruh!«, kreischt sie nach gefühlten zehn Sekunden, und ihr Tonfall ist bestenfalls unwirsch zu nennen.

So geht es weiter, Anruf für Anruf, Kunde für Kundin. Von der brausepulvrigen Energie, die mich und meine Manolos heute Morgen beflügelt hat, ist nicht der kleinste Rest übrig geblieben. Doch am schlimmsten ist die Tatsache, dass ich nicht einmal Geld für eine Packung Trost-Trüffelpralinés im Portemonnaie habe. Womit soll ich mir bloß den Abend dieses unglückseligen Tages versüßen?

Zehn Minuten vor Schluss. Ich muss mindestens noch einen Namen der nicht enden wollenden Liste abarbeiten. Zu gerne würde ich dem vertrockneten Dürrbier wenigstens einen Erfolg präsentieren.

»Rupert Kunze. Hallo?«

»Schönen guten Abend, Herr Kunze, Mediaboutique hier, Lucinda Schober am Apparat.«

»Hey, Kätzchen, geile Stimme. Warum rufst du nicht immer an?« Ach Gott, so einer auch noch! Wenn der Dürrbier schon solche Horrorlisten führt, nach Bundesländern und Artikeln sortiert, dann könnte er wenigstens ein paar warnende Bemerkungen neben die Namen schreiben. Bei Rupert zum Beispiel so was wie »notgeil«. Puh, ich merke schon an meiner Wortwahl, dass ich meine Grenzen erreicht habe.

Ich bemühe mich um ein nichtssagendes Kichern, dann sage ich: »Herr Kunze, wir hätten da ein super Angebot für Sie.«

»Her damit«, unterbricht er mich, »wenn du’s bist. Wo finde ich dich, geiles Stück? Was trägst du? Bist du nackt?«

Entsetzt schaue ich auf dem Bildschirm nach: Rupert Kunze lebt in einem Ort in der Nähe von Saarlouis. Mist! Ganz richtig hat er schon an meinem minimalen Akzent erkannt, dass ich Saarländerin bin. »Hey, du kommst aus Saarlouis, hab ich recht? Oder aus Wellingen. Püppi, du machst mich ganz heiß. Ich liebe die Saarlouiser Mädchen.«

»Herr Kunze, möchten Sie ›Reife Wonnen‹ abonnieren oder nicht?«

»Dich will ich abonnieren, Kleines. Lucinda war dein Name, oder?« Er lacht. Mir wird schlecht.

»Nein. Herr Kunze, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.«

Bevor ich auflege, höre ich noch: »Verfluchtes Stück Scheiße …«

Endlich ist seine Stimme weg. Ich sacke auf meinem Stuhl zusammen. Mein tougher innerer Zwilling ist inzwischen einfach verduftet, und nur der andere ist hiergeblieben, der noch klein und verletzlich ist. Und der lässt die Tränen aus ihren Kanälen fließen, während ich den Stuhl zurückschiebe, mir meine Tasche schnappe und mit hängenden Schultern das Büro verlasse. Die nächste Schicht kommt gleich und wird alle Stühle wieder besetzen, um ihr Glück bei den Rupert Kunzes dieser Welt zu versuchen. Am Fahrstuhl treffe ich erneut Maurice. Der gute Junge wird erst nach Hause gehen, wenn er die benutzten Kaffeetassen und -becher weggeräumt und frischen Kaffee für die nach uns Kommenden aufgebrüht hat.

»Oh«, sagt er, »Lucy, was is ’n passiert?«

»Ach, ich hatte einen grässlichen Nachmittag. Am schlimmsten war mein letzter Kunde, Rupert Kunze. Ich hoffe, dass ich ihm nie im wahren Leben begegnen werde.«

Maurice macht etwas für ihn völlig Untypisches: Er legt mir die Hand auf den Oberarm. »Morje is wieder e’ neuer Tag.«

Seine Freundlichkeit muntert mich tatsächlich ein wenig auf. Als der Fahrstuhl unten ankommt, habe ich mich einigermaßen beruhigt. Aber sagte ich es nicht schon ganz zu Anfang? Immer wenn ich weinen muss, passiert eine Katastrophe.

Beim Verlassen des Gebäudes wische ich mir mit einem Papiertaschentuch über das Gesicht und denke einfach nicht an das Lüftungsgitter neben der Eingangstür. Ich denke auch nicht an meine Manolos mit den Zwölf-Zentimeter-Absätzen und daran, dass diese Absätze so dünn sind wie Bleistifte.

Ach, es zerreißt mir das Herz. Sicher wissen Sie schon, was gleich geschehen wird. Die größte anzunehmende Katastrophe nimmt ihren Lauf. Tränenblind (nun gut, beinahe) stöckle ich nach draußen Richtung Parkplatz, wo ich meinen alten Twingo abgestellt habe. Ja, und dann war’s das mit meinen neuen sonnenblumengelben Manolos. Ich bleibe stecken, und beim Versuch, den Fuß aus dem vermaledeiten Gitterschacht zu ziehen, schrappe ich das Leder komplett auf. Doch damit nicht genug: Kurz, bevor ich den blankgewetzten Absatz zur Gänze herausziehen kann, macht es laut vernehmlich Krack.

(Wie gut, dass ich mit einer Tastatur schreibe, da kann wenigstens das Papier nicht aufweichen.)

Ich ziehe mir die Manolos von den Füßen und humple zu meinem Twingo. Das Knöllchen wegen überschrittener Parkdauer kann ich nicht entziffern, und es kostet mich eine geschlagene Stunde, mich so weit zu beruhigen, dass ich das Auto starten kann. Ohne Rücksicht auf meinen Kontostand halte ich an der edelsten Pralinenboutique an, kaufe mir die größte und teuerste Packung meiner Lieblingstrüffelpralinés und bezahle mit der Karte. Wenn schon scheitern, dann grandios!

 

»Wie hat der Kerl dich genannt?«

»Verfluchtes Stück Scheiße …«

Ich höre trotz des Deutschlandfunks, der durch das Telefon zu mir dröhnt, wie Kat empört schnaubt. Zu dem klassischen Musikstück, das gerade gespielt wird, kann ich ihre sich steigernde Wut regelrecht spüren.

»Dieser Wichser! Der gehört einen Kopf kürzer!«

Ach, wie gut tut es, eine Emanze zur Schwester zu haben. Sie lässt all das einfach heraus, was ich in meiner einen Seele ganz deutlich spüre, jedoch nicht auslebe, weil mich meine zweite Seele davor zurückhält.

»Diese verdammten Dreibeiner! Nur weil er notgeil ist, meint er, er kann so mit dir umspringen. Ach, wie ich sie alle hasse, diese Kerle!«

Im Hintergrund macht sich Susa bemerkbar. Ich verstehe nicht, was sie sagt, aber Kat antwortet ihr: »So ein Sackgesicht hat meine Schwester angemacht. Die fühlen sich doch nur so stark, weil man sie am Telefon nicht sehen kann. Ich sag dir eins«, damit meint sie jetzt mich, »wenn ich diesem Typen begegne, dann kann er sich warm anziehen.«

»Na ja, Kat, vielleicht ist das alles gar nicht so schlimm. Man kann sie ja nicht gleich kastrieren. Bestimmt ist Rupert Kunze im wahren Leben ein ganz braver, angepasster Mensch.«

»Ja, ja, wahrscheinlich hat der weder zu Hause noch auf der Arbeit was zu melden. Was muss der für ’n Arsch sein, wenn er denkt, einfach so mit Frauen umspringen zu können?« Sie schnalzt empört mit der Zunge. »Genau wie dieser … Wie hieß er doch gleich?«

»Wen meinst du?«

»Na, der andere Kunde aus dem Saarland, der dich als Schwein beschimpft hat; ist schon eine Weile her.«

Ich wollte mich eigentlich nicht mehr an Harko Schaaf erinnern … Vor knapp zwei Wochen hat der Dürrbier mir schon einmal die Horrorliste der Saarländer aufs Auge gedrückt, und besagter Schaaf wurde so ausfallend, dass ich beinahe einen Heulkrampf erlitt.

Damals passierte auch eine Katastrophe. Meine Hände zitterten so, dass der Vanilla-Latte, den eine Kollegin anlässlich ihres Geburtstages spendiert hatte, mir entglitt und auf meinen einzigen verbliebenen Markenjeans landete, die ich für einen der selten gewordenen Discobesuche an diesem Abend trug. Der Schaaf hatte mich als »dumm wie ein schwarzes Schwein« bezeichnet. Heute kann ich darüber lachen, aber an dem Tag hatte mir des Morgens schon mein Vater die Ohren wegen meiner verdorbenen Lebensplanung vollgejammert. Die Bezeichnung als Schwein durch Schaaf fiel deshalb auf fruchtbaren Boden. Wie auch immer – mit Kat über diese Kunden zu sprechen, tut mir gut, und das ist wohl auch der Grund, weshalb ich sie nach dem Leeren der Magnumpackung Trüffelpralinés und nach dem Genuss einer Viertel Flasche Wodka mit Pflaumensaft angerufen habe.

»Hihi, du meinst Harko Schaaf. Den Namen werde ich nie vergessen. Ich hoffe nur, dass ich nicht so bald wieder mit ihm zu tun habe. Der belästigt mich wenigstens nicht sexuell, aber die Bezeichnung als schwarzes Schwein war noch harmlos. Er hat mich schon mit fast allen Tierarten unseres Planeten verglichen.«

»Genau, das meine ich ja. Dürfen die das ungestraft? Das sind doch Beleidigungen. Habt ihr da keine Handhabe?«

Wie oft haben wir darüber schon gesprochen? Vermutlich hätten wir eine Handhabe, schließlich haben auch Telefonistinnen so etwas wie Menschenwürde, die ja bekanntlich unantastbar ist. Aber der Dürrbier – und mit ihm viele andere Arbeitgeber, fürchte ich – sieht das ein bisschen anders. Auf unsere Bitte, bestimmte Kunden doch von der Liste zu streichen oder gerichtlich gegen sie vorzugehen, lacht er regelmäßig sein trockenes, abgehacktes Zigarillo-Lachen. Wir sollten uns mal nicht so anstellen, man könnte schließlich nicht für jeden Pups vor Gericht ziehen. Na ja, dass Menschen, die im Callcenter arbeiten, ein dickes Fell brauchen, ist ja bekannt. Und letzten Endes liegt es ganz bei uns, wie sehr wir uns davon runterziehen lassen. Ach, ich bringe einfach nicht die Energie auf, etwas dagegen zu unternehmen.

Mein Schweigen verrät meiner Schwester anscheinend, was in mir vorgeht. Sie seufzt. »Lu, ich weiß schon, du kriegst den Arsch nicht hoch, um für deine Rechte einzustehen. Ich verstehe dich nicht. Du hast echt Grips. Warum fängst du nicht endlich was anderes an?«

Damit geht dieses Gespräch in eine Richtung, die ich ganz und gar nicht wünsche. Ich finde sofort den richtigen Knopf, um Kats Predigt schon im Ansatz abzuwürgen. »Kat, einen Sermon dieser Art kann ich jetzt nicht gebrauchen. Außerdem ist dafür Papa zuständig. Oder Mama. Oder Rouwen. Oder A-Mi. Jedenfalls gibt es schon vier Menschen – mindestens –, die sich in meinem Leben als Moralapostel aufspielen. Da will ich so etwas nicht auch noch von meiner geliebten Rebellenschwester hören. Klar?«

»Geht klar, Süße. Hör mal, Susa meint, wir könnten zusammen essen gehen. Wir beide müssen mal aus dem Stall raus.«

»Hm …« Ich denke an mein überzogenes Konto und werfe der geplünderten Pralinenpackung einen wehmütigen Blick zu. Dann räuspere ich mich. »Also …«

»Du bist abgebrannt, hab ich recht? Was hast du dir denn gegönnt?«

Erst in dieser Sekunde kommt es wieder hoch. All meine Bemühungen, das wahre Desaster zu verdrängen, sind auf einen Schlag hinfällig. Ich drehe mich im Sessel um, in den ich mich gefläzt habe, und wische dabei mit dem Fuß die Wodkaflasche vom Couchtisch. Auf dem Bildschirm läuft gerade der Vorspann von »Grey’s Anatomy«. Der blaue Vorhang schwingt über einem Paar knallroter High Heels zu. Als ob ich dieses Hinweises noch bedürfte … Ich sauge den Anblick des Unglücks bereits mit meinen Augen auf. Da stehen sie, nein, der eine Schuh liegt. Man kann noch ganz klar die edle Form und die schmeichelnde Farbe erkennen, doch es lässt sich nichts beschönigen. Dieses Meisterwerk der Schuhkunst, von einem Gott entworfen, von begnadeten Engeln hergestellt – es ist ruiniert.

»O-o-oh-oh«, schluchze ich los und kann kein klares Wort formulieren. »Meine … meine … meine …«

»Schuhe! Stimmt’s? Was ist mit ihnen passiert?«

»Manolos!« Meine Stimme kippt.

Kat schnaubt. Im Radio labert jemand über das Leben und Werk von Mozart. Ich liebe Mozart, aber in dieser Sekunde könnte ich das vermaledeite Telefon, in dem ständig der Radiofunk zu hören ist, an die Wand schmeißen. Muss jetzt wirklich auch noch das Lacrimosa aus dem Requiem erklingen, um mein Leid zu steigern?

»Kat, echte Manolos!«

»Hast du Manolos gesagt?«, erklingt Susas Stimme. Susa hat mit mir studiert und mit mir geschmissen. Bei ihr war der Grund eine unsterbliche Liebe, für die sie einfach alles aufgegeben hätte. Alles, außer ihrem Schuhtick, der uns seit den ersten Studientagen zusammenschweißte. Susas Liebesgeschichte endete in Glückseligkeit. Sie liebt nämlich meine allerbeste Schwester Katharina Schober, genannt Rebellenkat. Kat liebt sie genauso sehr wieder. Nur in Sachen Schuhe erzielen sie lediglich einen Minimalkonsens. Aber viele Beziehungen, vor allem globaler Natur, beruhen auf einem Minimalkonsens. Frieden ist also möglich. Kat hat zähneknirschend akzeptiert, dass ihre Lebensgefährtin und ihre Schwester diese allzu weibliche Schwäche teilen. Wir beide lieben Manolo Blahniks – die Schuhe jenes spanischen Designers, den nicht zuletzt die amerikanische Serie »Sex and the City« berühmt gemacht hat.

»Sagtest du wirklich Manolos?« Susas Stimme kippt genauso wie meine vor wenigen Augenblicken. »Welche Farbe? Wie hoch? Wie teuer?«

»Sonnenblumengelb.«

Susa seufzt wohlig.

»Zwölf Zentimeter.«

Sie stößt ein begeistertes Quieken aus.

»Reduziert auf 590 Euro.«

»Geil! Wann kann ich sie sehen?«

Ich heule auf. »Gar nicht mehr! Sie sind hinüber. Ich bin im Gitterschacht vorm Büro stecken geblieben, habe den ganzen Absatz zuerst aufgeschrappt und dann abgebrochen. Da ist nichts mehr zu retten!«

»Ach – du – Schande!« Susas Stimme zittert. Meine Hände zittern. Ich hebe die Wodkaflasche vom Teppichboden auf. Welch ein Glück, dass der eine meiner Zwillinge so pedantisch sein kann – er hat den Deckel fest zugedreht. Ich öffne sie und gieße mir ein. Dieses Mal muss es auch ohne Pflaumensaft gehen. Ich kippe den Schluck hinunter und atme zischend ein. Das Zittern lässt nicht nach, sondern breitet sich in meinem ganzen Körper aus. Wenigstens bin ich kein Alkoholix.

»Wir treffen uns. Morgen Abend. Bring die Schuhe mit. Ich kenne einen Schuhdoktor in Riegelsberg, der sie vielleicht retten kann. Und die Rechnung bezahlt die Versicherung des Bürohausbesitzers. Wie kann man so bescheuert sein, neben dem Eingang ein Lüftungsgitter einzubauen? Das wird wieder, Lu!«

»Gib mir noch mal den Hörer.« Das ist Kat. »Lu, hör mir mal zu. Du räumst jetzt die Flasche weg und gehst schlafen, verstanden?«

Ich nicke. Wie eine Marionette stehe ich mit dem Hörer am Ohr auf und trage die Flasche und das Glas zur Küchenzeile. »Gut. Dann sehen wir uns morgen. Ich bin müde, ich muss jetzt schlafen.« Ich lege auf.

Ich falle ins Bett, ohne mich ausgezogen oder meine Zähne geputzt zu haben.

Wie sagte ein weiser Mann?

Morgen ist wieder ein neuer Tag.

2

Routine

Wie können Eltern ihrem Sohn einen solchen Namen mit ins Leben geben? Frank Kraus kratzte sich an der Nase und betrachtete das Foto des Verunglückten.

Nun gut, sein eigener Name zeugte nicht gerade von Originalität. Immer hatte es mindestens einen weiteren Frank in seiner Klasse gegeben, seine gesamte Schulzeit hindurch, und in der Fachoberschule war es auch nicht besser gewesen. Selbst ein zweiter Kriminalkommissar mit dem gleichen Vornamen existierte in Saarlouis. Der bestand aber wenigstens auf einer anderen Aussprache, sodass man immer wusste, wer gemeint war. Der andere Frank sprach seinen Namen mit einem nasalierten ong anstatt des einfachen a aus, wie die Franzosen. Oder vielmehr hatten seine Mitschüler in der Grundschule das getan, und der verballhornte Name war ihm dann geblieben – vermutlich bis zu seinem Lebensende, das hoffentlich noch in weiter Ferne lag. Frank freute sich immer mal wieder darüber, dass nicht er der mit dem weichen, französischen ong war, sondern der mit dem aufrechten a.

Da stand er und dachte über Vornamen nach, anstatt sich die Aussagen der Zeugin noch mal zu Gemüte zu führen. Aber es stimmte schon – Harko war ein bescheuerter Vorname.

Harko Schaaf war gestern ums Leben gekommen. Frank hielt das Ganze für einen dummen Unfall, und mit dieser Meinung stand er nicht allein da. Trotzdem. Harkos Frau glaubte an einen Mord; somit musste Frank der Sache nachgehen. Er ließ das Foto des neben der Straße liegenden Toten noch einmal auf sich wirken. Man musste sich echt dämlich anstellen, um in einer verkehrsberuhigten Zone, in der die Autos nicht schneller als zehn Stundenkilometer fahren durften, so unglücklich hinter einen rückwärts rollenden Wagen zu stürzen. Die Fahrerin tat Frank leid. Sie war völlig unschuldig, ganz sicher. Sie hatte nichts, aber auch gar nichts tun können, um das Unglück zu verhindern. Höchstens ein kleineres Auto fahren. Dann hätte der arme Harko vielleicht eine Überlebenschance gehabt. Doch der mit Marmorfliesen voll beladene Lieferwagen ließ keinen Spielraum. Er rollte über Harkos Hals. Wenigstens hatte Harko Schaaf nicht leiden müssen, sondern war sofort tot.

Frank seufzte. Er war müde, aber eine Sache wollte er noch überprüfen. Was war es doch gleich gewesen? Er zog seinen Notizblock aus der hinteren Hosentasche und klappte ihn auf. Die Namen der Zeugen, die er bereits befragt hatte. Die Frau des Verstorbenen hatte hysterisch darauf bestanden, dass ganz bestimmt jemand ihren Mann vor den Wagen geschubst hätte. Sie hätte in seiner Nähe gestanden und die Ware in einem Schaufenster bewundert, da hätte es plötzlich geklatscht, schnelle Schritte hätten sich entfernt, im Herumwirbeln hätte sie noch ein lila Sweatshirt an einem schlanken Menschen um die Ecke verschwinden sehen und dann auch schon das Kreischen der Bremsen gehört, ein dumpfes Plopp-Plopp und sofort ein hysterisches Schreien der Frauensperson, die im Wagen saß. Jetzt erst hätte sie nach ihrem Mann gesucht, der doch ein paar Sekunden vorher noch neben ihr gestanden hätte, und ihn schließlich entdeckt – besser gesagt, seinen Körper, der Kopf war ja vom Lieferwagen verborgen gewesen. Sie hätte gleich gesehen, dass es ihrem Harko nicht gut gehen konnte, so verdreht und schlaff wie sein Körper dort auf der Seite lag.

Frank fand sein Verhalten nicht gerade professionell, aber er konnte sich eines albernen Kicherns nicht erwehren, als er ihre Aussage innerlich Revue passieren ließ. Luise Schaaf war verständlicherweise außer sich gewesen, als er und der Krankenwagen eintrafen und nur noch den Tod des armen Harko hatten feststellen können.

Von den anderen Passanten oder den Gästen des Eiscafés hatte niemand den geheimnisvollen Sweatshirtträger bemerkt, aber Frau Schaaf beharrte darauf, jemanden gehört und gesehen zu haben. »Vielleicht hat er sich auch im Schaufenster gespiegelt«, hatte sie am Ende gemurmelt.

Endlich schlug er die letzte beschriebene Seite seines Notizblocks auf und runzelte die Stirn. Er konnte wieder mal seine eigene Sauklaue nicht lesen. Was hatte er da notiert?

»Caravane«? Kaktustopf? Nein, es fing mit c an, das war klar zu erkennen. Hörte es mit einem r auf? War es ein Wort oder waren es zwei?

Welche Wörter kannte er, die mit C anfingen? Computer, Crack (nein, zu kurz), Cally – Nein, das alles passte nicht. Wer hatte das Wort denn zu ihm gesagt? Es stand kein Zeugenname darüber. Endlich fiel es ihm wieder ein: Tina hatte ihn von der Wache aus angerufen. Im Anrufspeicher des Festnetztelefons des Toten habe man die Nummer eines Callcenters aus Saarlouis gefunden. »Und zwar desselben Callcenters, mit dem der vor vier Wochen vom Baugerüst gestürzte Malermeister als Letztes telefoniert hat. Weißt du noch?«

Der Malermeister. Ja, richtig. Das war eindeutig ein Unfall gewesen, es fanden sich keinerlei Hinweise auf Fremdeinwirkung. Zwar konnte man sich nicht erklären, wieso der gute Mann, der doch ein Leben lang gewohnt war, auf Gerüsten zu stehen, hinabgestürzt war, aber es war nun einmal passiert. Der Rechtsmediziner hatte auch nichts Auffälliges entdeckt, und so hatte Frank den Fall abgeschlossen. Dass Tina die Übereinstimmung dieser Nummern erkannt hatte, grenzte für Frank an ein Wunder. Dank ihres fotografischen Gedächtnisses verblüffte die Assistentin ihn immer wieder mit solchen Dingen. Jetzt hatte sie aber längst Feierabend. Also setzte er sich an ihren Schreibtisch und rief am Rechner die letzten Dateien auf, mit denen sie gearbeitet hatte. Tatsächlich fand er die Telefonliste des verstorbenen Malermeisters und die von Harko Schaaf. Tina hatte eine Nummer gelb hervorgehoben und einen Kommentar dazugeschrieben: »Callcenter Mediaboutique, Großer Markt 54, Sls.«

Er schrieb die Adresse auf seinen Block und die Telefonnummer darunter. Morgen würde er herausfinden, zu welchem Schreibtisch diese Nummer gehörte. Vermutlich handelte es sich ohnehin um Zufall, da es nicht einmal das letzte Telefonat von Harko Schaaf gewesen war; trotzdem wollte er dieser Spur nachgehen, sei sie auch noch so vage. Aber jetzt war es Zeit zu schlafen. Er verließ das Büro und grüßte die Putzkolonne, die bereits ihre Arbeit beendete.

Frank ging zu Fuß nach Hause. Er liebte die Nachtluft und den besonderen Duft der Alte-Brauerei-Straße. Die letzten Wochen waren extrem vollgestopft gewesen. Er hatte einen Serienmörder festgenommen, einen Mordfall aufgeklärt, der sich als Unfall entpuppte, und zahlreiche Diebstähle und Betrugsdelikte verfolgt. Er fühlte sich reif für die Insel. Es wurde Zeit, dass sein Partner Herbert Groß aus der Reha zurückkam. Die ständig wechselnden Kollegen, die ihn oftmals begleiteten – wenn es ihm nicht gelang, heimlich allein die Ermittlungen zu führen –, gingen ihm auf den Nerv. Auch dieser neuerliche Mord nervte ihn. Weil es vermutlich gar kein Mord war, selbst wenn es sowohl von ihm eine Verbindung zum Callcenter geben sollte wie auch von dem Unfall des Malermeisters. Das war wahrscheinlich reiner Zufall.

Gähnend schloss er die Tür auf und bemühte sich, so leise wie möglich die alte Holztreppe hinunterzugehen. Ellen hörte ihn trotzdem. Eigentlich sollte seine Frau doch froh sein, dass sie ihn nicht mehr abzupassen brauchte, um ihm Vorwürfe zu machen und jedes verdammte Mal die Grundsatzfrage zu stellen, wenn es wieder nach Mitternacht wurde, bis er aufkreuzte. Seit er in den Keller gezogen war, war er jeglicher Verantwortung ihr gegenüber enthoben, und sie konnte tun und lassen, was sie wollte.

Was sie ja auch machte. Ein wenig verletzt hatte der Einzug von Dieter, ihrem Neuen, ihn schon – vor allem, weil er nur drei Monate nach ihrer Trennung stattgefunden hatte. Doch dann musste er neidlos zugestehen, dass der Dieter ein dufte Typ war und ihr vermutlich auch zu dem Kind verhelfen würde, das sie sich so wünschte.

So hatten sie alle das bekommen, was sie sich ersehnten. »Alles, was ein Mann wirklich braucht, ist seine Ruhe«, sang er eines seiner Lieblingslieder von Roger Cicero leise vor sich hin. Sein Beruf war aufregend genug, und öde Routine brachte ihm schon das Schreiben der unvermeidlichen Berichte; dazu benötigte er definitiv keine Ehefrau, die mit den Jahren immer unzufriedener gegen seinen Job ankeifte. Diese Ehefrau hatte ebenfalls ihre Sehnsucht erfüllt, indem sie ihn gegen den Dieter austauschte, der mit seinem Angestelltendasein ihrem Bedürfnis nach festen Zeiten und gemeinsamen Kuschelstunden deutlich mehr entgegenkam. Und der Dieter schätzte sich wahrhaft glücklich, weil eine Frau, die viel spritziger und intelligenter war als er selbst, so auf ihn abfuhr. Aber wie schon bemerkt, der Dieter war ein dufte Typ – ein wenig einfältig vielleicht, aber davon abgesehen sehr herzlich, außerdem ganz gut trainiert und vor allem so verschmust wie eine Katze.

Frank wohnte noch immer im selben Haus wie Ellen. Immerhin hatten sie es gemeinsam umgebaut, nachdem sie es geerbt hatte, und ein nicht unbeträchtlicher Teil seines Geldes war hineingeflossen, was Ellen unumwunden zugab. Aufgrund dieses Umstands jedenfalls hatte seine Noch-Ehefrau Gelegenheit, sich mit ihm zu unterhalten. Wenn er denn zu Hause war. Diese Gespräche waren im Grunde das Einzige, was sie damals zu der wenig durchdachten Entscheidung verleitet hatte, einander zu heiraten. Sie führten stundenlange, weitschweifige Gespräche. Niemand verstand ihn besser als Ellen, und sie sagte immer, so wie mit ihm könne sie sich mit keiner Freundin unterhalten. Und mit einem anderen Mann sowieso nicht. Also spielte es keine Rolle, dass sie mit dem Dieter nur Belangloses besprechen konnte, denn sie hatte ja immer noch ihn.

Wenn man es recht betrachtete, wäre ihre Ehe niemals gescheitert, hätte Ellen nicht unerwartet plötzlich und unerwartet deutlich dieses Ticken gehört. Das Ticken ihrer biologischen Uhr nannte sie es klischeehaft. Er hörte seinerseits keine Uhr ticken, weder innerlich noch äußerlich und schon gar nicht biologisch. Ob es daran lag, dass Ellen fünf Jahre älter war? Er nahm ihre zarten Andeutungen am Anfang gar nicht ernst. Irgendwann verfiel sie dann in diesen keifenden Tonfall der unzufriedenen Ehefrau. Er registrierte und begriff es natürlich viel zu spät. Ungebremst war er in die Unglücksfalle gerannt, obwohl er doch hätte klug genug sein müssen, um alle Anzeichen zu erkennen. Ellen konnte er nicht einmal die Schuld daran geben. Aber den Gedanken brach er an der Stelle sofort ab.

Er unterhielt sich nach wie vor gern mit ihr, und sie war die einzige Privatperson, mit der er im vollen Vertrauen, dass sie Schweigen bewahren würde, über die Fälle sprach, die er aufzuklären hatte. Abgesehen davon konnte sie als Einzige seine Schrift auch dann entziffern, wenn er selbst dazu nicht in der Lage war. Sie hätte heute Abend sofort »Callcenter« identifiziert, wo er noch an Caravane oder Kaktustopf dachte.

So hatte sich im vergangenen Jahr eine neue Routine eingespielt. Sie lebten in Trennung, Scheidung war ihnen irgendwie bisher nicht wichtig gewesen, und auch der Dieter blieb diesbezüglich ziemlich gelassen. Sie alle wussten und waren damit einverstanden, dass er selbst das Loft im Dachgeschoss beziehen würde, sobald das Pärchen, das derzeit dort zur Miete wohnte, auszog. Erst in den letzten paar Wochen schlich Ellen sich regelmäßig zu ihm herunter, wenn sie mitbekam, dass er die Haustür aufschloss. Auch jetzt hörte er das leise Klatschen ihrer Latschen auf den durchgetretenen, von ihm selbst abgebeizten und geölten Holzstufen. Eigentlich war er ja müde. Eigentlich wollte er schlafen. Morgen musste er genauso früh aus den Federn wie sonst auch, um sein tägliches Jogging gegen den heimtückischen Rettungsring durchziehen zu können. Jetzt knarzte die zweitletzte Stufe. Gleich würde Ellen leise anklopfen. Er öffnete die Tür und gähnte ihr mit weit offenem Rachen entgegen.

»Hi.« Ihre kinnlangen blonden Haare standen in alle Richtungen. Anscheinend bemerkte sie seinen Blick, sie fuhr sich mit den Fingern hindurch in dem aussichtslosen Versuch, das Gekringel zu zähmen. Den alten, gestreiften Herrenbademantel vom Dieter hatte sie zugebunden, sodass sie ein wenig unförmig wirkte.

»Darf ich kurz reinkommen?«

Er gähnte ein zweites Mal, sie nickte und grinste kurz, dann ging er voraus zu dem durchgesessenen Sofa, das er aus seinem ehemaligen Kinderzimmer hergeholt hatte, als er herunterzog.

Bevor er sich setzte, fragte er: »Willste was trinken?«

»Nein, ich verschwinde gleich wieder.«

Warum war sie überhaupt gekommen?

Er zog sein T-Shirt aus, schnupperte daran und warf es in die Ecke auf den Haufen getragener Kleider. Dann streifte er die Halbschuhe von den Füßen und ließ sich neben ihr auf der Couch nieder. Immerhin verkniff sie sich jede Bemerkung zu dem müffelnden Wäscheberg in der Ecke und deutete lediglich ein Schulterzucken an. Nicht mehr ihre Baustelle. Sie zog die Beine hoch, sodass sie sich gemütlich in die alten Polster kuscheln konnte.

»Du hast viel zu tun, oder?«

Was für eine belanglose Frage. »Ja.« Er gähnte wieder und rieb sich über die Brust. Sie quittierte es mit einem uninteressierten Lächeln. Er ließ die Hand auf seinem Bauchnabel liegen. Es mochte kindisch sein, aber er liebte es, seine Muskeln unter der Haut zu erspüren. Dabei war er ganz gewiss kein Narziss. Nein, es beruhigte ihn einfach auf wohlige Weise, wenn er seinen in täglichen Sit-ups hart erarbeiteten Waschbrettbauch fühlte. Ganz besonders in den Nächten, in denen er aus dem Schlaf aufschrak und die Stimmen seiner Schulfreunde im Ohr hatte, wie sie ihm »Schlaffi, Tonne, Fettsack« und andere Schmähungen hinterherriefen.

»Siehst toll aus. Nur ’n bisschen müde.« Ellen hob den Daumen. Dann rieb sie sich selbst über den Bauch und ließ ihre Hand dort liegen. »Ich werde jetzt dick.«

»Ach was«, wollte er schon abwehren. Ellen war von Natur aus der schlanke Typ Frau. Sie aß gut und gern, aber nie im Übermaß, außerdem achtete sie darauf, immer genug Bewegung zu haben, ohne besessen Sport zu treiben wie er. Doch dann sah er, dass sich unter dem verknoteten Frotteegürtel tatsächlich eine Rundung wölbte, die er an ihr noch nie gesehen hatte. Plötzlich wieder hellwach, setzte er sich auf.

»Heißt das, du …? Du und der Dieter… ? Er hat …? Ihr habt …?«

»Ja, wir haben. Wir kriegen ein Kind.«

Ihre Antwort schwebte wie eine Feder in seinen Kopf und trudelte hinunter. Er konnte sie nicht greifen. Bedeutete sie etwas? Für ihn? Für das gemeinsame Haus? Für die auf dem Blatt noch existierende Ehe?

Sie stand auf. »Ich gehe schlafen. Mach dir keine Sorgen, Frank, zwischen uns ändert sich nichts. Der Dieter mag dich, ich mag dich sowieso. Das Einzige, was wir überlegen sollten, ist, ob wir uns scheiden lassen.«

In dieser Nacht verfolgten sie ihn wieder und nannten ihn Tonne, Fettsack, Dickarsch. Ihre Stimmen wurden immer heller und kindlicher. Erleichtert schlug er um halb sechs auf den Radiowecker, lief seine zehn Kilometer an der Saar entlang in einer neuen persönlichen Bestzeit, sprang danach unter die Dusche, wo er beruhigt seinen muskulösen Körper einseifte und wusch. Pünktlich um acht betrat er das Büro.